eJournals Kodikas/Code 38/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2015
383-4

"Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht"

121
2015
Stefan Meier
kod383-40297
K O D I K A S / C O D E Ars Semeiotica Volume 38 (2015) · No. 3-4 Gunter Narr Verlag Tübingen “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” Zur ‘Kultur der Überwachung’ als Brückendiskurs zwischen Politik und Populärkultur Stefan Meier (Tübingen) My contribution argues for surveillance as a special kind of taboo breaking. It points out how surveillance controlled by NSA modifies both the taboos of privacy and intimacy. With regard to empirical examples of fictional and non-fictional discourses about surveillance it is highlighted that the construction and modification of taboos is strategic. Based on non-fictional discourses such as NSA and Edward Snowden on the one hand and highly rated spy series such as Homeland on the other hand the visual representation of surveillance is elaborated. Crucial findings include the relevance of taboo breaking in the process of surveillance and its dependency of socially frames and foundations. The paper argues in general for including visual elements in the definition of taboos. 1 Einleitung: Ein Beispiel aus der medienvermittelten Politik Das Titelzitat dieses Beitrags stammt aus einem Interview Angela Merkels vom 24. 10. 2013 (vgl. Merkel 2013). Es war die erste öffentliche Reaktion der Bundeskanzlerin auf die Nachricht, dass die NSA nicht nur flächendeckend und systematisch das Kommunikationsverhalten der US-Bevölkerung und der Bürger anderer Staaten erfasse, sondern auch Handy- Gespräche der deutschen Bundesregierung und anderer Regierungsvertreter Europas. Merkels Kommentar markiert ganz im Sinne des Heftthemas eine Tabugrenze, die sie durch das Spionageverhalten der NSA überschritten sieht. Das Tabu scheint auf einer besonderen ethischen Wertigkeit freundschaftlicher Beziehungen zu beruhen. Diese Beziehungen implizieren eine Normativität gegenseitigen Vertrauens. Durch die heimliche Spionage mag jedoch diese Normgrenze überschritten worden sein, die in ihrer Relevanz durch die Beteiligten interaktiv zu einer Tabugrenze ausgeweitet wird. Im Falle der medial vermittelten Empörung Angela Merkels findet dies wie folgt statt. Zwar enthält das Interview bezogen auf die deutschen Bundesbürger ein inkludierendes Wir, in dem deren Freiheiten durch die flächendeckende Überwachung gefährdet sei, und bezogen auf die amerikanischen ‘Freunde’ ein exkludierendes Ihr. Mit der Bezeichnung Freunde wird gleichzeitig die Exkludierung wiederum relativiert. Die Zuschreibung des Freundesstatus ist nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern es wird ein ethisches Fehlverhalten innerhalb des Normensystems Freundschaft attestiert. Stellt die NSA-Überwachung allgemein ein Tabubruch gegen die gesamte digital vernetzte Weltbevölkerung dar, indem die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen missachtet wurden, so streicht die deutsche Regierungschefin allerdings einen vermeintlich kleineren Tabubruch der “amerikanischen Freunde” heraus. Gründe mögen in gemeinsamen Wirtschaftsinteressen liegen, denn kurz vor der so genannten Handyaffäre hatte die Bundesregierung bereits bekanntgewordenes Spionageverhalten der NSA zu den Akten legen wollen. Die Enthüllungen Edward Snowdens drängten jedoch den Sub-Diskurs um Merkels Handy nicht ignorierbar auf die politische Agenda. Es wurde dadurch ein bedeutender Eingriff in die politische Souveränität eines Staates offenbar. Er kann als ein weitaus größerer Tabubruch konstruiert werden, als eine persönliche Enttäuschung unter Freunden. Mit der personalisierten Reaktion Merkels wird demgegenüber Zweierlei erreicht. Zum einen bekommt die NSA-Debatte konkrete Gesichter, die es ermöglichen, das Spionageverhalten auf zwei Personen im Sinne eines Täter-Opfer-Schemas zu reduzieren. Zum zweiten bemüht die Kanzlerin ein vermeintlich kleineres Tabu. Die persönliche Enttäuschung unter Freunden lässt sich als individuellen Fall generieren. Vom großen Tabu staatlicher Souveränitätsmissachtung unter Partnerstaaten und der Einschränkung individueller Persönlichkeitsrechte bewegt sich der Skandal hin zu einer persönlichen Enttäuschung eines freundschaftlichen Vertrauensverhältnisses. Dieser Einblick in die mediale Diskurswelt zeigt bereits, dass Tabukonstruktionen funktional sind. Sie entstehen aus der Erstellung, Brechung und Modifikation von normativen Grenzen. Tabubrüche bilden die strategische Form von Stilbrüchen, was in diesem Beitrag näher dargelegt werden soll. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern fiktionale und nicht-fiktionale Überwachungspraktiken als Tabus behandelt werden und welche Konsequenzen daraus für eine Kultur der Überwachung erwachsen können. Der vorliegende Beitrag behandelt Überwachungspraxis als ein non-fiktionales staatliches sowie fiktionales medienspektakuläres Spiel mit dem Tabubereich Privat- und Intimsphäre. Er trägt dabei zwar der Unterschiedlichkeit der fiktionalen und nicht-fiktionalen Diskurstypen Rechnung, verweist jedoch auf ihre kulturprägende Verschränkung hin. Diese wird vor allem in der strukturellen Komplementarität ihrer visuellen Repräsentationen nachgezeichnet. So ergänzen sich die (visuellen) Darstellungsweisen in non-fiktionalen Diskursen über Überwachung (z. B. in der Aufarbeitung des NSA-Skandals (vgl. Wikipedia 2016 a) und den Anschlägen auf den Boston-Marathon von 2013 (vgl. Wikipedia 2016 b) sowie auf die Redaktion von Charlie Hebdo von 2015 (vgl. Wikipedia 2016 c) mit den fiktionalen Überwachungs-Diskursen in den US-Spy-Fernsehserien Homeland (Teakwood Lane Productions 2011) und 24 (Joel Surnow und Robert Cochran 2001) sowie dem Hybrid-Format Big Brother (Endemol 2014). Aufgrund dieser Komplementarität sollen hier Hypothesen zu einer möglichen Kultur enttabuisierter Privatsphäre zur Diskussion gestellt werden. Dies wird fußend auf zwei semiotischen Fragen unternommen: 1. Wie wird in fiktionalen Formaten die Praxis der Überwachung semiotisch-performativ dargestellt und behandelt? 2. Inwiefern lässt sich die Verletzung des Tabubereich Privatbzw. Intimsphäre durch Überwachung zeichentheoretisch fassen? 298 Stefan Meier (Tübingen) 2 NSA-Überwachung als multimodaler Diskursgegenstand Initiator des so genannten NSA-Abhörskandals ist bekanntlich der so genannte Whistle- Blower Edward Snowden. Er trat erstmals in einem Interview vom 06. 06. 2013 mit dem damaligen Guardian-Reporter Glen Greenwald an die Öffentlichkeit. Das berühmte Porträt Snowdens (Abb. 1), das quasi zur Ikone des NSA-Skandals wurde, entstand ebenfalls im Rahmen des Guardian-Interviews, war jedoch Bestandteil des gleichzeitig produzierten Dokumentationsfilms “Citizenfour”. Laura Poitras veröffentlichte diesen im Oktober 2014. Sie war Snowdens erster Kontakt zur Veröffentlichung seines Wissens, während Greenwald bei den verborgenen Dreharbeiten im Hongkonger Hotelzimmer hinzugezogen wurde (vgl. Pitzke 2014). Das Bild (Abb. 1) erfuhr aufgrund seiner digitalen Präsentation auf Youtube eine inflationäre Verbreitung und diente u. a. crossmedialer Mashup-Bearbeitung auf T-Shirts, Plakaten etc.. Abbildung 2 zeigt eine Version, wie es die Berliner Werbeagentur Zitrusblau in Anlehnung an das berühmte Graffiti-Poster Barack Obamas von Shepard Fairey gestaltet hat. Offensichtlich wurde hier mit der Designübernahme an die Kampagne erinnert, in der Obama 2008 im Präsidentschaftswahlkampf als Hoffnungsträger (Hope) eines Politikwechsels nach Georg W. Bush galt. Die Bearbeitung des Snowden-Portraits ist als eine diskursive Reformulierung (vgl. Steyer 1997) in visueller Kodierung zu verstehen. Sie nimmt bekannte Sujets auf und zeigt kommunikative Modifikationen durch weitere visuelle Anspielungen, vermittelt durch bestimmte Farb- und Form- Stile (vgl. Meier 2014: 211 ff.). Snowden ist so zu einem Hoffnungsträger eines freien Internets stilisiert. Das Originalbild eignet sich für diesen Ikonenstatus in mehrfacher Weise. Es ist im Rahmen des Interviews entstanden und damit indexikalisch mit seinem Wagnis verbunden, als amerikanischer Staatsfeind verfolgt zu werden. Das Porträt sowie der gesamte Interviewmittschnitt, wie er zeitnah vom Guardian auf Youtube veröffentlicht wurde, zeigt den Whistleblower in Naheinstellung und streng dokumentarisch. Snowdens Gesicht hat im statischen Bild eine ermattete Blässe und im Bewegtbild eine angstvolle Erregtheit, gepaart mit einer jungenhaften Offenheit: Hier scheint ein aufrichtiger, ehrlicher und von seiner Situation tief beeindruckter junger Mann über unglaubliche Machenschaften eines übermächtig erscheinenden Staatssystems zu sprechen. Trotz Abb. 2: Urheber die Berliner Werbeagentur Zitrusblau 2015 Abb. 1: aus der Filmsequenz: The Guardian (2013) “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” 299 der damit verbundenen Gefahr ist er jedoch seinem Gewissen stärker verpflichtet als seiner persönlichen Sicherheit. Es entsteht die Inszenierung einer medienwirksamen David gegen Goliath-Situation, die Snowden als uneigennützigen Aufklärer gegen die Überwacht der USamerikanischen Sicherheitsbehörden erscheinen lässt. In der Videosequenz erklärt Snowden seine Beweggründe, an die Öffentlichkeit zu treten. Er macht deutlich, welche Tabugrenzen er durch die NSA-Praktiken überschritten sieht. Er gibt an, dass seine Position als Systemadministrator es ihm ermöglichte, den Datenfluss in der NSA-Behörde im Ganzen zu beobachten. Ihm wurde damit klar, in welchem Ausmaß Daten gesammelt und benutzt wurden. Zudem sei ihm die Alltäglichkeit des Umgangs mit den Daten zutiefst suspekt gewesen. Die Äußerung seiner Bedenken innerhalb der Behörde wurden jedoch abgewehrt, bagatellisiert und/ oder ignoriert. Anlass für sein Ausscheiden war schließlich, dass in seinen Augen Vertreter der NSA öffentlich über die Überwachungspraktiken logen. Dadurch war in seinen Augen ein Tabubruch geschehen, der den Tabubruch seinerseits rechtfertige, nämlich geheime Informationen an die Öffentlichkeit zu tragen. Tabus scheinen demzufolge mit moralisch verpflichtendem Gehorsam und moralisch zu sanktionierender Normübertretungen zu tun zu haben. Sie sind werteorientierte Grenzziehungen zur sozialen Strukturierung und Orientierung von Handlungen. Dies wird in der Literatur häufig mit dem Sündenfall im Paradies verglichen. Josef Isensee (2003: 9) merkt dazu an: “Das Tabu ist der Prüfstein des Gehorsams, gerade deshalb, weil es sich nicht dem Verstand als nützlich oder notwendig erschließt.” Tabuisierungen sind demnach eher emotional als rational wirksam. Während Normen als soziale Orientierungsgrößen in Form von Gesetzen oder Regeln rational erschließbar gemacht werden, erscheinen Tabus als implizite Grenzbereiche, die durch Sozialisierung unmittelbar auf den Affekthaushalt des Individuums ausgerichtet sind. Ganz im Sinne Norbert Elias` (1997: 274 f.) lässt sich die soziale Tabuisierung bestimmter Verhaltensweisen als Ursprung und Instrument innerer Konflikte begreifen, die die Wahl von Zurückhaltung, verbunden mit einem Verzicht auf körperliche Bedürfnisse als eine bewusste sowie unbewusste Affektbewältigung (ebd.) verstanden werden kann. Sie lässt sich demnach auch durch abweichende Sozialisierung entsprechend verschieben. Ein solcher Umstand mag bei den NSA-Mitarbeitern vorgelegen haben, mit denen Snowden konfrontiert war. Der alltägliche Umgang mit privaten Daten scheint zur Minderung ihres Unrechtsbewusstseins geführt zu haben, so dass Privatsphäre immer weniger als Tabubereich behandelt wurde. Ihre alltägliche funktionale Erforschung hat anscheinend zu einer enttabuisierten Normalität geführt. Dieser Sozialisationseffekt scheint sich bei Snowden jedoch nicht eingestellt zu haben. Er empfindet dieses Verhalten weiterhin als Tabubruch, der ihn zu einer entsprechenden Gegenreaktion veranlasst. Durch den enttabuisierten Umgang des NSA mit der Privatsphäre freier Bürgerinnen und Bürger sieht sich Snowden vielmehr selbst legitimiert, ja fast dazu verpflichtet, staatliche Geheimnisse ebenfalls enttabuisierend zu behandeln. Eine solche zielorientierte Behandlung, Konstruktion und Modifikation von Tabus zeigt sich auch in dem politischen Folgediskurs, der durch die Snowden-Enthüllungen praktiziert wurde. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz von Angela Merkel und Barak Obama am 19. 06. 2013, also unmittelbar nach Bekanntwerden, dass das Handy von Merkel systematisch abgehört wurde (Deutsche Welle 2013), ist eine solche Tabubehandlung ebenfalls feststellbar. Grund für die Anwesenheit Obamas und der Konferenz war jedoch nicht der Handyskandal, sondern die Verhandlungen um das bereits angesprochene Freihandelsabkommen mit den USA. Indem Merkel in ihrem Redebeitrag intensiv die moralische Leistung der USA für den 300 Stefan Meier (Tübingen) Mauerfall preist, versucht sie dem Tabubruch der amerikanischen Datensammlung mit der Konstruktion einer weiteren Tabuisierung, nämlich einer allzu starken kritischen Haltung gegenüber der USA, zu begegnen. Obama geht in seinem Redebeitrag ebenfalls explizit auf die NSA und ihre Tätigkeit ein. Er benennt die Tabus Schutz bzw. Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung auf der einen Seite und ihre Bürgerrechte und Privatsphäre auf der anderen. Dabei stellt die amerikanische Sicherheit nach seiner Feststellung den größeren Tabubereich dar, dem sich die individuellen Bürgerrechte unterzuordnen hätten. Auf die Verletzung staatlicher Souveränität eines Bündnispartners, die durch das Abhören der Kanzlerin stattfand, ging er nicht explizit ein. 3 Visuelle Repräsentationen der Tabuüberschreitung durch Überwachung Abb. 3: Konzeptbild Abb. 4: Überwachungsbild Marathon Die schlaglichtartige Betrachtung des öffentlichen Diskurses zur Überwachung als Konsequenz der Snowden-Enthüllungen hat das subjektive Sprechen von Akteuren über Überwachungspraktiken in den Vordergrund treten lassen. Im folgenden Schritt soll die Tabuisierung als multimodale Praxis thematisiert werden. Dabei wird nicht nur die verbale Behandlung staatlicher Überwachung untersucht, sondern es werden auch ihre visuellen und fiktionalen Repräsentationspraktiken samt den damit verbundenen Spektakularisierungen analysiert. Dies ist weiterhin eng verbunden mit der Konstruktion, Modifikation und Brechung unterstellter Tabus, die mit der kommunikativen Behandlung von Überwachung immer mit aufgerufen werden. Tabuisierung ist dabei das entscheidende Instrument zur Formierung moralischer Grenzen. Möchte man Überwachung begrifflich näher bestimmen, wird dies offenkundig: Was ist demnach Überwachung? Überwachung macht die Überwachten zu Objekten von Beobachtung. Ihre Körper und Handlungen werden der eigenen Verfügung entnommen, so dass die Überwachung bis weit in die Privat- und Intimsphäre vordringen kann. Dieses Vordringen ist von den Überwachten nicht beeinflussbar, da sie ohne ihr Wissen geschieht. Damit bricht Überwachung Schutzbzw. Sicherheitsgrenzen, die eigentlich über Tabuisierung aufgebaut wurden. Sie bilden moralische und rechtliche “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” 301 Grenzen, welche durch Sozialisation, ausgehend von einem bürgerlichen Freiheitsethos, internalisiert werden. Aus diesem Grund wird die Diskussion über Überwachung gleichzeitig emotional und rational geführt. Ihre emotionalen Anteile zielen auf die Tabuisierungspraktiken ab, die in der Empörung um die Verletzung der Privatbzw. Intimsphäre zur Wahrung von Körper und Seele entstehen. Rationale Anteile werden durch den Bezug auf gesetzliche und sozial konventionalisierte Normen vollzogen. Neben diesen verbal realisierten Positionen zeigen sich prototypisch auch visuelle Repräsentation des Überwachungsdiskurses, die die Tabuisierung von Privatsphäre und öffentlicher Bedrohung quasi vor Augen führen. So sind bildliche Repräsentationen in der medialen Kommunikation beispielsweise in Form von Konzept-Bildern geläufig, die in visueller Anspielung an den Film Matrix durch grün leuchtende vertikal angeordneten Zahlenreihen “0” und “1” realisiert sind (Abb. 3). Im Vordergrund sind Schattenrisse von Personen mit Notebooks positioniert. Bildmetaphorisch wird so der Internet-User zum gläsernen Menschen, da er mit seiner Nutzung des Netzes permanent Daten hinterlässt, die ohne sein Wissen und Einfluss für staatliche aber auch privatwirtschaftliche Interessen genutzt werden können. Auch die grobpixelige Bildlichkeit von Überwachungskameras, die entsteht, wenn Standbilder aus dem zufällig entstandenen Filmmaterial entnommen werden, indem ein bestimmtes Motiv vergrößert wird, sind charakteristisch für mediendiskursive Überwachungsdarstellungen (z. B. Fokussierung auf die Bomben-Attentäter des Boston-Marathons vom 15. April 2013, Abb. 4)). Die mediale Inszenierung schlüsselt mit den Konzeptbildern das Diskursthema Überwachung auf und ist auf die Aufmerksamkeitsstiftung des Rezipienten gerichtet. Sie liefert gleichzeitig textunterstützend inhaltliche Orientierung. Mit Hilfe der Bilder aus den Überwachungskameras wird der Betrachter quasi zu einem Augenzeugen gemacht. Ihm wird vermeintlich authentisches Bildmaterial gezeigt, um den Moment der Überwachung bzw. den Moment der Tat visuell näherzubringen. Die Bilder sind kommunikationsfunktional in ähnlicher Weise genutzt wie O-Töne von Beteiligten bestimmter Ereignisse. Damit sind sie jedoch weniger wahrnehmungs- (im Sinne Sachs- Hombachs 2003) als ereignisnah. Die Umstände des Ereignisses erlauben “nur” eine entsprechende grobpixelige Bildlichkeit, suggerieren dadurch jedoch bei abnehmender Ikonizität zunehmende Authentizität. Im fiktionalen Bereich kann bei geringerer Wahrhaftigkeit jedoch die Ikonizität bzw. Wahrnehmungsnähe gesteigert werden. Der Betrachter von Spy-Serien-Formaten wie Homeland oder 24 wird mit vollkommenen Überwachungspraktiken konfrontiert. Basierend auf modernster digitaler Technologie bedienen diese Serien einerseits die Faszination technologischer Möglichkeiten und andererseits ein voyeuristisches Grundbedürfnis. Man wird diesmal direkt Augenzeuge dieser (fiktionalen) Praktiken, jedoch mit dem gruseligunterhaltsamen Bewusstsein, dass diese Praktiken auch im Realen möglich sind. Gesteigert wird dieses Bewusstsein durch den non-fiktionalen Überwachungsdiskurs um Snowden und die NSA, der Belege liefert, dass dies auch real betrieben wird. Mit den genannten Spy-Serien findet somit eine Verschränkung zwischen fiktionaler und non-fiktionaler Diskurswelt über den Überwachungs- und (islamistischen) Terrorismusdiskurs statt. In den Serien treibt die Überwachung die Handlung weiter, lässt sich medienspektakulär inszenieren und bedient das Bedürfnis nach Voyeurismus. 302 Stefan Meier (Tübingen) Abb. 5: Homeland-Bildschirme Abb. 6: 24-Überwachungsraum Die Abbildung sieben entstammt einer Schlüsselszene am Anfang der ersten Staffel von Homeland. In der Serie geht es darum, dass ein ehemaliger GI von der Agentin Carry unter Verdacht steht, von Al-Quaida während seiner acht-jährigen Gefangenschaft in Pakistan umgedreht worden zu sein. Man glaubt ihr nicht, er wird als Held verehrt, und sie versucht eigenmächtig ihren Verdacht zu beweisen. So überwacht sie ihn illegal. In der Überwachungsszene zeigen sich Verschränkungen mit dem nicht-fiktionalen Überwachungsdiskurs in zweierlei Hinsicht. Zum einen diskutieren Carry und ihr Kollege die rechtliche Situation dieser illegalen Überwachung. Denn wie Obama in der oben angeführten Pressekonferenz auf die notwendige richterliche Anordnung hinweist, die eine Überwachung erst ermögliche, weist auch Carrys Kollege auf diese Bedingung hin. Diese richterliche Anordnung bekommt Carry auch später von ihrem Vorgesetzten Saul, da ein zuständiger Richter ihm noch einen Gefallen schuldete. Die gezeigten Vorgänge erscheinen angesichts der anhaltenden Berichterstattung über problematische Überwachungspraktiken im Realdiskurs durchaus authentisch. Die Sequenz, aus der Abbildung sieben entnommen ist, zeigt die bildliche Repräsentation der Überwachung par excellence. Sie spielt auf das kollektive Bildgedächtnis an, das visuelle Stereotype der Überwachung aus fiktionalen und non-fiktionalen Diskursen bereitstellt. Sie gehen bis weit in die vordigitale Zeit zurückgehen (z. B. auf den Roman 1984 von Georg Orwell oder auf Stasi-Überwachungspraktiken in der DDR). Der Überwachende sitzt vermittelt durch digitale Überwachungstechnologie vor großen splitscreened Bildschirmen, um alle installierten Kameras gleichzeitig im Blick zu haben (Abb. 5 und 6). Es entgeht ihm nichts. Die Kameras dringen bis in die intimste Situation wie den individuellen Beischlaf ein. Es ist weiterhin der Mythos Big Brother, der hierbei bemüht wird. “Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht” 303 4 Überwachung als medienspektakulärer Tabubruch Abb. 7 4 Fazit Kann die performative Verschränkung fiktionaler und non-fiktionaler Diskurstypen eine Normalisierung und Legitimisierung verursachen, die eine enttabuisierte Kultur der Überwachung möglich macht? Die hier etwas provokant erscheinende Antwort lautet: Ja. Dies wird anhand eines Stil- Modells (Meier 2014) begründet. Es stellt eine sozialsemiotische Konzeptualisierung und methodische Operationalisierung von visuellen Stilisierungen als kontextbedingte performative Praxis der Auswahl, Formung und Komposition von semiotischen Ressourcen dar. Für die hier abschließend gestellte Frage möchte ich nur auf die Kontextfaktoren hinweisen, die als soziale Handlungsfelder sich prägend auf das stilistische Zeichenhandeln auswirken. In Anlehnung an Hallidays und Hasans (1989) Kontextbegriff ist zwischen kulturellen und situativen Kontexten zu trennen. Als kulturelle Kontexte sind zunächst die sozialen Diskurse zu nennen, die das Spektrum möglicher subjektiver Semantisierung von Zeichen mit dem Ziel des Verstehens und Verständigens organisieren. Auf der anderen Seite haben wir die prägenden Handlungsfelder wie Politik, Wirtschaft, Populärkultur etc., die habitualisierend auf die Handlungen der Subjekte einwirken. Nach ihnen richtet das Subjekt sein implizites Handlungswissen aus, welches sich primär durch subjektive Übernahmen von Ritualisierungen wie zum Beispiel Pressekonferenzen oder Serienkonsum vermittelt. Es stellt nichtdiskursives inkorporiertes Wissen bzw. sozialisationsbedingte Verhaltensweisen dar. Die abschließende These lautet, dass das Tabu der Überwachung aus Sicht der Überwachten und Überwachenden deshalb immer mehr abnimmt. Als Grund seien hierfür der 304 Stefan Meier (Tübingen) starke Einzug sozialer Medien wie Facebook oder Twitter in die Alltagskommunikation genannt, die gleichzeitig als Lieferanten von Big Data-Analysen genutzt werden. Sie liefern die Datensätze, die durch besondere Algorithmen eine besondere Transparenz der Nutzer für staatliche Behörden und (Internet-)Unternehmen herstellen. Andererseits genügt das Wissen der Nutzer, überwacht zu werden, nicht mehr aus, um das mediale Kommunikationsverhalten in der Masse zu verändern. Im einzelnen scheinen die sozialen Marginalisierungen gravierender zu erscheinen als die Möglichkeit, von staatlicher und ökonomischer Seite überwacht werden zu können. Dieser Trend kann meines Erachtens nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ich sehe ganz im Sinne von Foucault (1987) und Link (2009) einen diskursiven Normalisierungsprozess verwirklicht, der die durch Digitalmedien ermöglichte Überwachung als Tabu abschwächen lässt. Fiktionale und spektakulisierende Medienpraktiken auf der einen Seite sowie die Verbreitung non-fiktionaler Fahndungserfolge auf der anderen Seite stehen in interdiskursiver und ritualisierender Wechselbeziehung mit den eigenen Online- und Mobil-Medien gestützten Alltagspraktiken. Der Mensch kann die Überwachung nur als normal akzeptieren oder sich aus der Medialität zurückziehen, was möglicherweise eine soziale Isolation zur Folge hat, mit all seinen Konsequenzen. Der Königsweg ist sicherlich, auf individueller Ebene die Überwachung weiterhin bewusst zu halten, um diese Normalisierungsprozess so lang wie möglich hinauszuzögern. 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Dreyfus & Paul Rabinow (eds.): Michel Foucault: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 243-261 Goffman, Erving 2007: Wir spielen alle Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 5. Aufl., München: Piper Halliday, Michael A. K. & Ruqaiya Hasan 1989: Language, Context, and Text: Aspects of Language in a Social-Semiotic Perspective, 2. Aufl., Oxford: Oxford University Press Horn, Hans-Peter 2003: Brauchen wir Tabus? , Göttingen: Wallstein Isensee, Josef 2003: Tabu im freiheitlichen Staat: Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts (Schönburger Gespräche zu Recht und Staat), Paderborn: Schöningh Link, Jürgen 2009: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird, 3. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Meier, Stefan 2014: Visuelle Stile. Zur Sozialsemiotik visueller Medienkultur und konvergenter Designpraxis, Bielefeld: transcript Pitzke, Marc 2014: “Snowden-Film ‘Citizenfour’: Der Mann hinter der Maske”, in: spiegel-online, im Internet unter http: / / www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ snowden-film-citizenfour-premiere-der-poitras-doku-in-new-yorka-996608.html [01. 02. 2016] Sachs-Hombach, Klaus 2003: Bild als Medium, Köln: Halem Schröder, Hartmut 2011: Kultur und Tabu, in: Claude-Hélène Mayer & Dietmar Treichel (eds.): Lehrbuch Kultur. Lehr- und Lernmaterialien zur Vermittlung kultureller Kompetenzen, Münster etc.: Waxmann, 125-131 Steyer, Kathrin 1997: Reformulierungen: Sprachliche Relationen zwischen Äußerungen und Texten im öffentlichen Diskurs, Tübingen: Gunter Narr 306 Stefan Meier (Tübingen)