eJournals Kodikas/Code 40/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2017
403-4

Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag

121
2017
Marie-Louise Käsermann
kod403-40358
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag Marie-Louise Käsermann (Bern) Traditionally meaning (as a noun) is treated as a comprehensively defined entity/ structure encompassing a cluster of semantic features attached to its specific expression. However, this reifying generalized abstractive view does not account for actual processes of a dialogic/ interactive signifying/ meaning and understanding (as verbs) in real everyday conversation. Adopting a functional perspective instead of a structural view reveals a basic feature of the symbolic function which is operating in conversation as well as in linguistic organisation. Characteristically, meaning as an action as opposed to meaning as an elaborate lexical entry has an inherent discriminatory power. By naming, reality is parsed in two complementary parts: like the two sides of a coin what is meant by the same token excludes what is not-meant e. g. uttering ‘ light ’ implies and is complement by the unspoken ‘ dark ’ resp ‘ non-light ’ . With the help of examples from everyday talk, linguistic forms, and figures of speech (e. g. metaphor, irony) the binary or complementary nature of meaning in action is illustrated. Reference to the evolutionary significance of complementarity, its technical applications as well as its danger complet the argumentation. 1 Einleitung 1.1 Ausgangslage Meinen und wechselseitiges Verstehen in Gesprächen laufen meist scheinbar reibungslos ab. Wie dies funktioniert, ist begrifflich nicht einfach zu fassen. Die Leichtigkeit mit der die Beteiligten den realen kommunikativen Austauschs meistern, steht in gewissem Kontrast zu der Mühe zu explizieren oder vorauszusagen, was in einer bestimmten Situation vom Gegenüber/ Hörer tatsächlich verstanden wird bzw. ob er oder sie versteht, was sein Gegenüber/ Sprecher meint. Um diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, ist es nötig zu klären oder nachzuvollziehen, auf welchen Voraussetzungen Verstehen, besonders aber auch Nicht-verstehen beruht. 1.2 Problemstellung Wie lässt sich erfassen, was eine Äusserung meint? Wie stellt ein am Austausch selber Beteiligter fest, ob sein Gegenüber ihn verstanden hat? Und schliesslich: Wie kann ein aussenstehender Dritter (z. B. ein Kommunikationsforscher) erkennen, was vom einen Teilnehmer gemeint ist und was vom anderen verstanden wird? Diese Fragen versuche ich im Folgenden anhand 1) semantischer Theorien, 2) der Probleme bei der Analyse von Alltags-Äusserungen und 3) der Merkmale realer kommunikative Interaktion zu klären. 2 Semantik und die Bedeutung von Formen Die Frage, wie verstehen gelingt, wird bevorzugt aus der Perspektive semiotisch/ semantischer Theorien behandelt. Dazu werden einzelne Formen wie ein Präparat aus dem Kontext ihres Auftretens isoliert und an sich analysiert. Das Phänomen, dass diese als Wörter, Phrasen oder auch Sprechakte gewusst, gebraucht und von jemanden verstanden werden können, wird mit deren Bedeutung erklärt: ich weiss, was eine Form bedeutet und verstehe diese, weil ich die ihr zugeschriebene Bedeutung umfassend kenne; diese kann ich dank meiner symbolischen Befähigung aus dem Wissensspeicher meines Lexikon abrufen. Das Lexikon umschreibt im Prinzip umfänglich, jederzeit ergänzbar, jedoch letzlich abschliessend, welche - auch syntaktisch vermittelte Bedeutung - eine Form an sich und in Zusammenhang mit anderen Formen haben kann. Eine semantische Theorie integriert alle Komponenten. Dass die angenommene Struktur dieses semantischen Wissens von Linguisten, Psycholinguisten und Neuropsychologen kontrovers diskutiert wird, ändert nichts an der grundlegend reifizierenden Konzeption von Bedeutung bzw. nichts an der Hypostasierung von Bedeutung als Grundlage von meinen und verstehen. Die Empirie, die sich auf diesen theoretischen Hintergrund bezieht, untersucht die Bedeutung von sprachlichen Formen im Hinblick darauf, ob sich von der Theorie beschriebene Eigenschaften der semantischen Entitäten (z. B. die relative Ähnlichkeit zwischen oder Nähe von Lexikoneinträgen oder Sprechakten untereinander) anhand bestimmter Testleistungen (z. B. Urteile kompetenter Sprecher , Reaktionszeiten, Art und Weise der Lösung von Primingaufgaben) oder Läsionsbefunden erhärten lassen. Aktuelle Äusserungen und Verstehensprozesse in Alltagsdialogen, die in den unterschiedlichsten Kontexten zwischen den verschiedensten Gesprächsteilnehmern auftreten, sind jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung. Das so konzipierte semantische Wissen weist einige interessante Eigenschaften auf: Es unterstellt, dass jeder Sprecher idealerweise oder im Prinzip über die gleiche lexikalische Kompetenz verfügt. Dieses Wissen, das besagt, was eine Form alles bedeuten kann, muss man sich demnach als kontextunabhängiges Gebilde vorstellen. In semantischen Theorien wird der Übergang vom kontextunabhängigen umfassenden Lexikoneintrag zur kontextabhängigen Äusserung mit ausgewählten Bedeutungskomponenten durch eine Reihe von Projektionsmechanismen geleistet. Ein Beispiel dafür stellt ein “ Modell zur Bedeutungskonstitution ” dar (Schwarz 1992, 130). Es enthält in sich freilich nichts, das die Wahl jener semantischen Merkmale der Formen steuert, die der reale Gebrauch im konkreten Kontext erfordert; und es fehlt insbesondere ein Mechanismus, der Merkmale als nicht-gemeint ausschliesst. Dass dieser Mangel beim Versuch, die Frage zu beantworten, was jemand meint bzw. versteht, wenn er eine bestimmte Form äussert, ein ernstes Problem darstellt, lässt sich am einfachsten anhand mehrdeutiger Formen veranschaulichen: im Grundwissen hat z. B. die umfassend-einschliessend bestimmte Form Bank diverse Einträge oder Merkmale, von denen Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 359 im und durch den aktuellen Gebrauch - auch aus Gründen der zeitlichen Ökonomie - nicht alle in den Vordergrund geholt werden müssen. Zur Wahl der geeigneten Merkmale bedarf es vielmehr der konkreten Kontextualisierung des umfassenden Grundwissens, durch die dann jene Merkmale, um die es geht, aktualisiert werden. Bierwisch (1983, 15 - 64) beschreibt diesen Vorgang mithilfe des (kognitiven oder wahrnehmungsabhängigen) Gestaltprinzips der Figur- Grund-Unterscheidung. Dieses Prinzip ist jedoch nicht Bestanteil des semantischen Wissens. Eine Auswahl der aktuell gemeinten Komponenten oder gar eine Zurückweisung der sicher nicht -gemeinten Bedeutungen wird weder im semantischen System noch bewusst durch den Sprecher vorgenommen. Sie geschieht irgendwie jenseits dieser Bereiche durch wenig durchschaute Mechanismen. So gesehen sagen auch elaborierte Bedeutungszuschreibungen nichts über meinen und verstehen im Alltag aus. Sie stellen viel eher eine Metatheorie dar, die es Experten erlaubt, anhand konstruierter Beispiel-Äusserungen über die Beschaffenheit und vor allem die strukturelle, merkmals- oder typenbezogene Organisation semantischen Wissens zu reden. Was aktuell gemeint und verstanden wird, ist hingegen in diesem Ansatz kein vordringliches Problem. Eigenschaften von Form und Inhalt von Wörtern (Sätzen) eines kompetenten Sprechers, aber nicht ihr Gebrauch in tatsächlichen Dialogen bilden demnach den Untersuchungsgegenstand semantischer Theorien. Eine allfällige Erklärung dafür, dass trotz der umfassenden Bedeutungsbestimmung im Alltag zu Nicht-Verstehen oder Missverstehen kommen kann, bezieht sich in diesem Rahmen nicht auf die prinzipielle Struktur der semantischen Wissensbasis. Solche Störungen, so die Annahme, entstehen vielmehr dadurch, dass die Komponenten des linguistischen Systems etwa bei Kindern noch nicht voll ausgereift sind, dass notwendige neuronale Grundlagen fehlen oder infolge von Hirntraumata beschädigt und kognitive Voraussetzungen wie z. B. Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Motivation dauernd oder phasenweise beeinträchtigt sind. 3 Symbolfähigkeit und die Analyse realer Äusserungen Sich in der Art semantischer Theorien mit Problemen der Bedeutung als Gebilde auseinanderzusetzen, baut auf die in keiner Weise zu bestreitende Tatsache auf, dass Individuen mit Symbolfähigkeit begabt sind und mehr oder weniger bewusst bzw bewusstseinsfähig über einen - hinsichtlich seiner Organisation und Funktionsweise zunächst nicht genauer beschriebenen - Fundus an Wissen über Zeichen verfügen. Die explizite linguistische, psycholinguistische und neurologische Beschreibung dieses Fundus ist überdies sicher für die Konstruktion von intelligenten Übersetzungssystemen, Spracherkennung und Robotik von grösster Bedeutung. Doch dieser Typ von idealer, kontextfrei konzipierter Semantiktheorie hat keine (präzise) Antwort auf die zentrale Frage, wie meinen und verstehen in realen Alltagsgesprächen entstehen, und interessiert sich dafür auch nicht. Ob eine als natürlich gegebene theoriefrei konzipierte Symbolfähigkeit allerdings ausreicht, um Meinen und Verstehen im Alltag erfassen zu können, sollen die folgenden Beispiele zeigen. Die Analyse von echten Gesprächen basiert sinnvollerweise auf deren möglichst realitätsgetreuer Verschriftung (Transkription). Eine solche anzufertigen, erfordert vom Transkribierenden natürlich, dass er vor jeder Semantik-Theorie versteht oder glaubt zu verstehen, was die Dialogpartner miteinander reden. Wie dieses verstehen im Einzelnen 360 Marie-Louise Käsermann (Bern) funktioniert, zeigt z. B. die folgende Erfahrung: studentische Hilfskräfte haben die Aufgabe, Gespräche zwischen Psychiater und einem an einer chronischen Schizophrenie Leidenden auf Grundlage von Audio- und Videoaufnahmen zu verschriften. Im Ergebnis finden sich schliesslich viele unglaublich wirre, sinnlose Passagen, die vom Fachmann sofort als schizophasisches Reden und als Ausdruck einer Denkstörung erkannt werden. Eine Kontrolle der Transkription anhand der Ton- und Video-Konserven zeigt allerdings, dass die “ wirren ” Stellen zwar allesamt akustisch schwer erfassbar sind: man hört auf Anhieb nicht genau, was der Patient sagt, weil er z. B. leise spricht. Macht man sich aber die Mühe, die betreffenden Tonspuren mehrmals anzuhören, bleibt einiges zwar unverstehbar, aber für die meisten Stellen lässt sich eine sinnvolle, also nicht-wirre oder nichtschizophasische Äusserung konstruieren. Dieses Beispiel zeigt zweierlei. Zum einen weist es deutlich darauf hin, dass die spezifischen Erwartungen, mit denen der Transkribierende zur Tat schreitet, eine wesentliche Rolle dabei spielen, was er hört und zu verstehen glaubt oder eben nicht versteht: Die Hilfskräfte wissen zum Voraus, dass es sich um Dialoge mit einem an Schizophrenie Leidenden handelt, und sie erwarten aufgrund ihrer psychopathologischen Vorkenntnis, dass dieser zu für sie sinnlosen Äusserungen neigt. Bei der Kontrolle ihrer Transkripte durch den Studienleiter kommt jedoch eine andere Erwartung zum Zuge, nämlich die von Hörmann (1976, 179 ff) sogenannte Sinnkonstanz: für Äusserungen, die einem unmittelbar unverständlich scheinen, findet man bei genauerem Hinhören, d. h. bei Berücksichtigung alle möglichen Informationen aus dem Kontext, aus der Kenntnis des Sprechers etc. immer eine sinnvolle Deutung. Dass solch divergente Interpretationen vorkommen, erfährt man im Übrigen auch als Outsider, wenn man mit einer Wortmeldung in einem Insiderkreis nur Unverstehen erntet, dann aber Zeuge davon wird, dass eine Äusserung desselben Inhalts durch eine statushohes Mitglied der Gruppe allgemeinen warmen Beifall erhält. 1 Zum anderen wird jedoch auch klar, dass sich aus der Situation selber kein klarer Hinweis darauf ergibt, welche Erwartung, die des schizophasischen Geredes oder die der Sinnkonstanz, oder als drittes sogar eine Mischung aus beiden der jeweiligen Äusserung angemessener ist. Jede Deutung ist möglich und aufschlussreich. Das macht es im Übrigen auch so schwierig festzustellen, ob eine Abfolge von Äusserungen als kohärent gelten kann. Denn Vorlieben für die eine oder andere Sichtweise, z. B. die fachspezifische Erwartung von Schizophasie, ist natürlich kein gutes Argument für die Annahme, dass man den Sprecher damit angemessen interpretiert. Dementsprechend belegt die Möglichkeit der Konstruktion einer nicht-schizophasischen, sinnvollen Lesart vielleicht nur die Kreativität und Fantasie des Transkribierenden. Mit einem Wort: Für das Zutreffen des einen oder des andere Verstehens gibt es zunächst kein Kriterium, weder im Rückgriff auf ein allgemein anerkanntes semantisches System noch auf den Grad der subjektiven Überzeugung des Trankribierenden. Der sich Äussernde aber, der wohl am ehesten weiss, was er meint, wird nicht gefragt oder seine eventuell aufschlussreiche Reaktion auf merkwürdige Deutungen wird vernachlässigt. Dieselbe Erfahrung wiederholt sich im Übrigen auch beim Transkribieren von kindlichen Äusserungen: Untersuchungen des frühen Spracherwerbs laufen herkömmlich unter der Erwartung, dass Lautäusserungen das sprachliche, insbesondere das syntaktischeWissen des 1 siehe Kontroverse zwischen Chaika (1974, 257 - 76) und Fromkin (1975, 498 - 503) Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 361 Kindes demonstrieren. Der informierte Transkribierende geht mit linguistischem Rüstzeug auf die abenteuerliche Reise, in den noch ziemlich undifferenzierten Lautäusserungen von kleinen Kindern Instanzen lexikalischer, syntaktischer und pragmatischer (Halliday 1975: 1 - 164) Kategorien mittels der als Ein- und Zweiwortsätzen erkannten Gebilde zu identifizieren. Als linguistischer Laie, z. B. als Angehöriger, kann man sich hingegen meist nicht von technischen Kenntnissen des sprachlichen Systems leiten lassen. Man geht zwangsläufig von einem ganz anderen Punkt an die Transkription der kindlichen Lautäusserungen: Man versucht, sie so lautgetreu wie möglich zu verschriften und zu verstehen, was sie im konkreten Kontext meinen. Inspiration dazu holt man sich aus dem Video-Kontext, aus den mütterlichen Beiträgen und den Äusserungen anderer Anwesender und glaubt dabei zu erkennen, dass das Kind z. B. etwas haben will, etwas sieht etc. . Beide Vorgehensweisen, die Sprachsystem-nahe und die kommunikativ-funktionale, fördern auf dem Hintergrund des sprachlichen Verstehens des Transkribierenden Unterschiedliches zutage. Doch wiederum gibt es kein externes Kriterium für die Angemessenheit der Betrachtungsweise oder das Zutreffen der einen oder der anderen Deutung; und die Reaktion des Kindes auf die Deutungen seiner Umgebung als einzig brauchbarer Hinweis auf da, was es gemeint haben könnte, wird jedenfalls von den Analysierenden kaum beachtet. In beide Beispiele stehen einander also mindestens zwei Typen von Erwartungen gegenüber, die zu je anderen Erkenntnissen über den untersuchten Gegenstand führen. Beide sind in gewisser Weise produktiv und liefern interessante Hinweise auf mögliches, dem Sprechen zugrundeliegendes Wissen. Das entscheidende Problem dabei ist aber, dass alle diese Erkenntnis mithilfe von mehr oder minder informierten Erwartungen Dritter gewonnen wird. Dass jedoch einzig und bestenfalls der Sprecher selber weiss, was er meint, dass also in erster Linie er die Deutungshoheit hat, tritt in den Hintergrund. Eine Antwort auf die Hauptfrage, wie meinen und verstehen bei den Beteiligten selber im Verlauf eines Gesprächs funktionieren, fehlt also nach wie vor. Wie man diesen Sachverhalt erfassen und damit etwas über die Voraussetzungen erfahren kann, die in Alltagssituationen zwischen realen Gesprächspartnern meinen und verstehen steuern, will ich im Folgenden skizzieren. 4 Komponenten von bedeuten/ meinen und deuten/ verstehen im Gesprächsverlauf Das eigentliche Problem, das sich mit der prinzipielleVieldeutigkeit von Äusserungen stellt, besteht darin, dass keiner der besprochenen Ansätze ein Kriterium formuliert, das mögliche Deutungen als vom Sprecher aktuell nicht-gemeint auszuschliessen vermöchte (bzw. keine restriktive Bestimmung dessen enthält, was mit einer Äusserung nicht gemeint sein kann). Um Beschaffenheit und Merkmale eines solchen Kriteriums geht es im Folgenden. 4.1 Meinen und verstehen durch eindeutige Unterscheidung/ Diskrimination Bereits früh stellt David Olson (1970: 257 - 273) in Abhebung zu herkömmlichen - weiter oben: umfassend-einschliessend genannten - semantischen und syntaktischen Theorien ein wichtiges Merkmal des Vorgangs des bedeutens dar: Mithilfe einer Benennungsaufgabe, die ich hier vereinfacht wiedergebe, zeigt er, dass dieAnnahme einer Kenntnis von umfassenden, fixen Bedeutungen zur Erklärung dessen, was ein Sprecher im Gespräch mithilfe einer Form 362 Marie-Louise Käsermann (Bern) zu vermitteln versucht, wenig oder nichts beiträgt: Ein Kind soll einem anderen mitteilen, unter welchem Gegenstand es eine Münze finden kann. Bei dem Gegenstand, unter dem die Münze versteckt ist, handelt es sich um ein Quadrat, das im Kontext von anderen geometrischen Figuren mit ganz unterschiedlichen Farben und Formen präsentiert wird. Diese Variationen sind entscheidend: Was in jedem Falle Quadrat genannt werden könnte, nennt der Sprecher im Kontext eines Kreises z. B. das gerade, im Kontext eines Dreiecks aber das viereckige. Würde auch noch Farbe ins Spiel kommen, wäre die Münze z. B. unter dem roten zu finden, wenn dies die Farbe ist, die das Quadrat von den Farben aller anderen Figuren unterscheidet. Ähnliches zeigt sich auch beim Lernen von Wörtern (Rothweiler 2001: 312 - 321): In einem von einer Reihe von Versuchen werden Kindern Sets von bekannten und unbekannten Objekten präsentiert mit der Bitte, eines der Objekte (gib eines der beiden) oder das genannte Objekt (gib das X = Kunstwort) einer Puppe zu reichen. Im ersten Fall werden alle Objekte etwa gleich oft gewählt. Wird zur Benennung im zweiten Fall ein Kunstwort (z. B. Lirsch, Telper) verwendende, wählen die Kinder in 90 % der Fälle des unbekannte Objekt. Befindet sich in einem Werkzeugkasten beispielsweise Hammer, Zange und ein unbekanntes Objekt, wird das Kind auf die Bitte nach dem Sappel automatisch zu diesem unbekannten Objekt greifen. Darin zeigt sich die semantisch diskriminierende Organisation des Wortschatzes in der Opposition von bekannt vs unbekannt. Für alles Folgende ist es genau die Funktion dieser Wahl einer binär diskriminierenden Benennung, auf die es ankommt. Sie erlaubt dem Sprecher, aber auch dem Angesprochenen die Unterscheidung zwischen dem gemeinten Gegenstand und gleichzeitig allen anderen nicht-gemeinten, ohne dass sie je auf eine lexikalische Bestimmung von Quadrat oder Telper zurückgreifen müssten. So erreicht der Sprecher auf sparsamsteWeise, einzuschliessen, was er meint und im Verhältnis dazu gleichzeitig alles auszuschliessen, was er nicht meint; damit zeigt er eine spezifische Diskriminationsleistung. 4.2 Das Verhältnis von meinen und nicht-meinen In Alltagsgesprächen geht es um den instrumentellen Gebrauch, welchen die aktuell Beteiligten von Äusserungen machen. Instrumentalität - und nicht Ausdruck zugrundeliegenden Wissens - ist demnach ihre primäre Funktion. In Dialogen zwischen Mutter und Kind zeigt sich diese diskriminierende Instrumentalität deutlich in ostensiven Benennungs- Situationen, in denen Formen etwas Bestimmtes meinen und damit für den sich Äussernden restriktiv oder diskriminierend gleichzeitig alles andere als nicht-gemeint ausschliessen: (01) Form Intonation 2. Silbe, 3.Silbe eviva fallend evivä gleich fallend äveivä gleich fallend äveuvä gleich fallend äveuvä streigend fallend äveivä das fallend äveivä streigend fallend (Käsermann 1980: 148) Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 363 Diese Form wiederholt der Bub nach kurzen Pausen mit steigender Intensität in diversen lautlichen Varianten und findet erst Ruhe, als die Mutter, die zuerst ratlos einige Bilder präsentiert, schliesslich das Bild der Olive im Bilderbuch gefunden und ihm gezeigt hat. Dass es dem Bub um genau dieses von ihm offenbar erinnerte und nun antizipierte Bild geht und nicht etwa darum, richtige Oliven zu essen, ergibt sich schliesslich aus seiner Zufriedenheit beim Anblick des Bildes, aber auch daran, dass ihn alle sonstigen Deutungen der Mutter nicht befriedigen. Wie läuft der Vorgang von bedeuten und verstehen in dieser Austauschsequenz ab? Aus der Sicht des Buben zeigt sich zunächst, dass es ihm darum geht, die Mutter zu einer bestimmten Handlung zu veranlassen. Dies erfordert letzlich, dass sie versteht, was er meint. Lokal ist das kindliche Meinen tatsächlich vom wiederholten nicht-verstehen der Mutter gesteuert. Der Bub erkennt dies daran, dass sie ihm einige von ihm nicht-gemeinte Bilder präsentiert bzw. das eine von ihm gemeinten bzw. erwartete Bild nicht präsentiert. Auf der Suche danach, wie ein Sprecher vermittelt, was er meint bzw. nicht meint, stossen wir in diesem Beispiel auf eine erstaunliche Umkehrung der Problematik wie sie in herkömmliche Theorien aufgefasst ist: Ein umfassend definierte Lexikoneintrag von Olive ist für den Verlauf diese Episode offenkundig ganz vernachlässigbar; für das Gelingen und das endliche Verstehen verantwortlich ist vielmehr einerseits, dass der Bub durch verbale Wiederholung auf dem, was er meint, der evivä, beharrt (Käsermann 2005: 142 - 156), andererseits dadurch gleichzeitig alle wahrgenommenen, mit seinen Erinnerung/ Erwartungen nicht übereinstimmenden nicht-evivä nicht akzeptiert und damit ausschliesst. Dazu muss er im Übrigen nicht die semantischen Merkmale von Olive mit jenen der von der Mutter vorgeschlagenen Interpretationen, z. B. ä Fige (eine Feige) vergleichen und eine Schnittmenge von gemeinsamen Merkmalen bestimmen. Für ihn genügt einfach, dass die Mutter das Bild des gemeinten oder erwarteten Dings noch nicht präsentiert hat. 4.3 Nicht-verstehen und die Erwartung von Sinn (Sinnkonstanz) Auch die Mutter kann in der evivä-Episode ihr nicht-verstehen keinesfalls durch die Aktivierung eines umfassend definierten Lexikoneintrags von Olive bewältigen, denn gerade dass der Bub diese meint, hat sie ja noch nicht verstanden. In dieser Situation bleibt ihr nichts anderes übrig als zu versuchen, die gehörte, nicht der Standardsprache entsprechende Lautform mit etwas in Übereinstimmung zu bringen, das ihr “ etwas sagt ” . Das heisst, sie muss ihrerseits unterstellen oder erwarten, dass der Bub nicht einfach Laute äussert, sondern etwas Bestimmtes meint. Was genau das sein könnte, vermag sie Schritt für Schritt aufgrund der wiederholten Zurückweisung ihrer diversen Angebote als nicht-gemeint auszuschliessen. Dabei wird sie den aktuellen Kontext, also die Situation der Bilderbuchbetrachtung, berücksichtigen und ihre vom Bub nicht akzeptierten Vorschläge, die demonstrieren, dass sie ihn noch nicht versteht, als von ihm nicht-gemeint verwerfen. 4.4 Binarität / Komplementarität als Grundlage von meinen und verstehen Die Beispiele liefern selbstredend keine umfassende Erklärung für den Vorgang von meinen und verstehen. Doch sie demonstrieren zunächst, was im Prozess von meinen und verstehen nicht geschieht. Es handelt sich offenkundig nicht um ein Aushandeln von 364 Marie-Louise Käsermann (Bern) Bedeutungen: Der Bub, der etwas meint und erwartet, rückt davon und auch von dem, was er dementsprechend gleichzeitig nicht meint, nie ab. Seine Unterscheidung ist konsistent. Die Mutter macht Vorschläge, doch navigiert sie im Versuch zu verstehen zwischen dem vom Bub gemeinten (und von ihr noch nicht-verstandenen, aber angezielten) und dem von ihm nicht-gemeinten. Zu keiner Zeit versucht sie, ihn von dem, was er meint, abzubringen oder ihn zu überreden, doch mit etwas Vorlieb zu nehmen, was sie sich ausgedacht, er aber nicht gemeint hat. 4.4.1 Komponenten der Binarität / Komplementarität Eine entscheidende Rolle bei meinen und verstehen im Dialog spielen also die Erwartungen der Beteiligten: im Fall des Buben ist dies die Antizipation der realen Wahrnehmung eines erinnerten, imaginierten Bildes; im Fall der Mutter die Annahme, das Lautverhalten des Gegenübers sei zeichenhaft (vs nicht-zeichenhaft). Durch eine aktuell wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem erwarteten Ereignis (z. B. dem Bild der / evivä/ ) und jedem anderen nicht-erwarteten, aber tatsächlich eintretenden Ereignis wird alles mögliche (z. B. verbal) Verstehbar in das eine Gemeinte und alles andere Nicht-Gemeinte unterteilt (vgl. 4.1). Das Gemeinte oder Erwartete bedeutet damit immer nur etwas im komplementären Verhältnis zum gleichzeitig damit ausgeschlossenen Nicht-Gemeinten, Nicht-Erwarteten. Diese Binarität / Komplementarität ist die minimale und grundlegendste Voraussetzung dafür, dass eine Form etwas bedeutet. Im Gegensatz zu herkömmlichen semantischen Theorien, in denen es um eine umfassend/ inklusive Zuschreibung der (hypostasierten) Bedeutung von Formen geht, zeigt das Beispiel des Dialogs zwischen Mutter und Kind, dass meinen und (nicht-)verstehen im Verhältnis zu nicht-meinen Funktion oder Instrument eines binären oder komplementären Prinzips ist, das man aus den folgenden Gründen binär ausschliessend / exklusiv nennen kann: Im Versuch zu verstehen sind beide Teilnehmer mit der Aufgabe konfrontiert, zwischen Gemeintem/ Geltendem und Nicht-Gemeintem/ Nicht-Geltendem zu unterscheiden - im Beispiel: zwischen der einen evivä und allen nicht-evivä - und letztere aufgrund des wiederholten korrigierenden nicht-verstehens auszuschliessen. So gesehen handelt es sich beim Versuch zu verstehen darum, eine Dichotomie zu finden, in der zwei Komponenten zwar gleichzeitig komplementär oder binär ein logisches Ganzes ausmachen, jedoch real nicht gleichzeitig gelten können. Im Spezialfall ist Komplementarität auch als Opposition zu begreifen: Tag (gemeint) vs Nacht (nicht-gemeint) bzw. Nacht (gemeint) vs Tag (nichtgemeint). Das dargestellte Konzept von bedeuten im Austausch mag ungewohnt sein. Doch lassen sich für die Komplementarität / Binarität als Grundlage von meinen und verstehen einleuchtende Zeugnisse finden: “ Wie kann man eigentlich die hellen Seiten eines Bildes sehen ohne dessen dunkle? Gibt es denn überhaupt ein Bild ohne Zusammenwirken von Licht und Schatten? Wir haben doch nur eine Vorstellung vom Licht, weil es Schatten gibt. Man fordert: Beschreibe lediglich die Tugenden, die Tugendhaften. Aber die Tugendhaften erkennen wir ja gar nicht ohne das Laster, die Begriffe gut und böse sind doch erst dadurch entstanden, dass gut und böse beständig miteinander, nebeneinander lebten! ” Aussagen und Erklärungen im Prozess der Petraschewzen in Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. (Dostojewski F. M. 1861 - 62 [1994: 404]. Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 365 Obwohl hier das binär-ausschliessende der Komplementarität nur anschaulich gemacht, aber nicht expliziert wird, übertrifft die Hellsichtigkeit und Klarheit dieser Formulierung den vorangehenden dürren Versuch, überzeugend zu argumentieren. 4.4.2 Voraussetzungen und Mechanismen der Binarität Ein konkreter Akt binärer Diskrimination beim bedeuten muss auf einem bereits präverbal gegebenen Verständnis für die Binarität der Präsenz und Absenz von Dingen, Menschen und Sachverhalten und des zeitlich sich ausschliessenden Vorher und Nachher beruhen. Diese Voraussetzungen können anhand der evivä-Episode und des folgenden Beispiels [15] rekonstruiert werden: (02) R papa papa papa papa (mit variierender Intonation bis M erwidert) M dr Papa isch go schaffe R tudi (Name der Freundin von M, fragend) M wo isch s Trudi? R wäg wäg wäg tudi (Käsermann 2005: 152) Es ist evident, dass die Wiederholung der Form evivä, papa und tudi durch die Vergegenwärtigung des Bildes einer Sache bedingt ist, die jetzt erinnert, aber faktisch noch nicht bzw. nicht mehr wahrgenommen wird. Anders formuliert ist die reale Absenz des gewünschten Objekts mit dessen möglicher, aber im gegebenen Moment nur imaginierten Präsenz untrennbar verbunden und das eine ohne das andere nicht denkbar. Auch das umgekehrt gilt, nämlich, dass die reale Präsenz (und Nicht-Absenz) eines Objekts dessen frühere oder spätere reale Absenz (und Nicht-Präsenz) ablöst. Diese Form der Binarität steuert schon früh das kindliche Verhalten: das Kind stellt Absenz fest, etwa dass ein Objekt (z. B. ein Glas) leer (lää) oder sein Inhalt nicht mehr vorhanden (allgone) ist. Diese vom Kind zweifellos nicht reflektierte oder formulierbare binäre zeitliche Verhältnisse weist auf die unabdingbare Verknüpfung der beiden Pole über eine gewisse Zeitspanne (im Beispiel oben: den Mittagsschlaf ) hin, nach der entweder Anwesenheit gewünscht oder Abwesenheit konstatiert wird. Dabei ist die Verfügbarkeit von proto-konventionalen Lautformen, die in den vorgelegten Beispielen zum Verständnis des Arguments beitragen, eigentlich der unwichtigste Teil des Mechanismus der Binarität. Notwendig ist vielmehr, dass das Kind diese Binaritäten auch schon vor ihrer irgendwie bewerkstelligten Benennung “ wortlos ” begreift, wobei ihm die Sprachlichkeit seiner Umgebung bestimmt hilft. Danach erst erwirbt das Kind eineVorstellung vom Gebrauch ganz rudimentärer (lautlicher, gestischer, motorischer) Äusserungen als Zeichen. Diese werden von einer Sinn erwartenden Bezugsperson zunächst dann verstanden, wenn sie sich auf gegenwärtige Situationen - und nicht etwa auf Dinge in anderen Räumen - beziehen. 4.5 Binarität und Indikatoren von Nicht-Verstehen Was bei semantischen Theorien vermisst wird, nämlich die Rolle eines Hinweises des sich Äussernden darauf, ob er sich verstanden oder richtiger: nicht-verstanden fühlt, ist explizit durch die nach Nicht-Verstehen gegebene korrigierende Wiederholung realisiert. Einige Belege für die grundlegend binäre Struktur, die Äusserungen kompetenter Sprecher 366 Marie-Louise Käsermann (Bern) zugrunde liegt, finden sich in Ausschnitten aus realen Gesprächen, in denen averbale (z. B. Schulterheben) und unspezifische verbale Signale wie he? , das explizite ich habe dich nicht verstanden, aber auch spezifische Signale wie wer? auftreten (Amstutz 1979, Käsermann 1980) oder in denen der Sprecher nach einer nicht-verstehenden Reaktion des Angesprochenen erkennbar emotionalisiert reagieren, z. B. (03) A1 was würden Sie denn machen, wenn jemand käme und würd sagen: Herr X, jetzt hab ich genug von dem Qualm [der Pfeife] (MLK)? P nein, das sagt keiner A2 (lacht) was würden Sie denn machen? (Käsermann 1983: 132 - 147) In dieser Passage besteht eine durch modifizierte Wiederholung verkörperte Komplementarität zwischen dem gemeinten machen und dem ausgeschlossenen nicht-machen (zu dem auch das nicht-sagen gehört). In den beiden folgenden Beispielen (04) und (05) ist die Komplementarität / Binarität explizit durch eine wiederholende Umkehrung gegeben: (04) S mmm glaube, dass ich nicht zu fest rumhänge so. M he? S glaube nicht, dass ich zu fest rumhänge! (Käsermann 1988: 36) S behandelt als Komplement glauben in Zusammenhang mit nicht rumhängen und dreht die Komplemente nach der Nicht-Verstehensreaktion von M binär zu nicht glauben und rumhängen um. Dasselbe Prinzip ist im folgenden Beispiel (05), wenn sprachlich auch inkorrekt realisiert: nicht haben im Zusammenhang mit gern wird zu haben mit nicht gern: (05) K16 han ich mich denn nid sälber gärn (4* = Dauer der sprechfreien Zeit) (lacht) T17 i has no akustisch nid ganz verstande K18 eh han ich mich denn sälber nid gärn (3*) (Käsermann 1995: 182) Interessant ist an diesem Beispiel auch der Kontext des Auftretens der Komplementarität: (05 a) T11 mhm (2*) cheu mr das so formuliere wie chumm i derzue dass i mi sälber gärn ha (5*) K12 das ch ja das goht i die Richtig (16*) T13 (mhm) K14 mhm (7*) T15 (Schweigen) K16 han ich mich denn nid sälber gärn (4*) (lacht) (Käsermann 1995: 182) Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 367 K12 stimmt dem Vorschlag von T11 zu, was gleichzeitig bedeutet, dass er dessen Präsupposition (ich habe mich selber [ jetzt noch] nicht gern) annimmt und deren Gegenteil (ich habe mich selber gern) binär ausschliesst. Nach längerer Pause stellt er jedoch das Zutreffen seiner Zustimmung in Frage, was einer Affirmation des zuvor Negierten entspricht. Über diese von ihm und T nicht-erwarteten zweifelnden Widerspruch (habe ich mich nicht selber gern, Beispiel (05)) muss er (verlegen/ emotionalisiert) lachen und wiederholt diesen in leicht modifizierter Form. Das ganze Hin und Her spielt sich im Raum diverser Binaritäten / Komplementaritäten ab. 4.6 Die psychologische und semiotische Rolle binärer Verstehensprozesse: Eine These Ob sich ein Sprecher und/ oder sein Gegenüber der behaupteten Binarität stets, insbesondere während reibungslos verlaufenden Sequenzen bewusst sind, ist eine im engeren empirischen Sinn offenen Frage. Sicher in den Vordergrund rückt sie jedoch in expliziten Nicht-Verstehens-Sequenzen wie in der oben dargestellte evivä-Episode zu erkennen ist oder in Situationen, in denen durch nicht-erwartete Ereignisse eine Abweichung von Standards (z. B. der Grammatikalität) entsteht. Bei der postulierten Komplementarität / Binarität handelt es sich um einen Prozess, der situativ aktiviert wird. Sein Auftreten wird möglicherweise erst im kommunikativen Austausch durch die nicht-erwartete Reaktion oder das aktuelle Nicht-Verstehen des Partners angeregt. Beides zeigt dem Sprecher an, dass sein Gegenüber (noch) nicht in der Lage ist, angemessen zwischen Gemeintem oder Geltendem und Nicht-Gemeintem oder Nicht-Geltendem zu unterschieden und lenkt seine Aufmerksamkeit darauf, dass er das Nicht-Gemeinte auf irgendeine Art ausschliessen muss. In der evivä-Episode verhilft ihm zu diesem Ausschluss die Wiederholung und damit das Nicht-Abrücken von bzw. Bestehen auf der gewählten Form. Das vom Angesprochenen geäusserte Nicht-Verstehen stösst damit jenen Prozess der Komplementarisierung oder Dichotomisierung an, welcher das, im Rahmen klassischer semantischer Theorien vermisste, Ausschlusskriterium für das Nicht- Gemeinten schafft. Bedeuten so aufzufassen, impliziert zweierlei: Erstens kann das Insgesamt des semantischen und kommunikativen Wissens eines Sprechers, von dessen Existenz natürlich auch hier ausgegangen wird, bei Nicht-Gebrauch als eine nicht weiter geordnete, amorphe Menge gedacht werden. Kontroversen über die Struktur des Lexikons sind damit zunächst überflüssig. Zweitens muss man dem Sprecher nicht unterstellen, dass er bei seiner ersten Äusserung bestimmte Intentionen an die Wahl einer bestimmten Form knüpft. Seine Vorstellungen können vage sein, d. h. er hat möglicherweise selber noch keine klare Vorstellung vom Gemeinten/ Erwarteten im Verhältnis zum Nicht-Gemeinten/ nicht-erwarteten. Meine These ist, dass die im tatsächlichen Austausch durch nicht-Verstehen aktualisierte Konmplementarität zwischen Gemeintem/ Erwarteten und ausgeschlossenem Nicht-Gemeinten/ nicht-erwarteten auch eine Grundlage für die semiotische Dimensionalisierung des Wissens entsteht: Aus der Erfahrung, einen gemeinten Gegenstand von einem nichtgemeinten z. B. durch rot unterscheiden zu können wie im Olson-Experiment, kann als integrierendes Merkmal oder Oberbegriff Farbe abgeleitet werden, aus der Unterscheidung 368 Marie-Louise Käsermann (Bern) von Farbe gegen Form kann die übergeordnete Dimension Erscheinung werden. Mit anderen Worten nehme ich an, dass die Binarisierung eine grundlegende Voraussetzung für die Strukturierung und Hierarchisierung semantischen Wissens sein könnte. 5 Sprachliche Strukturen und das Prinzip der Binarität Das Prinzip der Binarität oder Komplementarität steuert nicht nur einfaches meinen und verstehen, wie im evivä-Beispiel. Es besagt, dass von zwei Zuständen (z. B. 0, 1) gleichzeitig nur der eine gilt und der andere, durch die Geltung des einen, binär als aktuell nicht geltend ausgeschlossen ist; der ausgeschlossene Zustand schwingt als notwendiger Bestandteil des Paars jedoch immer mit und trägt zur Konstitution dessen bei, was den aktuell geltenden ausmacht. Dieses Prinzip ist einerseits in bestimmten sprachlichen Strukturen auch tatsächlich realisiert und lässt sich andererseits als Heuristik (Abschnitt 6) zur Analyse vor allem von Assertionen in Austauschsequenzen einsetzen. Das Prinzip der Binarität ist als Mechanismus des bedeutens strukturell am leichtesten in Ja/ Nein-Fragen und als Spezialfall in Tag-Fragen zu erkennen. Bei ersteren sind Antworten bzw. Reaktionen ebenso wahrscheinlich als Bejahung oder Verneinung zu erwarten; dieTag- Frage impliziert dagegen eine Präferenz der Zustimmung. Mit jeder Antwort wird die von ihr ausgeschlossene Alternative gleichzeitig impliziert und ausgeschlossen: Wenn auf eine Ja/ Nein-Frage (z. B. gehst du heute einkaufen? ) mit Ja geantwortet wird, kann gleichzeitig Nein nicht gelten und umgekehrt. Ja heisst in diesem Zusammenhang auch (Einkaufen gehen trifft zu) und ist eine Affirmation des Äusserungsgehalts. Komplementär dazu wird mit Nein das Nicht-Zutreffen des Gehalts stillschweigend negiert und dieser damit ausgeschlossen. Das binäre Prinzip wird klassisch auch durch Wortpaare wie Tag-Nacht realisiert. Wie in den anderen Fällen von Binarität kann gleichzeitig nur eine der beiden Alternativen gelten, während die andere dadurch ausgeschlossen wird. Eine Opposition kann implizit gegeben sein, aber auch durch Konjunktionen sequentiell explizit gemacht werden, z. B. stark oder schwach (z. B. Kaffee), heute statt morgen etc. Während bei Oppositionen häufig beide Wörter eines assoziierten Paars tatsächlich geäussert werden, wird durch die An- oder Abwesenheit bestimmte Morpheme Binarität ausschliessend realisiert, e. g. bei höflich - unhöflich durch die Vorsilbe un-. Zuletzt möchte ich auf die (meta)sprachlich realisierte Binarität in (literarischen) Texten hinweisen. Ein Beispiel für Binarität in Prosa ist das Dostojewski Zitat (siehe oben). Ein anderes findet sich in der Beschreibung, die der Reverend über einen seiner Bekannten abgibt: “ . . . Er hört nicht auf die Bedeutung der Wörter, wie es andere tun. Er wägt höchstens ab, ob sie feindselig sind bzw. wie sehr. Er wägt ab, ob sie ihn bedrohen oder treffen und er reagiert entsprechend . . . ” (Robinson 2016: 109) In diesem Textausschnitt klingt, neben der nur teilweise verbalisierten Opposition (feindselig vs freundlich; bedrohlich vs wohlgesinnt), auch die mit Binarität verknüpfte Emotionalisierung an. Es wird überdies insinuiert, dass sich jene, die so funktionieren wie der Beschriebene, auf einer primitiven Stufe des binär-ausschliessenden bedeutens halten, Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 369 während höher entwickelte Individuen Zugang zur umfänglich-einschliessenden Bedeutung der Wörter haben. Darauf wird in Zusammenhang mit Ironie und anderen komplexen sprachlichen Phänomenen sowie beim Ausloten der möglichen Grenzen der Anwendbarkeit der Theorie zurückzukommen sein. 6 Das Prinzip der Binarität als Heuristik 6.1 Anwendung auf Fragen und Assertionen Die binäre semantische Organisation ist, wie gezeigt, bei Ja-Nein-Fragen leicht erkennbar. Weniger klar zu bestimmen und nirgends genau beschrieben ist jedoch, was eine erwartete Antwort auf eine beliebige Assertion oder eine Wh-Frage (Wer? Wie? Wer? Warum? etc.) ausmacht. Ganz grundsätzlich muss man bei dieser Frage ergründen, ob und welche Rolle Binarität bei der Bestimmung der Kohärenz zwischen aufeinander folgenden Äusserungen spielt. Anders gesagt geht es darum festzustellen, ob es eine systematische Möglichkeit zur binären Identifikation angemessener-kohärenter in Abhebung zu unangemessenen-inkohärenten Abfolgen gibt. Ein solches heuristisches Vorgehen kann anhand diverserAustauchsequenzen dargestellt werden. Einer der für sie geltenden Standards ist das sogenannte “ adjacency pair ” , 2 mit dem die angemessene Abfolge von Äusserungspaaren allerdings recht zieloffen beschrieben wird. Gäbe es eine Methode, mit der konkrete Repliken auf Fragen binär als angemessen oder nicht angemessen und damit als nicht-erwartet bzw. nicht-kohärent erkannt werden könnten, wäre eine dem Prinzip der Binarität entsprechende Heuristik gefunden. Eine solche Methode kann auf Äusserungspaare in Dialogen zwischen Arzt und Patient angewendet werden. 3 Es werden alle jene Fragen fiktiv formuliert, auf welche die aktuell beobachtete Replik angemessen wäre. Stimmt die aktuelle Frage mit keiner der rekonstruierten überein, gilt die Antwort als unerwartete oder unangemessen oder inkohärent. Ein Beispiel dafür ist die bereits bekannte Passage (03). (03) A1 was würden Sie denn machen, wenn jemand käme und würd sagen: Herr X, jetzt hab ich genug von dem Qualm (der Pfeife)? P nein, das sagt keiner A2 (lacht) was würden Sie denn machen? (Käsermann 1983: 132 - 147) Bei solchen Rekonstruktionen kann sich manchmal, wie in (03), ergeben, dass komplexe Fragen vom Angesprochenen als einfachere J/ N-Fragen behandelt (z. B. Sagt jemand / keiner, er habe genug von dem Qualm? ) und entsprechend beantwortet werden. Dies könnte man als Sog-Wirkung der Binarität (oder als Regression auf eine binär verarbeitbare Information) betrachten. 2 Sacks & Schegloff 1974: 696 - 735 3 Käsermann 1986: 111 - 126 370 Marie-Louise Käsermann (Bern) 6.2 Anwendung auf das Phänomene des Schweigens Als Standards des Sprecherrollenwechsels kann man auf bereits formulierte Prinzipien wie das eben beschriebene Frage-Antwort-Paar zurückgreifen. Andere Abweichungen von Standards des reibungslosen Sprecherrollenwechsels sind z. B. Dreinreden, unüblich gesetzte Hörersignal, Unterbrechungen oder Schweigen bzw. Reden an der dafür nicht vorgesehenen Stelle. Die beiden letzteren stellen besonders interessante Abweichung dar, da sie ganz klar in einem binären Verhältnis zueinander stehen: Es handelt sich um das Schweigen, das anstelle des erwarteten Sprechens auftritt, oder um das nicht-erwartete Sprechen anstelle des geforderten (Sag jetzt bitte nichts) Schweigens. Im folgenden Beispiel (06) tritt ein Schweigen auf, das mit Bezug auf den binär definierten Standard eine unerwartete Abweichung vom erwarteten Reden darstellt. Die beobachtete T2-Reaktion behandelt die abwesende Äusserung als ob sie (unausgesprochen) vorhanden wäre. (06) T1 so what do you t hink of X? P (silence) T2 fine sure yeah I agree thats a good point you have made) (Käsermann 1998: CD) Eindeutig um Themenwechsel nach dem Schweigen seines Partners und nicht etwa um Fortführungen geht es in (07) von P1 nach P2 sowie von P2 nach P3. Die Nicht-Übernahme der Sprecherrolle durch A anstelle der binär zu erwartenden Übernahme scheint P als sein alleiniges Versagen zu begreifen, A mit seinen Anliegen anzusprechen. 4 Er erkennt die binäre Komplementarität zwischen erwarteter Übernahme und nicht-erwarteter Nicht- Übernahme nicht oder weiss sich trotz gegebener Erkenntnis nicht zu helfen; so unterlässt er es z. B. die Regelverletzung durch As Schweigen zu thematisieren (z. B. Sie sagen nichts) und von A regelkonformes Verhalten (z. B. Was meinen Sie, ist der Grund für mein Befinden? ) einzufordern. (07) P1 . . . aber mich beissts am Rücken Herr Doktor mich beissts am Rücken A1 (*2.17) P2 die Situation ist so ich würde heute gern baden gehen A2 (*1.28) mm (*2.07) P3 ich glaube, wir können [das Tonbandgerät] abstellen A3 mm P4 nein, wir können schon laufen lassen aber es ist so 4 A seinerseits deutet die Wechsel, die er selber ja auch zu verantworten hat, fatalerweise auschliesslich als Sprunghaftigkeit und Inkohärenz von P. Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 371 es ist mir ein wenig zuwider wenn das Zeug alles auf Tonband kommt A4 (*1.25) mm (*1.77) warum? (Schlatter & Käsermann 1991: 88 - 97) Was mit den vorangehenden Beispielen demonstriert werden kann, ist die Produktivität der heuristischen Anwendung des Prinzips der Binarität (z. B. erwartetes Reden/ Schweigen vs nicht-erwartetes Schweigen/ Reden). Es ist auf diesem Hintergrund nicht notwendig, für jeden Ausschnitt eine einzige Interpretation zu finden; vielmehr können verschiedene Hypothesen weiterverfolgt werden. 7 Binarität bei Sprichworten, Ironie und anderen komplexen sprachlichen Phänomenen Die binäre Logik des bedeutens mag für den linguistischen Kenner recht simpel wirken: Die Vorstellung von zwei aufeinander bezogene, sich aber gegenseitig ausschliessenden Komponenten hält er vielleicht für gerade ausreichend, um zu verstehen, wie ostensives bedeuten z. B. im Falle der evivä funktioniert. Es scheint ihm jedoch nicht möglich, die Bedeutung von Referenten wie z.B Freiheit, auf die ostensiv nicht hingewiesen werden kann, binär-ausschliessend zu erfassen. Obwohl diese Zweifel vielleicht berechtigt sind, will ich hier doch versuchen, die binäre Logik auf komplexere Vorgänge des bedeutens (z.B Sprichwörtern, Ironie, Metaphern) anzuwenden. 7.1 Binarität in Sprichwörtern Sprichwörter “ sind traditionell-volkstümliche Aussagen . . . die zumeist eine Lebenserfahrung darstellen ” . 5 Mit dieser umfassend-einschliessenden Definition ist zunächst nur festgehalten, dass solche sprachlichen Formen nicht einfache Referenten haben, auf die mit einer Handbewegung direkt hingewiesen werden könnte, oder die durch einzelne Wörter zu lexikalisieren wären. Um zu zeigen, inwiefern sie trotzdem etwas mit Binarität zu tun haben könnten, ziehe ich einige Beispiele heran. In manchen Sprichworten wird Binarität explizit eingesetzt, um die mit der Äusserung gemachte Unterscheidung aufzulösen: Wenns (schon) nicht nützt, schadets auch nichts. Das komplementäre Verhältnis von Nutzen und Schaden, die sich gegenseitig ausschliessen und nicht gleichzeitig gelten können, fällt in sich zusammen, sobald eines der Komplemente nicht mehr gilt. Damit das Sprichwort in diesem Sinn, also sozusagen mit aufgehobener Binarität funktioniert, bedarf es nicht der umfassend-einschliessenden Bestimmung von Nutzen und Schaden; es reicht, wenn der Benützer oder der Rezipient der Äusserung eine vage Ahnung davon hat, dass Nutzen im Verhältnis zu Schaden binär etwas Positives in Abhebung oder in Gegensatz zu etwas Negativem meint. In anderen Sprichworten bleibt die Binarität implizit, das Sprichwort macht jedoch nur Sinn, wenn für die expliziten Teile ein binäres Komplement gefunden oder gedacht wird: 5 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Sprichwort [20. 2. 2017] 372 Marie-Louise Käsermann (Bern) Neue Besen kehren gut versteht sich aus der Kombination der binär-ausschliessenden Gegenüberstellung von neu vs alt und gut vs schlecht, wobei letzteres eine alternative Art darstellt, Positves und Negatives voneinander abzuheben. Natürlich ist noch nichts gewonnen, wenn man aufgrund dieser Äusserung nur etwas über tatsächliche Besen lernt. Um den Sinn des Sprichworts zu erfassen, bedarf es denn auch noch einer weiteren, binär-ausschliessenden Unterscheidung zwischen wörtlicher und bildlicher Lesart. Diese Binarität beruht ihrerseits auf der Opposition der situativen oder kontextuellen Wahrscheinlichkeit vs Unwahrscheinlichkeit, dass von einem echten Besen die wörtliche Rede ist. Die Binarität in Sprichwörtern basiert nicht immer auf impliziten oder expliziten Oppositionen wie gut vs böse oder alt vs neu, sondern darauf, dass zwei Begriffe einander in einem bestimmten Kontext gegenübergestellt werden: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. In diesem Fall wirkt mehrfach binär, dass Spatz und Taube nicht das Gleich sind, dass sie nicht denselben Wert haben und dass etwas nicht so wertvolles zu besitzen besser (positiver vs negativer) ist als etwas wertvolleres nicht zu besitzen. Dieses Beispiel, in dem mehrere Gegensätze ineinander verwoben sind, zeigt, dass nicht nur klassische Gegenüberstellungen, sondern auch Steigerungsformen im geeigneten, d. h. hier: im wörtlich unwahrscheinlichen, also im tatsächlich Tauben- und Spatzen-freien Kontext, binär-ausschliessend wirken. 7.2 Binarität bei Ironie Bei ironischen Äusserungen geht es aus der Perspektive der Binarität darum, dass das (wörtlich) Gesagte im Gegensatz zu dem von ihm binär Ausgeschlossenen sich selber (im übertragenen Sinn) als nicht-gemeint ausschliesst und damit dem Nicht-Gesagte zur Geltung verhilft: Das ist eine schöne Bescherung kontrastiert implizit schön mit hässlich und kombiniert dazu eine gegenläufige Opposition: wenn standardgemäss und im Sinne einer positiven Korrelation das Gesagte dem Gemeinten entspricht und das Nicht-Gesagte damit binär als Nicht-Gemeintes ausgeschlossen ist, kehrt die Ironie das Verhältnis in eine negative Korrelation, in der das Gesagte dem binär nicht-Gemeinten und vice versa entspricht. Wie ein Rezipient diese Umkehrung bewerkstelligt, wird oft mit seiner Kenntnis von Ironiezeichen oder seiner Empfänglichkeit für metasprachliche Hinweise (das war jetzt ironisch gemeint) erklärt. Aber mit dem einen oder anderen etwas anfangen zu können, setzt bei Rezipienten voraus, dass er im Prinzip schon weiss, was Ironie ist und/ oder ihrAuftreten unter bestimmten Umständen auch erwartet. Diese Erwartung könnte sich für ihn aus der Erfahrung einer binären Interpretations-Unsicherheit ergeben: Hat er das wirklich/ wörtlich gemeint (vs nicht-gemeint) bzw. Das kann er wahrscheinlich oder sogar sicher nicht gemeint (vs gemeint) haben. Die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit, die Geltung von etwas Gesagtem zu erkennen, ergibt sich aus dessen Verhältnis zur konkreten Situation. Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Gesagtes ohne weitere Hinweise als ironische Äusserung verstanden wird, ist dadurch gegeben, dass die (Un-)Wahrscheinlichkeit der wörtlich gegebene Binarität im aktuellen Kontext oder im bestehenden Erwartungsraum erkennbar ist. Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 373 7.3 Metaphorik und Binarität Bei der Metapher spielt die Binarität eine hintergründige Rolle. Die explizite Komplexität der Vielfalt unterschiedlicher Metapherntheorien und -taxonomien, 6 auf die ich hier nicht eingehen kann, verdeckt eine simple Grundlage: Um eine Form, Äusserung als Metapher zu verstehen, muss man erfassen, dass ein nicht-gemeintes Bild für die gemeinte, aber u. U. schwer zu bezeichnete Sache steht. Die binär-ausschliessende Opposition besteht zwischen dem unmöglichen uneigentlichen bildlich Anschaulichen, das für das mögliche eigentliche begrifflich komplex Abstrakte steht. Von jemandem zu sagen oder zu hören, dass er eine Mimose sei, erfordert - neben einer beliebig vagen Ahnung davon, was eine Mimose ist - in Rechnung zu stellen, dass er im wörtlichen Sinn zwar keine Blume ist, aber so wie eine wirkt. Auch im Es lächelt der See, er ladet zum Bade (Fischerknabe, Friedrich von Schiller 1803) ist es dem See selbstredend unmöglich zu lächeln - es fehlen ihm dazu Mund und Augen - und er lädt auch nicht ein. Das ist jedem klar, der schon einen See gesehen oder von einem gehört hat; also muss, - wenn man davon ausgeht, dass der Sprecher etwas sagen will und nicht einfach Unsinn äussert - damit etwas anderes gemeint sein. Wie beim Rezipienten die Übertragung vom nichtzutreffenden Bild auf die zutreffenden Sache zustande kommt, ist mithilfe der gängigen strukturellen Beschreibung der unterschiedlichen Tropen nicht zu erfassen. Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Hörer im konkreten Kontext mit einer überraschenden, nicht-erwarteten, unwahrscheinlich zutreffenden Äusserung konfrontiert ist, die ihn, auf Basis der Sinnkonstanz, dazu anregt, das zutreffende binäre Komplement zu finden. 8 Entwicklungsverläufe im Licht der Binarität Nach allem bisher Angeführten scheint es mir extrem unwahrscheinlich, dass es sich beim Prinzip der Binarität, insbesondere als semantische Grundlage von meinen und verstehen, lediglich um eine von mir ausgedachte logische Konstruktion handelt. Wie schon weiter oben angetönt, kann man Binarität sogar als phylo- und ontogenetisches Agens betrachten, das zunächst keine im engeren Sinn semantische Funktion hat: Phylogenetisch von zentraler Bedeutung sind die binären Entscheidung zwischen Freund und Feind sowie Angriff oder Flucht. 7 Ontogenetische Wurzel der Binarität ist die Diskrimination zwischen Wohl- und Unwohlsein oder Lust und Unlust, 8 die das Leben von Kleinkindern ordnet und ihnen als Grundlage dafür dient, die darauf folgenden Rückmeldungen von Bezugspersonen zunehmend verfeinert zu unterscheiden. Die emotionsgesteuerte Dichotomisierung des kindlichen Erlebens kann als frühe Grundlage bzw. als Vorgänger der binären Funktionsweise psychologischer und dann auch semantischer Prozesse betrachtet werden. Erst 6 siehe etwa: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Metapher, [20. 2. 2017] 7 Cannon Walter 1915 8 z. B. “ . . . Das Gefühl der Lust oder Unlust ist mit zwei verschiedenen Bereichen verknüpft: zum einen mit dem des Angenehmen und Unangenehmen, zum anderen mit dem des Schönen und Hässlichen. Ersterer erstreckt sich auf die Gegenstände, die mit dem Interesse an ihrem tatsächlichen Vorhandensein verbunden sind, Letzterer auf die, die dem interesselosen Wohlgefallen geöffnet sind. Ein Gegenstand kann also als angenehm beurteilt werden (etwa eine leckere Speise), was mit dem Gefühl der Lust einhergeht, oder als unangenehm (etwa bittere Medizin), was mit dem Gefühl der Unlust verbunden ist. . . . ” Dr. Andreas Preussner: Online- Wörterbuch Philosophie: Das Philosophielexikon im Internet. Wikipedia [3. 3. 2017]. 374 Marie-Louise Käsermann (Bern) allmählich schiebt sich zwischen diese sich gegenseitig ausschliessenden Zuständen die Möglichkeit des distanzierteren Weder-Noch, das die Neugier am noch Unentschiedenen weckt. In weiteren Entwicklungsschritten gesellt sich das Sowohl-als-auch als Mischung eigentlich binärer Zustände dazu, bei denen die sich gegenseitig ausschliessenden Komplemente in verwirrlicher Gleichzeitigkeit auftreten und im Zuge des Erfassens allmählich in ihre Anteile zerlegt werden können. Einiges spricht dafür, dass in der Entwicklung von Föten und Kleinkindern - insbesondere der kommunikativen von meinen und verstehen - Binarität eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Dies zeigen Beispiele, die auf die Entstehung der binären Organisation von Verhalten und Lautäusserungen hinweisen. 9 Ganz grundlegend schon ab der 22. Schwangerschaftswoche erfahrbar ist für den Fötus der binär ausschliessende Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität (143). Es folgen die binären Erfahrungen von Saugen und Pausieren (143), von An- und Abschalten einer visuellen Stimulation (z. B. durch Augenöffnen und -schliessen, durch Kopfzuwenden und - abwenden: 144). Diese und andere konkrete Kontraste sind Beispiele für die Komplementarität zwischen eigenerAktivität und Passivität (145). Die grundlegend wichtige Komplementarität von Präsenz und Absenz und die Binarität von zeitlichem Vorher und Nachher erkennt das Kind allmählich am Erscheinen und Verschwinden von Gegenständen und Menschen (145); Abwesendes ist manchmal anwesend (146) und schon präverbale Lautäusserungen, auch wenn sie nicht einmal annähernd konventionellen Formen entsprechen, eignen sich als Zeichen, diesen Wechsel zu beschreiben (verbalisiert z. B. mithilfe von: läär, allgone, no more vs more oder ihn zu kontrollieren: I want vs I do not want that (151). Neben passives Erfahren tritt also auch aktives Tun (149), bei dem Kinder Dinge annehmen oder zurückweisen (146), diese zu sich herholen oder wieder entfernen (148), und sie auftauchen oder wieder verschwinden lassen (145). Einen Bereich zwischen Phylo- und Ontogenese, den man mit K. Foppa (2011) als kulturevolutionär betrachten könnte, adressiert Freud (1910) mit dem Beitrag “ Über den Gegensinn der Urworte ” . Er zitiert darin ausgiebig die gleichnamige Schrift Carl Abels (1884), in welcher der Sprachforscher anhand des frühen Ägyptisch belegt, dass damals Wörter eine doppelte Bedeutung hatten, die einen Gegensatz, z. B. hell - dunkel in sich vereinten und beides meinen konnten. In späteren Entwicklungsstufen begannen sich die Oppositionen herauszuschälen und in zwei Wortformen auszudrücken. Auch andere Mechanismen der Binarisierung in indogermanischen und arabischen Sprachen werden zitiert. Für Freud von Interesse ist zwar nicht das, was hier Prinzip der Binarität genannt wird. Doch lässt sich von seinem Anliegen, dass nämlich der Traum mit Oppositionen nicht logisch verfährt, sondern etwas Gemeintes oft in Form seines Gegensatzes abbildet, eine Brücke zur oben geäusserten Vermutung schlagen, dass Kinder und Schizophrene wenig Unerwartetes erleben und daher logisch binär zu Unterscheidendes für sie zunächst auswechselbar ist. 9 alle folgenden Beispiele aus Käsermann 2005: 142 - 56 Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 375 9 Praktische Anwendungen des Prinzips der Binarität Verschlüsselungstechniken und deren maschinelle Implementation basieren auf dem Prinzip der Binarität, wie es von Alan M. Turing der Entwicklung des Computers zugrunde gelegt wurde. 10 Bei der realen Entschlüsselung von Botschaften geht es über eine beliebige Anzahl von Transformationsschritten letztlich grundlegend darum, die Geltung eines Symbols / Buchstabens von allen anderen möglichen zu unterscheiden und gleichzeitig letztere als nicht-geltend auszuschliessen. Aus Einheiten der binären Repräsentation einzelner Zeichen und deren serieller Verkettung wird die Botschaft konstruiert. Die Komplexität dieser Vorgänge, wie sie etwa durch eine Enigma verkörpert ist, sollte über die einfache logische Grundlage nicht hinwegtäuschen. Vorgänger dieser Technologie ist das Morsen, das sich der auf drei Ebenen verschachtelten Binarität bedient (reden/ Symbol vs schweigen/ Pause, Pause: kurz vs lang; Pause lang: mittellang vs sehr lang). 11 Eine Anwendung des Prinzips der Binarität findet sich im Umgang mit dem “ locked-in- Syndrom ” . Dies ist ein Zustand, in dem ein Mensch zwar “ bei vollem Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen “ . 12 Wie bei den beschriebenen Verschlüsselungs-Techniken basieren die Verfahren zur kommunikativen Kontaktaufnahme im Prinzip auf der Implementation der Opposition von Ja und Nein. Diese kann vom Patienten durch eine noch erkennbare Reaktion binär angezeigt werden. Möglich wird dies durch z. B. durch Zwinkern, on-off- Bewegungen derAugen, die aufgrund von Abmachungen als Ja oder Nein kodiert sind, oder anhand von Pupillenerweiterungen. Eine Demonstration des Vorgehens zeigt die Verfilmung der gleichnamigen Biografie “ Schmetterling und Taucherglocke ” 13 eines “ locked-in ” -Patienten. 10 Mögliche Grenzen der Anwendbarkeit der Theorie Einer Antwort auf die bereits oben gestellte Frage, ob das Prinzip der Binarität lediglich eine logische Konstruktion oder darüber hinaus auch ein Mechanismus ist, der psychologische Realität hat, können spontan auftretenden Binaritäten zeigen (z. B. / alt vs jung/ in der Frage “ ist sie jünger als ich? ” ). 10.1 Binarität und Semantik Dringender als die Demonstration der Alltags-Anwendbarkeit des Prinzips der Binarität ist wohl, dessen Stellenwert für allgemeinere Themen der Semantik zu prüfen. Ich wähle zwei Typen von Fragen: 1) Welche Rolle spielt Binarität beim meinen und verstehen von Sätzen, und 2) in welchem Verhältnis steht Binarität zur sogenannt konnotativen in Abhebung zur denotativen Bedeutung. 10 Hochhuth Rolf (2015) Alan Turing. Erweiterte Neuausgabe. 11 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Morsezeichen [2. 3. 2017] 12 https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Locked-in-Syndrom [22. 11. 2016] 13 Originaltitel: Le scaphandre et le papillon) ist eine französische Filmbiografie aus dem Jahr 2007 von Regisseur Julian Schnabel. Das Drehbuch schrieb Ronald Harwood nach dem gleichnamigen, autobiografischen Roman von Jean-Dominique Bauby. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schmetterling_und_Taucherglocke, 26. 11. 2018 376 Marie-Louise Käsermann (Bern) Klassischerweise konstituiert sich die Bedeutung von Sätzen durch ein Zusammenspiel semantischer, syntaktischer und phonetischer Information in Bezug auf eine bestimmte, pragmatisch umschriebene Gesprächsumgebung (Sprecher- und Adressateneigenschaften, sprachlicher Kontext, konkrete Situation etc.). Wie könnte dieser durchaus komplexe Vorgang mit dem einfachen Prinzip der Binarität erfasst werden bzw. welche seinerAspekte werden durch dieses Prinzip überhaupt berührt? Über Phoneme sage ich nichts weiter, da ihre dichotome Organisation seit Jacobson weithin akzeptiert ist. Auch für die Binarität syntaktischer Information gibt es genügend Beispiele, etwa die Opposition zischen Passiv- und Aktivkonstruktionen. Wie es sich in einer konkreten Äusserung verhält, ist weiter oben anhand der Beispiele ((03), rumhängen und (05), gern haben) andiskutiert worden. Die meisten Äusserungen, die nicht aus solchen Nicht-Verstehens-Sequenzen stammen, weisen wohl selten solch explizite Binaritäten auf. Doch ist es, so scheint mir, immer möglich, für alle Inhaltswörter und auch bestimmte syntaktische Strukturen implizite Binaritäten zu finden und deren sequentielles oder hierarchisches Zusammenspiel zu rekonstruieren. Was für Sätze gilt, kann auch auf Mehrsatz-Gebilde, also Texte, ausgeweitet werden, wobei bei diesen zu erwarten ist, dass die Struktur des Ensembles der geltenden Binaritäten komplexer wird. Die zweite, oben formulierte Frage betrifft die Anwendbarkeit des Prinzips der Binarität auf die konnotative Bedeutung. Traditionell gilt die denotative Bedeutung als sachlich, referentiell definierte Hauptbedeutung, während die Konnotation das Mitschwingende, Atmosphärische, Wertende oder auch Affektive meint. Mit Denotation befasst sich alles Vorangehende. Eine Möglichkeit, darüberhinaus die konnotative Bedeutung zu erfassen, ist mit dem semantischen Differential gegeben. 14 Es bestimmt mit Hilfe von Gegensatzpaaren den skalierten Wert von drei Dimensionen: Die der Valenz (angenehm - unangenehm), der Potenz (stark - schwach) und derAktivierung (aktiv - passiv). Die affektive Bedeutung wird also auf der Basis von drei binären Entscheidungen als Ausprägung der Komplemente bestimmt. Zweifellos gibt es andere Methoden (z. B. psychophysiologische) der Bestimmung der Affektivität. Das semantische Differential bedient sich jedoch der Binarität, um die es in der vorliegenden Schrift geht. 10.2 Die dunkle Seite der Binarität Binarität macht das Wesen der Diskrimination aus: in dieser sind zwei sachliche einander entsprechende Komponenten, die sich gegenseitig ausschliessen, wertfrei voneinander unterschieden und gleichzeitig aufeinander bezogen. In welchem Verhältnis steht diese Struktur zur kriterialen Unterscheidung durch Diskriminierung, in der die Komponenten nicht mehr als gleichgewichtig gelten, sondern eine als relativ minderwertig betrachtet wird? Wird Binarität dadurch zum Wurzel von Übeln wie Fremdenhass oder Frauenfeindlichkeit (C. F. Graumann und M. Wintermantel, 1989)? Es scheint, dass bei der wertenden Diskriminierung im Gegensatz zur wertfreien Diskrimination nicht eine, sondern zwei Arten von Binarität einander durchdringen; dies ist einerseits ein realer oder zumindest kategorial unbestrittener sachlicher Unterschied (z. B. Inländer - Ausländer) und andererseits eine moralisch wertende Unterschei- 14 Osgood, Suci & Tannenbaum 1956 Binarität als semantische Grundlage von Meinen und Verstehen im Alltag 377 dung zwischen “ negativ - positiv ” , “ gut - nicht gut / schlecht ” , “ minderwertig - vollwertig ” , “ rückständig - modern ” etc., wie sie übrigens im Semantischen Differential durch die Valenz- oder Wertedimension eingeführt ist und in der frühkindlichen emotionalen Unterscheidung von “ angenehm - unangenehm ” wurzelt. Vorurteile und Fanatismus, die damit verbunden sind, sind allerdings nicht dem Prinzip der Binarität geschuldet. Sie sind vielmehr bedingt durch starres Festhalten an unkritischem Denken und Intoleranz anstelle des Bemühens um eine flexible wert- und vorurteilsfreie nuancierte Betrachtung. Es ist also nicht die binäre Unterscheidung zwischen negativ und positiv oder unangenehm und angenehm, die an sich gefährlich oder perniziös wäre, da es durchaus Sachverhalte gibt, die in der gegebenen Situation oder auch dauerhafter unangenehm oder negativ wirken. Vielmehr ist es die fehlende Reflexion dessen, was zum moralisch verdammenden Urteil und zum daran Festhalten führt. 10.3 Zusammenfassung und Schluss Traditionelle Semantiktheorien und interessegeleitete Interpretationen bedienen sich einer umfassend-einschliessend definierten Bedeutung und versäumen es zu zeigen, was Formen nicht bedeuten. Diesen Mangel habe ich versucht, mit dem Konzept des binär-ausschliessenden meinen und verstehen anhand von Sequenzen des kommunikativen Austauschs in Alltagssituationen zu beheben. Wesentliche Bestandteile dieses Konzepts betreffen das natürlicheVermögen, mit Formen zwischen Gemeintem und Nicht-Gemeinten zu diskriminieren. Diese Leistung wird in Dialogen durch Nicht-Verstehen aktiviert und durch kommunikative Standards sowie die Erwartung von Sinn gesteuert. Obwohl der Mechanismus geradezu primitiv anmutet, ist doch darauf hinzuweisen, dass im Tempo natürlicher Gespräche für komplexere linguistische Ableitungen und Analysen die Zeit fehlt und folglich etwas Einfacheres zum Einsatz kommen muss, will man nicht in ohnmächtiges Schweigen versinken. Eine Realisierung des binären Prinzips findet sich in diversen Sprachstrukturen (z. B. Oppositionen). Es kann darüber hinaus als Heuristik zur Analyse von Passagen verwendet werden, die, wie z. B. Schweigepassagen, auf den ersten Blick nicht explizit binär strukturiert zu sein scheinen. Auch nicht-wörtlich gemeinte sprachliche Phänomene wie Sprichwörter, ironische Äusserungen und Metaphern enthalten einen binären Kern. Binär strukturiertes Denken findet sich überdies in diversen literarischen Erzeugnissen. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Binarität sowohl in der Phyloals auch der Ontogenese eine Rolle spielt; beideTypen von Entwicklung scheinen, wie das Beispiel der altägyptischen Sprache zeigt, ausserdem durch binäre kulturevolutionäre Bande verknüpft zu sein. Die Entwicklungen und Anwendungen in Bereichen der Funk- und Computertechnik, in denen das binären Prinzip direkt als Code implementiert ist, bildet auch die logische Basis des Zugangs zu schwer kommunikationsbehinderten Patienten nach Schlaganfällen oder bei einem locked-in Syndrom. Die Pervertierung des binären Prinzips (bzw. eines Rückfalls auf die oben von Abel [1884] beschriebene Vor-Binarität) wie etwa in “ . . . Es ist schon etwas Schönes, die Vernichtung von Wörtern. . . . Ich meine da nicht bloss die Synonyme, sondern auch die Antonyme. Welche Existenzberechtigung hat den schon ein Wort, das nur das Gegenteil eines anderen ist. Ein Wort beinhaltet zugleich immer auch sein Gegenteil. Nehmen 378 Marie-Louise Käsermann (Bern) wir zum Beispiel mal ” gut “ . Wozu braucht man dann noch ein Wort wie “ schlecht ” ? “ Ungut ” tut ’ s doch genauso - besser noch, denn es ist das exakte Gegenteil . . . (kursiv: MLK). Orwell 1984: 55 f ) sollten eine reflektierte Perspektive auf die Produktivität des binären Strukturierens nicht verhindern. Literatur Abel, Carl 1884: Über den Gegensinn der Urworte, Leipzig: Wilhelm Friedrich Amstutz, Beatrice 1979: Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit, Institut für Psychologie Bern Bierwisch, Manfred 1983: “ Psychologische Aspekte der Semantik natürlicher Sprachen ” , in: Wolfgang Motsch & Dieter Vieweger (eds.) 1983: Richtungen der modernen Semantikforschung, Berlin: Akademie, 15 - 64 Cannon, Walter B. 1915/ 1975: Wut, Hunger, Angst und Schmerz: eine Physiologie der Emotionen, ed. Thure v. Uexküll, übers. v. 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