eJournals Kodikas/Code 37/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2014
373-4

"Mehr, mehr, noch mehr!"

121
2014
Catherine Marten
kod373-40239
“mehr, mehr, noch mehr! ” Schrift als Fetischobjekt bei Roland Barthes Catherine Marten (Berlin) Roland Barthes’ work on writing after 1973 is characterised by what he calls his “mana-word”, that is the word “body”. It is neither solely the writer’s nor the reader’s body that is of interest to Barthes, but rather the materiality of notation itself. This article tries to take Barthes’ concept seriously by developing a fetishistic semiotic model which is based on the fact that the term “fetish” occurs in significant passages of his later texts on writing and notation. The article condenses Barthes’ arguments into a fetishist strategy that is able to transform the text from a “mercantile object” to a euphoric practice of writing. This strategy, which the article attempts to examine in detail, also has a great effect on notation itself and its perception. 1 Einleitung Roland Barthes hat sein eigenes Werk in seinem 1975 erstmals erschienenen Text ROLAND BARTHES par Roland Barthes in fünf “Phasen” eingeteilt. Die letzte dieser “Phasen” firmiert unter dem “Genre” der “Moralität”, wobei Barthes nachdrücklich betont, dass unter “Moralität […] das genaue Gegenteil von Moral verstanden werden muss (es ist das Denken des Körpers im Zustand der Sprache)” (Barthes 1978: 158). Die Werke, die Barthes mit dieser jüngsten Phase seines Denkens - oder besser: dem Denken (s)eines Körpers - in Verbindung bringt, sind die 1973 entstandene Sammlung von Mikrotexten Le plaisir du texte sowie eben jener Text, in dem er besagte Einteilung vornimmt. Glaubt man dieser Einteilung - auch wenn es sich dabei, wie Barthes selbst schreibt, um ein “imaginäres Vorgehen” handelt -, so hat Le plaisir du texte nach den Phasen der “Lust am Schreiben”, der “sozialen Mythologie”, der “Semiologie” und der “Textualität” eine neue Phase in Barthes’ Denken eingeläutet. Zu dieser Phase der “Moralität” lässt sich so auch der 1973 geschriebene und postum erschienene Text Variations sur l’ecriture rechnen. Schon im Vorwort dieser Abhandlung wird die Verbindung zwischen ROLAND BAR- THES par Roland Barthes, Le plaisir du texte sowie den Variations sur l’ecriture dann auch überdeutlich. Barthes formuliert hier sein Programm folgendermaßen: Der erste Gegenstand, auf den ich in meiner früheren Arbeit gestoßen bin, war die Schrift, damals habe ich aber dieses Wort in einem metaphorischen Sinne aufgefasst […]. Heute, zwanzig Jahre später - und durch eine Art Rückgriff auf den Körper - , ist es der manuelle Sinn des Wortes, dessen ich mich bedienen möchte, ist es die “Schreibung” (der muskuläre Akt des Schreibens, der Prägung der Buchstaben), die mich interessiert: dieser Gestus, mit dem die Hand ein Werkzeug ergreift (Stichel, Schreibrohr, Feder), es auf eine Oberfläche stützt und darauf, eindrückend oder sanft streichend, fortgleitet und regelmäßige, rhythmische, wiederkehrende Formen einprägt […]. (Barthes 2006: 7) K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 37 (2014) No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Catherine Marten 240 1 Cf. hierzu den Beitrag von Thorsten Gabler in diesem Themenheft. Eben jener “Rückgriff auf den Körper” scheint es zu sein, der eine Achse durch die Texte der frühen siebziger Jahre bildet: Die Schrift, die laut Barthes ein “streng merkantile[s] Objekt, ein Instrument von Macht und Segregation, erstarrt im gröbsten Realen der Gesellschaften” ist, wird im Schreibakt wortwörtlich verflüssigt in eine “Praxis des Genusses, [die] mit den triebgebundenen Tiefenschichten des Körpers und den subtilsten und gelungensten Produktionen der Kunst liiert [ist]” (Barthes 2006: 9f.). In der lustvollen Schreibbewegung, der bei Barthes der lustvolle Lesevorgang entspricht, wird das erstarrte Objekt der Macht zu einem Gewebe - aus Schrift wird Text: Text heißt GEWEBE; während man dieses Gewebe aber bislang immer für ein Produkt, einen fertigen Schleier gehalten hat, hinter dem sich, mehr oder minder verborgen, der Sinn (die Wahrheit) befindet, betonen wir jetzt beim Gewebe die generative Vorstellung, daß sich der Text durch ein ständiges Verflechten selbst verfertigt und bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf, einer Spinne gleich, die in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. (Barthes 2010: 80) Wie Ottmar Ette in seinem Kommentar zu Roland Barthes’ Le plaisir du texte betont, unterscheidet sich der Textbegriff, den Barthes in diesem Mikrogramm mit dem Titel Théorie definiert, von dem poststrukturalistischen Textbegriff, der im Umfeld der Tel Quel gebräuchlich ist. Zwar würde auch hier, so Ette, der “abendländisch-phallogozentrischen Subjektphilosophie” eine Absage erteilt und “das Verständnis von einer unendlich offenen und selbstgenerierenden Textualität entgegengesetzt” (Ette 2010: 374); allerdings ginge Barthes noch einen entscheidenden Schritt weiter und verwandle die übliche Metaphorik vom Text als Gewebe in eine Metaphorik des Netzes. In einer solchen netzartigen Struktur gäbe es “keine durchgängigen Fäden […] mehr […], sondern eine Vielzahl zusätzlicher Verknüpfungen […], die in einer nicht länger geraden und gerichteten Relationalität alles mit allem verbinden” (ebd.). Die Betonung der referentiellen Funktion der Schrift findet ihre Entsprechung in einer sukzessiven Lektüre des Textes, die lesend den “Schleier” zu lüften vermag, um den darunter- oder dahinterliegenden Sinn zu erfassen. Die Dekonstruktion, die eng mit der Metapher des Texts als Gewebe verbunden ist, setzt diese sukzessive Lektüre bereits außer Kraft. Durch Aufschübe, Widersprüche und das beständige Verweisen der Signifikanten aufeinander gibt es keine klar auszumachenden Hierarchien mehr. Die Metapher des Netzes schließlich fordert ein anderes, jedoch in der Wortbedeutung enthaltenes, “Lesen”: Dieses gleicht eher der Bewegung eines diskontinuierlichen Einsammelns. Der Text wird simultan erfasst und fordert ein Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen ‘Knotenpunkten’. Durch die Einbringung des Körpers in die Schrift - die “Sekretion” der Tinte durch die Hand 1 - löst sich demnach nicht nur das Subjekt auf; vielmehr wird die Schrift durch das lustvolle Schreiben und Lesen zu einem Sammelsurium libidinöser Objekte, die gleichsam als ‘Knotenpunkte’ dieses Netzes hervortreten. Als solche ‘Knotenpunkte’ der Lust können bei Barthes durchaus die materiell vorhandenen und sinnlich wahrnehmbaren Wörter gelten: Kurzum, das Wort kann unter zwei einander entgegengesetzten, gleichermaßen exzessiven Bedingungen erotisch sein: wenn es im Übermaße [d.h. wortwörtlich, CM] wiederholt wird oder wenn es im Gegenteil unerwartet, dank seiner Neuheit sukkulent ist (in bestimmten Texten leuchten die Wörter, bilden ablenkende, unpassende Erscheinungen - und es tut wenig zur Sache, ob sie pedantisch sind […]). In beiden Fällen ist es dieselbe Physik der Wollust, die “mehr, mehr, noch mehr! ” 241 Furche, die Einschreibung, die Synkope: was ausgehöhlt, eingestampft ist oder was ausbricht, detoniert. (Barthes 2010: 55f.; Hervorh. im Original) Das “erotische” Wort zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es semantisch leer ist (“ausgehöhlt”, “eingestampft”) und durch seine aisthetische Gestalt aus der Textur hervortritt (“ausbricht”, “detoniert” - und eben nicht de-notiert). Roland Barthes hat eben diese Eigenschaften dem in seiner Theorie der frühen siebziger Jahre so wichtigen “Wort” des Körpers zugeschrieben. Der “Körper”, so heißt es in ROLAND BARTHES par Roland Barthes, sei das “Mana-Wort […], dessen brennende, vielgestaltige, nicht zu fassende und gleichsam sakrale Bedeutung die Illusion gibt, daß man mit diesem Wort auf alles antworten kann” (Barthes 1978: 141). 2 Wie wird das Wort … Fetisch? Barthes’ Beschreibung dieses magischen “Mana-Wortes” deckt sich mit der Beschreibung seiner “erotischen Wörter”: Für Barthes ist “es […] der Signifikant, der den Platz eines jeden Signifikats einnimmt” (ebd.). Und im gleich darauf folgenden Mikrotext Das überleitende Wort, fragt Barthes sich: “Wie wird das Wort Wert? ” (ebd.): Auf der Ebene des Körpers […]. So werden durch die Raster variabler Kompliziertheit “Lieblingswörter” geschaffen von Wörtern, die (im magischen Sinne des Wortes) “gewogen” sind, “wundersame” Wörter (leuchtend und glücklich). Es sind “überleitende” Wörter, vergleichbar mit den Zipfeln an Kopfkissen und Bettlaken, an denen das Kind beharrlich lutscht. Wie für das Kind gehören diese Lieblingswörter zum Spielfeld; und wie die überleitenden Gegenstände sind sie von einem ungewissen Statut; im Grunde setzen sie eine Art Abwesenheit des Objekts, des Sinns, in Szene: trotz der Härte ihrer Umrisse, der Kraft ihrer Wiederholung, sind es weich umflossene Wörter; sie wollen Fetische werden. (Ebd.: 141f.) Barthes beschreibt hier in lupenreinem psychoanalytischem Vokabular die Urszene der Fetischbildung: Das Kind reagiert auf eine für es selbst bedrohliche Abwesenheit (bei Freud bekanntermaßen die Abwesenheit des mütterlichen Phallus) mit einer paradoxen Bewegung. Einerseits muss es die “Abwesenheit des Objekts, des Sinns” leugnen; andererseits muss es diese anerkennen, um sich selbst ein fetischistisches Substitut zu erschaffen, das durch die Paradoxie dieser Bewegung “von ungewissem Statut” ist. Einerseits ist es materiell vorhanden - oder in Barthes’ Worten: “hart umrissen”; andererseits ist es durch sein transitorisches Dasein “weich umflossen”, da es zugleich auf den Mangel verweist, den es zu kompensieren versucht. Der Begriff des “Spielfelds” signalisiert deutlich, dass die Wörter aus ihrem üblichen Sinn- und Gebrauchskontext herausgelöst sind und ihre Verwendung nun anderen Regeln gehorcht. Aus einer sukzessiven Lektüre von Schrift, die darauf ausgerichtet ist, eben jenen “Schleier” zu lüften, der den Sinn der Worte verdeckt, wird ein diskontinuierliches Ein- und Ansammeln einzelner Wörter (das “beharrliche Lutschen” des Kindes an immer anderen Gegenständen). Der Fetischist sieht zugunsten der “Materialität” der Wortgestalt von ihrem Sinn ab. Oder anders - in Barthes’ Worten - gesagt: “Der Fetischist würde sich auf den zerschnittenen Text, auf die Zerstückelung der Zitate, der Formeln, der Stanzungen, auf die Lust am Wort einlassen” (Barthes 2010: 79). Die Konzentration auf den Begriff des Fetischismus, der in den drei hier behandelten Texten Roland Barthes’ an signifikanten Stellen auftaucht, soll mir im Folgenden helfen, ein “fetischistisches Zeichenmodell” zu entwickeln, das dazu dient, Barthes’ verschiedene Schriftbegriffe - den des “merkantilen Objekts” und denjenigen der “lustvollen Praxis” - zu Catherine Marten 242 beleuchten. Dabei interessiert mich vor allem, wie Barthes aus dem ‘Universal-Fetisch’ Schrift, als der eben jenes “erstarrte Schrift-Objekt” beschrieben werden könnte, durch den “Rückgriff auf den Körper“ ein durchweg positiv besetztes Fetischobjekt ‘herbeizaubert’: “Der Text ist ein Fetischobjekt, und dieser Fetisch begehrt mich” (Barthes 2010: 38; Hervorh. im Original). 2.1 Barthes’ Entdeckung des “dritten Terms” - der Fetisch als Versatzstück In ROLAND BARTHES par Roland Barthes referiert Barthes in konzentrierter Form die Grundkonstellation seiner Schrift- und Sprachtheorie der frühen siebziger Jahre: Alles scheint darauf hinzudeuten, daß sein [Barthes’ eigener, CM] Diskurs nach einer Zwei- Terme-Dialektik verläuft: die geläufige Meinung und ihr Gegenteil, die Doxa und ihr Paradox, Stereotyp und Neuerung, Ermüdung und Frische, Neigung und Abneigung: ich liebe/ ich liebe nicht. Diese binare [sic] Dialektik, das ist gerade die Dialektik des Sinns (markiert/ nicht markiert) und des Freudschen Spiels (Fort/ Da): die Dialektik des Werts. Doch stimmt das wirklich? Es zeichnet sich in ihm eine andere Dialektik ab und sucht zur Aussage zu kommen: in seinen Augen tritt durch die Entdeckung eines dritten Terms, der nicht Synthese sondern Verlagerung ist, die Widersprechung der Terme zurück: alles Ding kehrt wieder, doch kehrt es zurück als Fiktion, d.h. auf einer anderen Windung der Spirale. (Barthes 1978: 75; Hervorh. im Original) Der Text tut jedoch noch etwas ganz anderes, als zu referieren: er figuriert - und zwar indem er dem Leser durch die Betonung der Schriftgestalt eben jene Grundkonstellation des Barthes’schen Schreibens quasi hochkonzentriert und im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen stellt. Ein Leser, der - wie Barthes’ Fetischist - ausschließlich die Gestalt der Schrift wahrnehmen würde, ohne sukzessiv dem Schriftverlauf zu folgen, könnte auf den ersten Blick die Konstellation begreifen, die ein ‘normaler’ Leser erst entziffern müsste. Die in ihrer Gestalt betonten Wörter springen dem nicht-lesenden Betrachter geradezu aus dem Text ins Auge - oder anders gesagt: sie blicken ihn aus dem Text heraus an. Die Betonung der Wortgestalt erreicht Barthes durch die auffälligen Kursivsetzungen, die die zentralen Begriffe (“ich liebe/ ich liebe nicht, markiert/ nicht markiert, Fort/ Da”) aus dem Text hervortreten lassen und gleichsam materialisieren. Doch auch die für Barthes typische Verwendung von Schrägstrichen und Klammern verdeutlicht den semantischen Mehr- oder Eigenwert der Signifikanten: Sie figurieren bereits rein visuell das abgeschlossene binäre System, das der Text beschreibt. Auch das Fehlen dieser auffällig eingesetzten Schriftzeichen beim letzten kursiven Wort “Verlagerung” besitzt eine semantische Funktion, die sich bereits aus seiner Erscheinung ableiten lässt: Der allein stehende Zeichenkörper ist im wahrsten Sinne exzentrisch und sticht aus der durchgängigen binären Dialektik hervor, indem er als das “Andere” figuriert wird. Natürlich kann kein realer Rezipient, und sei er noch so fetischistisch veranlagt, vollkommen von der Bedeutungsebene der Wörter abstrahieren. Und so entfaltet sich auch erst im Wechselspiel von Betrachtung und Lektüre die gesamte Komplexität des Verhältnisses zwischen dem Sinn des Satzes und der Figuration seiner Wörter: Übersetzt man nämlich das im Französischen eher unübliche ‘déport’ nicht mit ‘Verlagerung’, sondern mit ‘Versatz’, so wird die Alleinstellung des dritten Terms oder - in Barthes’ Worten - seine “Atopie” innerhalb des Systems umso bedeutender: Der ‘Versatz’ ist - wie man lesen und sehen kann - keine Synthese, bildet aber die - deutlich als etwas anderes erkennbare - Verbindung zweier nicht zusammengehöriger Teile; er steht außerhalb des Systems, löst aber dennoch die “mehr, mehr, noch mehr! ” 243 Ordnung des Widerspruchs auf. All diese Eigenschaften des ‘Versatzes’ ‘materialisieren’ sich wiederum visuell in dem Schrägstrich, der jedes der Begriffspaare trennt und zugleich verbindet. Diese Beobachtungen mögen außerhalb eines ‘schriftbildlichen’ Theoriekontextes pedantisch erscheinen. Sie zielen jedoch genau in die Richtung der näheren Bestimmung des von Barthes erwähnten dritten Terms, der als Ausgangswie Fluchtpunkt der Semiose gelten kann. Dieser dritte Term, der nicht nur seinem Sinn nach, sondern auch sinnlich erfasst werden kann, deckt sich sowohl mit Barthes’ Beschreibung seiner “erotischen” wie seiner “überleitenden Wörter”. Stets ist es die hervorgehobene Gestalt des Signifikanten, die - im Wechselspiel mit dem Signifikat - einen Mehr- oder gar Eigenwert im semiotischen System erlangen kann und so einerseits die Einheit des sprachlichen Zeichens vorzutäuschen, andererseits dessen Bruch auszustellen vermag. In diesem Mechanismus ‘offenbart Schrägstrich verbirgt’ sich eine fetischistische Strategie, wie ich im Folgenden illustrieren möchte. 2.2 Von Freud zu Saussure - das Zusammenspiel von Differenz und Fetischbildung Die wohl kürzeste Definition des Fetischs als “Geschichte, die sich als Gegenstand ausgibt” (Stoller 1985: 155), stammt vom amerikanischen Psychoanalytiker Robert J. Stoller. Die Geschichte, die der Freud’sche Fetisch gerade nicht erzählt, wurde bereits angesprochen und ist vermutlich hinlänglich bekannt, sei hier aber trotzdem in aller Kürze noch einmal rekapituliert: Der Knabe entdeckt die Leerstelle, die für ihn bis dato der mütterliche Phallus besetzt hatte, und wird durch diese Entdeckung sogleich mit einer Kastrationsdrohung belegt. Um den horror vacui abzuwehren, setzt ein doppelter Mechanismus ein, den Freud mit dem Terminus der “Verleugnung” (Freud 1976: 313) fasst: Der Knabe muss zunächst die Leerstelle anerkennen, um sie sodann mithilfe eines Substituts besetzen zu können. Die Differenz, die auf den Knaben identitätsgefährdend wirkt, wird so vermittels eines überdeterminierten Objekts verfugt. Zugleich ist es aber genau diese Fuge, die den entstandenen Riss deutlich macht, geradezu materialisiert. Der Fetisch siedelt sich genau in der Differenz zwischen dem nicht existenten mütterlichen Phallus und dem realen Objekt an. Er ist dabei weder das eine noch das andere und doch beides zugleich, da er nur dank der paradoxen Bewegung der gleichzeitigen Anerkennung der Differenz und ihrer Verleugnung gebildet werden kann. Um jedoch einen funktionierenden, das heißt magischen Fetisch zu generieren, darf eines unter keinen Umständen offenbar werden: dass der Fetisch sich der Manipulation durch den Fetischisten verdankt und eine bloße Projektion von dessen Ängsten und Begehren auf ein bloßes Ding ist. Kurz, seine Geschichte muss hinter der Maskerade verborgen bleiben. Wenn es dem Fetisch dank seiner dinglichen Maskerade auch nicht anzusehen ist, dass er eine Geschichte hat, so ist seine Struktur dennoch - wie Hartmut Böhme betont - “primär prozesshaft” (Böhme 2006: 402) organisiert, wodurch es zu einem beständigen Oszillieren zwischen der Härte der Umrisse des Fetischobjekts und dem erneuten Abfließen seiner Macht kommt. Der Fetisch changiert stets zwischen magischem Objekt und durchschaubarem Substitut. Wie Freuds Fetischismus-Modell arbeitet auch Saussures Zeichenmodell mit einer binären Opposition, deren bedeutsamer und bedeutungskonstituierender Kern die ihr innewohnende Differenz ist. Das Zeichen gilt Saussure bekanntermaßen als psychische Einheit mit zwei Seiten. Wie die beiden Seiten eines Blatt Papiers sind der Zeichenkörper und das Vorstellungsbild - im psychoanalytischen Sinne das Objekt und das Phantasma - miteinander Catherine Marten 244 verbunden. Zugleich ist jedoch die Differenz das Entscheidende der Semiose, die Verbindung zwischen dem an sich bedeutungslosen, materiellen Element und dem Sinn ist mithin arbiträr (cf. Saussure 1967: 76ff.). Die Differenz, die konstitutiv für die Erzeugung eines - in diesem Falle sprachlichen - Umgangs mit Welt ist, kann und muss in gewissem Sinne jedoch auch zu verbergen versucht werden. In diesem doppelten Mechanismus lässt sich die fetischistische Grundkonstellation, wie Freud sie beschreibt, wiederkennen. Auch hier hat der Fetisch auf das Modell einen paradoxen Effekt: Erstens vergrößert er die Differenz, indem er sie anerkennt und auf diese Weise Signifikant und Signifikat entkoppelt. Zweitens kann er diese Differenz vergessen machen, indem er sie mit einem fetischistischen Substitut besetzt. So kommt es zu einem Oszillieren zwischen der Einheit des Zeichens und seiner Differenz. 2.3 Die Schrift als Universal-Fetisch Wie in den eingangs zitierten Barthes’schen “Dialektiken” hält der Fetisch sich als dritter Term innerhalb einer binären Opposition auf. Er ist dabei jedoch nicht Synthese dieser beiden Terme, sondern ein Versatzstück mit paradoxem Potential: je nachdem, ob der Fetisch seine kompensatorische oder seine aufspaltende Wirkung entfaltet, inszeniert er die Einheit von Zeichen und Sinn oder den Bruch zwischen Signifikant und Signifikat. In Barthes’ Worten gestaltet sich dieser Mechanismus folgendermaßen: Die Schrift braucht das Diskontinuierliche, das Diskontinuierliche ist gewissermaßen die organische Bedingung ihres Auftretens; aber dieses Diskontinuierliche ist historisch sehr mobil; wenn die Schrift einmal konstituiert ist, neigt sie bald dazu, sich zusammenzuziehen, einen regelmäßigen Raum ohne Riss auszufüllen […], bald umgekehrt dazu, sich weitestgehend zu teilen (so ist in unserer Maschinenschrift jeder Buchstabe vom folgenden getrennt). Die Schrift oszilliert zwischen dem Kompakten und dem Aufgelockerten, der Bindenaht und der Bruchkante. (Barthes 2006: 99f.) Das “Zusammenziehen” der Schrift beschreibt Barthes als einen Prozess der ‘Reduktion’. Die Schrift wird durch diese Reduktion nicht nur räumlich kleiner und enger, sie wird auch dichter. Das heißt: Der ihr immanente Riss wird durch eine Abstraktion von der Materialität des Signifikanten in Hinblick auf seine referentielle Funktion zum Verschwinden gebracht. Die Schrift wird so zu einer Art ‘Universal-Fetisch’ im Sinne des Marx’schen Geldfetischs. Wie das Geld, so besitzt auch die Schrift - auf ihre materielle Dimension reduziert - keinerlei Gebrauchswert, dafür aber universellen Tauschwert. Das magische Versprechen dieser Fetisch-Objekte lautet: unermessliche Waren durch Geld, unerschöpflicher Sinn durch Schrift: […] man hat einen gewissen Parallelismus zwischen der Erfindung des Alphabets und der des einheitlichen Münzgelds feststellen können: so wie der Buchstabe der kleinste gemeinsame Nenner aller Sinne und aller Erinnerung ist, so ist das Münzgeld (im mediterranen Bereich) das Maß aller Dinge: die Zivilisation verstrickt sich in einem Prozess der Reduktion: von den Worten zum Buchstaben, von den Gütern zum Münzgeld, wobei Buchstabe und Münze an sich selbst neutral, bedeutungslos sind. (Barthes 2006: 107; Hervorh. im Original) Obwohl dieses Versprechen hier wie bei jeder Art des Fetischismus an ein materiell vorhandenes Ding gebunden ist, muss im Falle dieser speziellen Fetische ihre Materialität gerade zum Verschwinden gebracht werden, um ihre (rein repräsentative) Funktion sichern zu können. Kurzum: Ihre magische Funktion erfüllt sich zwar durch ihre Materialität, aber in ihrer Repräsentationsfunktion. Die Schrift wird hier durch den Fetisch zu einem verdichteten “mehr, mehr, noch mehr! ” 245 Zeichen, das nicht nur den ihm immanenten Bruch, sondern zugleich seinen Fetischcharakter verschleiert. Es täuscht eine Einheit des Zeichens vor, die nur durch Maskerade gewährleistet werden kann. Seine Konstruiertheit und künstliche Sinnbeladung, dass “Buchstabe und Münze an sich selbst neutral und bedeutungslos sind”, muss der Fetisch auch hier um jeden Preis verbergen, um seine magische Funktion zu sichern. In den Variations sur l’écriture heißt es in diesem Sinne: “Jedes Alphabet ist eine Bastelarbeit” (Barthes 2006: 73; Hervorh. im Original), wobei auch und gerade die Offenlegung seiner historischen Bedingungen eine Gefahr für das Intakt-Sein des Schrift-Fetischs darstellt: Auch die Schrift muss ihre eigene Entstehung - die sich laut Barthes aus einem gestisch-bildlichen Ursprung entwickelt - verschleiern. Dies geschieht, indem die Geschichte der Schrift in den Mythos der Transkription gesprochener Sprache durch Schrift verwandelt wird. Barthes entschleiert diesen Mythos und demaskiert damit den Fetisch, indem er auf die materielle Dimension des Signifikanten fokussiert. Er ruft als Kronzeugen dieser Theorie “Pater Jacques Van Ginneken” (Barthes 2006: 59) auf, der den Ursprung der Schrift in einer Gebärdensprache gesehen habe, die der phonetischen Sprache weit voraus liege: Wissenschaftlich ist diese Hypothese aus der Luft gegriffen: dennoch lenkt sie die Aufmerksamkeit auf sehr wahrscheinliche Fakten: nämlich den direkten Übergang von der Geste zum Ideogramm (ohne die Zwischenstufe der phonetischen Sprache), sogar auf die Existenz eines wirklichen gestuellen Codes (wobei die Geste dann nicht mehr als “natürlicher”, “realistischer” Ausdruck des Handelns betrachtet wird), auf die Verflechtung der Codes untereinander (Code mit Code, und nicht Code mit Realem) und auf den sehr fernen Ursprung der Schrift, viel ferner als man annimmt. (Ebd.: 61; Hervorh. im Original) Mit dieser These ist aber nicht nur der Phonozentrismus, sondern zugleich der Alphabetozentrismus ausgehebelt. In Barthes’ Modell kann es den stetigen Fortschritt vom Piktogramm zum Ideogramm, zum konsonantischen Alphabet und schließlich zum vokalischen Alphabet schlechterdings nicht geben. Stattdessen existiert für ihn nur ein ganzer Haufen von “vertikale[n], horizontale[n], schräge[n], runde[n], halbrunde[n] Striche[n], Klammern, Schleifen” (ebd.: 73), von denen behauptet wird, sie repräsentierten die Lautsprache und den - innerhalb dieses Mythos mit der Lautsprache identischen - Sinn. Barthes zufolge ist es schlicht unsere Kultur, die dieses graphische Material in einem fetischistischen Akt mit Bedeutung belädt, um schließlich eine Welt zu erzeugen, in der jedem Zeichen und jedem Ding ein Sinn zugewiesen und es in das bestehende System eingegliedert werden kann beziehungsweise muss. Dazu Barthes in den Variations: Es gibt nicht-entzifferbare Schriften (die der Oster-Inseln, die des Indus-Tales) […]. Es gibt auch Schriften, dir wir nicht verstehen und von denen sich gleichwohl nicht sagen lässt, dass sie nicht-entzifferbar sind, weil sie schlicht und einfach jenseits aller Entzifferung liegen: das sind die fiktiven Schriften, wie sie von manchen Malern oder manchen Außenseitern imaginiert wurden. […] Das Interessante - aber das Verblüffende - ist, dass nichts, absolut nichts die wahren Schriften von den falschen Schriften unterscheidet […]. Es sind wir, unsere Kultur, unser Gesetz, die über den Referenzstatus einer Schrift entscheiden. Was soll das heißen? Dass der Signifikant frei ist, souverän. Eine Schrift braucht nicht lesbar zu sein, um eine Schrift im vollen Wortsinne zu sein. Man kann sogar sagen, dass von dem Augenblick an, da der Signifikant […] sich von jedem Signifikat löst und das referentielle Alibi entschieden fahren lässt, der Text […] in Erscheinung tritt. Denn um zu verstehen, was der Text ist, genügt es - aber das ist unabdingbar -, den Schwindel erregenden Schnitt zu sehen, der dem Signifikanten sich zu konstituieren, sich zu gliedern und sich zu entfalten erlaubt, ohne dass ihn noch irgendein Signifikat stützte. Die unlesbaren Schriften sagen uns (und nur das), dass es Zeichen gibt, aber keinerlei Sinn. (Barthes 2006: 77/ 79; Hervorh. im Original) Catherine Marten 246 3. Das Potenzial des Fetischs oder Die Rückkehr des Dings auf einer “anderen Windung der Spirale” Wir befinden uns nun quasi auf der anderen Seite des “Schwindel erregenden Schnitts”, auf der der Fetischist nicht mehr nach dem Sinn der Schrift fragt, sondern lustvoll ausruft: “mehr, mehr, noch mehr! Noch ein anderes Wort, noch ein anderes Fest.” (Barthes 2010: 16f.; Hervorh. im Original) Doch wie sind wir von der Seite des Gesetzes auf die Seite der Lust übergewechselt? Durch die paradoxe Struktur des Fetischs, die es erlaubt, den erstarrten Schrift-Fetisch in etwas zu verwandeln, das Freud einen “besonders raffinierten Fetisch” nennen würde, “in dessen Aufbau sowohl die Verleugnung wie die Behauptung der Kastration Eingang gefunden haben” (Freud 1976: 387). Dies geschieht bei Barthes wie gesagt über die Einsicht in den “Schwindel erregenden Schnitt” zwischen Signifikant und Signifikat, der zu einem Oszillieren dieser beiden Seiten des Zeichens führt, statt wie vorher den Signifikanten zugunsten des Signifikats vollständig abzublenden. Der Schnitt wird jedoch erst sichtbar, wenn ich diese Abblendung im wahrsten Sinne re-vidiere und mich auf das Anschauen des materiellen Zeichenkörpers besinne, indem ich den Augenblick herbeiführe, “da der Signifikant […] sich von jedem Signifikat löst und das referentielle Alibi entschieden fahren lässt”. Barthes’ Kritik am fetischistischen Umgang mit Schrift zielt also, wie inzwischen klar geworden sein dürfte, nicht etwa auf dessen Perversität. Er kritisiert vielmehr, dass die ansonsten transitorische und polymorphe Form des Fetischs in der “Persistenz der Reliquie, [der] abstrakte[n] und homogene[n], gewissermaßen monotheistische[n] und katholische[n], sprich: allgemeine[n] Form eines Systems” (Böhme 2001: o.S.) still gestellt wird. Der Fetisch muss also in Barthes’ Konzept durch den “Rückgriff auf den Körper” - und hier ist nicht nur der Körper des Schreibenden, sondern auch derjenige der Schrift gemeint - in einen positiven Fetisch umgemünzt werden: Über die Betonung des Signifikanten und die Einsicht in die Differenz des Zeichens wird der universelle Schrift-Fetisch von einem kulturell determinierten Gegenstand der Machtsicherung zu einer lustvollen Praxis des Schreibens und Lesens, die die Differenz nicht verleugnet, sondern mit ihr spielt. Die erstarrte Schrift, die bis dato Zeichen der Abwehr, der Gewalt und der kulturellen Determinierung war, wird so in einem individuellen körperlichen Prozess im übertragenen wie im wörtlichen Sinn verflüssigt. Dabei bewegt sie sich stets und unentscheidbar zwischen Affirmation und Subversion: “Text der Lust: der befriedigt, erfüllt, Euphorie erzeugt; der von der Kultur herkommt, nicht mit ihr bricht, gebunden ist an eine behagliche Praxis der Lektüre” (Barthes 2010: 23; Hervorh. im Original). Dieser zweite, gewissermaßen umgestülpte Fetisch sitzt dem ersten also auf, braucht ihn, um in einer Art kritischen Mimesis all das offenzulegen, was die Schrift und damit ihr Erzeuger - die Kultur - von sich zu verschleiern suchte. Die Lust am Text ist nach Barthes “etwas sehr Kulturelles” (ebd.: 65) und das Spiel mit der Differenz etwas genuin Modernes: Von hier aus lassen sich vielleicht die Werke der Moderne bewerten: Ihr Wert ergäbe sich aus ihrer Duplizität. Darunter ist zu verstehen, daß sie immer zwei Seiten besitzen. Die subversive Seite kann privilegiert erscheinen, ist sie doch die Seite der Gewalt; aber nicht die Gewalt beeindruckt die Lust; die Zerstörung interessiert sie nicht; was sie will, ist der Ort des Sichverlierens, ist die Spalte, der Schnitt, die Deflation, das fading, welches das Subjekt im Herzen der Wollust erfaßt. Die Kultur kommt folglich als Seite wieder: in gleich welcher Form. (Barthes 2010: 15; Hervorh. im Original) “mehr, mehr, noch mehr! ” 247 3.1 Fetisch werden: Barthes’ unlesbare Schrift Durch das beständige Schwanken der Lust, ist nicht sie es, die für Barthes den Ausgang aus der Gewalt und aus der Kultur eröffnet, sondern die ihr einerseits verwandte, andererseits entgegengesetzte ‘Wollust’ oder ‘jouissance’. Um zugleich das Oszillieren zu blockieren und sich der Gewalt des Systems zu entziehen - um sich also, denkt man noch einmal an den Begriff des ‘déport’, aus einer vermittelnden Position, die man innehat, zurückzuziehen -, muss die Lust um ein weiteres Mal und diesmal bis ins Extreme gesteigert werden: Texte der Wollust. Die Lust in Stücken; die Sprache in Stücken; die Kultur in Stücken. Sie sind insofern pervers, als sie außerhalb jeder vorstellbaren Finalität sind - sogar jener der Lust - (die Wollust zwingt nicht zur Lust; sie kann sogar scheinbar langweilen). Kein Alibi hält, nichts stellt sich wieder her, nichts wird wieder einverleibt. Der Text der Wollust ist absolut intransitiv. Gleichwohl reicht die Perversion nicht aus, um die Wollust zu definieren; das Extrem der Perversion definiert sie: das stets deplazierte [sic] Extrem, das leere, mobile, unvorhersehbare Extrem. (Ebd.: 66; Hervorh. im Original) Die extreme Perversion macht so die materielle Seite des Textes, den Signifikanten, zum Subjekt. Man denke noch einmal an Barthes’ Satz: “Der Text ist ein Fetischobjekt, und dieser Fetisch begehrt mich” (ebd.: 38; Hervorh. im Original). Indem ich mich dem Text hingebe, mache ich mich selbst vom Subjekt zum Objekt, zum Gegenstand bzw. zum Körper, der sich in nichts von meinem Fetisch unterscheidet. Nur so kann ich an dem Ort, der bisher zwar vom Fetisch besetzt, aber unerreichbar war, mit diesem verschmelzen. Der atopische Ort, der laut Barthes nur durch den Prozess des “Abdriftens” zu erreichen ist (cf. ebd.: 28f.), ist nämlich just die Differenz, die der Fetischist aus Angst vor der Leerstelle stets zu meiden versucht hat. In dem Moment, da ich mich mit dem Fetisch lustvoll vereinige und ihn bis zum Extrem anschwellen lasse, vergrößert sich die Differenz und wird zugleich ausgefüllt, bis es innerhalb und außerhalb dieser Differenz nichts mehr gibt - außer: meinen mit dem Fetisch verschmolzenen Körper. Ich besitze so zwar immer noch einen kulturell und historisch determinierten Körper, dieser kann sich jedoch durch übersteigerte Affirmation allem, was ihn determiniert, entziehen: Asozialer Charakter der Wollust. Sie ist der abrupte Verlust der Sozialität, und gleichwohl folgt daraus kein Rückfall zum Subjekt (zur Subjektivität), zur Person, zur Einsamkeit: Alles geht verlustig, ganz und gar. Extremer Hintergrund der Heimlichkeit, kinoschwarz. (ebd.: 52; Hervorh. im Original) Die Kinoschwärze ist auch der eigentliche Fluchtpunkt von Barthes’ Wollust und eben nicht das weiße Blatt Papier, das darauf wartet, beschrieben zu werden. Dieser Umstand kann kaum verwundern, mutet Barthes’ Umgang mit dem “Schrift-Objekt” doch primär als theoretisches “Spiel” an. Dabei liegt die Stärke, man könnte auch sagen: der Trick seiner Ausführungen darin, sich auf keinen festen Begriff - auch nicht den des Fetischs - festzulegen, sondern genau das immerwährende Oszillieren, das er im Text beschreibt, auch durch die Unbestimmbarkeit seiner Begriffe zu performieren. So ist im Text zwar von der Loslösung des Signifikanten vom Signifikat, von “sukkulenten”, “eingestampften” und “detonierenden” Wörtern die Rede, die das Potenzial besitzen, den Leser in den Zustand der Wollust zu versetzen; jedoch bleiben diese de facto konturlos. Zwar könnte man mit Barthes selbst argumentieren, dass der Zustand der Wollust epiphanisch, unvorhersehbar und vor allem “un-sagbar, unter-sagt” (ebd.: 31, cf. auch ebd.: 13) ist. Trotzdem gibt es in Barthes’ Theorie einen Ort, an dem die Wollust scheinbar programma- Catherine Marten 248 Abb. 1: Entnommen aus: Roland Barthes 1978: Über mich selbst, Berlin: Matthes & Seitz: 202 tisch statthat und mithin einen Teil ihrer Atopie aufgibt: das Kino. Hier, wo man den Klang der Stimme “aus größter Nähe” (ebd.: 84; Hervorh. im Original) aufnimmt, “und in ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit, den Atem, die Rauheit, die Fleischlichkeit der Lippen, die ganze Präsenz der menschlichen Schnauze hören läßt”, gelingt es, so Barthes, “das Signifikat in weite Ferne zu rücken” (ebd.: 84). Das “vokale Sprechen” (ebd.: 82f.), das Grundbedingung für diese Materialisierung des Signifikanten ist, meint - wie Barthes betont - “keinesfalls das Sprechen” (ebd.: 83), sondern das “Schreiben mit lauter Stimme” (ebd.: 82; Hervorh. im Original). Das Resultat eines solchen Schreibens wäre - verlassen wir noch einmal das Kino und kehren zu Barthes’ Handschrift zurück - vielleicht nicht so sehr ein “erotisches Wort”, sondern am ehesten jene “unlesbare Schrift”, die im Anhang von ROLAND BARTHES par Roland Barthes zu finden ist (Abb. 1): Diese aus Barthes’ eigener Feder stammende visuelle ‘Materialisierung’ des Konzepts von einem freien, vom Signifikat entkoppelten Signifikanten (cf. Barthes 1978: 202) zeigt auf anschauliche Weise, wie Barthes’ Schriftbegriffe sich wechselseitig durchdringen. In dieser ‘Kritzelei’ ist das Oszillieren zwischen konventionellem “erstarrten Objekt” und körperlicher “lustvoller Praxis” auf Dauer gestellt. Bibliographie Barthes, Roland 1978: Über mich selbst, Berlin: Matthes & Seitz Barthes, Roland 2006: Variations sur l'écriture/ Variationen über die Schrift, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Barthes, Roland 2010: Die Lust am Text, Berlin: Suhrkamp (= Suhrkamp Studienbibliothek 19) Böhme, Hartmut 2001: “Das Fetischismus-Konzept von Marx und sein Kontext”, in: Volker Gerhardt (ed.) 2001: Marxismus. Versuch einer Bilanz, Magdeburg: Scriptum: 289-319, im Internet unter http: / / www.culture.huberlin.de/ hb/ static/ archiv/ volltexte/ texte/ fetisch.html [23.01.2014] Böhme, Hartmut 2 2006: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (= rowohlts enzyklopädie 55677) Ette, Ottmar 2010: “Kommentar”, in: Barthes 2010: 87-502 Ette, Ottmar 2011: Roland Barthes zur Einführung, Hamburg: Junius Freud, Sigmund 1976: “Fetischismus”, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Werke aus den Jahren 1925-1931, Bd. 14, Frankfurt/ M.: Fischer: 311-317 Saussure, Ferdinand de 2 1967: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: De Gruyter Stoller, Robert J. 1985: Observing the Erotic Imagination, New Haven, CT: Yale University Press