Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2017
401-2
Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/v-Medien
61
2017
Jan-Oliver Decker
kod401-20003
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien: Eine Einführung in den Band Jan-Oliver Decker (Passau) This issue comprises the contributions in media studies of the section “ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in Literatur, Film und anderen Künsten ” of the 14th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Verstehen und Verständigung ” (Eberhard-Karls- Universität Tübingen, 23. - 29. 09. 2014). Subject of the section were the questions i) how in a semiotic way self-reference and self-reflexivity could be described in the media and ii) which function self-reference and self-reflexive narrations could get in the history of media and in their cultural contexts. This essay introduces the volume and the contributions and, following the volume “ Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur ” cf. Kodikas/ Code 39.3 − 4 (2016), outlines the basic questions of the essays collected here. 1 Zur Genese und Konzeption des Bandes Die hier vorgelegten Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen in der Sektion ‘ Literatur ’ auf dem 14. Internationalen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik mit dem Thema “ Verstehen und Verständigung ” vom 23. − 29. September 2014 an der Eberhard-Karls- Universität Tübingen und ergänzende Beiträge, die sich dem Thema der Selbstbezogenheit vor allem im Spielfilm und im Computerspiel widmen und hier in einem zweiten Band zur Selbstreferenz und zur Selbstreflexion in Literatur, Film und anderen Künsten mit dem Schwerpunkt audiovisuelle Medien erscheinen. 1 Im Mittelpunkt auch dieses Bandes stehen dabei überwiegend narratologische 2 Analysen und Beschreibungen, die hier vor allem in den Fallbeispielen die Semantik selbstreferen- 1 Der erste Band versammelt die Beiträge in der Sektion zu Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur, cf. Kodikas/ Code. An International Journal of Semiotics 39. 3 − 4 (2016). 2 Aufbauend auf cf. Lotman 1993, der Film und Literatur als sekundäre semiotische, Modell bildende Systeme begreift, entwickelt Krah 2006 Verfahren der narratologischen Analyse der Literatur, die cf. Gräf et al. 2011 auf Film übertragen. In Fortführung von cf. Genette 2010 und seiner literarischen Narratologie entwickeln zuerst cf. Grimm 1996 und zuletzt cf. Kuhn 2013 Narratologien für audiovisuelle Medien. Cf. zur Selbstreflexivität in der Literatur beispielsweise Schmid 2005 und Martínez/ Scheffel 2012, cf. zum Film bspw. Grimm 1996 und Kuhn 2013, cf. zur Übertragung literaturwissenschaftlicher Analyseverfahren Wolf 2005. Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [3] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL zieller Verfahren (im Sinne der Iteration von Zeichen eines Textes als abgeleitete Zeichen auf einer anderen Ebene des Textes, cf. Fricke 2003) für die mediale Selbstreflexion in den Blick nehmen. 3 Auch wenn bis heute eine verbindliche, semiotisch orientierte Analyse selbstreflexiven Erzählens, die sich semiotischer Analyse- und Beschreibungsinventare als ihrer Methoden bedient, sowohl in der Theorie als auch in derAnwendung noch ein Desiderat ist, gibt es mit Nöth & Neitzel 2008 auch einen überzeugenden Versuch semiotischer Beschreibungen von Selbstreferenz in Werbung, Computerspiel und Comics, deren mediale Spezifik differenziert berücksichtigt wird. Erstaunlich ist dabei in der Einleitung der unter Rekurs auf Lotmans Konzept von der Semiosphäre (cf. Lotman 1990) zweifellos originell formulierte Gedanke: Die Selbstreferenz der Medien ist demnach ein Symptom der allgemeinen Tendenz der Semiosphären zur Selbstreflexion. [ … ] Die Selbstreferenz der Medien als Sonderfall der Selbstreflexivität der Semiosphären überhaupt ist adäquater durch das Bild des Spiegels beschrieben, der sich in sich selbst widerspiegelt. Sie besagt, dass sich die Medien in der Welt widerspiegeln, von der sie ein wesentlicher Bestandteil geworden sind. (Nöth & Neitzel 2008: 56) Hier wird m. E. die grundlegende Selbstreferenz jedes Mediums korrekt benannt: Als Konstrukt aus medialen Zeichen, die etwas anderes repräsentieren und dieses andere nicht sind, verweist das mediale Artefakt per se auf seine Gemachtheit und ist damit strukturell selbstreferenziell. Diese strukturelle Selbstreferenzialität kann selber dann in der Art eines Re-Entrys innerhalb der medialen Zeichen wieder repräsentiert und damit selbstreflexiv zum Thema gemacht werden. Zu fragen bleibt dann aber, ob über diese typologische Selbstreferenzialität und Selbstreflexion hinaus, die jedem mit medialen Zeichen kommunizierendem Artefakt inhärent ist, zusätzlich selbstreferenziellen und selbstreflexiven Verfahren in medialen Formaten semantische Funktionen zugewiesen werden können. Zu Recht führt Rauen 2016 auf der Grundlage struktureller Selbstreferenz und ihrer derzeit ubiquitären Analysen in Form von Typologien gerade die Notwendigkeit von historisch reflektierten Analysen von Selbstreferenz und Selbstreflexivität aus. 4 Gefordert sind aktuell vor allem Analysen von Selbstreferenz und Selbstreflexion, die gerade ihre kommunikativen Funktionen für ihre jeweiligen Produktions- und Rezeptionskulturen untersuchen und damit über typologische Modelle hinausgehen und ihre Ergebnisse funktional in historische Analysen einbetten. Was Rauen 2016 programmatisch für die Literatur einfordert, wollen die Beiträge in diesem Band für audiovisuelle Medien sondieren. Die hier vorgelegten Beiträge nähern sich dabei den Phänomenen Selbstreferenz und Selbstreflexion immer in konkreten Beispielen in einer methodisch geleiteten, vorwiegend narratologischen Herangehensweise. Ziel der Analysen der Verfahren selbstreflexiven Erzählens, wozu hier auch Formen selbstreferenzieller Bezugnahmen von der einfachen Spiegelung bis hin zur Metalepse und zum narrativen Kurzschluss gezählt werden (im Sinne 3 Zum Phänomen literarischer Selbstreflexion einführend und immer noch grundlegend cf. Scheffel 1997. Zur semiotisch genau beschriebenen Selbstreferenz in Werbung, Computerspiel und Comics cf. Nöth & Neitzel 2008. 4 Cf. Zur Rolle der Lotmanschen Semiosphäre für die Beschreibung von medialen Wandlungsprozessen einführend Decker 2017 und zur Rolle der Semiosphäre in medienübergreifenden, transmedialen narratologischen Zusammenhängen Decker 2016 a. 4 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [4] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL von Genette 2010: 168 f.), ist, die Funktionen von Selbstreferenz und Selbstreflexion in audiovisuellen Medien in historischen Beispielen semiotisch zu beschreiben und zu erklären. Dahinter steht, wie schon für den ersten Band zur Funktion von Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur programmatisch formuliert (cf. Decker 2016 b), der Gedanke, dass sich erst auf einer breiten Basis diachroner und synchroner Studien mit semiotischer Ausrichtung ein semiotisch orientiertes Beschreibungsinventar multimodaler Selbstreflexion ableiten lässt, das auch Funktionen und Reichweiten unterschiedlicher Formen von Selbstthematisierung, Selbstbezüglichkeit und Selbstreflexion beschreiben kann. Genau hier möchten die Beiträge ansetzen und mit Analysen von Spielfilmen und Computerspielen beginnen, ein Referenzkorpus für solche Analysen aufzubauen, die anhand ausgewählter Beispiele aus einer semiotischen Perspektive Phänomene selbstreflexiven Erzählens exemplarisch in ihren kulturhistorischen und mediengeschichtlichen Kontexten analysieren und Verfahrensweisen vorschlagen, die dann künftig zu einem medienübergreifenden semiotischen Beschreibungsinventar zur Analyse selbstreflexiven Erzählens ausgebaut werden können. 2 Selbstreferenz & Selbstreflexion vs. Fremdreferenz & Kohärenz: die Beiträge Die Beiträge sind so in diesem Band arrangiert, dass sie primär, dem historischen Anspruch gemäß, einer gewissen Chronologie folgen und sekundär, dem medienspezifischen Anspruch gemäß, bestimmten medialen Formaten und ihren semiotischen Spezifika. Der Band beginnt dementsprechend mit acht Beiträgen zu einzelnen Spielfilmen und Spielfilmkorpora. Das Augenmerk wird dabei generell auf mediale und kulturelle Umbruchssituationen gelegt, zu denen die analysierten Beispiele in Beziehung gesetzt werden wie beispielsweise die Einsetzung der Kleinfamilie in einer als Bedrohung erfahrenen Umwelt im Kino der Weimarer Republik oder der Wechsel vom Kino der 1970er Jahre mit seinen Experimenten zu Re-Normierungen von Körper, Liebe und Sexualität in den 1980er Jahren oder auch die konstante Normierung idealer Frauenrollen durch Kleidung durch die Filmgeschichte hindurch. Ähnlich zeigt die daran anschließende Konfrontation von Cronenbergs postmodernem Kino mit den Blockbustern der Gegenwart wie die gleichen selbstreferenziellen und selbstreflexiven Verfahren ganz unterschiedlich genutzt werden können, um einmal Sinn grundlegend in Frage zu stellen oder aber neuen Sinn zu etablieren. Der Filmblock endet mit der Beschreibung der für die aktuelle Medienlandschaft der Gegenwart typischen ‘ Arena ’ -Dramaturgie und eröffnet damit das Feld der Analysen jenseits des Spielfilms. Dabei werden transmediale Erzählverfahren zur Öffnung einer Fernsehserie in andere mediale Formate hinein ebenso diskutiert, wie die Spiellogik des Mainstream- und des Independent-Computerspiels. Abgerundet wird der Band durch die Analyse deutscher Werbekommunikate, die Deutschland reflektieren, was aktuell unter dem immer stärker wieder salonfähigen Nationalismus und seiner Rhetorik von höchster kultureller Relevanz ist. Im ersten Beitrag widmet sich Jan Oliver Decker der Analyse des Aufklärungsfilms Falsche Scham aus dem Jahr 1926 und zeigt, wie Tricktechnik und Handlung zusammen einen medizinischen Blick ausformen, welcher der Zuschauerin und dem Zuschauer ermöglichen soll, unter einer verführerischen Oberfläche die Gefahren der Geschlechts- Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 5 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [5] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL krankheiten zu erkennen und für sich selber durch ein ideales Kleinfamilienmodell zu bannen, in dem alle Triebe domestiziert sind. Dabei reflektiert der Film zum einen über die Gefahren des Kinos als Mittel der Verführung, um zum anderen sich selber als idealen Aufklärungsfilm zu bewerten. Der Arzt als Sozialhelfer auf der Ebene der erzählten Geschichte und der medizinische Blick des Films unter die Oberfläche durch die neue Tricktechnik auf der Ebene der Präsentation formen dabei ein innovatives, selbstbewusstes, didaktisches Aufklärungsmedium in der Weimarer Republik. In seinem folgenden Beitrag untersucht Hans Krah männliche Körperbilder im USamerikanischen Spielfilm im Wechsel zwischen den 1970er und den 1980er Jahren und zeigt, wie anhand des männlichen Körpers an dieser zeitlichen Schnittstelle im US-amerikanischen Film in den frühen 1980er Jahren ideologische Normierungen und Disziplinierungen inszeniert werden, die Freiheiten und Experimente der 1970er Jahre zurücknehmen. Dabei entwickeln die untersuchten Filmbeispiele eine spezifische Konzeption von Selbstthematisierung, indem in ihren erzählten Geschichten mittels der Körperinszenierung ein vergangenes ‘ Eigenes ’ im Filmverlauf als ‘ Fremdes ’ bewertet wird und durch diese Bewertung des früheren Eigenen als ‘ Fremdes ’ wiederum ein neues ‘ Eigenes ’ begründet wird, welches das jetzt neue ‘ Fremde ’ überwindet und final letztlich als nie zu dem eigenen Selbst zugehörig postuliert. Funktional zeigt diese Inszenierungsstrategie dabei den grundlegenden Paradigmenwechsel zwischen dem Film der 1970er Jahre, der Probleme und alternative Milieus exploriert und dem Mainstream-Kino der 1980er Jahre, das Lösungen und konservative Werte normiert. Der darauf folgende Beitrag von Jan-Oliver Decker zeigt ähnlich wie der vorangehende Beitrag von Hans Krah am Männerkörper, wie durch die Thematisierung von Kleidung und Mode weibliche Körperinszenierungen durch Spielfilme normiert werden, die selbstreflexiv Mode als Mode thematisieren, um werthafte Geschlechterrollen zu inszenieren. Der Beitrag stellt dabei in der Frauenrolle semantische Kontinuitäten des Frauenbildes zwischen Cukors The Women (1939) und Altmans Prêt-à-Porter (USA 1994) her und kontextualisiert zugleich den Zusammenhang von selbstreflexiv als Mode thematisierter Kleidung im Film und Frauenrolle in der Filmgeschichte von Audrey Hepburn bis Frankels The Devil Wears Prada (2006) im Hollywood-Kino: Mode wird im Hollywood-Kino als Mode reflektiert, um in den Filmen ideale Weiblichkeit als natürliches Gegenmodell zu setzen; gleichzeitig passt der konstante Ausgrenzungs- ‘ Topos ’ Mode das jeweils propagierte Weiblichkeitsideal zeitspezifisch beispielsweise sozial als dem Mann beigeordnetes Schmuckstück am Ende der 1930er Jahre oder als anthropologisch begründete Mutterrolle in der Mitte der 1990er Jahre kulturspezifisch an. Benjamin Weiß analysiert in seinem Beitrag zu Cronenbergs Naked Lunch, wie der Film sich durch metaleptisches Verschmelzen der installierten Erzählebenen die literarische Vorlage und den Autor Burroughs aneignet, um ein eigenes, postmodernes Filmkunstwerk zu erschaffen. Dabei verschneidet der Film Referenzen auf das kulturelle Wissen um den Autor, die konkrete literarische Vorlage und auch das weitere Œ uvre Burroughs ’ so miteinander, dass Schreiben durch fortlaufende Konstruktion und Dekonstruktion von Autorschaft als ein selbstzerstörerischer Prozess inauguriert wird, der seinen künstlerischen Wert als auf sich selbst bezogenen künstlerischen Prozess entfaltet. Dabei indiziert der künstlerische Prozess immer das jenseits des Kunstwerks tätige künstlerische Subjekt, 6 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [6] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL das dieses Werk performativ fortlaufend hervorbringt. Auch wenn im Werk Sinn selbstreferenziell aufgelöst wird, wird der Künstler als Schöpfer des Kunstwerks, als Urheber fremdreferenziell identifiziert. Damit zeigt der Beitrag, wie in Cronenbergs Film zu Beginn der 1990er Jahre die voll entfaltete, selbstreferenzielle postmodere Ästhetik zum Tragen kommt, die dann vom Mainstream-Kino der 2000er Jahre aufgegriffen und neu semantisiert wird: Anstatt Sinn und Identität grundlegend zu dekonstruieren, werden mit Hilfe selbstreferenzieller Verfahren auch in den Diegesen neue Identitäten konturiert und legitimiert. Dies untersucht Steffi Krause beispielhaft in ihrem Beitrag zu Cloud Atlas (2012), in dem sie darlegt, dass der Film die Verschmelzung der Erzählebenen, Spiegelungen in der Diegese und zwischen Historie und Discours dazu benutzt, um ein anthropologisches Konzept von Handeln und Person zu entwickeln, dass über historische Epochen hinaus durch Wiedergeburt eine mythische Konzeption von Person entwickelt, die über alle sozialen Systeme und kulturellen Kontexte hinweg fast teleologisch auf eine Weiterentwicklung des Selbst und der Person bis in alle Ewigkeit hinein hinausläuft. Zugleich auratisiert der Film Medien als Hilfsmittel dieser prädisponierten Selbstfindung. Ein medienkritisches Potenzial wird hiermit dann geradezu negiert. Hier ist chronologisch in der Filmgeschichte im Grunde ein Punkt im populärkulturellen Kino der Gegenwart erreicht, wo selbstreferenzielle und selbstreflexive Strategien oppositionell zum postmodernen Kino Cronenbergs semantisiert werden. Medien stiften selbstreflexiv Sinn, anstatt durch Selbstreflexion mediale Sinngebung ideologisch, kulturell und sozial zu problematisieren. Ähnlich führen Stephanie Großmann und Stefan Halft in ihrer Korpus-Analyse vor allem an den Beispielen Stay (2005), Shutter Island und Inception (beide 2010), vor, wie selbstreferenzielle und selbstreflexive Verfahren durch metaleptische Strukturen zwischen den innerfilmisch installierten Erzählebenen von den Filmen genutzt werden, um eine Krisensituation des Subjekts zu inszenieren. Die Vermischung der Erzählebenen wird dabei in den Beispielen für eine Art therapeutischer Arbeit am eigenen Selbst genutzt. Hier wird im Kino der 2000er Jahre damit eine Strategie aufgegriffen, die der Beitrag von Hans Krah zu Beginn 1980er Jahre anhand der Körperinszenierungen gezeigt hat: Ein ‘ Eigenes ’ wird mit Hilfe selbstreflexiver Strukturen als ‘ Fremdes ’ abgespalten und dadurch eine neues ‘ Eigenes ’ konstruiert, welches das vergangene ‘ Eigene ’ , jetzt ‘ Fremde ’ , verdrängt. Wo dies im Kino der frühen 1980er Jahre noch dazu dient, die Person und ihren Körper als sozial normierte, nach außen abgegrenzte Identität zu bestimmen, zeigen die Filme der 2000er Jahre, wie die Verdrängung eines alten ‘ Eigenen ’ durch ein neues ‘ Eigenes ’ in die Person selber hinein verlegt wird. Jetzt in den 2000er Jahren fokussieren die Filme mittels selbstreferenzieller und selbstreflexiver Verfahren innerpersonelle Formatierungen eines anthropologischen Diskurses. Mit dem Beitrag von Marietheres Wagner bestätigt sich diese Konzeption der Person erneut an den Hunger Games-Filmen (2012 − 2015). Das Besondere ist hier jedoch, dass die von Marietheres Wagner entdeckte ‘ Arena ’ -Dramaturgie dazu dient, das selbstreflexive Potenzial des Films, das anhand der innerfilmischen Thematisierung des medialen Formats ‘ Reality Show ’ zunächst entwickelt wird, umzulenken und damit als Problem zu nivellieren. Dies zeigt im Grunde eine fortschreitende Verdrängung medienkritischer Potenziale aus dem populärkulturellen Blockbuster-Kino der Gegenwart an. Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 7 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [7] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Amelie Zimmermann öffnet mit ihrem Beitrag den Blick auf transmediale Zusammenhänge und damit nicht nur auf die Auflösung von Erzählebenen in einem Medienprodukt, sondern in einem mehrere unterschiedliche mediale übergreifenden narrativen Universum. Das transmediale Projekt About: Kate (2013) besteht aus einer TV-Serie als Coretext und einer Reihe von Paratexten (Screen-App, Website, Facebook-Profile). Mittels selbstreflexiver Erzählstrategien zeichnet dabei About: Kate die Genesung einer jungen Frau von einer psychischen Störung nach, die unter anderem auch dadurch ausgelöst wird, dass das Subjekt als Teil einer hypermedialen Gesellschaft mit Fragen der Wahrnehmung konfrontiert ist. Idealerweise, so die Position des Projekts, sind Medien grundlegend an der Identitätsbildung beteiligt, indem das Selbst sich spielerisch und selbstbewusst im Umgang mit verschiedenen Medien erprobt. Hier bestätigt sich etwas differenzierter als im Blockbuster-Kino also das Bild, das ähnlich die Beiträge von Steffi Krause, Stephanie Großmann & Stefan Halft und Marietheres Wagner für das populärkulturelle Kino der Gegenwart herausfinden: SelbstreflexiveVerfahren werden positiv für die Identitätsbildung des Subjekts semantisiert und ihr medienkritisches Potenzial zwar nicht so geleugnet wie in den Hunger Games-Filmen, aber im Ergebnis nach einer überstandenen Krise als positive Experimente des Selbst postuliert. Eine medial andere Perspektive auf die Frage nach der Autonomie oder Heteronomie des Subjekts in und durch Medien nehmen die beiden Beiträge von Matteo Riatti und Martin Hennig zu Videospielen ein. Matteo Riatti beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, wie Videospiele durch ihre spezifische Medialität (Interaktivität) das Eintauchen des Spielers in die Welt des Spiels erzeugen und ob grafischeTechniken das Medium selbst unsichtbar machen oder aber durch selbstreferenzielle spielerische oder narrative Elemente die Immersion gebrochen wird. Er zeichnet dabei durch Analyse verschiedener Beispiele nach, dass das Durchbrechen der vierten Wand zwischen Diegese im Spiel und Spieler nicht nur typologisch zum Videospiel dazugehört, sondern deshalb auch produktiv für die Immersion genutzt werden kann. Daran knüpft der Beitrag von Martin Hennig an, der zum Teil unter Rekurs auf das gleiche (The Stanley Parable) und andere Beispiele analysiert, wie Independent-Spiele durch Problematisieren von Repräsentation und Interaktivität die spezifische Medialität von Videospielen selbstreflexiv thematisieren und dadurch die Bindung zwischen dem Spieler und seinem Avatar auflösen. The Stanley Parable insbesondere modelliert das Videospiel als eine tyrannische Kontrollinstanz, die den Spieler explizit diszipliniert und fremd bestimmt, damit aber auch strukturelle Konflikte von Narrativität und Interaktivität verhandelt und auf diese Weise grundlegende Fragen der Medialität von Videospielen des Massenmarktes spielerisch selbstreflexiv und, typisch für Independent-Produktionen, ironisierend reflektiert. Die häufige Selbstdarstellung des Videospiels im Independent-Videospiel kann mit Martin Hennig dabei als Ausdruck einer medialen Identitätssuche, nach seinen mentalitätsgeschichtlichen und kulturellen Funktionen gelesen werden. Das Independent-Videospiel wäre damit ein Medium, das ähnlich wie das transmediale Projekt, das Amelie Zimmermanns Beitrag vorstellt, mittels selbstreferenzieller Verfahren über seine mediale Funktionen aktuell (noch) experimentell reflektiert. Abgerundet wird der Band durch einen Beitrag von Hans Krah über die Kampagne Du bist Deutschland aus den Jahren 2005/ 6 und kommerzielleWerbung deutscher Unternehmen aus 8 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [8] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL den Jahren 2012/ 13 (Audi, Commerzbank, Siemens), die zu den beiden Untersuchungszeitpunkten je unterschiedliche ‘ deutsche ’ Mentalitäten formulieren. Insbesondere zeigt Hans Krah, dass sich das Bewusstsein darüber ändert, was ‘ Deutschsein ’ ausmacht. Nationale Konnotationen werden nach der zeitgeschichtlich durch den Nationalsozialismus bedingten Vermeidung nationaler Semantik inzwischen in kommerzieller Werbung deutscher Unternehmen konsens- und werbefähig. Mithilfe von Lotmans Konzept der Semiosphäre, analysiert dabei der Beitrag die Diskursentwicklung durch Selbstreferenz auf das Zeichen Deutschland und zeigt, wie sich ein rechts-konnotierter Diskurs zum Topos in kommerzieller Werbung transformiert. Im Überblick über die Beiträge und in der Summe bestätigen die Beiträge dieses Bandes damit mehrheitlich einen Befund, der sich auch schon für den ersten Band und die Literatur zeigen ließ: Selbstreflexives Erzählen dient oft dem Prozess einer Selbstvergewisserung in einer Krise und führt damit den Konflikt zweier Systemzustände sowohl auf der Ebene der besprochenen Situation als auch auf der Ebene der Sprech- und Erzählsituation vor (cf. Decker 2016 b). Anders als in der Literatur aber, wo oft ein altes, gegebenes System zwar als defizitär empfunden, ein neues angestrebtes System aber noch nicht gefunden ist, nutzen die audiovisuellen Medien des 20. Jh.s in den hier vorgelegten Beispielsanalysen selbstreflexive Krisenerzählungen oft für eine explizite und dezidierte Wertevermittlung und Neuorientierung, gar neue Konzeption der Person, ihrer Umwelt und ihrer sozialen Rolle (cf. Zimmermann, Großmann & Halft, Krause, beide Beiträge von Krah, aber für frühere Phasen des Films auch beide Beiträge von Decker in diesem Band). Selbstreflexives Erzählen wird in den hier untersuchten audiovisuellen Medien damit zu einer besonderen Form der Krisenbewältigung und der Verständigung über Krisen und Phasen des Wechsels in der Vorstellung vom ‘ Eigenen ’ , ‘ Anderen ’ und ‘ Fremden ’ , in der sich das Subjekt als ein konsistentes und kohärentes ‘ Ich ’ häufig neu formiert und bestätigt. Besonders produktiv geschieht dies in den von den Beiträgen untersuchten Beispielen oft durch Metalepsen zwischen den Erzählebenen, also narrativen Kurzschlüssen, bei denen die Grenze zwischen der Welt, von der erzählt wird, und der Welt, in der erzählt wird, überschritten wird (cf. Martínez & Scheffel 2012: 79). 5 Dabei zeigt sich für audiovisuelle Medien der Gegenwart und dominant für den Spielfilm eine eigentlich paradoxe Konstruktion: Einerseits wird mit Hilfe von Selbstreferenzen auf die eigene mediale Gemachtheit, mithin die eigene Künstlichkeit, explizit hingewiesen. Andererseits werden jenseits dieser Gemachtheit anthropologische Werte installiert, die sich sozusagen hinter der Gemachtheit von Medien als künstlichen Artefakten als universell gültige Werte herausschälen (so schon cf. Decker 2007 am Beispiel von Michel Gondrys Vergissmeinnicht). Selbstreferenz und Selbstreflexion sind damit nicht mehr nur dominant Strategien, die auf die Relationalität und Relativität jeden Sinns hinweisen (so noch bei Cronenbergs Naked Lunch, cf. Weiß in diesem Band). Vielmehr kann angenommen werden, dass Verfahren postmoderner Ambivalenz in den Künsten durch spätmoderne Funktionalisierung postmoderner Sinnverunsicherungen in der Populärkultur neu oder re-semantisiert und in 5 Vergleiche zur Produktivität der Analyse von selbstreferenziellem und selbstreflexivem Erzählen vor allem in audiovisuellen Medien den Sammelband zur Metalepse in der Populärkultur von Kukkonen/ Klimek 2011. Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 9 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [9] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Form anthropologischer Werte sogar naturalisiert werden. 6 Zumindest als These ließe sich damit mentalitätsgeschichtlich vermuten, dass die Populärkultur der Gegenwart Verfahren der Selbstreflexion durch Selbstreferenz soweit popularisiert hat, dass diese keine medienkritische Dimension mehr aufweisen (cf. exemplarisch Krause in diesem Band am Beispiel von Cloud Atlas). Allenfalls im Independent-Videospiel und im transmedialen Erzählverbund werden selbstreferenzielle Verfahren als experimentelle und medienkritische Selbstreflexionen derzeit (noch) entwickelt. Bibliographie Barthes, Roland 1964: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main: Suhrkamp Derselbe 2007 a: “ Innovativer Stil - konservative Ideologie. Überlegungen zu einem Epochenstil der ‘ Postmoderne ’ am Beispiel von Michel Gondrys Eternal Sunshine of the Spotless Mind (Vergissmeinnicht, USA 2004) ” , in: Decker (ed.) 2007 b: 153 − 175 Decker, Jan-Oliver 2007 b (ed.): Erzählstile in Literatur und Film (= KODIKAS/ Code Ars Semeiotica 30, 1 - 2), Tübingen: Narr Decker, Jan-Oliver 2016 a: Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion, in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 − 171 Decker, Jan-Oliver 2016 b: “ Sich über sich selbst verständigen - sich selbst verstehen. Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur aus narratologischer Perpsektive: Eine Einführung in den Band und ein Vorschlag zur Analyse und Funktion der Metalepse ” , in: Decker et al. (eds.) 2016: 205 − 216 Decker, Jan-Oliver et al. (eds.) 2016: Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur. Formen und Funktionen in Literatur- und kulturhistorischen Kontexten (= Kodikas/ Code. An International Journal of Semiotics 30.3 − 4 (2016)), Tübingen: Narr Decker, Jan-Oliver 2017: “ Medienwandel ” , in: Krah & Titzmann (eds.) 2017: 423 − 446 Fricke, Harald 2003: “ Potenzierung ” , in: Jan-Dirk Müller et al. (eds.) 2003: 144 − 147 Genette, Gérard 3 2010: Die Erzählung, Paderborn: Fink Gräf, Dennis et al. (eds) 2011: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Grimm, Petra 1997: Einführung in die Filmnarratologie, München: Diskurs Film Hennig, Martin & Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiel (= Reihe Game Studies), Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Krah, Hans 2006: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig Krah, Hans & Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Ralf Schuster Kuhn, Markus 2013: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell, Berlin/ New York: de Gruyter Kukkonen, Karin und Klimek, Sonja (eds.) 2011: Metalepsis in Popular Culture (= Narratologia 28), Berlin/ New York: de Gruyter Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink Lotman, Jurij M. 1990: “ Über die Semiosphäre ” , in: Zeitschrift für Semiotik 12.4 (1990): 287 - 305 Martínez, Matías & Michael Scheffel 12 2012: Einführung in die Erzähltheorie (12. überarbeitete u. erweiterte Auflage), München: C. H. Beck 6 Hier hat dann immer noch Gültigkeit was Roland Barthes unter dem Begriff ‘ Mythos ’ über die Naturalisierung von Ideologien in populären Medien festgestellt hat (cf. Barthes 1964: 127, 131 f.). 10 Jan-Oliver Decker (Passau) Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [10] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL Meister, Jan-Christoph (ed.) 2005: Narratology beyond Literary Criticism: Mediality, Disciplinarity, Berlin: de Gruyter Müller, Jan-Dirk et al. 2003 (eds.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Bd. 3: P-Z, Berlin/ New York: de Gruyter Nöth, Winfried & Britta Neitzel (2008): Mediale Selbstreferenz. Grundlagen und Fallstudien zu Werbung, Computerspiel und Comics, Köln: Herbert von Halem Rauen, Christoph 2016: “ Jenseits der Relevanzphrase - Was Selbstreflexivität in den Literatur- und Kunstwissenschaften leisten kann ” , in: Decker et al. (eds.) 2016: 217 − 231 Scheffel, Michael 1997: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Niemeyer Schmid, Wolf 2 2005: Elemente der Narratologie, Berlin/ New York: de Gruyter Wolf, Werner (2005). “ Metalepsis as a Transgeneric and Transmedial Phenomenon: A Case Study of the Possibilities of ‘ Exporting ’ Narratological Concepts ” , in: Jan Christoph Meister (ed) 2005: 83 - 107 Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien 11 Kodikas_40_2017_No_1-2_SL_3 / TYPOSCRIPT[FP] Seite 1 [11] 217 , 2018/ 10/ 31, 9: 04 Uhr · 11.0.3352/ W Unicode-x64 (Feb 23 2015) 3. SL
