Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2015
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Roland Schmiedel 2015: Schreiben über Afrika: Koloniale Konstruktionen. Eine kritische Untersuchung ausgewählter zeitgenössischer Afrikaliteratur (= Cross Cultural Communication 26), Frankfurt/Main: Peter Lang, 328 pp., geb., 61,95 €, ISBN 978-3-631-65694-5
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2015
Ernest W. B. Hess-Lüttich
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K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Reviews Roland Schmiedel 2015: Schreiben über Afrika: Koloniale Konstruktionen. Eine kritische Untersuchung ausgewählter zeitgenössischer Afrikaliteratur (= Cross Cultural Communication 26), Frankfurt/ Main: Peter Lang, 328 pp., geb., 61,95 € , ISBN 978- 3-631-65694-5 Seit einiger Zeit ist in Deutschland das Interesse am deutschsprachigen Afrika-Roman (und seinen etwaigen Verfilmungen) nicht nur im Buch- und Medienmarkt deutlich gewachsen, auch die germanistische Literaturwissenschaft setzt sich zunehmend intensiv mit dem Genre auseinander. Deren Beschäftigung mit den mittlerweile zahlreichen literarischen Beispielen und den sich darin gegebenenfalls manifestierenden postkolonialen Potentialen und Perspektiven ist oft geprägt durch eine Einbettung der Lektüre in eine reflektierte meta-historische Verarbeitung der in ihnen explizit thematisierten oder implizit assoziierten geschichtlichen Ereignisse. In diesen Diskurs reiht sich auch die hier von R OLAND S CHMIEDEL (im folgenden: Verf.) zunächst als Dissertation vorgelegte Studie ein. 1 Im Hinblick auf die politischen Dimensionen des Postkolonialismus untersucht der Verf. die vier von ihm exemplarisch ausgewählten Zeitromane mit Afrikabezug im Hinblick auf die Frage, ob die von den Autoren beabsichtigten postkolonialen Potentiale erreicht werden oder ob sie eher zur Fortschreibung kolonialer Stereotype beitragen. In einem ausgreifenden Überblick (Kap. 1: 21 - 68) wird der facettenreiche Hintergrund des ‘ europäischen Blicks ’ auf Afrika entfaltet und die Entwicklung des präkolonialen, kolonialen und postkolonialen ‘ Afrikadiskurses ’ nachgezeichnet. Zum Zwecke einer begrifflich genaueren Fassung des Ausdrucks ‘ postkolonial ’ diskutiert der Verf. zunächst die beiden wichtigsten Richtungen postkolonialer Theorien und rekonstruiert überdies die historische Entwicklung postkolonialer Theorieansätze überhaupt, nicht ohne dabei die Unterschiede zwischen der deutschen Ausprägung dieser Diskursstränge und derjenigen in den ehemaligen Kolonialstaaten herauszuarbeiten. In seinen theoretischen Überlegungen unterscheidet der Verf. (im 2. Kap.: 69 - 89) landläufig so genannte ‘ postkoloniale Afrikaliteratur ’ genauer von der postkolonial intendierten Literatur, die diegetische Realitäten entwirft und damit den Leser dafür sensibilisieren will, einerseits die Grenzen der eigenen Erfahrungen zu erkennen, andererseits die historisch-politischen Schilderungen und zeitgeschichtlichen Anspielungen im jeweiligen Text kritisch zu reflektieren. Die Fiktionalisierung von geschichtlichen Ereignissen und ihre narrative Einbettung in die rekonstruierten historischen Prozesse ist für sich genommen natürlich noch keine Geschichtsschreibung, sondern allenfalls ein Impuls für den spezifisch interessierten Leser, sich mittels historiographischer Studien selbst ein genaueres Bild zu machen. Auf diese indirekte Weise vermag postkolonial intendierte deutsche Literatur beim Lesepublikum im Glücksfalle auch eine politische Wirkung zu erzielen. Damit legt der Verf. neben seinem analytischen Erkenntnisinteresse zugleich die humanistische Motivation seines engagierten Unterfangens frei. Das dritte Kapitel (91 - 125) stellt die für die Untersuchung benötigten Analysekriterien vor und bestimmt Joseph Conrads Herz der Fins- 1 Alle Zitate beziehen sich im Folgenden auf die oben genannte Ausgabe. ternis als Prätext seines Genres und als Muster kolonialer Konstruktion. Das ist keine ganz originelle Idee, aber der Verf. will auch keine grundsätzlich neue Interpretation des Textes vorschlagen, sondern ihn explizit als Imperialismuskritik lesen. Conrad gelinge es, argumentiert der Verf., durch Entfaltung der charakteristischen Muster des Kolonialismus die Prämissen und Strukturen des Imperialismus aufzuzeigen, statt sie plakativ anzuklagen. Durch die Konfrontation mit dem unbegriffen-unbegreiflich Fremden führe er dem Leser die eigenen Ängste und Denkweisen unmittelbar vor Augen, womit der Text die behauptete imperialismuskritische Wirkung erziele. Die Auseinandersetzung der Autoren postkolonial intendierter Literatur mit der Rekonstruktion kolonialer Wirklichkeit anhand der Thematisierung des Eindringens der Kolonisatoren in den ihnen fremden Lebensraum, der Ausbeutung von Mensch und Natur, der Entmenschlichung der Kolonisierten und der Kolonisatoren, des fragilen Verhältnisses von Zivilisation und Barbarei dient dem Verf. als kategoriales Gerüst für die anschließenden vier Analysekapitel der Studie, in denen die ausgewählten Zeitromane mit Afrikabezug im Hinblick auf das jeweilige postkoloniale Potential untersucht werden. Den Auftakt bildet Lukas Bärfuss ’ Roman Hundert Tage, der nicht nur formale Parallelen zum Conradschen Prätext aufweist. Ein Schwerpunkt der Analyse (Kap. 4: 127 - 164) ist auf die von Bärfuss beschriebene Praxis der Akteure internationaler Entwicklungshilfe gelegt, die hier am Beispiel der D EZA (der Schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) als neokoloniale Beziehung bewertet wird. Indem der Protagonist (der an seinen Aufgaben und den eigenen Fähigkeiten scheiternde Entwicklungshelfer David Hohl) die Fremdheit der ‘ Anderen ’ als koloniale Konstruktion akzeptiert, werden Prinzipien des Kolonialismus bewusst gemacht. Kulturelles Fremdverstehen wird möglich in dem Maße, in dem die kolonialen Muster zugunsten verbindender kultureller Vorstellungen und hybrider Identitäten aufgelöst werden. In der psychischen Degeneration des Protagonisten, seiner Entwicklung vom Helfer zum Täter, meint der Verf., zeige sich im Kontext des Genozids die Gleichzeitigkeit von Zivilisation und Barbarei, in der sich das europäische Identitätsprofil und damit die Differenz zum imaginierten Anderen aufzulösen beginne. Hans Christoph Buchs Erzählung Kain und Abel in Afrika, die eigene Augenzeugenberichte und persönliche traumatische Erfahrungen in Ruanda mit der historischen Rekonstruktion von Wirklichkeit zum Genozid in Ruanda zu verschmelzen sucht, ist Gegenstand der Analyse im fünften Kapitel (165 - 212). Die Erzählung, eine Literarisierung einer Serie von Reportagen des Autors in der Zeit über die Zustände in Ruanda, sei gekennzeichnet durch Oppositionen, die dem kolonialen Diskurs entstammen, die aber dadurch nicht automatisch zu einer Pluralität der Perspektiven führen. Die Figur des Du-Erzählers, dessen sexuellen Triebe keine moralischen Grenzen kennen und der sich dadurch eher als ‘ echter Kolonialist ’ erweise, mache es schwer, in der Gegenwartserzählung einen postkolonialen Ansatz zu erkennen. Die Beschreibungen der Flüchtlingssituationen, die fast voyeuristische Darstellung von Szenen menschenverachtender Gewalt, verhinderten nicht nur die angestrebte Kritikfunktion der Schilderung, sondern schrieben mit der symbolischen Vereinnahmung ‘ des Afrikaners ’ die koloniale Sichtweise des deutschen Journalisten lediglich fort. Zwar zeige die Figur des Afrikaforschers Richard Kandt mit Bezug auf dessen autobiographischen Reisebericht auf der historischen Erzählebene Züge eines Kolonialkritikers, die in der Summe jedoch nicht das System des Kolonialismus an sich kritisch hinterfrage und damit am literarischen postkolonialen Diskurs kaum teilzunehmen beanspruchen könne. Das sechste Kapitel (213 - 252) analysiert den zeitaktuellen Kolonialroman Der Schrei der Hyänen des Autorenpaares Andrea Paluch & Robert Habeck, der die problematische deutsche koloniale Vergangenheit thematisiert und damit als ein Beispiel kritischer Gegenwartsliteratur mit kolonialem Sujet gilt. Ausgehend vom deutschen Kolonialismus in ‘ Deutsch-Südwestafrika ’ hinterfragt die Erzählung zugleich koloniale und rassistische Perspektiven in den Jahren 1959 und 1989 in der Bundesrepublik Deutschland. Auf mehreren Erzählebenen wird die kolonialkritische Perspektive entwickelt, indem der Bezug von der inneren Gewalt des kolonialen Systems (am Reviews 171 Beispiel der Figur Arabella im kolonialen Deutsch-Südwestafrika) zum Rassismus in der postkolonialen bundesdeutschen Gesellschaft des Jahres 1959 hergestellt und im Blick auf den Bedeutungswandel pejorativ konnotierter Begriffe wie ‘ Neger ’ oder ‘ Kaffer ’ Verbindungslinien zum Jahr 1989 ausgezogen werden, wobei freilich der Versuch einer lexikalisch-semantischen Analyse des Bedeutungswandels solcher heute abwertend wirkenden Wörter in Kap. 6.5 (239 ff.) aus linguistischer Sicht erkennbar unterinformiert wirkt. Immerhin, so macht der Verf. geltend, diene die Darstellung des kolonialen Stoffes der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Diskriminierungen und plädiere für politische Veränderungen im Sinne einer vorurteilsfreien Gesellschaftsordnung. Ilija Trojanows Bestseller Der Weltensammler steht im Mittelpunkt des Schlusskapitels (253 - 289). Der Roman ist ein postkolonialer Roman, in dem das ‘ Dazwischen ’ zum erzählerischen Prinzip erhoben wird: die Analyse des Ostafrika- Kapitels präpariert die transkulturellen Elemente der Figuren Burton und Bombay heraus, die in der Begegnung mit den Fremdkulturen so etwas wie ein transkulturelles Identitätskonzept entwickeln. Die Geschichte der Sklaverei in Ostafrika wird geschickt mit der historischen Figur des Briten Richard Francis Burton verknüpft, der in Bombays Erzählung gleichsam zum Statisten gerät, der sich der Elemente verschiedener Kulturen bedient und damit so etwas wie ein transkulturelles Kulturkonzept entwickelt, in dem ein Mensch nicht durch einen bestimmten Kulturindex oder durch religiöse Zugehörigkeit zu definieren, sondern an allgemein gültigen moralischen Maßstäben seines Handelns zu messen sei. Damit diene Trojanows erzählerischer Ansatz der Auflösung kolonialer Differenzproduktion und werde im Sinne eines transkulturellen Identitätskonzept postkolonial wirksam. In seiner resümierenden Schlussbetrachtung (291 - 298) meint der Verf., dass das koloniale ethnisierende Inferioritätsdenken in der deutschsprachigen postkolonial intendierten Literatur überwunden werden könne, wenn die Autoren in ihren Texten Charaktere entwürfen, die fähig seien, in der Begegnung mit der Fremde eigene Irrtümer, Unsicherheiten und Irritationen zuzulassen und sich die Grenzen der eigenen Erfahrung einzugestehen. Damit vermöchten sie die deutsche koloniale Vergangenheit ohne die Wiederaufnahme kolonialer Stereotype zu problematisieren und politisch eine postkoloniale Wirkung zu erzielen. Ein Anhang mit farbig reproduzierten Abbildungen und ein reichhaltiges Literaturverzeichnis schließen den Band ab (299 - 325). Insgesamt ist die Untersuchung in sich schlüssig und auf der Grundlage breiter Rezeption einschlägiger Sekundärliteratur solide gearbeitet. Auch wenn der Ausgang von Conrads Herz der Finsternis als Prätext nicht so neu - und übrigens nicht unproblematisch: man denke an die Kritik von afrikanischen Autoren wie Chinua Achebe, der das Buch als rassistisch bezeichnet hat - erscheint, so bieten die Interpretationen der vier Beispieltexte doch einen guten Einblick in die aktuelle deutschsprachige Afrikaliteratur (auch wenn kaum begründet wird, warum die Wahl auf diese Texte fiel und nicht auf andere in diesem Zusammenhang ebenfalls einschlägige Texte (und Medien, etwa Verfilmungen wie Die weiße Massai nach dem Buch von Corinne Hofmann oder Nirgendwo in Afrika nach dem Bestseller von Stefanie Zweig). Dennoch bietet das Buch einen durchaus fruchtbaren Beitrag zu den aktuellen Postcolonial Studies in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft. Ernest W. B. Hess-Lüttich Ivan Vlassenko 2015: Sprechen über HIV/ AIDS. Narrative Rekonstruktionen und multimodale Metaphern zur Darstellung von subjektiven Krankheitstheorien (= Germanistik 46), Berlin: Lit, 560 pp, br., 64,90 € , ISBN 978-3-643-13061-7 Im anglophonen und im romanophonen Raum erschienen vor etlichen Jahren die ersten linguistisch, kommunikationswissenschaftlich und semiotisch interessierten Untersuchungen zur öffentlichen Kommunikation über AIDS und die Kampagnen zur AIDS-Prävention. In jüngerer Zeit stößt das Thema auch in der germanistisch- 172 Reviews
