Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2017
403-4
Die alte Botschaft, ein neues Medium
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2017
Hans W. Giessen
kod403-40278
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Die alte Botschaft, ein neues Medium Karl Friedrich Schinkel und die Kirche zu Bischmisheim: Persönlichkeit des Architekten, gesellschaftliche Zwänge, semiotische Wechselwirkungen Hans W. Giessen (Saarbrücken) Karl Friedrich Schinkel is said to be the most important architect of Prussia. The village church of Bischmisheim plays a special role in Schinkel ’ s oeuvre, for several reasons: It is not only his southernmost but also his last village central church construction. The article describes the history of the Bischmisheim church and its role in the life of Schinkel as well as the cultural history of Prussia. In describing the interdependency between biography, history, values and art, this papers aims to be a study in cultural semiotics (in the tradition of Roland Barthes and others). 1 Karl Friedrich Schinkel und die Kirche zu Bischmisheim Karl Friedrich Schinkel, geboren am 13. März 1781 in Neuruppin nordwestlich von Berlin, war, so Joachim C. Fest, “ der erste Künstler von europäischem Rang, den [. . .] Preußen hervorgebracht hat ” (1981: 172). Schinkels Freund Clemens Brentano bezeichnete ihn gar als “ größten Architekten seit Jahrhunderten ” und als eine “ so reiche Kunstnatur, als sie das große italienische Mittelalter hervorgebracht ” habe (1951.2: 153 - 155). Vor allem gilt Schinkel als der ,Baumeister Berlins ‘ . Daher betonte Arnt Cobbers: “ Man spricht von der ,Schinkel-Zeit ’ , der ,Schinkel-Schule ‘ , ein Berliner Kunstführer nennt das 19. Jahrhundert gar das ,Jahrhundert Schinkels ’” (2002: 3). Zumindest für Berlin hat Karl Friedrich Schinkel mithin die Bedeutung, die beispielsweise Oscar Niemeyer für Brasilia, Christopher Wren für London oder Leo von Klenze für München hat - oder Schinkels Studienkollege an der Berliner Bauakademie, Carl Ludwig Engel, für Helsinki. Natürlich deutet bereits das Faktum, dass zwei so prägend wirkende Architekten wie Schinkel und Engel aus dem selben Umfeld stammen, (zumindest auch) auf überindividuelle Gründe für den Erfolg: Offenbar deckt sich die an diesem Ort und zu dieser Zeit gelehrte und dann auch gebaute Architektur in besonderem Maße mit dem Publikumsgeschmack damals und auch noch Jahrhunderte später. Offensichtlich gibt es Wechselwirkungen zwischen biographischen Elementen, Wertvorstellungen, geschichtlichen Konstellationen und künstlerischen Artefakten, die semiotisch herausgearbeitet werden können und spiegelartig wiederum als semiotische Aussagen zum Lebensweg, zum Kunstwerk, auf die historische Konstellation genutzt werden können. Es waren also die Personen, ihre Fähigkeiten, ihr Stil, auch ihr Fleiß; es war aber ebenso der Genius loci, die Zeit - glückliche Umstände. Der Berliner Freundeskreis hat weitere Architekten und Stadtplaner von besonderer regionaler oder überregionaler Bedeutung hervorgebracht, etwa Schinkels Freund Johann Gottfried Steinmeyer, der als der Baumeister von Putbus gefeiert wird. Schinkel allerdings ist, der allgemeinen Einschätzung zufolge, der Wichtigste. Ein Grund dafür ist, dass seine Karriere in der Hauptstadt Preußens verlief, das gerade zur fünften europäischen Großmacht (neben Russland, Österreich, Frankreich und England) aufgestiegen war und wo nun Bedarf nach eindrucksvoller Hauptstadtarchitektur bestand. Schinkel war ab 1810 Beamter der Preußischen Oberbaudeputation, die sowohl Funktionen eines königlichen Hofbauamts, aber auch eines, wie es heute heißen würde, Landesbauministeriums, zumindest einer Landesbaudirektion in sich vereinte. Vom einfachen Dezernenten beziehungsweise Geheimen Oberbauassessor stieg er zum Geheimen Oberbaurat und weiter bis zur Spitze der Behörde als Oberlandesbaudirektor auf. Die Behörde hatte alle Bauprojekte im Königreich Preußen zu bewerten - und gegebenenfalls zu korrigieren - , die für die Staatskasse beziehungsweise den Etat des Königs relevant waren; und Schinkel machte von seinem Recht und seinen Möglichkeiten offensiv Gebrauch. Daher gibt es von Schinkel entworfene Bauwerke auch nicht nur in Berlin, sondern im gesamten ehemaligen Königreich Preußen, von Aachen im Westen bis Königsberg im Osten und darüber hinaus bis St. Petersburg, eine Folge der verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Preußen und Russland (die älteste Tochter des preußischen Königs, Charlotte, hatte 1817 Großfürst Nikolai geheiratet, der 1825 zum Zaren ernannt wurde - der preußische König war also der Schwiegervater des russischen Monarchen). Die Formel “ Von Aachen bis St. Petersburg ” , so der Titel eines Werküberblicks (2006 II), bezeichnet die Ost-West-Ausdehnung der Orte, in denen von Schinkel entworfene Bauwerke stehen. Geringfügig anders ist die Formel, wenn man auf die nördlichsten und südlichsten Punkte abstellt. Der nördlichste Punkt mit einem Schinkel-Bau wäre dann, nach wie vor, St. Petersburg mit der 1829 entworfenen Alexander Newski-Kapelle im Park von Peterhof. Der südlichste ist dann Bischmisheim im ehemaligen Landkreis Saarbrücken, weniger als zehn Kilometer von der französischen Grenze entfernt, damals rund 650 Einwohner zählend. Wieso Bischmisheim? Der Ort wurde 1816 in der Folge des Wiener Kongresses preußisch. Zuvor hatten die Franzosen im Zuge ihrer Revolution und der napoléonischen Kriege das Die alte Botschaft, ein neues Medium 279 politische System Europas durcheinandergewirbelt und auch das Gebiet an der Saar (und damit auch Bischmisheim) erobert, das zuvor zur Grafschaft Nassau-Saarbrücken zählte. Nach der Niederlage Napoléons sollten im Wiener Kongress die vorrevolutionären Zustände wiederhergestellt werden, aber vielerorts kam es auch zu völlig neuen Lösungen. So wurde Preußen die Rheinprovinz zugeschlagen: ein Großteil jener historisch deutschen Gebiete auf der linken Rheinseite, die zuvor Französisch waren. Die preußische Rheinprovinz war als Riegel gegen Frankreich gedacht. In der Folge bestand das Königreich Preußen aus zwei großen, aber nicht zusammenhängenden Teilen: das historische Kernland im Osten, und die neuen Gebiete im Westen. Die Hauptstadt der Rheinprovinz war Koblenz, die Stadt an der Mündung der Mosel in den Rhein. Im Norden reichte die neue Provinz bis Emmerich am Niederrhein, im Westen entlang der damaligen niederländischen Grenze bis Aachen, Eupen und Malmedy, dann wieter entlang der Grenze zu Luxemburg, westlich von Trier, unweit der Stelle, wo die Saar in die Mosel fließt. Der südlichste Teil der preußischen Rheinprovinz verlief entlang der Saar, er reichte bis zu ihrem Mittellauf, bis zum Landkreis Saarbrücken - und damit auch bis Bischmisheim, knapp zehn Kilometer östlich von Saarbrücken. Hier war die alte Dorfkirche, offenbar eine kleine mittelalterliche Wehrkirche aus dem 11. Jahrhundert, schon länger baufällig gewesen. 1813 musste sie sogar polizeilich geschlossen werden. Natürlich war in der Zeit der napoléonischen Kriege nicht an einen Neubau zu denken (obwohl es sogar entsprechende Pläne gegeben hat); eine notdürftige Reparatur musste reichen. Nachdem Napoléon besiegt war, Friede einkehrte und sich die neue preußische Verwaltung etabliert hatte, versuchten es die Bischmisheimer erneut. Ein Baumeister und Architekt aus dem benachbarten Saarbrücken, Johann Adam Knipper, wurde 1819 beauftragt, den Plan für einen Kirchenneubau zu erarbeiten. Gab es Vorgaben der Bischmisheimer an Knipper, die endlich eine große, moderne Kirche wollten? Oder schwatzte Knipper ihnen eine solche Kirche auf, um damit mehr Geld zu verdienen? Wie auch immer, die Pläne sahen ein Langhaus mit angebautem Turm vor, deren Realisierung sich die Gemeinde finanziell nicht leisten konnte. Um die benötigten Mittel zu erhalten, stellte sie einen Antrag an die Regierung beziehungsweise den König, der sich gerade zum Oberhaupt, zum Summus Episcopus der evangelischen Unierten Kirche Preußens ernannt hatte. Zur Prüfung mussten nicht nur ein Gutachten über die Notwendigkeit des Kirchenneubaus, sondern auch die Baupläne und eine Kostenkalkulation eingereicht werden. Also wurden die Pläne noch einmal überarbeitet und Ende Mai 1821 nach Berlin geschickt. Die Prüfung oblag der Oberbaudeputation in Berlin. Hier kommt Schinkel ins Spiel. Er schaute die Unterlagen durch, offenbar sehr gründlich, wie es seine Art war; und er war nicht zufrieden. So zeichnete er einen eigenen, neuen Plan (heute einsehbar im Archiv der Staatlichen Museen zu Berlin, SM 44 c.102 und SM 44 c.103). Das ist der Grund, warum in einem Dorf nördlich der Saar, gut 750 Kilometer von Berlin entfernt, ein von Schinkel entworfenes Gebäude steht. Ein in vielerlei Hinsicht besonderer Bau, für Bischmisheim, aber auch für Schinkel, nicht nur aufgrund der geografischen Sonderposition als sein südlichstes Gebäude. Der Bischmisheimer Kirche kommt auch in seiner Biografie und bezüglich seiner Ideen als Architekt eine spezielle Rolle zu. 280 Hans W. Giessen (Saarbrücken) 2 Karl Friedrich Schinkel: Jugend und Karriereweg Der Erfolg war Karl Friedrich Schinkel nicht in die Wiege gelegt worden, aber die Voraussetzungen waren auch nicht ungünstig. Schinkels Vater war Prediger in Neuruppin und dort seitens der protestantischen Kirche für die Schulen und Kirchen verantwortlich ( “ Archidiakonus und Inspektor [. . .] der Kirchen und Schulen zu Neu-Ruppin ” ). Bildung war demnach ein wichtiges Thema im Elternhaus, und natürlich auch eine starke protestantische Frömmigkeit. Auch die sogenannten preußischen Tugenden spielten eine große Rolle: Pflichterfüllung, Selbstdisziplin. Insgesamt der Idealtypus des preußischen Provinzbürgertums jener Zeit. Die Kindheit beziehungsweise Jugend ist von dramatischen Ereignissen geprägt. Im Sommer 1787, Karl Friedrich war gerade sechs Jahre alt, wütete ein verheerender Stadtbrand - eine Jahrhundertkatastrophe für Neuruppin, die auch das Haus der Schinkels zerstörte. Die Familie war nun obdachlos. Und es kam noch schlimmer: Der Vater Johann Cuno Christoph Schinkel, der offenbar bis zur Erschöpfung bei den Löscharbeiten geholfen hatte, bekam in der Folge eine Lungenentzündung. Er überlebte sie nicht. Damit war die Mutter Dorothea Schinkel Witwe. Natürlich war die erste Zeit furchtbar. Doch die Mutter hatte Erfolg mit ihrem Bemühen, ihre fünf Kinder - Karl Friedrich war das zweitälteste - entsprechend der Familienansprüche aufzuziehen. Karl Friedrichs ältere Schwester heiratete wenige Jahre später einen Prediger aus dem Nachbarort Krenzlin. Aber es gab weitere Schicksalsschläge. Zwei Geschwister starben, 1794 eine jüngere Schwester, 1797 ein Bruder. Auch finanziell war es offenbar eng. 1794 entschloss sich die Mutter, nach Berlin umzuziehen, wo sie im Predigerwitwenhaus der Marienkirche unterkam. In Berlin konnte Karl Friedrich das berühmte Gymnasium zum Grauen Kloster besuchen; der Rektor, Friedrich Gedecke, war ein Bekannter des verstorbenen Vaters gewesen. Karl Friedrich Schinkel war kein besonders guter Schüler, zeigte aber besondere Begabung in den musischen Fächern. Und in diesem Bereich fand er bald auch seine Berufung. Es gab dazu einen konkreten Anstoß: Der Architekt Friedrich Gilly hatte 1796 ein Denkmal für den Preußenkönig Friedrich den Großen konzipiert, der zehn Jahre zuvor verstorben war. Es kam zwar nicht zur Realisierung, aber die Ausstellung des Entwurfs, der einem dorischen Tempel nachempfunden war, machte großen Eindruck. Der Hof gewährte Gilly ein Stipendium für eine ausgedehnte Studienreise durch Europa. Auch der siebzehnjährige Karl Friedrich Schinkel war von der Ausstellung und den Ideen Gillys begeistert, verstört, fasziniert - er hatte geradezu ein Erweckungserlebnis. Er beschloss, bei Friedrich Gilly zu studieren. Friedrich Gilly war nicht viel älter als Schinkel, gerade neun Jahre. Er aber hatte die allerbesten Voraussetzungen, um in diesem Beruf zu arbeiten und rasch Karriere zu machen. Sein Vater David Gilly war einer der wichtigsten Architekten Preußens. Bereits mit 16 begann Friedrich Gillys Ausbildung bei seinem Vater, zudem studierte er an der Akademie der Bildenden Künste. Der Vater baute in der Zeit bereits Schlösser für den König. Insgesamt sicher ein höchst stimulierendes Umfeld. Karl Friedrich Schinkel bewarb sich bei den Gillys um eine Ausbildung und wurde genommen. 1798 ging er vom Gymnasium ab und zog ins Gebäude der von den Gillys betriebenen Bauschule. Nun musste er seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Es lag nahe, Die alte Botschaft, ein neues Medium 281 seine künstlerische Begabung zu nutzen; das erste regelmäßige Einkommen erhielt der junge Student, indem er in der Fayencefabrik des Baron von Eckardtstein Geschirr bemalte. Die Ausbildung bei den Gillys war, wie insgesamt die Atmosphäre im damaligen Berlin, sehr offen und stilistisch kaum festgelegt, was durch die Tatsache erleichtert wurde, dass Berlin eine sehr junge Hauptstadt war. Damit war auch die Bausubstanz jung, denn die Stadt besaß ja keine Tradition wie Rom oder Paris. Furore erregten etwa die Gebäude von Carl Gotthart Langhans: sein Brandenburger Tor aus dem Jahr 1790 orientierte sich an den Propyläen in Athen; im selben Jahr schuf er das Belvedere im Schlosspark von Charlottenburg als dreigeschossigen Barockbau mit klassizistischen Elemente. Vieles war möglich; es herrschte Euphorie und Aufbruchstimmung. David Gilly gründete in dieser Zeit die Berliner Bauakademie ( “ Allgemeine Bau- Unterrichts-Anstalt für die gesamten königlichen Staaten ” ), die 1799 ihren Lehrbetrieb aufnahm und schnell zu einer der bedeutendsten Architekturhochschulen avancierte, die Vorläuferinstitution der heutigen Technischen Universität Berlin. Sein Sohn Friedrich wurde dort ebenfalls Professor. Auch Karl Friedrich Schinkel immatrikulierte sich. Der junge Student wurde schnell einbezogen, er durfte experimentieren und bei Projekten mitarbeiten. Schnell änderte sich auch die Beziehung zwischen Karl Friedrich Schinkel und Friedrich Gilly. Schinkel schätzte ihn lebenslang als Vorbild und Lehrer, aber aus dem Lehrer wurde bald der wichtigste Freund; die geringe Altersdifferenz erleichterte dies. Aber schon ein Jahr später war der Überschwang jäh gestoppt. Am 3. März 1800 starb Schinkels Mutter, und exakt fünf Monate später, am 3. August 1800, erlag der junge Friedrich Gilly, achtundzwanzigjährig, im tschechischen Kurort Karlsbad, wo er vergebens auf Heilung hoffte, einer Tuberkuloseerkrankung. Natürlich war auch der Freund Karl Friedrich Schinkel zutiefst betroffen. Aber die Beziehung zur Familie Gilly war inzwischen so eng - und sein Talent schon so anerkannt - , dass er offenbar ganz selbstverständlich mit Vater David Gilly die Projekte Friedrichs fortführte, etwa die Schlossanlage von Owinsk bei Posen. Er übernahm auch die Federführung bei den Wiederaufbauarbeiten an der durch Brand zerstörten Herrschaft Neuhardenberg, denn David Gilly war vom Tod des Sohnes sehr mitgenommen und wurde krank. So war Karl Friedrich Schinkel nach nur zweijähriger Ausbildung gezwungen, auf Augenhöhe mit seinem Vorbild zu agieren und dessen Aufgaben zu beenden. Schinkel erwies sich diesem Druck gewachsen. Wie entwickelte sich das Verhältnis zu David Gilly? Es wurde nie so eng wie zu seinem Sohn; mehr noch: Es war stets durch den verstorbenen Friedrich geprägt. Dies aber war für beide eine tragfähige Basis, die anhielt. Von 1803 bis 1805 zog Karl Friedrich Schinkel auf eigener Bildungsreise durch Italien und Frankreich, und von unterwegs schrieb er noch 1804 an David Gilly “ daß für jedes Glück, was mir bis jetzt in meiner Laufbahn begegnete und was in Zukunft vielleicht noch meiner wartet, nur von ihm [i. e. Friedrich Gilly] her der erste Samen fiel; daß ein unauslöschliches Dankgefühl immer in meinem Herzen leben und mich an den Schöpfer dessen, was ich bin, erinnern wird ” (1979 a: 123). - Auf der Reise traf er in Rom den Staatsmann und Wissenschaftler Wilhelm von Humboldt, der dort seit 1802 als preußischer Gesandter wirkte. Humboldt erkannte das Potenzial des jungen Mannes und wurde sein Freund und Förderer. 282 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Dennoch blieben die folgenden Jahre schwer. Im Oktober 1806 besiegte Napoléon mit seinen französischen Truppen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt die Preußen. Das Königspaar floh nach Königsberg und kehrte erst im Dezember 1809 zurück. Es gab in dieser Zeit nahezu keine Möglichkeiten für einen Architekten, Bauprojekte zu akquirieren. Schinkel schlug sich, durchaus mit Erfolg, als Maler durch. So wurde er schon 1806 für den Posten des Theatermalers für das Nationaltheater auf dem Gendarmenmarkt vorgeschlagen. Allerdings lehnte ihn der berühmteste Schauspieler und Regisseur der Epoche, August Iffland, in seiner Funktion als Direktor des Berliner Nationaltheaters ab - was er später bereute; als er Schinkel dann aber als Mitarbeiter gewinnen wollte, hatte der kein Interesse mehr. 1807 hatte Karl Friedrich Schinkel seine erste große Einzelausstellung, 1808 eine zweite, die so erfolgreich war, dass sich sogar das Königspaar nach seiner Rückkehr die Bilder zeigen ließ. Aber sein Ziel war die Architektur. So lehnte Schinkel umgekehrt das Angebot ab, an der Akademie als Professor für Geometrie und Perspektive zu unterrichten. Dennoch bedurfte es der Vermittlung Wilhelm von Humboldts, inzwischen nach Berlin zurückgerufen und dort als Bildungsreformer tätig, dass Schinkel 1810 eine erste Anstellung bei der Berliner Oberbaudeputation als Geheimer Oberbauassessor, verantwortlich für das ästhetische Fach erhielt. Wir wissen dies durch einen Brief Humboldts vom 4. August 1810 an seine noch in Rom zurückgeblieben Ehefrau Caroline, in dem er schreibt, “ daß es mir endlich gelungen ist, ihm [i. e. Schinkel] eine Stelle hier zu verschaffen, und auch zu einem Anbau des Königspalais, der angefangen ist, habe ich gemacht, daß er zu Rate gezogen ist ” . Dann aber ging es Schritt für Schritt weiter. Schon 1811 wurde Schinkel zum Mitglied der, Berliner Akademie der Künste ‘ ernannt. 1815 erfolgte die Ernennung zum ,Geheimen Oberbaurat ’ bei der Oberbaudeputation. Nun, mit 34 Jahren, war Karl Friedrich Schinkel in der Position, für die er bekannt ist. Ihm oblag damit die Verantwortung für alle öffentlichen Bauprojekte Preußens, die aus Staatsmitteln beziehungsweise königlichen Geldern finanziert werden sollten. Schwerpunkt war natürlich Berlin, die Umbeziehungsweise Neugestaltung der Hauptstadt. Schinkel war beim Bau fast aller wichtigen Staatsbauten involviert; für viele zeichnete er selbst die Pläne. Als seine wichtigsten Bauten gelten die Königswache (1818), das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (1821) und das Alte Museum (1830) in Berlin, oder die Nikolaikirche (1830) in Potsdam. Besonders eindrucksvoll ist, dass er sich ebenso intensiv um die Provinz kümmerte, insbesondere um die “ Begutachtungen aller Kirchenbauten im ganzen Königreiche und die dabei nothwendig werdenden Umarbeitungen und Vervollständigungen der Entwürfe und Anträge ” . Als die Bischmisheimer Kirchenpläne auf seinem Schreibtisch landeten, war der berühmteste Architekt Preußens also gerade auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Zumindest war es seine ergiebigste Schaffensperiode. Er schien seine Ideen durchsetzen zu können, stand fachlich auf dem Zenit seines Tuns. Dennoch erwarteten die Bischmisheimer nicht, dass er ihren Antrag ablehnen oder umarbeiten würde. Sie hatten sogar schon damit begonnen, die alte Kirche abzureißen und ein neues Fundament zu legen - immerhin war der Vorentwurf bereits von der Bezirksverwaltung in Trier gebilligt worden. Es war also eine komplette Überraschung, als Anfang März 1822 die neuen Pläne Schinkels eintrafen. So Die alte Botschaft, ein neues Medium 283 überraschend, dass man den Entwurf überhaupt nicht schätzen konnte, auch wenn er von Schinkel selbst stammte. Karl Friedrich Schinkel hatte etwas völlig Neues konzipiert - kein rechteckiges traditionelles Kirchengebäude, sondern einen oktogonalen Zentralbau. Das wollten die Bischmisheimer nicht, das war zu ungewöhnlich für diese Zeit und Region. Erst als klar war, dass nur bei Akzeptanz von Schinkels Entwurf Gelder fließen würden, stimmte man zähneknirschend zu. Es sollte noch deutlich mehr als ein Jahrhundert dauern, bis man sich mit dem Bau versöhnt hatte und schließlich, langsam, stolz auf ihn wurde. Manchmal dauert es eben lange, bis sich neue Ideen gegen das Althergebrachte durchsetzen. 3 Semiotische Anmerkungen zum Werl Kark Friedrich Schinkels Karl Friedrich Schinkels Hinwendung zur Architektur bedeutete einerseits eine Abkehr von der Familientradition: Über Generationen hinweg stellten die Schinkels Prediger. Andererseits lässt sich ein solches Erbe mit den damit verbundenen Werten, Handlungsrichtlinien, und Selbstverständlichkeiten im gegenseitigen Umgang nicht einfach abschütteln, selbst wenn man dies wollte. Aber Karl Friedrich Schinkel sah sich auch nicht in Opposition zur Familientradition. Sein Handlungsfeld war ein anderes als das der Vorfahren, aber die Motive waren die gleichen. Die “ Pfarrhausfrömmigkeit ” , von der Joachim C. Fest schreibt, seinen tiefen Protestantismus hat er nie abgelegt - und wäre wohl auch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass dies eine Option sein könnte. Im Gegenteil galt er stets als frommer Mann. So war Architektur zwar ein völlig anderes Medium als ein Gottesdienst, hatte aber immer auch das Ziel, Transzendenz ins menschliche Leben zu bringen. Schinkel sah seine Aufgabe als Architekt demnach ähnlich derjenigen eines Pfarrers oder Predigers: Er geht “ praktisch darauf ” aus, “ den sittlichen Fortschritt im Menschen zu fördern ” (1863. III: 345). Als Architekt konnte er sogar an Orten und in Situationen wirken, die dem Pfarrer oder Prediger nicht, zumindest nicht permanent erreichbar waren: Selbst wenn das Gebäude, das zu entwerfen seine Aufgabe war, andere Funktionen hatte - als Bauernhof, Wohnhaus, Militärgebäude, selbst eine Brunnenanlage - , so war doch stets das immanente Ziel, die Architektur so erhaben und in einem tieferen, eben auch religiösen Sinn schön wirken zu lassen, dass sie der steten Erbauung dienen und zur Veredelung des Menschen und seines Alltags beitragen sollte, denn: “ Die schöne Kunst wirkt zurück auf das Moralische ” (1979 b: 27). Karl Friedrich Schinkel hat also die Familientradition nie verlassen, er hat sich nur ein anderes Medium gewählt. Sein Medium war nicht das Wort, sondern war Stein und Stahl, Form und Farbe. Semiotisch könnte man sagen: Der Signifikant änderte sich, das Signifikat bleibt das Gleiche. Wenn man sich die Gesamtliste seiner Bauten betrachtet, fällt auf, dass religiöse Bauwerke - Kirchen, Kirchtürme, Grabdenkmäler - fast die Hälfte seines Werks ausmachen; rechnet man die Denkmäler hinzu, die in Verbindung zu religiösen Themen stehen - etwa das Denkmal für König GustavAdolf oder das Lutherdenkmal, das zwar letztlich von Johann Gottfried Schadow konzipiert, aber mit einem von Schinkel entworfenen Baldachin versehen wurde - , so ist (je nach Abgrenzung im Einzelfall) sogar die deutliche Mehrheit des Schinkelschen Oeuvres religiös konnotiert, verweist zeichenhaft auf Transzendentes. 284 Hans W. Giessen (Saarbrücken) In jedem Fall hat Schinkel mehr Kirchen als Schlösser errichtet, es handelt sich um die wichtigste Einzelkategorie seines Schaffens. Zunächst sei konzidiert, dass er sich dies nur bedingt ausgesucht hat. Jeder preußische Ort hatte oder benötigte eine Kirche. Seine Abteilung der Oberbaudeputation befasste sich daher zwangsläufig und in bedeutendem Umfang mit Kirchen. Aber er wäre nicht gezwungen gewesen, so viele neue Entwürfe zu zeichnen. Tatsächlich war es ihm ein Bedürfnis - aufgrund seiner Herkunft, seiner Überzeugungen, seines Selbstbilds und -auftrags. Karl Friedrich Schinkel hat im Laufe seines Lebens immer wieder über Kirchenbauten, ihre Funktion und die Konsequenzen für den Architekten nachgedacht. Und er hat im Verlauf seines Lebens recht unterschiedliche Lösungen gefunden. Die hing natürlich oft vom zur Verfügung stehenden Geld ab. Auch der spezifische Ort und die spezifische Gemeinde spielten eine Rolle - die russisch-orthodoxe Alexander Newski-Kirche in Potsdam beispielsweise musste anders konzipiert werden und auf andere kulturelle und religiöse Vorstellungen Rücksicht nehmen als die evangelische St. Nikolai-Kirche in Magdeburg. Schinkel reagierte, auch wenn die Bischmisheimer dies nicht glauben mochten, in der Regel sehr flexibel und pragmatisch auf die jeweiligen Aufgaben. - Dann spielte die Zeit eine Rolle: Schinkel durchlief unterschiedliche Phasen, in seiner Jugend romantischer, später sachlicher, einmal eher der Neugotik, dann dem Klassizismus verbunden. Aber auch seine Auftraggeber und allen voran der König und der Kronprinz prägten mit ihren (sich teilweise ebenfalls wandelnden) Vorstellungen Schinkels Tun. Insgesamt gibt es also stets Anpassungen sowie Neu- und Weiterentwicklungen, aber es gibt auch unverbrüchliche Kernüberzeugungen. Das Signifikat hat Bestand. Für evangelische Kirchenbauten hielt Schinkel nun in der Tat einen Zentralbau als besonders geeignet. Das Evangelische daran ist, dass hier die Predigt eine tragende Rolle spielt. Es entspricht der evangelischen Liturgie wie dem evangelischen Menschen- und Glaubensbild, dass alle Gottesdienstbesucher der Predigt aufmerksam zuhören sollen (und daher auch: zuhören können müssen), um über sie nachzudenken und sich von ihr inspirieren zu lassen. Von daher ist es ein Vorteil, wenn alle Gottesdienstbesucher möglichst nah am Kanzelaltar sitzen. Dies ermöglicht ein Zentralbau eher als ein Langbau. Der Zentralbau entsprach also bereits funktional eher Schinkels Auffassung über Aufgaben und Ziele eines evangelischen Gotteshauses. Erneut wird die semiotische Qualität der Zielsetzung deutlich: der Wunsch, Signifikat und Signifikant - auch und gerade im architektonischen Medium - in Übereinstimmung zu bringen. Dann gab es natürlich die historischen Vorbilder. Bereits auf seiner ersten großen Bildungsfahrt hatte Karl Friedrich Schinkel 1804 in Rom das Pantheon und das Lateran- Baptistorium gesehen. Aufgrund des Wiener Kongress, der Aachen dem Königreich Preußen zugeschlagen hatte, gehörte der Kaiserdom, einer der wichtigsten Zentralbauten der deutschen Geschichte, sogar zu Schinkels Zuständigkeitsbereich. Schinkel griff die Vorbilder in verschiedenen Entwürfen auf. Einen ersten Entwurf zeichnete er 1812 für eine Rundkirche in Kauern (Schlesien) - dabei ebenfalls bereits eingereichte Pläne beiseite schiebend. Dann gab er das Konzept der Rundkirche, dem Pantheon angelehnt, zugunsten der Oktogonalkirche auf - wohl auch, weil ein Rundbau aufwändig und teuer war (weswegen auch die Rundkirche in Kauern nicht gebaut wurde, so dass man dort, zur Die alte Botschaft, ein neues Medium 285 Erleichterung der Gemeinde, den ursprünglichen Entwurf realisieren konnte), ein Oktogonalbau dagegen konnte kostengünstiger errichtet werden. Oktogonalkirchen entwarf Schinkel 1814 für Glienicke im Landkreis Ostprignitz-Ruppin (Brandenburg), 1817 für Arnsberg (Westfalen), im selben Jahr für eine Kirche in Großbeeren und 1819 für eine Berliner Kirche, den Dom als Denkmal für die Befreiungskriege. Der erste Zentralbau, der realisiert wurde, war derjenige von Glienicke; im Übrigen erneut auf ähnliche Art, wie dies in Kauern und Bischmisheim geschah: Die alte Kirche war baufällig, man plante eine neue, die Schinkel verwarf, um sein Konzept durchzusetzen - eine Kirche, die “ den Character einer kleinen Kapelle erhält und in ihrer einfachen achteckigen Form durch ihre spitze Zusammenziehung den Thurm zugleich bildet ” . Die Glienicker Kirche wurde von 1815 bis 1817 erbaut. Formal ist die Glienicker Kirche dem Entwurf für Bischmisheim sehr ähnlich. Vom romantisierend-neugotischen Stil der Jugend hatte sich Schinkel entfernt, nun dominierten klassizistische Konzepte. Hier allerdings wirkt die Bischmisheimer Kirche als Weiterentwicklung erneut verfeinert. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sie, im Gegensatz zur Glienicker Kirche, zweigeschossig - im Innern mit Empore - geplant wurde und daher als weiteres Gliederungs- und Strukturmerkmal Gesimse ermöglichte. Damit wirkt sie auf die meisten Betrachter besonders harmonisch. Von daher wäre es auch interessant, zu wissen, wie Schinkel den Zentralkirchenbau weiter entwickelt hätte. Er experimentierte auch durchaus weiter und konnte sogar noch 1826 verschiedene Pläne für die Potsdamer Nikolaikirche vorlegen, unter denen sich auch ein Plan für einen zentralen Kuppelbau mit dem Grundriss eines griechischen Kreuzes befand, der dann sogar realisiert wurde. Aber bei der Potsdamer Nikolaikirche handelt es sich nur noch bedingt um Schinkels Konzept: Der König und der Thronfolger griffen immer wieder in die Planungen ein, und Schinkel musste aus den zahlreichen Anregungen das Beste machen - was ihm zweifellos gelungen ist. Dennoch ist die Bischmisheimer Kirche der letzte Zentralbau, den Schinkel ohne massive Beeinflussung gemäß eigener Vorstellungen entworfen hat. Er hatte seine eigene Form gefunden, sie erprobt und perfektioniert - und musste mit ihr brechen. König Friedrich Wilhelm III. setzte auf die traditionelle Form der Langkirche und verfügte, dass keine preußische Dorfkirche mehr als Zentralbau errichtet werden sollte. So ist die Tradition, die vielleicht hätte entstehen können, mit der Bischmisheimer Kirche auf einem ersten Höhepunkt angekommen - und kurz danach wieder beendet worden. Noch 1824, als die Bischmisheimer Kirche gerade fertiggestellt war, bewunderte Schinkel auf seiner zweiten Italienreise das Florentiner Baptisterium und schrieb Notizen in sein Tagebuch - mit Hinweisen für weitere Verbesserungen, Experimente, Pläne. Es ist eindeutig: Karl Friedrich Schinkel hätte das Kapitel Zentralbau sicherlich weiterentwickelt und bedauerte, dass er es schließen musste. Was bleibt, ist das besonders harmonische Kirchengebäude von Bischmisheim. Ein Hinweis darauf, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hätte entwickeln können. Die Bischmisheimer Kirche stellt einen Gipfel im Oeuvre Schinkels dar. Ein erzwungener Gipfel, weil es nicht mehr weiterging. 286 Hans W. Giessen (Saarbrücken) 4 Die Kirche von Bischmisheim Widerstände gab es auch vor Ort. Ute Kegel hat nicht nur die Enttäuschung der Bischmisheimer über den unerwarteten Entwurf Schinkels beschrieben. Dazu kam die Enttäuschung des von den Bischmisheimern beauftragten Architekten Johann Adam Knipper, dessen Plan so schnöde abgeschmettert worden war. Vor diesem Hintergrund ist durchaus problematisch, dass Knipper, wie vorgesehen, als Bauunternehmer die Bischmisheimer Kirche errichtete. Zumindest war er nun lustlos. Offensichtlich versuchte er, sich am Bau schadlos zu halten. Das mag verständlich sein, war aber sicher nicht fair - die Bischmisheimer konnten ja nichts für die geänderten Pläne. Wie auch immer: Ute Kegel, die 2000 sein Vorgehen im Rahmen einer wissenschaftlichen Qualifikationsschrift untersucht hatte, fand in einer späteren Publikation sogar den Begriff “ Pfusch am Bau ” (2003: 12) angemessen. Knipper muss fast überall gespart haben, wo es nur ging. So hat er dort, wo es nicht sofort sichtbar war, Schinkels Pläne bewusst unterlaufen: Schinkels korinthische Kapitelle hat er beispielsweise als “ simple Zimmerkonstruktionen ” herstellen lassen. Auch bezüglich der Dachkonstruktion hat er die Berliner Pläne weitgehend ignoriert. Zwar ist fraglich, ob die Konzeption des schweren Dachreiters, die auch die Kirchenglocken aufnehmen musste, nicht grundsätzliche Probleme aufwarf (immerhin gibt es auch bei anderen Zentralkirchenbauten dieser Zeit immer wieder Probleme mit den Dach- und Glockenkonstruktionen), aber bereits rund “ ein halbes Jahr nach der Einweihung traten Die alte Botschaft, ein neues Medium 287 schon erhebliche Schäden am Dach auf. Dabei war auch die erste Orgel in Mitleidenschaft gezogen worden ” (a. a. O.) - dies ist schon erstaunlich und geht zumindest auch auf die Missachtung expliziter Schinkelscher Bau- und Zimmerer-Anweisungen zurück. In der Folge traten immer neue Schäden auf, waren stete Reparaturen notwendig. Erst im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Kirche so restauriert, dass sie den Ideen Schinkels entsprach und in der Substanz geschützt wurde. Kurz nach der Fertigstellung reiste Schinkel auf dem Weg nach Paris durch Saarbrücken. Er hätte dabei leicht einen kurzen Abstecher nach Bischmisheim machen können, aber er hat seine Kirche nie gesehen. Fraglich ist, wie dringend Schinkels Bedürfnis war, sie zu besuchen. Sicherlich gab es in Saarbrücken anderes zu sehen, und Schinkel war ja auch nur auf der Durchreise. Vielleicht fehlten ihm schlicht Zeit und Lust für den Abstecher ins rund zehn Kilometer entfernte Dorf. Der frühere Bischmisheimer Pfarrer Friedrich Bettinger hat aber vermutet, dass ihm der Saarbrücker Landrat von einem Besuch in Bischmisheim abgeraten habe. Bettinger lässt offen, ob Schinkel vor dem nach wie vor ausgeprägten Unmut der Bischmisheimer geschützt werden sollte, oder ob man ihm den Anblick einer schludrig gebauten Kirche und ihrer bereits instandsetzungsbedürfigen Dachkonstruktion ersparen wollte. Wie auch immer, heute mutet es traurig und beschämend an, dass man Schinkel seine Kirche auch gar nicht guten Gewissens hätte präsentieren können. 5 Karl Friedrich Schinkel: Karrierehöhepunkt und Karriereende Die Bischmisheimer Kirche ist entstanden, als Karl Friedrich Schinkels Leben und Wirken auf dem Höhepunkt war. Gerade eben war er zum Professor der Baukunst an der Bauakademie ernannt worden. Es folgten Orden, Auszeichnungen, Ehrenmitgliedschaften weiterer in- und ausländischer Akademien. Auch privat führte Schinkel ein bürgerliches, zufriedenes Leben: Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Am 16. Dezember 1830 wurde er zum Oberbaudirektor befördert, am 13. November 1838 zum Oberlandesbaudirektor. Aber diese Success Story wirkt eindrucksvoller, als sein Leben in der Realität war. Offenbar hatte er viel weniger Entfaltungsraum, als man gemeinhin bei einer solchen Karriere annehmen würde. Sein Lebensgefühl kippte etwa in der Zeit, aus der der Entwurf der Bischmisheimer Kirche stammte, eigentlich schon etwas früher. Bis dato fiel ihm, aller dramatischen Ereignisse zum Trotz, vieles in den Schoß - nun musste er fast alles erkämpfen. Der König machte immer weitere Auflagen; dass er die traditionelle Langkirche zum Normbau erhob, ist da schon fast nebensächlich. Offensichtlich erkannte der Monarch zwar das Talent seines Chef-Architekten, fühlte sich von ihm aber auch überfahren, und konnte - wollte? - ihm in Vielem nicht mehr folgen. Bereits 1817, einige Jahre vor dem Bischmisheimer Entwurf, brauste er in Gegenwart Johann Gottfried Schadows, bezogen auf Schinkel, genervt und kurz angebunden auf: “ Muss ihm Zaum anlegen ” (Schadow 1849: 189 - 190). Natürlich betraf die Skepsis Friedrich Wilhelm III. nicht nur Schinkel. So suchte beispielsweise auch Schinkels Förderer Wilhelm von Humboldt einen Weg, um dem Hof zu entkommen. Schinkel aber, als preußischer Beamter, pflichtbewusst und pflichtversessen, der sich nicht, wie Humboldt, als Gesandter nach Wien schicken lassen konnte, litt immer stärker unter seiner Situation. Es gab mehr und mehr Aufgaben bürokratischer 288 Hans W. Giessen (Saarbrücken) Art, während die Bauprojekte kontinuierlich hinterfragt wurden. Oft musste er zwei, drei oder noch mehr Entwürfe zeichnen. Manche Projekte wie die königliche Bibliothek wurden auch ganz verhindert. Joachim C. Fest schreibt (1981: 306 ff.), dass “ die Entscheidungsschwäche des Königs, seine alles erstickende Grämlichkeit, die Scheu vor großen Ideen noch eher als vor großen Ausgaben, [. . .] fast alle [. . .] Absichten [Schinkels] zunichte gemacht und [sein] Lebenswerk [. . .] in einem eigentümlich fragmentarischen Zustand hinterlassen ” hat. In vielerlei, auch in politischer Hinsicht war der grundsätzliche Charakterzug der Skepsis, der Friedrich Wilhelm III. charakterisierte, auch sinnvoll und vom Ergebnis her nicht ohne Berechtigung und Erfolg; vielleicht gilt dies auch bezüglich seines Verdikts, Dorfkirchen nicht als Zentralbauten zu errichten - die Reaktion der Bischmisheimer, aber auch der Glienicker oder Kauerner hat den Monarchen ja bestätigt. Günter de Bruyn charakterisiert ihn als “ nüchtern ” , aber eben auch als “ ständigen Zauderer und hausbackenen Praktiker, der für Poesie und geistige Höhenflüge nichts übrig hatte ” (2001: 35). Bezogen auf Schinkel erwies sich dieser Charakterzug als desaströs. Vor allem die zwanziger und noch mehr die dreißiger Jahre seien zu einem “ stille[n], zähe[n] Dauerkonflikt mit dem königlichen Auftraggeber ” verkommen, an dem “ so viele große Absichten gescheitert waren ” , so nochmals Joachim C. Fest. - Ja, es ist schwer, wenn sich derjenige, der die Macht hat, scheinbar grundlos querstellt. Wiederholt erbat sich Schinkel Entlastung, aber der bürokratische Druck nahm eher noch zu. Eigentlich in seinen besten Jahren, fühlte er sich überanstrengt und alt. Bereits 1831, mit Fünfzig, musste er eine erste Kur antreten. Die Zeit in Marienbad half ihm über die kommenden Jahre. Aber 1837 war eine weitere Kur notwendig, für die er nach Karlsbad reiste. 1838 folgte eine Kur in Bad Kissingen, 1839 musste er wieder dort hin. Dennoch brach er 1840 zusammen, hatte Lähmungserscheinungen und erholte sich nicht mehr. Am 9. Oktober 1841 starb er in Berlin. Karl Friedrich Schinkel wurde sechzig Jahre alt. Mindestens sein letztes Lebensjahrzehnt war wohl eher eine Qual, geprägt von Krankheit und Überanstrengung, von Demütigungen und Enttäuschungen. Schinkels Glaubensbekenntnis lautete: “ Der natürliche Trieb des Menschen ist der, den Himmel schon auf dieser Erde zu finden, und ewig Dauerndes zu verflößen in sein irdisches Tagewerk. Das Unvergängliche im Zeitlichen zu pflanzen und zu erziehn, nicht bloß auf eine unbegreifliche Weise, und allein durch die sterblichen Augen undurchdringbare Kluft mit dem Ewigen zusammenhängende, sondern auf eine dem sterblichen Auge selbst sichtbare Weise ” (1979 b: 33). Offenbar konnte er die Diskrepanz zwischen seinen hohen Zielen und der banalen Alltagsrealität nicht meistern; vermutlich auch, weil er nicht zu Abstrichen bei seinen Zielen bereit war. Seine Krankreiten waren, wie man heute sagen würde, wohl psychosomatisch begründet. Und er flüchtete in seine Ideale. In seinen letzten Jahren gab es noch zwei bedeutende Aufträge, beide für Paläste in südlichen Regionen. Zum Einen sollte Karl Friedrich Schinkel 1834 einen Plan für einen Palast auf der Akropolis in Athen als Residenz für den Wittelsbacherprinzen Otto entwerfen, der nach der Unabhängigkeit der Hellenen vom Osmanischen Reich den griechischen Thron bestiegen hatte. Der zweite Auftrag kam 1838 von der russischen Zarin, für die Schinkel ja bereits 1829 die Kapelle im Park von Peterhof entworfen hatte; sie wünschte ein Schloss auf der Krim. Schinkel verweigerte sich den Aufträgen nicht. Aber er kümmerte sich auch nicht mehr um die Realisierung oder auch nur Die alte Botschaft, ein neues Medium 289 Realisierbarkeit der Entwürfe. Es wirkt, als hätte er diese Kämpfe aufgegeben. Noch ein letztes Mal malte er wunderschöne Pläne, als wollte er zeigen, was alles möglich gewesen wäre. Aber es waren nur noch Bilder von Fantasieschlössern in südlichen, sehnsuchtsvollen Traumlandschaften, faszinierend, aber völlig überdimensioniert und überhaupt nicht mehr an irgendwelchen Praktikabilitätskriterien orientiert. Klaus Jan Philipp spricht bezüglich des Akropolis-Projekts denn auch von einem ,Sommernachtstraum ’ . Es waren Träume, in sich vollkommen, aber nichts davon wurde gebaut, nichts konnte gebaut werden. So blieb die Bischmisheimer Kirche das südlichste Bauwerk Schinkels, aus einer Zeit seines Lebens stammend, in der tatsächlich noch alles möglich schien, auch wenn das damals schon nicht mehr ganz stimmte. Literatur Barthes, Roland 1957: Mythologies, Paris: Editions du Seuil Bergdoll, Barry 1994: Karl Friedrich Schinkel. Preußens berühmtester Baumeister, München: Klinkhardt & Biermann Bettinger, Friedrich 2003: “ Geleitwort ” , in: Ute Kegel, Ev. Kirche Bischmisheim nach Plänen von K. F. Schinkel, 2. 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