eJournals Kodikas/Code 38/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2015
381-2

Ivan Vlassenko 2015: Sprechen über HIV/AIDS. Narrative Rekonstruktionen und multimodale Metaphern zur Darstellung von subjektiven Krankheitstheorien (= Germanistik 46), Berlin: Lit, 560 pp., br., 64,90 €, ISBN 978-3-643-13061-7

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2015
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod381-20172
Beispiel der Figur Arabella im kolonialen Deutsch-Südwestafrika) zum Rassismus in der postkolonialen bundesdeutschen Gesellschaft des Jahres 1959 hergestellt und im Blick auf den Bedeutungswandel pejorativ konnotierter Begriffe wie ‘ Neger ’ oder ‘ Kaffer ’ Verbindungslinien zum Jahr 1989 ausgezogen werden, wobei freilich der Versuch einer lexikalisch-semantischen Analyse des Bedeutungswandels solcher heute abwertend wirkenden Wörter in Kap. 6.5 (239 ff.) aus linguistischer Sicht erkennbar unterinformiert wirkt. Immerhin, so macht der Verf. geltend, diene die Darstellung des kolonialen Stoffes der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Diskriminierungen und plädiere für politische Veränderungen im Sinne einer vorurteilsfreien Gesellschaftsordnung. Ilija Trojanows Bestseller Der Weltensammler steht im Mittelpunkt des Schlusskapitels (253 - 289). Der Roman ist ein postkolonialer Roman, in dem das ‘ Dazwischen ’ zum erzählerischen Prinzip erhoben wird: die Analyse des Ostafrika- Kapitels präpariert die transkulturellen Elemente der Figuren Burton und Bombay heraus, die in der Begegnung mit den Fremdkulturen so etwas wie ein transkulturelles Identitätskonzept entwickeln. Die Geschichte der Sklaverei in Ostafrika wird geschickt mit der historischen Figur des Briten Richard Francis Burton verknüpft, der in Bombays Erzählung gleichsam zum Statisten gerät, der sich der Elemente verschiedener Kulturen bedient und damit so etwas wie ein transkulturelles Kulturkonzept entwickelt, in dem ein Mensch nicht durch einen bestimmten Kulturindex oder durch religiöse Zugehörigkeit zu definieren, sondern an allgemein gültigen moralischen Maßstäben seines Handelns zu messen sei. Damit diene Trojanows erzählerischer Ansatz der Auflösung kolonialer Differenzproduktion und werde im Sinne eines transkulturellen Identitätskonzept postkolonial wirksam. In seiner resümierenden Schlussbetrachtung (291 - 298) meint der Verf., dass das koloniale ethnisierende Inferioritätsdenken in der deutschsprachigen postkolonial intendierten Literatur überwunden werden könne, wenn die Autoren in ihren Texten Charaktere entwürfen, die fähig seien, in der Begegnung mit der Fremde eigene Irrtümer, Unsicherheiten und Irritationen zuzulassen und sich die Grenzen der eigenen Erfahrung einzugestehen. Damit vermöchten sie die deutsche koloniale Vergangenheit ohne die Wiederaufnahme kolonialer Stereotype zu problematisieren und politisch eine postkoloniale Wirkung zu erzielen. Ein Anhang mit farbig reproduzierten Abbildungen und ein reichhaltiges Literaturverzeichnis schließen den Band ab (299 - 325). Insgesamt ist die Untersuchung in sich schlüssig und auf der Grundlage breiter Rezeption einschlägiger Sekundärliteratur solide gearbeitet. Auch wenn der Ausgang von Conrads Herz der Finsternis als Prätext nicht so neu - und übrigens nicht unproblematisch: man denke an die Kritik von afrikanischen Autoren wie Chinua Achebe, der das Buch als rassistisch bezeichnet hat - erscheint, so bieten die Interpretationen der vier Beispieltexte doch einen guten Einblick in die aktuelle deutschsprachige Afrikaliteratur (auch wenn kaum begründet wird, warum die Wahl auf diese Texte fiel und nicht auf andere in diesem Zusammenhang ebenfalls einschlägige Texte (und Medien, etwa Verfilmungen wie Die weiße Massai nach dem Buch von Corinne Hofmann oder Nirgendwo in Afrika nach dem Bestseller von Stefanie Zweig). Dennoch bietet das Buch einen durchaus fruchtbaren Beitrag zu den aktuellen Postcolonial Studies in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft. Ernest W. B. Hess-Lüttich Ivan Vlassenko 2015: Sprechen über HIV/ AIDS. Narrative Rekonstruktionen und multimodale Metaphern zur Darstellung von subjektiven Krankheitstheorien (= Germanistik 46), Berlin: Lit, 560 pp, br., 64,90 € , ISBN 978-3-643-13061-7 Im anglophonen und im romanophonen Raum erschienen vor etlichen Jahren die ersten linguistisch, kommunikationswissenschaftlich und semiotisch interessierten Untersuchungen zur öffentlichen Kommunikation über AIDS und die Kampagnen zur AIDS-Prävention. In jüngerer Zeit stößt das Thema auch in der germanistisch- 172 Reviews diskurslinguistisch orientierten Forschung sowie im Bereich der Untersuchung medizinischer Kommunikation auf Interesse. Dabei sind jedoch empirische Arbeiten auf der Grundlage von linguistischen Analysen der Gespräche mit Betroffenen aus naheliegenden Gründen bislang sehr rar. Umso verdienstvoller das Vorhaben von I VAN V LASSENKO (im folgenden: Verf.), diese Lücke zu schließen. 1 Seine hier vorgelegte umfangreiche Arbeit - ursprünglich eine in Bayreuth von Karin Birkner betreute Dissertation - basiert auf Audio- und Videoaufzeichnungen narrativer Interviews, die der Verf. mit vom HI-Virus infizierten bzw. an AIDS erkrankten homosexuellen Männern geführt hat. Allein schon diese kommunikative Konstellation ist hochkomplex, deren genaue Untersuchung ein methodisches Instrumentarium erfordert, das in verschiedenen Disziplinen z. T. erst in der jüngeren Zeit entwickelt wurde. Für die Analyse von multimodal codierten Texten (wie Gesprächen von Angesicht zu Angesicht und deren Notation) gelten zunächst die grundsätzlichen methodischen Probleme der Corpusgewinnung, -speicherung und -auswertung von Zeichenketten, die parallel über mehrere Kanäle gleichzeitig ablaufen. Die damit verbundenen zeichentheoretischen Fragen werden vom Verf. im Ansatz ebenso reflektiert wie die diskursiven Probleme, die sich aus dem Sprechen von homosexuellen Betroffenen über heikle Themen wie ihre eigene Erkrankung (meist aufgrund ungeschützter Sexualpraktiken) ergeben mit all deren Implikationen (ich nenne nur die Stichworte gay identity, membership categorisation, implizites Wissen, Fach- und Gruppensprache, Experten-/ Laienkommunikation, in sich gestaffelte bzw. differenzierte Subkultur, soziale Ausgrenzung, Selbsthilfegruppen von schwulen HIV- Positiven u. v. m.). In dieser anspruchsvollen Ausgangsposition setzt sich der Verf. zum Ziel aufzuzeigen, inwiefern “ spontane ins Krankheitsnarrativ eingebettete Erzählungen und multimodale Metaphern eine wichtige kommunikativ veranschaulichende Funktion erfüllen und zur Darstellung der subjektiven Vorstellungen über die HIV-Infektion eingesetzt werden ” (p 17). Dazu zieht er den im Rahmen der Medizinischen Kommunikation entwickelten Ansatz der ‘ Subjektiven Krankheitstheorien ’ heran, den er in dritten Kapitel (pp 398 - 73) ausführlich vorstellt, nachdem zuvor der Gesprächsgegenstand HIV-Infektion genauer erläutert und der Kontext der gesellschaftlichen, medialen, religiösen, politischen Wahrnehmung von AIDS entfaltet wurde. Nicht minder gründlich wird im vierten Kapitel (pp 75 - 122) der zweite Forschungsstrang der ‘ Konversationellen Erzählung ’ entwickelt, die im Zentrum des Corpus und des Interesses an den Erzählungen der Interviewpartner über ihre Krankheit stehen. Von besonderer Bedeutung ist hier die Fortentwicklung der Erzählanalyse unter Einschluss ihrer non-verbalen Anteile in der direkten Interaktion. Folgerichtig widmet sich der Verf. hier den jüngsten Entwicklungen der Gesprächsanalyse, die das kommunikative Ereignis als multimodales ernst nimmt. Meine diesbezüglichen (und seinerzeit weitgehend ignorierten) Forderungen bei der Gründung der Sektion ‘ Multimediale Kommunikation ’ in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (1976), nämlich die Komplexität des Zeichenprozesses nicht auf das zu reduzieren, was in eine zu eng dimensionierte linguistische Schublade passt, finden in der heutigen Forschung meist in vollem Umfang Berücksichtigung. Ihren aktuellen Stand fasst das fünfte Kapitel (pp 123 - 158) in übersichtlicher Weise zusammen. Weil das Interesse aber auch dem Gebrauch von Metaphern in den konversationellen Erzählungen der Interviewten gilt, widmet sich der Verf. im sechsten Kapitel (pp 159 - 203) mit der ihm eigenen Genauigkeit auch diesem wohl etablierten Forschungssegment und erweitert es um die multimodale Perspektive auf den Metapherngebrauch in der direkten Interaktion. Damit ist das forschungsgeschichtliche, methodologische und theoretische Fundament gelegt für die Betrachtung des nach allen Regeln der Kunst erhobenen und für die Zwecke der Analyse aufbereiteten Datenmaterials, das im siebten Kapitel (pp 205 - 214) vorgestellt wird. Dieses Material besteht wesentlich in den Transkripten von neun Interviews, die im Hinblick auf die zuvor entwickelten Kategorien im zentralen achten Kapitel (pp 215 - 438) exempla- 1 Alle Zitate beziehen sich im Folgenden auf die oben genannte Ausgabe. Reviews 173 risch analysiert werden. Die Analysen folgen dabei aus Gründen der Vergleichbarkeit einem einheitlichen Aufbau: an die Beschreibung der Situation des jeweiligen Gesprächs schließt sich zunächst eine Grobanalyse des Verbaltranskripts zur narrativen Struktur an, die dann um eine multimodale Feinanalyse erweitert wird. Die jeweilige Auswertung präpariert die dabei zutage tretenden Aspekte (wie z. B. die Rolle multimodaler Metaphern in Traumerzählungen zur Veranschaulichung subjektiver Krankheitstheorien, die Funktion der Erzählung biographischer Erfahrungen und deren narrativer Re-Inszenierung, die Dynamik spontaner Metaphernbildung und die Formen des Wissenstransfers usw.) auf eine den Leser sehr überzeugende (stellenweise auch bewegenden) Weise heraus. Die Ergebnisse dieser Fallanalysen werden dann im abschließenden neunten Kapitel (pp 439 - 492) eingehend diskutiert im Hinblick auf die eingangs begründeten Forschungsebenen, also insbesondere in der makroskopischen Perspektive auf das AIDS-bezogene Krankheitsnarrativ, in der mesoskopischen Perspektive auf die Phasenstruktur der Erzählungen und in der mikroskopischen Perspektive auf die konversationellen Verfahren der Veranschaulichung, auf die Dynamik der Metaphernbildung und die Pragmatik der Metaphernmodifikation sowie auf die Rolle der multimodalen Metapher im Erzählprozess. Ein letzter Abschnitt über die Subjektiven Krankheitstheorien der Betroffenen zu HIV und AIDS schlägt den Bogen zum Ausgangspunkt der Untersuchung und rundet sie hinsichtlich der eingangs formulierten Fragestellungen auf beeindruckende Weise ab (auch wenn der Leser stellenweise verwirrt werden könnte durch die nicht immer ganz einheitliche Abgrenzung zwischen makrostrukturellen und mesostrukturellen Analyseebenen). Es folgt im 10. Kapitel ein Literaturverzeichnis, dessen Umfang (pp 493 - 525) von der einschlägigen Belesenheit des Verf. eindrucksvolles Zeugnis gibt, sowie ein umfangreicher Anhang mit den vollständigen Transkripten (pp 527 - 557), die dem Leser die Einbettung der exemplarischen Analysen in den Zusammenhang des jeweiligen Gesprächs erlauben und die nicht nur vom methodischen Aufwand des Transkriptionsverfahrens zeugen, sondern auch für den spezifisch medizinsoziologisch und krankheitsbiographisch interessierten Leser aus anderen Disziplinen Material von eigenem Gewicht bereitstellen können. Insgesamt hat Ivan Vlassenko, dessen Muttersprache Russisch ist, mit diesem umfangreichen Buch eine ungewöhnlich gelungene, akribisch durchgeführte, auch im formalen Detail überzeugende (freilich auch nicht ganz redundanzfreie) Studie vorgelegt, die in mehreren Hinsichten innovative Ergebnisse zeitigt, nicht nur im Hinblick auf die bislang wenig untersuchte Thematik der subjektiven Krankheitstheorien über die Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Erkrankung durch die von AIDS Betroffenen, sondern auch im Hinblick auf die Multimodalität direkter Interaktion und der multimodalen Konstitution von Metaphern in den konversationellen Erzählungen. Ernest W. B. Hess-Lüttich Max Behland, Walter Krämer & Reiner Pogarell (Hrsg.) 2014: Edelsteine. 107 Sternstunden deutscher Sprache vom Nibelungenlied bis Einstein, von Mozart bis Loriot, Paderborn: IFB Verlag Deutsche Sprache, 671 pp, geb., 25,00 € , ISBN 978- 3-942409-31-5 Der Journalist Max Behland, der Statistiker Walter Krämer und der Linguist Reiner Pogarell haben in diesem fast 700 Seiten dicken Buch über 100 Texte zusammengetragen, vom ostgotischem Attar unsar aus Wulfilas früher Bibelübersetzung um 370 n. Chr. und Beispielen aus den mittelfränkischen Merseburger Zaubersprüchen bis zur Dankesrede des kürzlich verstorbenen Feuilleton-Chefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher anlässlich der Verleihung des Jacob-Grimm-Preises oder der Gedenkrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf der Danziger Westerplatte, in der er 2014 an den 75. Jahrestag des Einfalls der Deutschen in Polen erinnerte. Der Aufmerksamkeit mancher selbstbewussten Germanisten, Linguisten und Semiotiker wird das Buch möglicher- 174 Reviews