Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2016
393-4
Selbstreflexives Biedermeier: Kunstreflexion und Selbstreferenzialität in Friedrich Theodor Vischers 'Cordelia' (1836)
121
2016
Stephan Brössel
kod393-40252
K O D I K A S / C O D E Volume 39 (2016) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreflexives Biedermeier: Kunstreflexion und Selbstreferenzialität in Friedrich Theodor Vischers Cordelia (1836) Stephan Brössel (Münster) The article focusses on the specific interrelation between the reflection of art and selfreferential structures within literary texts. As an example will serve Friedrich Theodor Vischer ’ s Cordelia (1836). This text shows a considerable tendency to not only broach the issue of artists producing and discussing several works of art but also to reflect on its own status as being an art work of the Biedermeierzeit. It is remarkable that it does so by interrelating two of the characater ’ s paintings in the story of Vischer with William Shakespeare ’ s King Lear (1604/ 5). The thesis is: Pronounced by the text on hand, the collapse of at least all characters in Cordelia is equivalent to the collapse of the literary system Biedermeierzeit, which constitutes the specificity of self-referentiality. 1 Zur biedermeierlichen Selbstreferenzialität in Cordelia Vischers Cordelia − verfasst in den Jahren 1830/ 31, publiziert im Jahr 1836 − ist dem Literatursystem des Biedermeier oder Vormärz zuzuordnen, 1 welches maßgeblich durch die Reflexion der eigenen Konstitution in Auseinandersetzung mit dem vorherigen Literatursystem Goethezeit gekennzeichnet ist. Vischers Text, der hier als Beispiel zur Illustration dieses allgemeinen Problemkomplexes dienen soll, kann als exemplarischer Fall gelten, der mittels einer zeitreflexiven Kodierung kunstästhetischer Ansätze im Allgemeinen und der intertextuellen Referenz auf und der Semantisierung von Shakespeares King Lear (1604/ 5) 2 im Besonderen Bedeutung aufbaut. Auf diese Weise formuliert Cordelia das Kernproblem der Übergangsphase zwischen Goethezeit und Realismus aus: die semantische Koppelung von Loslösungsprozess und Loslösungsschwierigkeiten von der Goethezeit sowie die 1 Biedermeier und Vormärz fasse ich als (oberflächlich) konkurrierende Literatursubsysteme eines übergeordneten Systems auf, das im folgenden Biedermeierzeit oder Zwischenphase genannt wird. Die als solche in Cordelia installierten semantischen Räume (Klassik, Romantik, Biedermeier) werden ihrerseits mittels einfacher Anführung als literarische Modelle literaturgeschichtlicher Phänomene markiert. 2 Gemeinhin wird die Entstehung von King Lear auf den Zeitraum zwischen 1604 und 1605, nach Hamlet und Othello und vor Macbeth, datiert. Eine erste Einzelausgabe im Quartformat erscheint 1608, die erste Folio- Gesamtausgabe 1623 (Cf. Proudfoot, Thompson & Kastan 1998: 631). daraus resultierende inkonsistente und instabile Konstitution von Welt und ihrer literarischen Repräsentation. Neben der Reflexion von Kunst, das heißt der Funktionalisierung von Kunst im Handlungskontext, der Verhandlung von Fragen der Kunstproduktion und ihrer Rezeption, dreht sich das Geschehen um das Problem der Paarfindung, an deren Scheitern der defizitäre Zustand der dargestellten Welt und ihrer Repräsentanten ersichtlich wird: Der junge Theobald und Cordelia lernen sich zufällig in einer Försterhütte in Deutschland kennen und verlieben sich ineinander. Während eines späteren Studienaufenthaltes in Rom schildert Theobald in einem Gespräch seine Liebeserfahrung und wird schließlich mit Hilfe seines Freundes Christoph erneut mit Cordelia vereint. Christoph war als praktizierender Arzt seinerzeit verantwortlich für Friederich - Cordelias Onkel − , als jener aufgrund des Verlustes seines Bruders und dessen aus Rom stammender Frau - Cordelias Eltern - dem Wahnsinn verfallen war. Die Hochzeitspläne des Paares jedoch werden jäh unterbunden durch Cordelias unglückliche Konfrontation mit Wilhelm, einem Freund Theobalds, der sich ebenfalls in sie verliebt hatte. Cordelia wird durch ein Messer tödlich verletzt, Wilhelm begeht Selbstmord und Theobald kehrt nach Deutschland zurück und fristet ein resigniertes Dasein in einem öffentlichen Amt. Als wünschenswerter Zustand und Problemlösungsstrategie gilt auf Figurenebene die Verbindung zwischen Cordelia und Theobald, die auf Textebene - so die These - einer harmonischen Vermittlung zwischen Klassik und Romantik im neuen Konzept Biedermeier äquivalent ist. Dass die Überführung in diesen Zustand jedoch scheitert, liegt in der in divergierenden Kunstauffassungen verankerten Anthropologie begründet. Friederich tritt als Sympathisant der Romantik, Wilhelm als Vertreter von Klassik auf, während Theobald zwischen beiden Positionen zu vermitteln sucht und als biedermeierliches Normalsubjekt inszeniert wird. Für das Scheitern ist primär Wilhelm verantwortlich, dessen Leidenschaften ein aggressives Potential entfachen und seine Handlung bestimmen. Sein Vorhaben, ein psychisches Ungleichgewicht ebenso wie Friederich durch Kunstproduktion zu kompensieren, misslingt. Er wird für sein soziales Umfeld unberechenbar und gefährlich. Sein klassisch-antikisierender Ansatz versagt ebenso wie der biedermeierliche Ansatz Theobalds, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass Wilhelm vom Text durch Tod getilgt wird und Theobald ein unerfülltes Leben führt, in dem ihm persönliches Glück versagt bleibt. Cordelia verfährt damit romantisierend, ist sich seiner Stellung als biedermeierlicher Text durchaus bewusst und erhebt ebendies zum selbstreferenziellen Spiel. Einerseits wird die Goethezeit auf Discours- und Histoire-Ebene fortlaufend perpetuiert, andererseits markiert der Text Romantik wie auch Klassik ebenfalls als vergangen und überholt und stellt ihnen ein nicht-goethezeitliches Konzept entgegen, das hier Biedermeier genannt wird. 2 Kunstreflexive Aspekte Fasst man mit Hans Krah Selbstreferenzialität auf “ als eine spezifische Kommunikationsform [. . .], bei der Strukturen auf sich selbst abgebildet werden ” (Krah 2005: 4), dann ist zunächst zu klären, in welchem Zusammenhang Selbstreferenzialität mit Kunstreflexion steht. Denn erste Beobachtungen zielen zunächst einmal darauf ab, dass wir es bei Cordelia Selbstreflexives Biedermeier 253 mit einem literarischen Erzähltext zu tun haben, der vielfältige Formen von Kunst, von Künstlern und von Kunstliebhabern modelliert. 3 Nicht nur, dass im Verlauf des Geschehens fortwährend über artifizielle Texte - seien es Gemälde, Erzählungen, Gebäude usw. - gesprochen und debattiert wird und Figuren wiederholt ihren Gefühlen durch die Rezitation von Liedern und Gedichten Ausdruck verleihen. Im Zentrum stehen darüber hinaus Friederichs künstlerische Erzeugnisse, die eine Verbindung zwischen der Protagonistin Cordelia und Shakespeares Drama King Lear herstellen und die Friederich, im Wahnsinn befangen, zur Verarbeitung und Bewältigung psychisch arg belastender Ereignisse produziert hat. Prinzipiell soll davon ausgegangen werden, dass eine Reflexion von Kunst (RK) im literarischen Text Grundlage für Selbstreferenzialität (Srf ) darstellen kann und hier tatsächlich darstellt. Demnach zu prüfen ist das Vorhandensein und die vorliegenden Mechanismen der Implikation ‘ RK → Srf ’ . Kunstreflexion ist ihrerseits dann gegeben, wenn Kunst in einem für den Bedeutungsaufbau relevanten Maß thematisiert und im Zuge dessen entweder durch Erzählinstanzen oder Figuren explizit diskutiert, problematisiert, kommentiert und/ oder bewertet wird oder aber implizit-strukturell realisiert und im Text paradigmatisch funktionalisiert ist: Kunst ist bedeutungstragende Größe eines Textsystems und entsprechend mit Relevanzsignalen wie bspw. Rekurrenz, Exponiertheit, Fokussierung, thematische Relevantsetzung versehen. (Narrative) Selbstreferenzialität - im Sinne von Selbstbezüglichkeit − findet wiederum dann statt, wenn ein solches Textsystem Kunstreflexion semiotisch an die (literarische) Verfasstheit bezüglich bestimmter Verfahren, Modelle und Muster des Erzählens des Textsystems selbst koppelt. Beides ist in Cordelia gegeben. Zum einen finden sich die angesprochenen thematischen Zusammenhänge rund um den Problemkomplex Kunst auf Ebene der Histoire, zum anderen adaptiert der Text selbst Verfahren, Denkmodelle und Techniken der Diskursivierung, die im Kontext der scheiternden Liebesgeschichte als überkommene, nicht mehr tragfähige Verfahren ausgestellt werden. Die diversen Textstrukturen der Kunstreflexion sind in einem ersten Schritt zu systematisieren. Grundsätzlich zu differenzieren sind (2.1) Künstlerfiguren und (2.2) artifizielle Artefakte. 2.1 Künstlerfiguren: Die Figuration als Gegenstand der Reflexion Mit Blick auf die Figurenebene können (a) mehr oder weniger vollständige Lebensdarstellungen von Künstlern vorliegen, von Malern, Schriftstellern, Schauspielern, Musikern, Bildhauern usw., und diese im Rahmen des aus der Goethezeit übernommenen Erzählmodells der Initiationsgeschichte entfalten (wie beispielsweise Mörikes Maler Nolten von 1832, Grillparzers Der arme Spielmann von 1848, Gutzkows Imagina Unruh von 1847). Daneben oder stattdessen finden sich (b) Darstellungen von Lebensausschnitten, die zwar ebenfalls im Kontext fiktionsintern soziokulturell-anthropologischer Initiationsprozesse 3 Eine Anmerkung zum verwendeten Textbegriff. ‘ Text ’ verstehe ich mit Michael Titzmann im weiten Sinn: “ Text benenne ich jede Äußerung, die sich einer natürlichen oder künstlichen Sprache bedient, ‘ Text ’ jede zeichenhafte und bedeutungstragende Äußerung, sie sei sprachlich oder nicht sprachlich ” (Titzmann 3 1993: 10, Hervorh. im Original). Da wir es darüber hinaus mit diversen Formen von Text-im-Text-Strukturen zu tun haben, verwende ich - wenn zur Unterscheidung notwendig - die Begriffe Kunstwerk, artifizielles Artefakt oder die spezifische Bezeichnung des jeweils vorliegenden Textes (wie bspw. Gemälde). 254 Stephan Brössel (Münster) stehen, im Gegensatz zu (a) jedoch keine Gewichtung auf den Prozess selbst, sondern auf einen bestimmten Lebensabschnitt legen, der wiederum als ein für den Protagonisten entscheidender markiert ist (wie etwa Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag von 1856, Büchners Lenz von 1839, Stifters Der Condor von 1840). Als dritteVariante (c) sind Figuren zu nennen, für die die Beschäftigung mit Kunst, die ästhetische Produktion oder die Rezeption von Kunst aus unterschiedlichen Gründen wichtig ist, ohne dass sie allerdings als Künstler im emphatischen Sinn gelten können. In Fontanes Geschwisterliebe (1839) fungiert der Gesang und die lyrische Verbalisierung als (von den Figuren angenommene) Problemlösungsstrategie: Alle schwerwiegenden psychischen Befindlichkeiten (wie der regressive Wunsch Rudolphs, im geschwisterlichen Idyll zu verweilen) und zwischenmenschliche Konflikte (entstehend durch das progressive Bedürfnis Claras, eine Liebesbeziehung zu einem anderen Mann einzugehen) werden nicht verbalsprachlich, sondern kompensatorisch im künstlerischen Ausdruck kommuniziert. Das gemeinsame Gespräch hingegen wird entweder gänzlich vermieden, führt zu Gewaltexzessen oder wird erst dann gesucht, als es um das persönliche und gesundheitliche Wohl der Figuren bereits schlecht gestellt ist. In Stifters Der Hochwald (1842/ 44) spielt Kunst zwar allenfalls eine marginale Rolle. Hier ist es aber ebenfalls ein Lied, das der im Dickicht verborgene Protagonist Ronald, anstimmt und damit Clarissa an ihre frühere gemeinsame Liebe erinnert. Es erweckt nicht nur ihre Gefühle aufs Neue, sondern führt die beiden erneut, zumindest temporär, zusammen. Auch dort fungiert Kunst als kommunikativer Schlüssel, ist zudem aber selbst konfliktauslösendes Element, das eine Aufarbeitung vergangener Zustände auf Ebene der Individualgeschichte anstößt. 4 Allen diesen Figurentypen gemein ist - und dies stellt überhaupt notwendige Grundbedingung für die Bezeichnung einer Figur als Künstler dar − , dass sie stets irgendeine Form der künstlerischen Tätigkeit erfüllen, ihre Arbeit initialisiert wird, irgendwie motiviert ist und Effekte auf den Ausübenden und sein soziales Umfeld hat sowie durch vom Text mehr oder minder spezifizierte Bedingungen und Modi ihrer Praxis charakterisiert ist. Die Darstellung künstlerischer Tätigkeit in der Biedermeierzeit ist zum einen - wie dies Maler Nolten, Der arme Spielmann oder Geschwisterliebe zeigen - häufig an dieTransformation und Bewältigung psychischer Krankheitserscheinungen oder zumindest emotional belastender Zustände gekoppelt. Folglich dient künstlerische Tätigkeit der Verarbeitung seelischer Leiden - der Kompensation, teilweise der Sublimierung − , die daraus hervorgehenden Produkte bilden ihrerseits diesen Verarbeitungsprozess semiotisch ab. Neben der psychologischen Funktion von Kunst ist die gesellschaftlich bedingte Restriktion des Kunstanspruchs eminent. 5 Deutlich wird: Romantische Künstler sind in die bürgerliche Gesellschaft nicht integrierbar und werden sozial ausgeschlossen; ihr ‘ Zuviel ’ eines exponiertemphatischen Kunstanspruchs muss reduziert werden, äquivalent zur Zähmung im anthropologischen Sinn (Lukas 2000: 338, 341 f.; Begemann 2002: 106; Lukas 2012: 162), die essentiell für die Zukunftssicherung einer gegebenen Figur im Kontext von Partnerschaft, Familie und ökonomischer Sicherung erscheint. Zum anderen steht Kunst vor 4 Zur Stellung von Stifters Hochwald im Kontext einer “ anthropologischen Restauration ” der Biedermeierzeit cf. Lukas 2006. 5 “ So wird [. . .] ein emphatischer Kunstanspruch aufrechterhalten, in seiner Reichweite und Verbindlichkeit jedoch zugunsten eines bürgerlichen ‘ Glücks ’ beschnitten ” (Begemann 2002: 97 f.). Selbstreflexives Biedermeier 255 allem in Relation zu erotischer Liebe, auf die mit Blick auf den vorliegenden Text noch einzugehen sein wird. 6 Dabei präsentiert Cordelia keine Lebensgeschichte eines im Zentrum des Geschehens stehenden Subjekts, sondern eine auf einen bestimmten Zeitabschnitt fokussierte und lediglich Lebensausschnitte mehrerer Protagonisten umfassende Handlung. Singuläre, für die Gegenwartshandlung entscheidende Geschehensmomente werden von Figuren retrospektiv nachgetragen, reichen aber nicht oder nur oberflächlich zurück in die Kindheit der Figuren. Auch über das vorliegende temporale Segment hinausweisendes, zukünftiges Geschehen wird am Textende nur angedeutet und nicht weiter ausgeführt. Vorwiegend, aber nicht ausschließlich, wird Theobald fokalisiert. Weiterhin macht der Text keinen Unterschied in Bezug auf die Kunsttätigkeit seiner Figuren geltend: Alle im Fokus der Erzählung stehenden Handlungsträger treten als Kunstschaffende in Erscheinung. Differenziert wird hingegen durchaus zwischen Künstlern im emphatischen Sinn und Gelegenheitskünstlern. Aufseiten der als emphatisch gekennzeichneten Künstler stehen Friederich, Wilhelm und Theobald. Zumindest gelegentliche Kunsttätigkeit ist bei Christoph und Cordelia zu beobachten. Sie alle vereint, dass sie mittels Kunstproduktion auf für sie entscheidende Geschehnisse oder Umstände ihres Lebensumfeldes reagieren und diese dadurch psychisch zu verarbeiten hoffen und in den geschaffenen artifiziellen Artefakten den adäquaten Ausdruck ihrer inneren Gefühlswelt suchen. Zwei Beispiele werden hier genauer ausgeführt: 1) Theobald entdeckt in der Wohnung des alten Christoph neben dessen philosophischen Aphorismen ein Blättchen, dessen Inhalt Hinweise auf eine erneute Zusammenkunft mit Cordelia enthält. Durch diesen Fund werden Reflexionen und Deutungsversuche ausgelöst, wie auch ein innerer Zwiespalt zwischen Sehnsucht und unerklärlicherAngst ( “ Zwei Geister kämpften in ihm, eine bis zum Äußersten gespannte Sehnsucht nach dem geliebten Wesen, das ihm so geheimnisvoll nahe gerückt schien, und eine unerklärlich, große Angst ” ; Vischer 1892: 111). Das Problem löst der Protagonist mittels Lektüre eines Gedichts, das er in einem ähnlichen Gemütszustand verfasst hatte. Darin reflektiert eine Sprechinstanz die Gründe für “ Todesangst ” und “ Fieberpein ” , fragt nach “ alte[r] Blutschuld ” und einem “ mörderische[n] Sünder ” unter ihren Ahnen und einer Strafe für “ kühnes Streben ” , “ Jugendstolz und Übermut ” (Vischer 1892: 112 f.) und endet schließlich in einer ambivalenten - zugleich als schrecklich empfundenen und Demut evozierenden - Hinwendung zu Gott. Im Traum begegnet ihm dann Cordelia. Die emotionale Hinwendung zur Geliebten verläuft glücklich. Der Gedichttext fungiert als therapeutisch-medizinisches Mittel, das Seelenqualen lindert: “ Unter einem Strome von Thränen löste sich die herbe Beklemmung, eine ungewohnte Weichheit ergoß sanfte Bäche durch sein Inneres ” (Vischer 1892: 113). Dahingegen verschafft Theobald nicht die eigene Auseinandersetzung mit dem psychischen Ungleichgewicht Ruhe, auch nicht das Gespräch mit Christoph und Friederich - beides wird von ihm zunächst unternommen. Motiviert wird die Anspannung aufgrund einerseits einer möglicherweise bevorstehenden und entscheidenden Wiederaufnahme eines Liebesverhältnisses, andererseits durch die Verrätselung eines Textes, den es zu dekodieren gilt. Gelöst wird sie mittels Kunst, die unmittelbar an das auslösende Moment angeschlossen 6 Grundsätzlich zum Komplex Kunst/ Liebe in der Biedermeierzeit cf. Begemann 2002: 96 − 106. 256 Stephan Brössel (Münster) produziert oder rezipiert wird. 2) Eine noch grundlegendere Korrelation lässt sich aus Friederichs künstlerischem Schaffen ableiten, der alle im Text auftretenden Figuren (mehr oder weniger deutlich) in ihrem Verhalten unterworfen sind: 7 Probleme in ‘ Realität ’ korr. Psychisches Defizit im Subjekt korr. ‘ Realität ’ ⇒ ‘ Kunst ’ korr. Behebung des Defizits ∧ Optimierung von ‘ Realität ’ Friederich gilt von Beginn seines Wirkens an als talentierter, aber verkannter Maler mit Hang zur ‘ Romantik ’ . Ein entscheidendes Problem in seinem sozialen Umfeld ergibt sich durch die Heirat eines Bruders mit einer Römerin, in die Friederich unglücklich verliebt ist. Er umgeht eine offene Konfrontation zugunsten eines introvertierten Kunstschaffens: “ Er vermied ihren Anblick [den der Römerin], er schien mit allen Kräften gegen seine Leidenschaft zu kämpfen und, indem er künstlerisch darstellte, wovon sein Inneres erfüllt war, von dem übermächtigen Eindrucke sich befreien zu wollen ” (Vischer 1892: 118). Das Schaffen selbst wird dann noch spezifiziert: Treffliche Kompositionen, auf deren jeder man die Züge erkennt, die sich seiner Phantasie so glühend eingeprägt hatten, stammen aus jener Zeit. Aber er vollendete nicht; er fieng an, unordentlich, unreinlich zu werden, und gegen diejenigen, die sein Talent zu verkennen schienen, zeigte er eine wilde Bitterkeit (Vischer 1892: 118). Es lässt sich daraus erstens erkennen, dass unerfüllte Liebe negativen oder hemmenden Einfluss auf künstlerisches Schaffen hat. Dies bestätigen ebenfalls Wilhelm mit seinen Werken wie auch in abgeschwächter Form Christoph und Cordelia. Theobalds Rekapitulation seiner Schwierigkeiten als Erzähler einer romantischen Geschichte während seines ersten Treffens mit Cordelia indessen ( “ Ich konnte nicht weiter erzählen; als wäre der Strom der erfindenden Phantasie durch ein plötzliches Wehr gehemmt, so stockten mir alle Gedanken ” ; Vischer 1892: 87) lassen diesen Befund zweitens noch weiter eingrenzen: Der Text funktionalisiert unerfüllte Liebe im Sinne einer unerreichten oder unerreichbaren Liebe für eine Restriktion künstlerischen Schaffen, wobei offensichtlich zunächst irrelevant ist, ob diese Liebe einseitig ist oder gegenseitig erwidert wird. Friederich wird ob des Todes von Cordelias Mutter wahnsinnig und leitet die erste Phase der Beschäftigung mit dem Gemälde König Lear mit dem Narren in der Sturmnacht ein. Die Kur, die Christoph als Arzt daraufhin ansetzt, besteht in der vorübergehenden Unterbindung der künstlerischen Produktion, “ denn fast aus jedem Blatte sah ihm ja seine 7 Diese Korrelation bestätigt Christian Begemanns These bezüglich des funktionalen Potentials von Kunst in der Literatur der Biedermeierzeit: “ Kunst erwächst nicht mehr wie bei Goethe und den Romantikern aus der Liebe, sondern reagiert auf diese und bewältigt sie in ihrer Defizienz oder ihrem Verlust ” (Begemann 2002: 98, Hervorh. im Original). Selbstreflexives Biedermeier 257 Vergangenheit, sein Wahnsinn entgegen ” (Vischer 1892: 119). Er initiiert dann gleichzeitig die Heilung Friederichs durch eine Rückstufung in den Kindstatus sowie eine pastorale Erziehungsmaßnahme. Die in anthropologischer Perspektive bemerkenswerte und für den Text bedeutungstragende Maßnahme der (Wieder-)Herstellung eines neuen Selbst mit vorangegangenem Selbstverlust glückt. Zwar überführt der Text die Figur mit der Rekonvaleszenz dann biologisch in die Altersstufe des Greisen ( “ Erbleichen seiner Locken ” ; Vischer 1892: 121). Doch heißt es auch: “ Friederich brannte vor Begierde, wieder zu malen; er wollte den Herbst seines Lebens noch recht als Künstler genießen und beschloß eine Reise nach Italien ” (Vischer 1892: 123). Die (vorläufige) Lösung des Problems der Paarfindung auf Ebene der jungen Generation besteht nun in der Verbindung zwischen Cordelia und Theobald, die in Opposition zur nicht realisierten Option einer Verbindung zwischen Cordelia und Wilhelm steht. Schon ein Blick auf die Figurensemantik offenbart dabei, welcher kunstästhetischen Linie der Text folgt: Oppositionell gegenübergestellt werden ein klassisches und romantisches Denkmodell, die durch Wilhelm auf der einen und Friederich auf der anderen Seite verkörpert werden. Das Gespräch lenkte sich auf den Gegensatz der klassischen und romantischen Richtung in der Malerei. Wilhelm kämpfte entschieden für die erstere, Friederich hielt zum romantischen Panier und Theobald suchte zu vermitteln. Als Friederich behauptete, die unbefangene Darstellung der reinen Natur sei für uns verloren, als er den Grund dieser Veränderung in dem Geiste der christlichen Religion nachzuweisen suchte und erklärte, daß seit dem einen Worte des Täufers ‘ thut Buße und gehet in euch ’ die klassische Naivität einfür allemal hinter uns liege, so brach Wilhelm aus: ‘ O Buße und Sünde! Was soll noch aus der Kunst werden, wenn sie Fleisch und Sinne verdammt, sehnsuchtsterbende, demutszerschmolzene Köpfe auf eingemummte Körper setzt und die klare Sicherheit der Gestalten zur abstrakten Durchsichtigkeit eines Elfenleibs verklärt! ’ (Vischer 1892: 69) Der Text etabliert demnach ein semantisches Feld mit disjunkten, abstrakt-semantischen Räumen und ordnet Figuren diesen Räumen zu. Dominierend ist die topologische Ebene des Textes, die durch Kunst konstituiert ist und in deren Rahmen die topographische Ebene funktionalisiert wird. So wird Rom dem klassischen, Deutschland dem romantischen Raum zugeordnet. Kunst separiert sich also in die Opposition ‘ Klassik ’ vs. ‘ Romantik ’ : Klassik und Romantik bilden semantische Teilklassen von Kunst. Ein entscheidendes Differenzierungsmerkmal zwischen beiden Teilklassen ergibt sich - so wird im Text deutlich - u. a. aus der jeweiligen Stellung zur christlichen Religion: ‘ Romantik ’ verfährt integrativ, ‘ Klassik ’ exklusiv im Umgang mit Religion. Diesen semantischen Räumen klar zugeordnet werden Wilhelm und Friederich, wie aufgrund ihrerÄußerungen und Ansichten deutlich wird. Christoph positioniert sich durch seine dem zitierten Schlagabtausch angeschlossene Elfen-Erzählung und seinen Ausspruch “ Apropos, Elfen gibt ’ s, [. . .] ich hab ’ einmal welche gesehen ” (Vischer 1892: 69) implizit im semantischen Raum ‘ Romantik ’ . Einen Sonderstatus nehmen Theobald und Cordelia ein. Wie es heißt, sucht Theobald zwischen Klassik und Romantik zu vermitteln und wendet sich in der prekären Situation seiner namenlosen Angst Gott zu. Cordelia ist die Tochter einer Römerin, deren “ Ebenbild ” (Vischer 1892: 118) sie verkörpert (= klassisch), und gelangt in die Obhut des Romantikers Friederich (= romantisch). Beide nehmen demnach eine Zwischenposition ein, und zwar indem sie die Grenze zwischen ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ 258 Stephan Brössel (Münster) nivellieren oder zu nivellieren anstreben. Die Möglichkeit ihrer Verbindung ist dann auch auf abstrakt-semantischer Ebene der Neuinstallation eines semantischen Raumes äquivalent, der die binäre Raumstruktur (in T1) durch eine triadische Struktur (in T2) zwischenzeitlich zu substituieren andeutet. Abbildung 1: Semantische Räume in Cordelia (1836) zu den Zeitpunkten T1 und T2 Allerdings wird ebendiese Möglichkeit in der Ereignisstruktur des Textes nicht nur als nicht realisierbar gekennzeichnet (Tod Cordelias und nicht-künstlerisches Leben Theobalds); vielmehr kommt es obendrein zu einer gänzlichen Ordnungstilgung (Wilhelms und Friedrichs Tod) und damit zu einem Metaereignis: ‘ Biedermeier ’ bleibt markiert als ( − künstlerisch) bestehen und verwaltet das Erbe von ‘ Romantik ’ ( “ Die beiden Gemälde Friederichs hatten sie mitgenommen ” ; Vischer 1892: 141). Abbildung 2: Semantische Räume in Cordelia (1836) zu den Zeitpunkten T1, T2 und T3 Die prinzipielle kunstreflexive Richtung des Textes kann wie folgt abgeleitet werden: Cordelia etabliert ausschließlich kunstschaffende Figuren, wobei der Text keinen Unterschied zwischen verschiedenen Kunstformen und der künstlerischen Motivation bzw. dem Verhältnis von Produzent und seinem Werk geltend macht, wohl aber zwischen romantischer und klassischer Einstellung des jeweiligen Künstlers und durch sie implizierte, anthropologische Muster unterscheidet. So ist von Bedeutung, dass sowohl die romantische Figur wie auch die klassische Figur für die Paarbildung entfallen: Friedrich liebt zwar in Cordelia das Ebenbild ihrer Mutter. Er ist aber eindeutig zu alt und übernimmt schließlich für sie die Rolle des Ziehvaters; Wilhelm kommt seinerseits aufgrund seines leidenschaftlich stark exponierten Verhaltens als Partner für Cordelia nicht in Betracht. Für die recht überschaubare Figuration ist die Installation der semantischen Räume ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ mithin sinnfällig und bedeutungstragend, dergestalt Formen und Funktionsweisen klassischer und romantischer Ästhetik aus ihrer theoretischen Formu- Selbstreflexives Biedermeier 259 lierung herausgelöst und in der Anthropologie des Textes semiotisiert werden. Der regressive Handlungsakt Wilhelms, der ordnungskonsolidierend (im Sinne der Ordnung in T1) zu deuten ist, ist zugleich ordnungstilgend, da neben Cordelia ebenfalls Wilhelm und Friederich sterben und mit ihnen auf abstrakt-semantischer Ebene ‘ Klassik ’ und (zumindest in kunstproduktiver Hinsicht) ‘ Romantik ’ (in T3) getilgt werden. Der dargestellten Welt liegt dabei aber ein Verhaltenssystem zugrunde, demzufolge alle Figuren in emotionalen Extremlagen malen, singen, dichten oder erzählen und damit artifizielle Artefakte hervorbringen, die wiederum von anderen rezipiert und gedeutet werden. Sie agieren so gemäß einer Art autotherapeutischen Vorgehensweise, kompensieren durch Kunst psychische Leiden und hoffen, auf diese Weise von diesen Leiden befreit zu werden. Maßgeblich ist hierbei die Relation zwischen Kunst und Liebe. Trotz oder aufgrund der Korrelation zwischen beiden Termen, erscheint ein Fortbestand der Ordnung wie auch eine Neuordnung zwar denkbar, nicht aber realisierbar. 2.2 Kunstwerke: Artifizielle Artefakte als Reflexionsgegenstand In literarischen Texten thematisierte artifizielle Artefakte sind nicht zwangsläufig an ihren Produzenten und/ oder den Prozess ihrer Herstellung gebunden. Zudem sind sie - sprachliche Kunstwerke ausgenommen - als semiotische Scheingebilde zu begreifen, die sich als in das Zeichensystem der natürlichen Sprache transformierte Texte manifestieren. Finden sich zugleich Werk und Produzent in einem Text, so wird vor allem die Relation zwischen beiden fokussiert. Abgesehen davon kann Kunst auch als autonomer Funktionsträger, zumeist als konfliktauslösendes oder - tilgendes Element, in die Handlung eingebunden sein. In Stifters Der Hagestolz (1845/ 50) trägt ein Bildnis Ludmillas nicht nur zur Lösung des Konfliktes zwischen dem jungen Victor und seinem Oheim, dem Hagestolz, bei, sondern ist ebenso ausschlaggebend für die Heirat zwischen Victor und seiner Ziehschwester Hanna. Ebenfalls konflikttilgende Funktion übernimmt ein Gemälde in Wilhelm Hauffs Das Bild des Kaisers (1827), indem durch dessen Rezeption maximal voneinander entfernte ideologisch-politische Positionen einander angenähert werden und so der zukunftsentscheidenden Hochzeit zwischen Robert und Anna den Weg ebnen. Konfliktauslösend hingegen fungiert eine Venusstatue in Franz von Gaudys Frau Venus (1838), welche - ganz nach goethezeitlichem Vorbild gestaltet - zum Leben erwacht und die junge Ehe zwischen den Protagonisten bedroht. Nun koppelt aber Cordelia Produzent und Werk ganz deutlich aneinander. Damit wird den Figuren auch im Rahmen der thematisierten Kunstwerke eine bedeutungstragende Funktion zugeschrieben: Kunst ist nur dann adäquat zu interpretieren, wenn die betroffenen Figuren dabei ebenfalls Berücksichtigung finden. Wilhelm vollzieht regressiv motivierte und massiv leidenschaftliche Handlungen, strebt die Konsolidierung einer bedrohten Ordnung an und versucht dadurch eine Neuordnung zu verhindern. Er produziert drei künstlerische Texte, die im Laufe der Handlung von Relevanz sind und ‘ Klassik ’ semantisch anreichern: 1) die mündliche Rekapitulation der Begegnung mit Cordelia in der Sixtinischen Kapelle, 2) eine illustrative Darstellung von Faust und Gretchen und 3) eine Skizze mit dem Titel Raub der Proserpina. Alle drei deuten aufgrund ihrer Verfasstheit auf psychische Defizite der Figur hin und geben gleichermaßen Aufschluss über die Anthropologie des klassischen Figurentypus. Wilhelm leidet unbewusst an 260 Stephan Brössel (Münster) seiner gegenwärtigen Situation, da Liebe für ihn vor allem eines impliziert: leidenschaftlichaffektiv überhöhtes Handeln - er ist zudem narzisstisch veranlagt und schätzt seine Umwelt in höchstem Maße fehl ein. Im Zuge des geselligen Austauschs über vergangene Liebeserlebnisse, eröffnet Wilhelm seine Erinnerung mit einem in isometrischem Strophenaufbau, vierhebigem Trochäus und durchgehendem Kreuzreim verfasstem “ Präludium ” - ein “ kleines Wanderlied ” (Vischer 1892: 74), das er einst auf seiner Reise nach Italien gesungen hatte. Wanderlied und Italienreise referieren natürlich auf die Goethezeit. Die Dominanz emphatischer Ausrufe schafft einen starken Gegensatz zu Cordelias Gedicht “ Mädchens Abendgedanken ” (Vischer 1892: 88 ff.), in welchem Fragensätze hervorstechen. Bezeichnend ist dabei im Präludium die Kopplung von Temporalsemantik an körperliche Leidenschaft: Ein ‘ Gestern ’ wird attribuiert mit Schweben (und damit einem topographischem Oben) und Tanz, mit weißen Brüsten, tiefem Atmen, heißen Küssen, weichem Mund, dem Zaubertrank süßer Liebe; ein ‘ Heute ’ hingegen mit Stock und Steinen, Wüste, rauen und groben Felsenblöcken, mit scharfer Dorne, wunder Hand und Wange, Kälte und topographisch mit Unten. Dabei ist sich die Sprechinstanz durchaus über die Opposition zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Klaren. Insbesondere der letzte Vers ( “ Heute darf nicht gestern sein! ” ; Vischer 1892: 75) verdeutlicht: Es herrscht nicht nur ein Bewusstsein für einen offensichtlich einschneidenden Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart vor - ein Wechsel von einem positiv evaluierten ‘ Früher ’ zu einem negativ erfahrenen ‘ Heute ’ − , sondern zudem für die Notwendigkeit der persönlichen Hinnahme eines solchen Wechsels. Während aber zumindest in diesem Text Wilhelms auf künstlerischem Wege ein solches Bewusstsein geschaffen wird, so macht Cordelia ebenso die Differenz einer solchen Aussage zum Verhalten der Figuren stark, die eben die Abkapselung der Gegenwart von der Vergangenheit zwar kognitiv-mental wahrnehmen, mit ihr psychisch-emotional aber nicht umzugehen wissen. Wilhelm spricht sich vehement gegen konventionelle Liebe, die Heirat und Familiengründung aus (Vischer 1892: 75) und agiert - unter dem Deckmantel platonischer Liebe verborgen, den er anderen gegenüber kommuniziert - massiv leidenschaftlich. Dies belegt denn vor allem der Bericht seiner Begegnung mit Cordelia, der mit Lexemen der Emphase, einem Madonnen-Vergleich, Bezügen zur Antike (Antigone, Aristophanes) und zur deutschen Mythologie durchsetzt ist. Ebenso wie Wilhelm sein Gegenüber beschreibt, seine eigenen Gefühle sprachlich zu fassen versucht und Liebe in ihrer “ maximale[n] goethezeitliche[n] Unbedingtheit ” (Lukas 2001: 54) und Ausschließlichkeit proklamiert, deutet er die Reaktion Cordelias fehl: Sie erwidert seine Leidenschaft ihrerseits eben nicht. Im Gegenteil: Sie fürchtet sich vor ihm. Leidenschaftlichkeit ist nicht allein prägendes Verhaltensmerkmal Wilhelms, sie wirkt sich offensichtlich ebenfalls negativ auf die zwischenmenschliche Wahrnehmung aus und stellt eine Gefahr für den leidenschaftlichen Menschen selbst wie auch für diejenige Person dar, für die Leidenschaft entfacht worden ist. Deutlich wird dies wiederum an den beiden anderen Artefakten Wilhelms. Die Herstellung des ersten Gemäldes zeigt “ Faust, wie er Gretchen auf der Straße seinen Arm anbietet ” (Vischer 1892: 114). Wie Friederich verfährt Wilhelm dabei so, dass er reale Personen in das Werk einarbeitet, mit dem Unterschied jedoch, dass er damit eine narzisstische Veranlagung offenbart wie auch das Produkt abermals eine mit Leidenschaft Selbstreflexives Biedermeier 261 korrelierte, prinzipielle Gefahr nahelegt: Denn Wilhelm zeichnet Faust wie auch den im Hintergrund beobachtenden Mephisto mit seinem eigenen Angesicht, Gretchen bekommt das Gesicht Cordelias. Damit schreibt er die eigene Wirklichkeit in die tragische Geschichte um Faust und Gretchen ein. Zum einen wird durch diese intertextuelle Referenz der Bezug zur Goethezeit untermauert. Zum anderen deutet die Referenz auf Goethes Faust das Schicksal der beiden Figuren proleptisch voraus. Wilhelm selbst scheinen diese Züge unzugänglich, nicht aber seinem Umfeld, in diesem Fall Theobald, dem es zwar ebenfalls unmöglich ist, einen Zusammenhang herzuleiten, der aber dennoch die Veränderung in Wilhelms Auftreten erkennt: “ Theobald konnte dem Bilde nur eine halbe Aufmerksamkeit schenken, die Erscheinung seines Freundes machte überhaupt in diesem Augenblick einen widerlichen, fast ängstlichen Eindruck auf ihn, ohne daß er sich den Grund dafür anzugeben wußte ” (Vischer 1892: 114). Mit der letzten Zeichnung, dem Raub der Proserpina nach Wiedererkennung Cordelias und vor Wilhelms Tod spitzt sich die Lage zu. Auch hierin findet sich der klassizistische Duktus wieder, den der Bezug zur römischen Mythologie offenlegt. Allerdings sind auch Unbedingtheit, Besitzwahn und körperlich-erotische Leidenschaftlichkeit in noch radikalerer Form erkennbar. Angesichts dessen fällt denn auch Theobalds Reaktion in diesem Fall sehr viel schärfer aus als zuvor. Zunächst: “ Daß ich ’ s nur gestehe [. . .], ich kann deine Leidenschaft für die Antike, für die sogenannte Form nicht ohne Ängstlichkeit betrachten. Ja, wenn ich glauben könnte, daß es eine reine Begeisterung für die Form ist -” (Vischer 1892: 130). Dann: “ Wilhelm, ist deine Seele rein? ” (ibid.). Und schließlich: “ Dich reißt dein antikes Wesen noch ins Verderben, ins gemeine Verbrechen! ” (ibid.) Die Zerstörung der Zeichnung versteht denn Wilhelm als Verdrängungsakt und Neuanfang, der die Trennung von Theobald vorsieht: “ Ach, warum, warum mußte es so kommen? Doch sei er abgeschüttelt, der wüste Traum dieser letzten Tage! Theobald, ich begleite dich und kehre nicht mit dir nach Rom zurück ” (Vischer 1892: 131). Offensiv und explizit repräsentiert wird auf der anderen Seite Romantik durch Friederich, auf dessen Gemälde noch näher einzugehen sein wird. Den als klassisch ausgewiesenen Werken Wilhelms entgegengestellt wird ebenfalls Christophs Elfen-Erzählung, die auf mehreren Ebenen auf das Zeichenrepertoire der Romantik zurückgreift. Wesentlich ist beispielsweise, dass Christoph mit seinem Ausruf “ Elfen gibt ’ s ” (Vischer 1892: 69) den ontologischen Status wunderbarer Wesen für die fiktionsinterne, nicht-wunderbare Realität konstatiert. Damit wird spielerisch-verbal zum Ausdruck gebracht, was die Romantik seinerzeit prinzipiell festgelegt hatte: die Auflösung der Grenze zwischen Imagination und Realität insbesondere in Bezug auf phantastische Elemente (cf. Lukas 1998 a: 401). Daneben findet sich die Thematik des Traums, der Phantasie und des selbstreflexiven Erzählens und der Rezeption von Gespenstergeschichten, die auf die Schauerromantik referiert, sowie die in einer Erzählung der dritten Ebene (Erzählung einer Elfe) aufgebauten semantischen Relationen von Mensch und Elfe, deren eine die geliebte Person zur Elfenkönigin erhebt und deren andere einen Bauern als Elfenquäler ausstellt (der bezeichnenderweise eine Elfe in ein Buch presst! ). Liebe ist auch hier zentral, denn die geliebte Jungfrau ist Initial für das Elfenerlebnis, sie bietet damit überhaupt erst die Möglichkeit zum wunderbaren Erleben und öffnet die Wahrnehmung für das Wunderbare. 262 Stephan Brössel (Münster) Theobald offenbart sich seinerseits auch mit Blick auf die von ihm produzierten Artefakte als Vermittler zwischen den beiden vorherigen Positionen und wählt dementsprechend in seiner Geschichte, die er Cordelia bei ihrem ersten Zusammentreffen erzählt, “ eine Art romantischen Ulysses ” (Vischer 1892: 86), ein figurales Hybrid stellvertretend für Klassik und Romantik. Cordelias Lied Mädchens Abendgedanken wiederum ist als Gegenstück zu Wilhelms Wanderlied zu lesen. Beide verbindet die Liebesthematik und die Funktionalisierung einer Temporalsemantik. Cordelias Text jedoch präsentiert eine gänzlich passive Sprechinstanz und konzentriert sich nicht wie Wilhelm auf die Relation zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sondern auf die Relation zwischen Gegenwart und Zukunft. Von höchster Relevanz dabei ist, wie die männlichen Figuren im Rahmen ihrer Kunstproduktion mit Cordelia umgehen. Dies führen zum einen Wilhelms Versuche vor, die leidenschaftliche Liebe zu Cordelia künstlerisch zu verwerten oder diese durch jene zu kompensieren. Dies zeigen zum anderen Friederichs Gemälde, die ihrerseits einen intertextuellen Bezug zu Shakespeare aufbauen. Festzuhalten ist aber auch, dass Theobald offensichtlich durch seine Liebe künstlerisch gehemmt wird, er gegenüber Cordelia ins Schwanken gerät und, nachdem der Hochzeit nichts mehr im Wege steht, keine Kunst mehr zu produzieren vermag; nach ihrem Tod verzichtet er gänzlich auf künstlerisches Schaffen. Als biedermeierlicher Repräsentant ist dies natürlich bezeichnend, steht er damit schließlich zeichenhaft für Vischers Text selbst, der ja ein literarischer Text der Biedermeierzeit ist - und der dadurch sein eigenes Scheitern in literaturgeschichtlicher Hinsicht reflektiert. 3 Shakespeares King Lear und Selbstreferenzialität in Cordelia: Die intertextuelle Bedeutungskomponente Im Zentrum stehen nun zwei Gemälde, die innerdiegetisch produziert und durch die Erzählinstanz narrativ-verbal und in direkter Figurenrede im Discours wiedergegeben werden. Im einen wie im anderen Fall wird auf Shakespeares King Lear referiert, und zwar jeweils auf entscheidende Szenen innerhalb des Dramas: König Lear wird nach der Teilung seines Landes und seinem Verstoß Cordelias von seinen beiden anderen Töchtern Regan und Goneril hintergangen und entmachtet. In einer Sturmnacht beklagt er seinem Narren, inzwischen wahnsinnig geworden, sein Leid (Bild 1: König Lear mit dem Narren in einer Sturmnacht, III. Akt, 2. Szene). Regan und Goneril verlieren am Ende selbstverschuldet ihr Leben, nicht jedoch ohne Edmund - einem Buhler, der mit beiden anbändelt - mit Cordelias Ermordung zu beauftragen. Die gutmütige Cordelia stirbt schuldlos, Lear aus Gram über ihren Tod (Bild 2: Lear mit der toten Cordelia in den Armen, V. Akt, 3. Szene). Semantisiert und funktionalisiert wird der intertextuelle Bezug auf Shakespeare im Rahmen der Novelle grundsätzlich auf zweierlei Weise: Zum einen reichert der Text mit ihm das Paradigma ‘ Romantik ’ an. Zum anderen nutzt er das Verfahren einer diegetischen Rückkopplung und generiert damit ein selbstreferenzielles Moment, das vor allem durch eine temporalsemantische Ebene getragen wird. Die Welt in King Lear ist eine aristokratische Welt, in der die Herrschaftsübergabe der alten Generation an die Kindergeneration als Marker für den Status eines Interims zu werten ist; der Text selegiert eben genau diesen Übergang vom Alten zum Neuen. Daneben Selbstreflexives Biedermeier 263 ist die Defizienz des Endzustands auffällig, denn ebenso wie sich das alte patriarchalische System in der Person Lears als überholt und nicht mehr tragfähig erweist, kann sich ein neues System unter der Führung der jungen Generation nicht etablieren, da es von radikalem Egoismus geprägt ist und anstelle von Zusammenhalt und Entdifferenzierung auf maximale Ausdifferenzierung abhebt. Signifikant ist, dass die Installation eines neuen Zustands (in Person Edgars) über das Textende hinaus lediglich in Aussicht gestellt wird und der Endzustand überdeutlich durch den Tod der Figuren geprägt ist. Besonders sticht in diesem Kontext Cordelias Tod hervor, verkörpert sie doch diejenige Figur, die nicht an den Intrigen der Schwestern und Ränken der anderen Figuren partizipiert und sich allein um das Wohl des Vaters sorgt. Durch die Tilgung dieser positiv konnotierten Figur mit dem Potenzial eines Hoffnungsträgers für eine bessere Zukunft offenbart sich die Welt mit ihren Gesetzmäßigkeiten und Verhaltens- und Regelsystemen als massiv instabile und unheilvolle Welt. Vor dieser Folie erscheint der intertextuelle Bezug, den Cordelia aufbaut, bedeutungskonstitutiv. Der Text projiziert das Wissen um die Handlung in King Lear auf die eigeneWelt - sowohl für die Figuren, die Shakespeare und dessen Drama selbstverständlich kennen und einzuschätzen wissen, als auch für den zeitgenössischen Leser, der Cordelia mit entsprechendem Wissen rezipiert und beide Texte zueinander in Beziehung setzt. Cordelia fungiert so als kultureller Speicher. Die Erzählung funktionalisiert King Lear darüber hinaus aber für die Charakterisierung der von ihr selbst dargestellten Welt: Wie bei Shakespeare ist diese mit den Merkmalen des Interims und der grundsätzlichen Defizienz und Instabilität versehen. Entscheidend ist dabei der Modus des intertextuellen Bezugs, der über die adaptive Transformation von Kunstformen durch Textinstanzen vonstatten läuft und mit Romantik und Klassik korreliert: Cordelia erscheint als narrativer Text, der auf einen dramatischen Text referiert. Diesen bindet jener aber nur mittelbar verbal-sprachlich ein, denn die Referenz wird in der erzählten Handlung von einer Figur übernommen, die den dramatischen Text Shakespeares adaptiert und in ein anderes Zeichensystem, das des gemalten Bildes, übersetzt. Damit werden die Szenen aus King Lear ikonifiziert 8 wie auch die Handlung der Vorlage ent-dynamisiert und in zwei Geschehensmomenten eingefroren wird. Diese Transformation wiederum ist auf der Oberflächenstruktur des Textes Cordelia 8 Von Ikonifizierung spricht Rudi Keller beim Vorgang der Simulation von Symptomen: “ Nur echte Symptome sind Symptome. Imitierte Symptome sind Symptomen ähnlich und sind somit Ikone von Symptomen. [. . .] Das ikonifizierte Symptom muß [. . .] zwei Aspekte haben, einen, der es als intentional hervorgebrachtes Zeichen erkennbar macht [. . .], und einen, der erkennbar macht, was der Zeichenbenutzer mit dem Zeichen mitzuteilen wünscht ” (Keller 1995: 162 f.). Tatsächlich ist der hier vorliegende Tatbestand ähnlich: Von Friederich wird ein Zeichenkonstrukt hervorgebracht, das ein anderes Zeichenkonstrukt medial transformierend adaptiert. Im Rahmen dieses Textes wird aber nicht nur auf Shakespeares Text referiert (Imitation), sondern darüber hinaus das mediale Potential der Adaption genutzt, um Realitätsaspekte einzubinden. Dadurch kommuniziert Friederich auf doppelter Ebene und veranlasst seine Rezipienten zu “ zwei hintereinandergeschachtelte[n] Interpretationsverfahren ” (Keller 1995: 162): Die Rekonstruktion der Handlung King Lears wird im Zeichensystem des gemalten Bildes reproduziert (erste Botschaft) und dadurch die Rekonstruktion der Verarbeitung von Realität semantisiert (zweite Botschaft). 264 Stephan Brössel (Münster) unsichtbar und wird abermals transformiert in die Sprache einer nichtdiegetischen, ekphrastisch verfahrenden Erzählinstanz oder die Sprachen der Figuren. Dem Text liegt folglich ein spezifischer idealgenetischer Transformationsprozess seines intertextuellen Bezugs zugrunde: Die Figur hatte in der dem Text vorgelagerten Vergangenheit Shakespeare in die Kunstform der Malerei übertragen. Im Zuge der narrativen Wiedergabe des Geschehens verzichtet die Erzählinstanz auf eine Zitation dieser Bildtexte zugunsten einer sprachlichen Repräsentation. Dies hat Re-Verbalisierung und Re-Narrativisierung, aber auch Verschleierung zur Folge - beides offensichtliche Signa von Cordelia: Rekapituliert wird etwas, das bereits in der Vergangenheit rekapituliert wurde. Jetzt wird es mit dem Anspruch einer neuerlichen Transformation in den Kontext einer Narration eingebunden und dadurch nur mittelbar wiedergegeben und nicht vollständig rekonstruiert. Im Rekonstruierten aber konstatiert der Text nicht nur eine Äquivalenz des in der eigenen Gegenwart Vorhandenen, sondern setzt diese realiter um: Ebenso wie die Figuren bei Shakespeare an der Welt scheitern, scheitern sie auch bei Vischer. Zusätzlich also zur Parallelführung der Handlungen wird durch die Referenz auf Shakespeare das spezifisch biedermeierliche Problem des scheiternden Interims kodiert, das kunstreflexiv verhandelt wird und implizit den eigenen kunstästhetischen Status bezeichnet. Nun handelt es sich bei Friederich eben um einen Repräsentanten von ‘ Romantik ’ , der Shakespeare im Rahmen eines Textes der Biedermeierzeit in die Malerei überträgt. Romantik setzt sich dadurch von Klassik ab, die ihrerseits nicht mit Shakespeare, sondern mit der Antike und Goethe attribuiert ist. Ebenso separiert wird jedoch ‘ Romantik ’ von ‘ Biedermeier ’ , denn ‘ Romantik ’ verfährt ästhetisch und funktional anders mit der Vorlage als ‘ Biedermeier ’ . Beide sind sich durch ihren Bezug zu Shakespeare näher als die deutlich differenzierte ‘ Klassik ’ . ‘ Klassik ’ : Antike vs. ( ‘ Romantik ’ : Shakespeare vs. ‘ Biedermeier ’ : Shakespeare) Während ‘ Romantik ’ einen innovativ-produktiven Transformationsprozess vollzieht, erscheint dieser im Fall des ‘ Biedermeier ’ lückenhaft, mittelbar, narrativ-dynamisiert und - mit Blick auf die Handlung - destruktiv. Zwar ist Friederich in seiner Rekonvaleszenz auf Geheiß des Arztes von seiner Kunstproduktion abgekapselt, er findet jedoch zur Kunst zurück. Dahingegen führt Theobald am Ende des Geschehens kein Dasein als Künstler, sondern ein bürgerliches Leben. Und auch Christoph - der andere Überlebende - nimmt lediglich die “ beiden Gemälde Friederichs ” (Vischer 1892: 141) mit nach Deutschland, bleibt selbst aber künstlerisch untätig. ‘ Biedermeier ’ - dies führt der Text als biedermeierlicher Text vor Augen - ist mithin äquivalent zu ‘ Entromantisierung ’ (cf. Lukas 1998 b: 265 − 270; Lukas 2001: 57, 60 f.). Bezeichnend ist aber auch, dass Vischers ’ Text mit Cordelia betitelt ist und der ‘ Romantiker ’ Friederich wie König Lear dem Wahnsinn verfällt und die Rolle des Adoptivvaters gegenüber Cordelia einnimmt, Cordelia ihrerseits einen zwar nicht grundlosen, aber vermeidbaren Tod stirbt. Beides unterstreicht die Äquivalenzbildung der Weltkonzepte wie auch die Privilegierung von ‘ Romantik ’ gegenüber ‘ Klassik ’ . Es belegt aber vor allem die Signifikanz der Vorlage für den Bedeutungsaufbau. Die tragende Korrelation nämlich, wie sie oben bereits aufgeschlüsselt worden ist, muss hier unter Berücksichtigung des intertextuellen Bezugs ergänzt werden: Selbstreflexives Biedermeier 265 Abbildung 3: Kodifizierung von Kunstproduktion durch sR ‘ Romantik ’ Friederichs transformative Adaption von Shakespeares Drama wird zunächst als Geheimnis inszeniert, über dessen Ursprung nur Christoph Bescheid weiß, nicht aber Theobald und Wilhelm. Diesen Freund [Christoph] besuchten jene beiden [Theobald und Wilhelm] eines Mittags, [. . .] ein schönes Gemälde [. . .] zu betrachten. Es war offenbar ein meisterhaftes Werk, vor das er den Erstaunten treten hieß: König Lear mit dem Narren in der Sturmnacht. ‘ Wie oft habe ich doch schon den Gedanken gehabt, ’ rief der freudig Überraschte, ‘ wie schön dieser Moment von einem Maler sich müßte darstellen lassen, und nun stehe ich vor einer Wirklichkeit, die alle meine Erwartungen übertrifft! Armer Greis, da stehst du, dem Toben der Elemente preisgegeben; der Blitz speit sein zackiges Feuer, der Donner rollt, der Regen stürzt in Strömen herab. Doch sie wollen nur wüten, sie sind ja nicht deine Töchter, ihnen gabst du kein Reich und nanntest sie Kinder! Der Sturm wühlt dir im weißen Barte und in den spärlichen Locken deines Hauptes, er will dir den Königsmantel vom Leibe zerren, dunkler Wahnsinn kräuselt bereits deine hohe Stirn in unheimliche Fältchen. Und doch bist du noch immer der größte König, vor dessen mähendem Schwerte einst die Feinde hüpften, immer noch jeder Zoll ein König! ’ [. . .] ‘ Der Narr gefällt mir auch besonders, sieh ihn einmal recht an, ’ bemerkte Wilhelm. Theobald konnte die Verbindung von Furcht und Schelmerei, von herzinniger Gutmütigkeit und dialektischem Verstande, von Sinn und Unsinn nicht genug bewundern, die in diesen Gesichtszügen geschrieben stand. [. . .] ‘ Er möchte weinen und scherzt, er denkt der guten Cordelia. Welche Wirkung hat der Maler besonders durch die Fältchen an den äußeren Winkeln der halbzugedrückten Augen hervorgebracht! [. . .] Wer diesen Narren und diesen König neben einander stehen sieht, der, meine ich, sieht nicht nur den Grundgedanken dieses Trauerspiels, sondern das Trauerspiel selbst verkörpert. ’ [. . .] Theobald ließ sich gerne unterbrechen, denn ein neuer Gegenstand hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Je genauer er die Physiognomie des Narren betrachtete, desto mehr drang sich ihm eine, nur wenig verdeckte Ähnlichkeit mit Christophs Zügen auf, er fixierte verwundert bald diesen, bald das Bild (Vischer 1892: 64 ff.). Realität und Tragödie werden im Bild semiotisch verschränkt: Friederich überführt die eigene Lage nach dem Verlust der unerreichbaren Liebe in die Sturmszene und zeichnet sich selbst (als Lear) und Christoph (als Narr) in die Darstellung ein. Auch im anderen Gemälde, 266 Stephan Brössel (Münster) das König Lear mit der sterbenden Cordelia zeigt, substituiert Friederich konsequent Lears Gesicht durch seine eigene Physiognomie, und Shakespeares Cordelia durch die reale Cordelia (auf die Theobald entsprechend reagiert) - allerdings mit einer signifikanten Änderung der literarischen Vorlage: Das Gemälde stellte König Lear vor, die sterbende Cordelia in den Armen haltend. ‘ Ich zähle mich ’ , bemerkte Friedrich, ‘ nicht zu denen, welche Shakespeare überzuckern, aber hier mußte denn doch der Künstler statt der Male um den Hals eineWunde in der Brust wählen. ’ Theobald betrachtete voll Bewunderung das Bild, in welchem er mit dem ersten Blick ein wahres Kunstwerk erkannte. Aber wie erstaunte er, als er nicht in Lears Zügen eine große Ähnlichkeit mit Friederich, sondern auch in dem Bilde der Cordelia seine Cordelia erkannte. Bleich, mit dem letzten feuchten Strahle im erlöschenden Auge, lag die zerknickte Lilie im Arme des greisen Vaters. ‘ Woher dies Bild? ’ stammelte Theobald, ‘ wer hat es geraubt aus dem verschwiegenen Heiligtum meiner Seele? Cordelia, meine, meine Cordelia! ’ (Vischer 1892: 115 f.). Das zweite Bild fungiert zu diesem Zeitpunkt des Geschehens als problemlösendes Element, da es für Friederich die Aufrichtigkeit Theobalds gegenüber Cordelia bescheinigt und nach einer Rezeption beide temporär zusammengeführt werden. Wie auch die Ikonifizierung der Figuren unterstreicht der proleptische Verweis auf Cordelias Tod die Verschränkung beider Welten. Diese Verschränkung wird - im Gegensatz zu Wilhelms Faust-Adaption, die lediglich den narrativen Frame der Vorlage mitschwingen lässt - durch jene semiotische Substitution der tödlichen Verwundung in der Adaption (Wunde in der Brust) gegenüber der Vorlage (Strangulationsmale) signalisiert und räumt gerade in der ‘ romantischen ’ Verarbeitung Shakespeares den hohen weltkonstitutiven Stellenwert in der Erzählung ein. Mit der diegetischen Rückkopplung von King Lear illustriert Cordelia mithin paradoxerweise einerseits den Bezug zur ‘ Romantik ’ , die der Text als eine Alternative neben der ‘ Klassik ’ präferiert. Er führt andererseits aber auch deren prädeterminiertes Scheitern im Kontext des eigenen Systems ‘ Biedermeier ’ vor. 9 Wiederholt wird Nicht-Künstlerisches (und zwar anthropologische Belange 10 ) in Kunstwerken semiotisiert, derAkt selbst zugleich 9 Cf. Jan-Oliver Deckers Feststellung zu Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder: “ Das Sprecher-Ich strebt damit letztlich ein Paradoxon an: 1. Das Sprecher-Ich versucht in der Nordsee und im BdL [Buch der Lieder], eine Summe goethezeitlicher Literatur abzubilden und in sich zu integrieren. 2. Das Sprecher-Ich versucht, diese goethezeitliche Literatur durch individuelle Um- und Neusemantisierung ihrer Elemente als herausragende Künstlerpersönlichkeit zu überwinden. Auf diese Weise konserviert das Sprecher-Ich die goethezeitliche Literatur, so dass im Prinzip eine Emanzipation von der goethezeitlichen Literatur gar nicht erreicht werden kann ” (Decker 2005: 61). 10 Mit meinem Verständnis einer Literaturanthropologie folge ich dem Konzept einer Literaturanthropologie II von Wolfgang Lukas und Claus-Michael Ort: “ Zum einen bedeutet ‘ Anthropologie der Literatur ’ (genitivus objectivus, Literaturanthropologie I), daß sich die Literaturwissenschaft fächerübergreifend als eine ‘ Anthropologie ’ versteht, die den langfristigen Bestandserfolg von Dichtung in die Evolutionsgeschichte von Sozialität, Kommunikation und Symbolgebrauch einordnet und daraus - notwendig abstrakt - anthropologische Funktionskonstanten eines mimetischen und spielerisch fingierenden Weltbezugs ableitet. Der Gegenstand einer so verstandenen Literaturanthropologie I gehört genauso wie die körperlich-seelischen Grunderfahrungen des Menschen (Kindheit, Alter, Tod, Sexualität, Gewalt, Fremdheit) und die mit ihnen verknüpften Performanzen und Rituale (rites de passage) zum Objektbereich anthropologischer Forschung. Dieser fällt jedoch gerade nicht in den Zuständigkeitsbereich einer Literaturanthropologie II ( ‘ Anthropologie der Literatur ’ : genitivus subjectivus), der zufolge die Literatur selbst als Quasi- ’ Anthropologie ’ interpretiert werden kann. Für diese gilt nämlich erstens [. . .], dass sie, ‘ anders als der Name denken läßt, eine Art von Historie, nicht eine Art von Anthropologie ’ [Zit. Rüdiger Bittner] ist, und zweitens, dass sich ihr Erkennt- Selbstreflexives Biedermeier 267 rekurrent als künstlerischer Akt ausgestellt und damit zum Fundament der selbstreferenziellen Textkonstitution ( ‘ RK → Srf ’ ). Ähnlich wie Shakespeare verhandelt Vischer anhand seiner Figuren einen Umbruch von Welt. Im Gegensatz zu jenem aber bindet er Fragen der Kunst in diesen Umbruchsprozess ein und erhebt so seine Problemverhandlung zu einer Auseinandersetzung mit der Aufgabe und der Beschaffenheit von Kunst selbst und problematisiert die Transformation desjenigen Literatursystems, dem er selbst angehört. Mit der Tilgung von ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ wird beiden Systemen Inadäquatheit und Inkompatibilität attestiert. Als Problem bleibt indessen jedoch bestehen, dass ‘ Biedermeier ’ (in Person Theobalds) Kunst gänzlich entsagt und soziale Aufgaben übernimmt oder (in Person Cordelias) von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Ein entromantisierendes ‘ Biedermeier ’ unterscheidet der Text von ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ . In ihm werden ‘ Kunst ’ durch ‘ bürgerliche Arbeit ’ und ‘ partnerschaftliche Liebe ’ durch ‘ zweckökonomische Männerfreundschaft ’ oder eben ‘ Tod ’ substituiert. Die spezifische Relationierung der Welt in King Lear und der Welt in Cordelia hat nun also bezeichnenderweise zur Folge, dass neben der kunstschaffenden Figur ebenfalls der Text beide Welten äquivalent setzt. Er transponiert das Prinzip der funktionalen Semiotisierung der von ihm thematisierten artifiziellen Artefakte in die eigene Modellierung von Welt. Auf Discours-Ebene setzt er eine semiotische Transformation der King Lear-Gemälde um: Cordelia verfährt homolog mit der ‘ Romantik ’ . Auf der Histoire-Ebene findet sich eine Rückkopplung der dargestellten Welt an die in Friederichs Werken modellierte Welt, die ihrerseits vor der Folie von King Lear Wirklichkeit modelliert. ‘ Biedermeier ’ ist in Cordelia damit in zweifacher Weise einem Scheitern äquivalent: 1) Einmal im Hinblick auf das nisinteresse nicht auf die elementaren menschlichen Erfahrungshorizonte selbst richtet, sondern auf die Geschichte ihrer literarischen Diskursivierungen, darauf also, auf welche Weise die Literatur einer Gesellschaft die psycho-physischen Rahmenbedingungen menschlicher Verhaltens- und Handlungsalternativen narrativ, dramatisch oder ‘ lyrisch ’ konstruiert. Literatur fungiert somit als Speicher- und Verbreitungsmedium des gesellschaftlich kommunizierten anthropologischen Wissens und Selbstbildes einer raumzeitlichen Kultur (z. B. der ‘ Goethezeit ’ ) und kann zugleich als historische Quelle solchen Wissens wiederum zum Gegenstand einer ‘ historischen Ethnologie ’ (z. B. der ‘ Goethezeit ’ ) werden ” (Lukas/ Ort 2012: 4 f.). Abbildung 4: Selbstreferenzielle Struktur in Cordelia 268 Stephan Brössel (Münster) persönliche Glück von Theobald und Cordelia und 2) hinsichtlich des Loslösungsproblems von ‘ Romantik ’ und des in künstlerischer Hinsicht als unproduktiv markierten Endzustands. Angesichts dieses Befundes ergibt sich eine für die Dekodierung der Selbstreferenzialität des Textes aufschlussreiche Schlussfolgerung: Semantisiert wird der intertextuelle Bezug zu Shakespeare nicht allein als Kanal zum Ausdruck persönlicher Befindlichkeiten der Künstler und als Ausgangspunkt zur Austragung ästhetisch-programmatischer Debatten, sondern auch als Schnittstelle zwischen den Paradigmen ‘ Kunst ’ und ‘ Zeit ’ . Shakespeare wird im deutschsprachigen Raum bei Lessing, Herder, im Sturm und Drang und bei den Romantikern als zeitloser Klassiker aufgefasst - namentlich bei Friedrich Schlegel als “ Gipfel der modernen ‘ interessanten ’ Poesie ” bezeichnet (Hoffmeister 1994: 123) oder gar als “ romantische[r] Dichter überhaupt ” und damit in “ das Zentrum [. . .] der romantischen Phantasie ” (ibid.: 124) gerückt. Folgerichtig nutzt Friederich die Referenz zum Ausdruck persönlich-subjektiver - und eben dezidiert ‘ romantischer ’ - Befindlichkeiten. Zwar gelingt in seinem Fall die ästhetische Übernahme, im Fall von Cordelia allerdings nicht, weil Shakespeare reflexiv für den Gesamttext funktionalisiert wird. 11 Denn der Bezug wird gleichermaßen als Notwendigkeit und Unmöglichkeit vorgeführt und dies als dezidiert ‘ biedermeierliche ’ Problematik ausgewiesen: ‘ Biedermeier ’ orientiert sich an ‘ Romantik ’ , rekonstruiert und rekapituliert damit Kunst der Vergangenheit und scheitert, da offensichtlich adaptierte Muster keine Geltung mehr haben. Zugrunde liegt dem Text also ein temporales System, das aufgrund von Kunstreflexion überhaupt erst ersichtlich wird, das jedoch maßgeblich ist für den Status selbstreferenziellen Erzählens. Abbildung 5: Temporalsemantische Räume in Cordelia 4 Selbstreferenzielles Biedermeier: Cordelia als kunstreflexiver Metatext der Zwischenphase Das Literatursystem der Phase zwischen Goethezeit und Realismus zeichnet sich in hohem Grad als reflexives und selbstreferenzielles System aus: Literarische Texte weisen über sich selbst hinaus und verhandeln Regularitäten desjenigen Literatursystems, dem sie selbst angehören. Sinnfällig in dieser Hinsicht ist die funktionale Abhängigkeit der Biedermeierzeit vom zeitlich vorhergehenden System der Goethezeit, das als Reflexionsgegenstand auf verschiedeneWeise integriert ist. Funktionale Abhängigkeit gilt dabei als Voraussetzung für die spezifische Spielart von Selbstreferenzialität und Metafiktionalität (cf. Wünsch 2002: 279 f.): Das Literatursystem repräsentiert (mindestens) zwei Sets divergenter Regularitäten, 11 Damit steht Vischers ’ Text in Beziehung zu einer grundsätzlich reflexiven Tendenz der Shakespeare- Rezeption in der post-goethezeitlichen Phase insgesamt (Habicht 2011: 120 f.). Selbstreflexives Biedermeier 269 welche einander oppositionell gegenüber stehen. Während das eine Set mit goethezeitlichen Merkmalen versehen ist (+ goethezeitlich), ist für das andere vornehmlich die Absenz oder die Negation solcher Merkmale bezeichnend ( − goethezeitlich). Die Relation der Abhängigkeit des einen vom anderen ergibt sich also durch die Benennung einer semantischen Leerstelle ex negativo − und nicht etwa durch das Merkmal (+ biedermeierlich). Selbstreferenzialität und Metatextualität können folglich als Signifikanzen der Biedermeierzeit angenommen werden (cf. Lukas 2001: 49 ff.; Lukas 2002: 154). Eine solche Spezifik weist auch Cordelia auf und verhandelt damit die eigene Verfasstheit und Bedingungen seiner Entstehungskontextes. Folgende Eigenschaften selbstreferenziellen Erzählens des vorliegenden Falls sind hervorzuheben: 1) Der Text ist in hohem Maß angereichert mit kunstreflexiven Strukturen. Cordelia etabliert kunstschaffende Figuren: Künstler im emphatischen Sinn und Gelegenheitskünstler. Der Text thematisiert deren Artefakte, Lieder, Gemälde, Erzählungen etc., indem er Figuren über sie sprechen lässt oder in Form einer nichtdiegetischen Erzählinstanz selbst deskriptiv (und nicht explizit evaluativ) verfährt. Die Erzählung installiert eine Reihe von intertextuellen Verweisen (so auf Goethe, Hegel, Platon, Aristophanes u. v. m.), die auf irgendeine Weise mit Kunstproduktion oder der Betrachtung von Kunst in Beziehung stehen. Korreliert sind diese Strukturen mit anthropologischen Aspekten der Realitätsbewältigung in Form einer Verarbeitung unerreichter und unerreichbarer Liebe. 2) Kunstreflexion ist Implikat der Opposition ‘ Klassik ’ vs. ‘ Romantik ’ vs. ‘ Biedermeier ’ . Mit Wilhelm auf der einen und Friederich auf anderen Seite liegen Repräsentanten der abstrakt-semantischen Räume ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ vor, die Teilklassen von Kunst figurieren und aufgrund des Umgangs mit christlicher Religion (Inklusion vs. Exklusion), durch verschiedene intertextuelle Bezüge (Antike vs. Shakespeare) und divergierende anthropologische Konzepte des jeweiligen Vertreters (extrovertiertnarzisstisch vs. introvertiert-altruistisch) als disjunkte semantische Räume benannt werden konnten. Beide verbindet die Produktion von Kunst. Beide fokussieren das Problem der Paarfindung und -bildung. Gerahmt wird dies wiederum vom biedermeierlichen Muster der präsentierten Geschehnisse des Textes Cordelia. Es liegt keine Kunstreflexion im Allgemeinen vor, die sich mit grundsätzlichen Fragen der Formgebung und des Funktionspotentials von Kunst auseinandersetzt, sondern eine Kunstreflexion im Besonderen, die Subsysteme der Goethezeit substantiiert und reflexiv gegeneinander abwägt - und dies explizit aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen den Figuren und implizit aufgrund ihrer Handlungen vollzieht. 3) Die Opposition ‘ Goethezeit ’ vs. ‘ Biedermeier ’ impliziert Metatextualität. ‘ Klassik ’ und ‘ Romantik ’ werden durch ‘ Biedermeier ’ in Person Theobalds und Cordelias ergänzt, die als Vermittler zwischen beiden Modellen konzipiert sind. ‘ Romantik ’ wird vom Text gegenüber ‘ Klassik ’ präferiert, insofern über sie das Liebes-Problem temporär gelöst wird. Jedoch steht ‘ Romantik ’ ebenfalls in Opposition zu ‘ Biedermeier ’ und zwar hinsichtlich des zentralen intertextuellen Bezugs zu Shakespeares King Lear. ‘ Romantik ’ appliziert Shakespeare innovativ und produktiv, indem sie eine mediale Transformation vornimmt und die Grenze zwischen Kunst und 270 Stephan Brössel (Münster) Realität (im romantischen Sinn) optimal nivelliert. Homolog dazu überträgt Cordelia dieses romantische Prinzip auf die vom Text dargestellte nicht-romantische Welt und inszeniert ein Scheitern: Die Rekonstruktion von Friederichs Gemälden verläuft mittelbar und fragmentarisch. Der romantische Ausdruck im thematisierten artifiziellen Artefakt der Gemälde wird an die Diegese des Textes selbst rückgekoppelt. Am Ende wird eine künstlerisch unproduktive Welt vorgeführt, die allein das Erbe der Romantik verwaltet. Dieses ‘ Sich-Abarbeiten ’ an der Goethezeit, an goethezeitlichen Verfahren, Mustern und Denkmodellen kommt mentalitätsgeschichtlich der Auseinandersetzung mit einem “ literaturgeschichtliche[n] Trauma ” (Decker 2005: 61) gleich und ist Signum des Literatursystems ‘ Zwischenphase ’ insgesamt. Der Text Cordelia ist mithin als Metatext des Biedermeier zu klassifizieren. 4) Kunstreflexion impliziert Selbstreferenzialität; Selbstreferenzialität impliziert Zeitreflexion. Cordelia kann daher als kunstreflexiver Text verstanden werden, der metatextuell-selbstreferenziell operiert. Dies alles bestätigt einmal mehr Krahs These, dass Selbstreferenzialität gerade dann in den Fokus rückt, wenn “ es nicht als strukturelles, sondern als literaturhistorisches beziehungsweise denkgeschichtliches Phänomen betrachtet und dabei als quasi ‘ exklusiv ’ und ‘ definitorisch ’ an spezifische Strömungen beziehungsweise Richtungen gekoppelt gedacht wird ” (Krah 2005: 12). Selbstreferenzialität indiziert demnach vor allem “ programmatische Probleme einer Ästhetik oder eines Theoriediskurses ” (ibid.). Denn Spezifikum des vorliegenden Textes ist weiterhin die Verschränkung dieses Komplexes mit der Verhandlung von Zeit und Zeitlichkeit. Eine über den Endzustand hinausweisende Zukunft ist die eines maximal eingeschränkten Glücks resultierend aus Konflikten, die die Gegenwartshandlung der dargestellten Welt bestimmen: die heterogene, an goethezeitliche Muster gekoppelte Anthropologie sowie die Handlungsunfähigkeit der Vertreter von ‘ Biedermeier ’ . Dabei erweist sich das Erbe der Goethezeit als Fluch und Segen zugleich. Denn einerseits gewährleisten Friederich und insbesondere die von ihm produzierten Werke die Zusammenführung der beiden Protagonisten, die selbst gänzlich inaktiv in Erscheinung treten. Andererseits unterbindet diese Verbindung ‘ Klassik ’ in Person Wilhelms. ‘ Zeit ’ wird hier also auf spezifische Weise kodiert und in den selbstreferenziellen Prozess eingebunden: ‘ Gegenwart ’ (T2) ist an ‘ Vergangenheit ’ (T1) orientiert und zeigt sich als heterogenes Weltsystem bestehend aus der semantischen Verschränkung einer restaurativen Fortführung und Re-Installation von Vergangenheit und einer biedermeierlichen Neuausrichtung (T2 = T1 ’ vs. T2), was wiederum negativ auf ‘ Zukunft ’ einwirkt (T3 = ? ). Cordelia verhält sich zu diesen Zeitsegmenten wie das Literatursystem der Biedermeierzeit zum literaturhistorischen Wandel. Bibliographie Begemann, Christian 2002: “ Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus ” , in: Titzmann (ed.) 2002: 79 - 112. Decker, Jan-Oliver 2005: “ Selbstreflexion literarischen Wandels. Zu Heines Nordsee-Zyklen im Buch der Lieder (1844) ” , in: Zeitschrift für Semiotik 27.1 − 2 (2005): 45 − 64. 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