Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2017
403-4
Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse
121
2017
Götz Wienold
kod403-40381
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse Götz Wienold (Tokyo) Kannon, a Buddha of mercy portrayed in woman-like features, has been present in Japan for centuries. Traditionally the merciful “ goddess ” particularly is associated with helping women who desire children. After the pacific war Kannon ’ s mercy is turned to the hundreds of thousands of war dead. Huge, entirely white statues of Kannon were erected in great number, mostly in open space outside of temples. We approach these by first, however, visiting a temple dedicated to kamikaze pilots and consider its structure as an argument (in the sense of Peirce) with closure; inscription, narrative and ritual each play a part in this. The free standing immensely big statues in contrast, then, lack this closure; statue and narrative are separated. They stand in relative contiguity only, their relationship lacking signification. 1 Der Kannon-Tempel von Setagaya: Ort und Arrangement Ein japanischer buddhistischer Tempel (o-tera) ist nicht schlicht ein Gebäude, er ist ein eingegrenzter Bezirk mit mehreren Bauten, von Bäumen umgeben, durchsetzt mit weiterem Pflanzenwuchs, behauenen Steinen, buddhistischen Bildwerken wie Steinlaternen oder Stupas und Statuen, hinzu treten Texte als Inschriften, machmal sogar aufgeschriebene Erzählungen. Bäume, pflanzliches Wachstum überhaupt, gehören zum buddhistischen Tempelbezirk. Griechische oder römische Tempel, Synagogen, Moscheen, christliche Kirchen aller Konfessionen sind Bauten und im allgemeinen nur das, wenn man auch gelegentlich zum Beispiel eine Kapelle in einem Hain finden wird. Wachstum als Beiwerk ist aber nicht erfordert, damit etwas ein derartiger Tempel, eine Synagoge, eine Moschee oder eine Kirche ist. Weiter: besondere Einzelelemente und Texte findet man an oder in Synagogen, Moscheen, christlichen Kirchen und Tempeln der Griechen und Römer, an oder in den beiden letzteren Bauwerken auch Statuen wie andere Bildwerke, für den buddhistischen Tempelbezirk in Japan, aber auch in Korea und China ist dagegen charakteristisch, dass solche Einzelelemente in ihm separat verteilt sind. Das gilt genau so für Shinto-Schreine in Japan 1 und, soweit ich sehe, auch für konfuzianische und taoistische 1 S. den Plan eines typischen Shinto-Schreins in Havens / Nobutaka 2004: xiii. Tempel-Anlagen in Ostasien. 2 Vor allem hebe ich hervor: den grünen Wuchs. So ist es nicht erstaunlich, dass sich in ausgedehnteren buddhistischen Tempelanlagen Japans die berühmten japanischen Gärten befinden. 3 Zahlreiche japanische Tempelanlagen liegen auf Bergen, im Wald. Die eigentlichen Tempel-Bauten sind aus Holz, häufig durch die Witterung dunkel geworden, wenn sie nicht angestrichen oder neu errichtet sind, Holz als ihr Baumaterial stimmt gut zu ihrer Einbettung in Baum, Strauch und Gras. 4 Es ist, wie man bald sehen wird, nicht so, dass es keine Steine und nichts Steinernes in solchen Tempelanlagen gibt, nur: die Bauten sind, wie alle traditionelle japanische Architektur, nicht aus Stein. In Peirces semiotischer Terminologie bilden solche Tempel-Anlagen jeweils ein Argument, einen Zusammenschluss von Zeichen, der für sich besteht; er wird als ein abgeschlossener Zusammenhang von Zeichen sowohl aufgenommen (erlebt, verstanden), als auch, wenn erwünscht, in Gebrauch genommen für Betrachtung, Gebet, Verehrung, Gedenken, diese je nachdem mit spezifischen Handlungen (Ritualen, Zeremonien). Ich nenne hier solche Zusammenschlüsse von Zeichen, die zum großen Teil Objekte sind, Arrangements; der Begriff zielt auf die Art und Weise und die Ordnung, wie die Objekte (Zeichenelemente) in der Anlage verteilt und einander zugeordnet sind. 5 Nennen wir mit Peirce ein Einzelelement, das für sich bestehen kann, Rhema, eine für sich erfassbare und beurteilbare Verbindung von Einzelelementen Dizent und die Zusammenbindung von Dizenten Argument 6 , in der jetzigen Darstellung Arrangement. Peirces Termini sind erkennbar geläufigeren für sprachliche Zeichen nachgebildet, Wort (im Sinne von Lexem), Satz und Text. Als solche bereiten sie der Beschreibung einer zeichenhaft verstandenen Objektwelt, wie es Gärten oder Tempel-Bezirke sind, gewisse Schwierigkeiten, weil deren Klassifizierung weniger eingeübt ist als die schon umgangssprachlich akzeptierte Einteilung von sprachlichen Zeichen und man nicht davon ausgehen darf, die von einer Konzeption von Sprache ausgehende Klassifikation von Zeichen nach ihrem Interpretantenbezug ohne weiteres auf Verhältnisse einer nichtsprachlichen Objektwelt übertragen zu dürfen. Eine Buddha-Statue ist gegliedert in zahlreiche Teile, sollen wir sie noch als Einzelelement (Rhema) oder bereits als Dizenten betrachten, ihre Aufstellung in der Lotusblume auf einem Sockel in einem Teich, wie sie gleich beschrieben werden wird, bereits als Argument? Ich will die jetzige Darstellung nicht mit einer längeren Erörterung solcher Fragen belasten. Ich denke, Dizenten können in einem größeren Zusammenhang herabgstuft werden zur Funktion als Rhema, Argumente zu Dizenten oder, in anderer möglicher Auffassung eine Aneinanderreihung von Argumenten als Argumentbildung höherer Stufe. In diesem Sinne führe ich in der folgenden Beschreibung Einzelelemente an, Verbindungen von solchen und beschreibe ihren Zusammenschluss zu einem unabhän- 2 Ich beschränke mich auf das, was ich in Ostasien kennengelernt habe und verzichte auf stärkere Verallgemeinerungen, für einen thailändischen Wat, ebenfalls ein Tempelbezirk, gilt das Gesagte jedenfalls nicht. Ein bemerkenswerter Ort ist der Tempel der Baha ’ i in Haifa (Israel). Dieser liegt in einer reich und kunstvoll ausgestalteten Gartenanlage, die Anklänge an ein Paradies aufrufen soll. Vgl. Buck 1999. 3 Zu den buddhistischen Gärten in Japan vgl. Wienold, 2015: 17 ff., 173 ff. 4 Holz vs. Stein als Baumaterial mag man parallel zu der Opposition Anlage inmitten von Pflanzenwachstum vs. Gebäude sehen. Es würde zu weit führen, das hier ausarbeiten zu wollen. 5 Zum Begriff des Arrangements vgl., Wienold 2015: 7 - 11, 22 - 25, 75 - 78 und öfter. 6 Vgl. dazu z. B. Walther 1979: 73 ff. 382 Götz Wienold (Tokyo) gigen Ganzen. In Stille und Bewegung habe ich beispielhaft Einzelelemente (Rhemata) von Gärten, Bäume usw., und Verbindungen von solchen, etwa Bäume auf Inseln in einem Teich (Dizenten) und ihren Zusammenschluss zum Arrangement eines Gartens beschrieben (Wienold 2015: 25 ff.). Gehen wir in den Tempel der Kannon im Stadtbezirk Setagaya von Tokyo und lernen ein solches Arrangement kennen. Wir betreten die Anlage durch ein mächtiges Tor aus Holz, vor dem rechts wie links Kiefern wachsen, ein erster Dizent. Ein wuchtiger Oberbau über uns, ein steiniger Weg leitet von ihm geradeaus zu einem wesentlich grazileren Tempelbau, links schräg nach hinten gesetzt ein ihm kleinerer weiterer beigegeben. Diese betretend kann der Gläubige vor Bildnissen und Symbolen beten oder sich versenken. Durch das Tor getreten, hat man aber zunächst rechts vom Weg ein Gebäude mit schlankem Aufbau, auf dem Dach ein Phönix, Wohnung für den Geistlichen, links gegenüber eine Pagode für den als Feuergott bezeichneten Fudoomyoooo, ‘ der unbewegliche (fudoo) König (oo) des Lichts (myoo) ’ 7 , sein Schwert schneidet durch alle Täuschungen, eine Verkörperung des Buddha, die hilft, Abwehr gegen die buddhistische Lehre aufzulösen. Eine kleine Statue zeigt ihn als eine an einem Stab sich hoch windende Drachenfigur mit einem menschlich wirkenden Kopf, eine eher ungewöhnliche Darstellung des Fudoomyoooo (s. Kyotokokuritsuhakubutsukan 1981: Abb. 186, 188). Diese beiden Bauten bilden in ihrer Umgebung wiederum Dizenten. Dunkel stehen hinter ihnen wie allen weiteren Bauten dichte Laubbäume und Kiefern mit in langen Büscheln gehaltenen, seidig glänzenden wie kraftvoll sich aufstellenden Nadeln. 8 Einzig aufhellend zur rechten Jahreszeit eine Trauerkirsche; ins Lila abtäuschend hängen weiße Blüten, ein Schleier von Zweigen, bebend in jedem Luftzug. Im Hochsommer blüht in weißen Dolden ein hoher Affenrutschbaum, sarusuberi, so genannt der glatten Stämme wegen. Vor diesen kommt man bereits an einen Teich, in seiner Mitte auf einem achteckigen Sockel das Bronzebild eines aufgeblühten achtblättrigen Lotus. Lotus wächst aus dem Schlamm unter dem Wasser. Im Teich steht, die Blüte dieses Lotus, ein weiblicher, gekrönter Buddha, Kannon, die Göttin der Barmherzigkeit, sie ist aus dem Lotus geboren; denn die Lotusblume ist Symbol des weiblichen Geschlechtsteils. Ihre Linke hält die Figur nach oben, deren Inneres dem Betrachter unter den sich neigenden Verehrern, nachdem er Weihrauch geopfert hat, offen entgegen, die rechte gestreckt nach unten, erst Hand und Finger im halben Knick vor und ein wenig nach außen. Bronzen, in Grünspan eingefroren. Der erhobene rechte Arm, die Hand zum Betrachter geöffnet ist eine Segensgeste “ seid furchtlos! ” ; die Buddhafigur ist stets frontal zugewendet, sitzend im Lotussitz zeigt sie den Buddha in der Meditation, stehend wie hier (und bei allen später in diesem Aufsatz beschriebenen Buddha-Figuren) seine Zuwendung zum lebenden Menschen (Snellgrove 1974, 24 ff.; Baumer 2014, 60 ff.). Die Statue wirkt, wenn auch etwas größer als ein Mensch, unter den hohen Bäumen eher klein, 7 Japanische Ausdrücke und Namen werden hier, um dem Japanischen als Morensprache gerecht zu werden, in einer modifizierten Hepburnumschrift wiedergegeben, insbesondere erscheinen anderwo mit einem Querstrich oder Zirkumflex angegebene Vokale als Doppelvokale außer in bei uns eingebürgerten Schreibungen von Namen und Begriffen. 8 Solche Kiefern gehören zu den besonderen Züchtungen der japanischen Gartenkultur. In der japanischen Malerei gehört ihnen ein besonderer Platz. In einer traditionellen Klassifikation (choo - chiku - bai ‘ Kiefer - Bambus - Pflaume ’ ) steht die Kiefer an oberster Stelle. Vgl. Wienold 2015: 25 ff., 44 f., 143 ff. und passim. Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse 383 zierlich. Eine Tafel belehrt, sie sei die Yumechigai-Kannon, die Kannon, die Träume (yume) wandelt (chigai), schlechte in gute. Ein Stück weiter eine Stupa, eine steinerne abstrakte Figur, eine Reihe von viereckigen Platten übereinander angeordnet mit Abständen zwischen ihnen. Eine Stupa war ursprünglich ein Reliquienbeziehungsweise ein Grabhügel für den verschiedenen Buddha. Die Stupa bildete in ihren Anfängen das in Falten über die Leiche gelegte letzte Gewand nach, darauf gehen die übereinander angeordneten Platten zurück. Reliquien des Buddha waren indes reine Nichtigkeiten genau wie die vom Toten überbliebene Leiche. Die Stupa ging durch viele Wandlungen bis zu einer abstrakten Figur. In Absenz eines Bildes, wie zunächst im Buddhismus üblich, stellte eine Stupa unbildhaft den in die nicht mehr umkehrbare Erleuchtung Gegangenen, der das Rad der Wiedergeburten ein für allemal hinter sich gelassen hatte, dar (Snellgrove 1974: 57, 61, 67, 81). 9 Neben dem die Gestalt eines Menschen nachbildenden Zeichen für den Buddha die aus dem Bild des übereinander gefalteten Gewands abstrahierte Figur. Fudoomyoooo, Täuschung auflösend, die Erzählung vom überfließenden Mitleid der Kannon, ikonisch gebildet, und Stupa, verdichtetes Symbol der Abgeschiedenheit des Erleuchteten: drei Schritte, auf dem eigenen Weg des Besuchers. Schließlich als letzte der gesondert aufzuführenden, für sich gestellten Elemente des Kannontempels von Setagaya drei Tafeln, eine rechts, die beiden anderen links und weiter zurück, in relativem Dunkel liegend. Die Tafeln erinnern an Kamikaze-Flieger des pazifischen Krieges, zum Teil mit besonderen Erzählungen von Trupps von solchen. Vor den Erinnernungsmalen, die an deren Schicksal erinnern, können Besucher Weihrauch opfern wie vor der Kannon-Statue, die schlechte in gute Träume wandelt, auf dem geöffneten Lotus im Teich. Der Tempel von Setagaya ist der Kannon in Erinnerung an Kamikaze-Flieger gewidmet. Am Beginn des Besuchs des Kannon-Tempels das massige Tor. Den Weg durch die Mitte des Tempelbezirks zu Ende gegangen, ist man seiner Widmung an die Kamikaze-Flieger gewärtig geworden. Das Tor 10 markiert den Übergang vom ständigen Leben der Alltagswelt der umliegenden Wohnbezirke in eine, in derAlltagsleben nicht statt hat und in der man sich nur für begrenzte Dauer aufhält. 11 Durch das Tor gegangen, den Übergang vollzogen, sind innerhalb der betretenen Anlage alle Objekte im wesentlichen nicht Objekte des alltäglichen Gebrauchs. Man kann generell Objekte ihrer Gestaltung wie ihrem Gebrauch nach als Zeichen analysieren, auch wenn das dem Alltagsverständnis nicht naheliegen mag, Objekte, die nicht der Alltagswelt zugehören, werden vonvornherein zumindest auch als Zeichen wahrgenommen und verarbeitet. Das gilt, ob man die hier geschaffene besondere Welt primär ästhetisch oder ob man sie als Ort der Andacht, der Verehrung, des Vollzugs eines Glaubens ansieht. 12 9 Der Stupa in der Symbolik vergleichbar Bilder von zwei Fußsohlen als Symbol des für immer weggegangenen Buddhas. S. z. B. die Abbildungen in Mori 1988: 87, 88. 10 Architektursemiotiker haben Tore und Eingänge in Gebäude als Orte, durch die man mit dem Eintreten eine Art Ritual vollzieht, beschrieben, z. B.; Graves 1983, vgl. auch Wienold 2015: 74 f. 11 Arrangements, die einen Übergang von öffentlichem zu halböffentlichem Leben, zum Beispiel zum Lernen und Forschen in einer Universität oder zur Administration eines Stadtbezirks dienen, sind in Wienold 2015: 60 ff. analysiert worden. 12 Ein Thema, das in diesem Aufsatz nicht weiter verfolgt wird, vgl. dazu z. B. Krochmalnik 1999. 384 Götz Wienold (Tokyo) Die in der Beschreibung hervorgehobenen Einzelelemente gehören alle zu den besonderen, vonvornherein zeichenhaft aufgenommenen Objekten. Sprechen wir beispielhaft ein weiteres besonders an. Sowohl vor der Statue der Kannon als auch vor den zwei Tafeln, auf denen Geschicke zweier Truppen von Kamikaze-Fliegern erzählt werden, befinden sich Geräte, in denen man zur Verehrung in Brand gesetzten Weihrauch ablegen kann. Diese Geräte haben die Gestalt von Lauben (jap. azuma), wie sie vielfach in Parkanlagen zum Ausruhen bereit stehen, freilich Lauben en miniature, als Ikone von Lauben sofort erkennbar, doch für den Gebrauch als solche selbstverständlich nicht geeignet, damit Symbol geworden, Symbol für die Ruhe der Weggegangenen. 13 Weihrauch opfert man in Japan bei Bestattungsriten wie bei Gedenkriten für Verstorbene (hotoke) 14 , der verbrennende Rauch Zeichen einer aus dem Leben weggegangenen Existenz. Hier greifen Zeichen, die wahrgenommen, und Zeichen, die rituell gebraucht werden, ineinander. Vom Haupttor 15 aus gesehen und wie im Durchgang erfahren hat die Anlage die Gestalt eines Rechtecks in Längsrichtung. Mitten hindurch führt, wie bereits erwähnt, ein Weg vor die Tempelbauten und zu den Tafeln, so ergibt sich eine Teilung in rechts und links. Rechts die Wohnung des Geistlichen mit dem Phönix auf dem Dach und die Tafel, die von der Bedeutung der Kamikaze für das fortbestehende heutige Japan spricht, Zeichen des gegenwärtigen Lebens, links Fudoomyoooo-Pagode, die Kannon der Barmherzigkeit im Teich und die Stupa, die beiden letzteren als Zeichen des für immer gegangenen Buddha, die Trauerkirsche und die beiden Tafeln von den Geschicken umgekommener Fliegertrupps, die Seite des Todes, besser noch: des Gestorbenseins. Solche eine Rechts-Links-Teilung kann als Projektion eines menschlichen Körpers auf eine Anlage verstanden werden, das Tor gewissermaßen als Füße, die Tafeln als Kopf des Arrangements. 16 Gar die Statue der Kannons etwas oberhalb der Mitte gleich links vom Weg als Herz? Es kommt nicht darauf an, die Homologie strenger auszuführen. Nur indem man den Weg durch die ganze Anlage vom Haupttor zu den Tafeln, die den Zweck der Anlage deutlich machen, geht, die Dizenten in ihrer Abfolge wie Rechts-Links-Ordnung aufnimmt, kann man das Argument erfassen, der Güte der Buddhawesen die Toten empfehlen: Die jungen Kamikaze-Flieger wurden 13 Über Ikonbildung Symbole zu schaffen, ist kein völlig seltenes Verfahren der Zeichenbildung in japanischen Arrangements. Stämme von Zaubernussbäumen werden so dicht gestellt, oder eine Gruppe von drei Kirschbäumen mit nah beieinander gepflanzten Stämmen werden so zurecht geschnitten, daß die Kronen, einen geöffneten Fächer nachbildend, weit auseinandergehen, in Blüte wie der obere Teil eines bemalten Fächers, die Stämme wie seine Stäbe. Ein geöffneter Fächer (suehiro , wörtlich: ‘ Ende weit ’ ) steht symbolisch für ein langes, erfülltes Leben. Oder (vgl. Wienold 2015: 94 mit Abbildungen) Gittern, die Trottoirs gegen Straßen abgrenzen, werden Nachbildungen von Bäumen oder - sehr abstrahierend - Hecken aufgeprägt und so zu Symbolen der Abgrenzung. 14 “ . . . burning incense as a meal for hotoke is an act that separates the dead from the living. ” (Kawano 2005: 50) 15 Es gibt einen Nebenzugang auf, vom Haupttor aus gesehen, der rechten Seite. Unter Bäumen durchgehend gelangt man vor die Buddhastatue. 16 Rechts-Links-Teilungen von Arrangements kann man häufig finden, z. B. in vielen Arrangements des Innenraums (des Hauptschiffes) einer christlichen Kirche. Rechts-Links-Teilung in Homologie zum menschlichen Körper auch in lebenden Arrangements bei Zeremonien: Auf einem überdachten Podest stellten sich zum Tag der Unabhängigkeit Weißrusslands am 3. 7. 2018 in Minsk auf: in der Mitte der vordersten Reihe Präsident Lukaschenko in militärischer Uniform als “ Kopf ” eine Ansprache haltend, ihm zur rechten Hand eine Kolonne militärischer Ränge in Dreierreihen, links solche ziviler als “ Arme ” (oder “ Körperhälften ” ). Rossiya Odin ( ‘ Russland 1 ’ ), Vesti v dvatsat ‘ ( ’ 20 Uhr-Nachrichten ’ ). Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse 385 seinerzeit den Kirschblüten (sakura) verglichen, die nach kurzer Blüte fallen und vergehen (Ohnuki-Tierny 2002). Die Trauerkirsche (shidarezakura) neben der Statue der Kannon “ spricht ” den Tod der jungen Leute aus. 17 2 Kannon und Tafeln für Kamikaze-Flieger im Tempel von Setagaya: Inschrift, Erzählung, Ritual Buddhismus in Japan heißt immer Mahayana-Buddhismus, Buddhismus des “ großen Fahrzeugs ” , der lehrt, alle Menschen könnten zur Erleuchtung finden, die sie aus dem Kreislauf der Wiedergeburt, aus dem Zwang der Rückkehr in neues Leid und neue Schuld löst. Kannon ist der Name einer buddhistischen Göttin, Göttin der Barmherzigkeit, Göttin, so stellt sich im bereits angezeigten Kontext heraus, der Barmherzigkeit nach dem Tod. ‘ Göttin ’ lädt wieder, wie wenn man sich “ Tempel ” lesend, einen griechischen oder römischen Tempel vorstellen wollte, leicht zu Missverständnissen ein. ‘ Göttin ’ einmal gesagt, kann man auch formulieren: Erscheinungsform des Buddha in weiblicher Gestalt. Wie alles Buddhistische vom Festland, über Korea oder direkt aus China, ist auch die Kannon von dort, in ihrem Fall aus China, nach Japan gekommen. Der Buddha, wenn als menschenhafte Figur, wird meist männlich gezeigt, eine besondere Abbildung hat aber bereits in China, dort Guan-yin genannt, weibliche Züge angenommen und ist so nach Japan gelangt (Klimkeit 2000: 263 f., Pauly 2003, Ree 1992, Yü 1994). Erscheinungsform heißt idelle oder bildhafte Vergegenwärtigung, heißt Darstellung in der Vorstellung und als gemalte oder plastisch geformte Figur. Erst einige Zeit nach dem historischen Buddha tritt dieser in buddhistisch geprägten Ländern in vielen Formen der Erscheinung zeichenhaft auf. Eine der bekanntesten ist - mit japanischem Namen - der Amida Buddha. Mitfühlend mit der Not der Menschen, bleibt er, statt in Abgeschiedenheit, ihnen zugewandt. Was man ‘ Göttin ’ oder ‘ Gott ’ nennen möchte, ist im Buddhismus vergänglich wie alles, eine Erscheinung, nur eine Erscheinung, läßt sich auch sagen, für Augen und Gemüter von Menschen. “ Götter ” stehen auf einer tieferen Stufe als die auf den höchsten Stufen stehenden, vom Rad der Wiedergeburt für immer befreiten Erleuchteten (Keown, 1996: 32 ff.). Buddhismus ist, auch wenn von einer Göttin oder einem Gott die Rede ist, eine atheistische Religion. Der Buddha war und ist kein Gott. Der Name Kannon sagt: “ die die Laute wahrnimmt ” , alternativ Kanzeon: “ die die Laute dieser Welt wahrnimmt ” , verdeutlichend in unsere Sprache gebracht: “ die die Schreie der Lebenden hört ” . Unter den Erzählungen von einer sich erbarmenden Buddhagottheit diese: Avalokite ś vara (die indische Entsprechung, allerdings eine (noch) männlich gedachte, der Kannon) habe in Mitleid für die leidenden Menschen einen ganzen Teich erweint, aus diesem sei ein blauer Lotus erwachsen (Fowler 2016: 257). 18 In Objekte gebildet erscheint diese Erzählung im Lotusteich des Kannontempels von Setagaya als Kannon, die die Träume verwandelt. 17 In japanischen Determinativkomposita wird in der Regel ein stimmloser Anlaut des determinierten Gliedes stimmhaft hier also das s von sakura zu z. 18 Der Name Avalokite ś vara wird vielfältig gedeutet, Neville 1998: 11 ff., Klimkeit 2000: 259: “ der Herr, der herabsieht ” , d. h. “ auf das Leid aller Wesen ” . 386 Götz Wienold (Tokyo) Schwere Träume, Schreie an diesem auch in hellem Sonnenschein zu sanftem Dunkel bereiten Ort. Schwere Geschichten werden hier in der Tat erzählt, Geschichten vom harten, bitteren Tod, vom Grauen des Krieges, der kein Ende hat als den Tod derer, die ihn kämpfen, die in ihn geschickt werden. Die Geschichten binden die Gefühle derer, die sie heute aufnehmen, an die Toten von damals. Drei Tafeln rechts und links der Tempelchen unter abdunkelnden, die grellen Erzählungen dämpfenden Bäumen. So stoßen wir auf Schrift und Erzählung. Schrift in Gestalt von Inschriften stellt oft in japanischen Arrangements wichtige Bestandteile (Wienold 2015: 65 ff.). Eine besondere Klasse solcher Arrangements bilden Steine mit Gedichten als zentrales Element (Wienold 2015: 101 ff., 107 ff.). 19 Das Arrangement des Kannon-Tempels ist weitaus komplexer als diese. Die Tafeln für Kamikaze-Flieger im Tempel von Setagaya sind weniger hervorgehoben als die Steine mit Gedichten. Zunächst treten die Statue, die Stupa, die Trauerkirsche in die Augen. Am Kopf der Anlage sind die kleinen Tempelbauten das, was die Augen auf sich zieht. Erst zu ihnen gelangt, findet man rechts wie links zu den aufgeschriebenen Erzählungen. Wie schon angedeutet, gibt es neben den aufgeschriebenen Erzählungen in Objekte verwandelte: die von den Tränen der Kannon, die einen Teich erweint haben, die vom Tod in der Blüte der Jugend, wie Kirschblüten fallen. Die aufgeschriebenen sind spezielle, die Besucher des Tempels hier erfahren oder an die sie hier erinnert werden, die in Objekte verwandelten Erzählungen bringen sie als Japaner und Buddhisten mit. 20 Auch allgemeine Erzählungen von Kamikaze tragen Besucher wahrscheinlich in sich. Offiziell hießen diese Soldaten Tokubetsukoogekitai, verdeutscht ‘ Spezialangriffstruppe ’ , abgekürzt Tokkootai. Die Soldaten der Tokkootai setzten ihren eigenen Körper im Angriff auf den Feind als Waffe ein und töteten sich dabei selbst, als Flieger, der sich mit dem Flugzeug auf ein feindliches, d. h. meist US-amerikanisches Schiff stürzte, als Torpedo unter Wasser ein Schiff rammte oder als Granatenträger gegen einen Panzer rannte. Die Panzer waren am geographischen und zeitlichen Ende des Kriegs, zu dem die letzte der drei Geschichten gehört, sowjetische. Sie setzten ihren eigenen Körper ein, zu sagen, dies lädt auch zu Missverständnis ein, nämlich dem, daß sie es freiwillig taten. In den meisten Fällen wurden sie bedrängt, so starkem psychischen Druck ausgesetzt, daß sie sich nicht dagegen wehren konnten, “ eingesetzt ” zu werden. Sie erhielten, wenn darüber auch sehr wenig geschrieben wird, vor dem Einsatz Metamphetamine, “ Hiropon ” wurde die Droge genannt (Adelstein 2016). Was offiziell dagegen ins Bild gesetzt wurde und auch noch wird, war, dass sie vom Einsatzleiter einen Becher Sake kredenzt bekamen, und dann willig, gar begeistert und “ entschlossen ” - dieses Wort der Heideggerschen Philosophie darf man gebrauchen - losflogen, um in den meisten Fällen nicht zurückzukehren. Wie die Flieger unter Drogen waren, so die Öffentlichkeit betrogen über die Wahrheit. Kam einer zurück, weil er kein lohnendes Einsatzziel gefunden hatte oder weil er vor der Tat zurückgeschreckt war, wurde er oft beschimpft. 19 Ähnlich bilde Denkmäler in der Regel das zentrale Element eines Arrangements. Einige Denkmäler sind in dieser Weise in Wienold 2001 analysiert. 20 Auch in buddhistischen Gärten findet man in eine Darstellung durch Objekte verwandelte Texte wieder (Wienold 2015: 56 f.). Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse 387 Die erste Tafel, japanisch und englisch, berichtet preisend, das Heroische hochhaltend, allgemein von den in lebende Waffen verwandelten, zur Selbsttötung befohlenen japanischen Soldaten. Wenig war freiwillig, davon wird nicht gesprochen. Verzweiflungsaufgebot, betört, zum Opfer des eigenen Lebens bereit zu sein, Selbstmörder mit dem harten Wort, das wir dafür haben. 21 Wie in rechten politischen Proklamationen bis heute in Japan Preis auf Preis für furchtlose, junge Männer perpetuiert: Entgegen allen sonstigen historischen Darstellungen, die die Einsätze der Tokkootai nach einigen Vorbereitungen im Herbst 1944, anfangen lassen, 22 erringen sie ab Beginn des hier der “ Große Ostasiatische ” genannten Krieges, das heißt wohl ab Pearl Harbor, ohne Aussicht auf Überleben als “ lebende Geschosse ” “ außerordentliche militärische Erfolge ” . 6 000 seien es gewesen, sie hätten die ganze Nation in Tränen getränkt. Es gibt zahlreiche Berichte von Umgekommenen wie Überlebenden, die, hineingelistet in diese Truppen, mit Abscheu vor dem Krieg und gezwungen die Angriffe ausführten (Hattori 1996; Lamont-Brown 1999; Scherer 2001; Ohnuki-Tierney 2002, 2006). Die aufstörende und in öffentlichen Reden rechter Politiker bis heute wiederholte Behauptung, daß die Taten der zur Selbsttötung Bereiten den Grund ewig währenden Friedens und gedeihlicher Entwicklung des Landes Japan bis heute gelegt habe. Gleichzeitig - wie doppeldeutig widersprüchlich - sollen Taten und Geist Japaner auf Generationen inspirieren. Diese Tafel gehört in unserer Analyse zur Seite des weiter gehenden Lebens, der rechten. Die besonderen, nur japanisch verfaßten Geschichten auf der linken berichten von Toden. Bevor man zur zweiten Tafel gelangt, ein großer, dunkler, nach oben spitz zulaufender Stein, wie man ihn nicht selten als Träger von Inschriften findet, dieser dem “ Frieden der Welt ” gewidmet. 23 Später werden uns solche Inschriften erneut begegnen. Die zweite Tafel bildet den Block mit den Namen von Toten, wie sie ein japanischer Grabstein angibt, jedoch hier ein Kenotaph, leer, ohne jeden menschlichen Rest. Drei Kuben übereinander: Auf einem schlichten bemoosten Steinsockel ein etwas kleinerer in grau gesprenkeltem Stein, vorne links und rechts je ein metallener Becher und eine Rinne, für Blumen und andere Gaben, wie man sie auf Friedhöfen an Gräbern ablegt, auf diesem ein dritter weißlicher Kubus, er trägt vorn eine schwarze Tafel mit weiß eingraviertem Text. Darüber ein sich nach oben verdickender, abgerundeter Stein, in ihn eingelassen: Tensantai no hi “ Gedenkstein für die Tensan-Truppe ” . Die Truppe, sagt der Text auf dem weißlichen Kubus, war eine von jungen Fliegern, die am 6. April 1945 von einer Basis in Kushira in der Präfektur Kagoshima in Richtung der Ryuukyuuinseln aufflogen. Sie stießen hinunter auf einen Verband fünf feindlicher Schiffe, unter ihnen zwei Flugzeugträger, Tod zu bringen: großer Erfolg, und sie töteten dabei sich selbst. Es folgen die Bezeichnungen der Truppeneinheiten, 25 Namen und ihre Dienstgrade. Vor dem Kenotaph eine Schale mit der an eine chinesische Laube erinnernden Überdachung. Gedenkende können hier Weihrauch anzünden. Die dritte Tafel. Auch hier wird an Selbstopfer erinnert, tatsächlich eineVerzweiflungstat. Wieder eine glatt polierte schwarze Steintafel mit weiß eingraviertem Text. Noch eine 21 Zur Selbsttötung in der Geschichte Japans Pinguet 1991. 22 Lamont-Brown 1999, 121: 21. 10. 44, Emiko Ohnuki-Tierney 2002, 159: 20. 10. 44 23 Nach oben mehr oder weniger spitz zulaufende, meist aus Pflanzen hervorragende Steine findet man nicht selten in japanischen Anlagen, vgl. Wienold 2015: 89 f. mit Abb. 25, und auch als Träger von Gedichten (ebd. 120 f., 124 f.). 388 Götz Wienold (Tokyo) Truppe der Tokkootai, im in der Mandschurei errichteten japanischen Marionettenstaat Manshuukoku (chin. Manshuguo) stationiert, noch bei Kriegsende, von dem sie am 15. August erfuhren, dort. Eine Einheit von zehn, angeführt von Leutnant Imada Hitoshi. Leben lohne sich nicht für sie in einer zerstörten Heimat, “ einem Land ohne Berge und Flüsse ” , anspielend auf die traditionelle Redeweise: auch geschlagen hat unser Land noch Berge und Flüsse. Dem Feind Sowjetunion wolle man nicht die wertvollen Waffen ausliefern. Ein Kundschafter hatte im Flug ihre heranrückenden Panzer erspäht. So machten sie sich, sie gehörten zum Trupp 16675, der Bericht ist genau, am Nachmittag des 19. August, zwei Uhr Ortszeit, von einem “ Großer Drachenberg ” genanten Flugfeld auf, jeder der zehn in seinem Flieger, flog den Panzern entgegen, sich auf sie zu stürzen. Was daraus wurde, davon kein Wort. Leutnant Tanifuji flog in seinem mit einer besonderen Fracht, seiner ihm erst vor ganz kurzem angetrauten Frau. 24 Die Inschrift führt die zehn Männer mit Namen auf, die Frau nicht mit ihrem. Zur Überschrift dient: Shinshuufumetsutokubetsukoogekitai no hi, “ Gedenkstein für die unvergängliche Spezialangriffstruppe des heiligen Reiches ” . Als Shinshuu ‘ heiliges Reich ’ , wörtlicher ‘ Reich der Götter ’ , bezeichnete das offizielle Japan damals sich selbst, und die, die lange nach dem Krieg die Tafel aufstellten, nannten es noch immer so. Wie vor der Statue und dem Kenotaph kann man auch vor der Tafel vom Tod der in der Mandschurei stationierten Tokkootai-Soldaten in einer miniaturisierten Laube Weihrauch opfern. Zu Inschrift und Erzählung tritt also als drittes das Ritual. Trotz recht vieler Besuche an diesem Ort habe ich immer nur einzelne je für sich Weihrauch darbringen gesehen. Mitgebrachte Rauchstäbe werden in Brand gesetzt, abgelegt, man schlägt die Hände zusammen, verbeugt sich und bleibt still eine Weile in der Verbeugung. Ob dazu eine innere Rede und innere Rede welcher Art stattfindet, wäre nur durch eine Befragung und auch dann nur annähernd zu elizitieren. 25 Rituale sind nach vorgegebenen, erlernten Mustern vollzogene Handlungen. 26 Wenn sie in einer Gruppe ausgeführt werden, gehört zu ihnen meist ebenso eingeübte verlautbarte Rede. Die Ausübung solch vorgeformter oder musterhaft vorgeprägter Rede stellt einen besonderen Typ der Sprachverwendung dar. In einer größeren Zahl von Arbeiten habe ich bisher sechs Typen der Sprachverwendung unterschieden; in der linguistischen Pragmatik behandelt man meist allein die Konversation, daneben, schon etwas seltener das Erzählen, ich setze dazu als weitere Typen Rezitation, Inschrift, Lehren und Lernen im Fremdsprachenunterricht und Selbstgespräch (Wienold 1996). Die Typen unterscheiden sich, ob und welche Beziehungen zu anderen Sprachteilnehmern ihnen zu Grunde liegen, damit in der Zweckbestimmung und der Interpretation der verwendeten Sprache, damit welche “ Kraft ” die geäußerte Sprache hat, weiter in der Textbildung und auch im Vorkommen 24 Zum Krieg der Sowjetunion gegen Japan und zur Eroberung der Mandschurei Glantz 2003 a, 2003 b. 25 Kazuko Tsurumi berichtet, daß während des pazifischen Krieges japanische Mütter in der Präfektur Iwate jede für sich und ohne voneinander zu wissen zu einem Fluss gingen, dort Kieselsteine aufhoben, sie wuschen, den Göttern anboten und für ihre Söhne im Krieg beteten. Erst 1961 fanden sie in einer Diskussionsgruppe heraus, dass sie dieses Ritual miteinander geteilt hatten (Tsurumi 1970: 258 f.). 26 Die Literatur zu Ritualen ist sehr umfangreich. Ich verweise hier nur auf Turner 1982, McDowell 1983, Kawano 2005, Franko 2007, Michaels 2010. Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse 389 einzelner sprachlicher Eigenschaften (Wienold 1996: 64). 27 Dazu stelle ich hier als eigenen siebten Typ Rede in Ritualen oder Zeremonien. In Eigenschaften der Sprachverwendung unterscheidet sich Rede in Ritual und Zeremonie nicht grundlegend, wohl wird oft eine Zeremonie als mit weniger Verpflichtung des die Rede Äußernden verstanden. 28 Keine Rede geschieht ohne Einbettung in Situation und Handlung, doch in Zeremonie und Ritual ist sie immer in andere Handlungen eingebunden, die ihren Zweck und ihre Interpretation bestimmen. Beim Ritual des Weihrauchopfers vor der Statue der Kannon und den Tafeln zum Gedenken an tote Tokkootai-Soldaten ist, wenn nur innere Rede einzelner stattfindet, selbst diese vermutlich wenigstens dem Inhalt nach vorgeprägt, wenn nicht mehr oder weniger wortwörtlich vorgefertigt. Und schon die Form der Sprache in den Erzählungen der Tafeln hat in der Überschrift ein für japanische Gedenkinschriften vorgeprägtes, immer wieder zu findendes Element .. no hi ‘ Gedenkstein (hi) an . . . ’ So geht in gewisser Weise schon der Text der Tafeln in die Rede des Rituals des Weihrauchopfers ein. Die Klage vom Leid ist ja seltsam still, geschieht nur in Schrift und Stein, als gehörte sie, gelesen aufgenommen, beinahe schon innerer Rede an. Eine letzte Bemerkung: Rituale und Zeremonien sind an einen Ort gebunden und haben erst dadurch Kraft. So geben das Arrangement des Kannon-Tempels von Setagaya und der Platz mit dem Gerät für das Weihrauchopfer den Grund vor, den Ritus auszuüben. 3 Frei stehende Statuen der Kannon und der pazifische Krieg Kannon, die Göttin der Barmherzigkeit, die auch schwere Träume in glückliche wandelt, - in Setagaya barmherzig erst den in sinnlosem Selbstopfer Toten, wenn alles geschehen ist. Das ist Kannon nicht immer gewesen. Im zehnten Jahrhundert bereits soll dieVerehrung der Kannon aus China gekommen sein, wo sie Kuan-yin oder Guan-yin heißt, deren über Jahrhunderte entstandene Statuen sind in Tempeln aufgestellt. Wie bereits erwähnt, hat Kannon wohl zuerst in China weibliche Gestalt angenommen, sie erscheint auch dort bereits weiß gekleidet und wird von Kinderlosen um Hilfe angefleht, dass sie Kinder gebären oder zeugen (Yü 1994: 169 ff.). Häufig wandten sich Frauen an die Göttin, Frauen, die sich ein Kind wünschten, Frauen, die ein Kind erwarteten. Viele Legenden erzählen, wie Kannon oder Kuan-Yin vom Tode oder gar aus der (budhhistischen) Hölle retten. Avalokite ś vara findet sich in männlicher Bildung bereits im Hooryuuji bei Nara, in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts datiert (Snellgrove 1974: 242; Neville 1998: 84). Nach dem zweiten Weltkrieg, dem Krieg Japans gegen China und die USA, dem weit in den südlichen Pazifik und über ganz Südostasien bis nach Indien (Swinson 2016) ausgreifenden Krieg, wurden neue Kannon-Statuen errichtet, unabhängig von einem Tempel, oft auf erhöhtem Ort, frei stehende, überlebensgroße, weithin sichtbare Riesenplastiken. Viele sind gänzlich weiß, die Ryoozen-Kannon in Kyoto matt ockerfarben. Japan, vom Krieg, den es selbst in allem Unheil über sich gebracht hat, schwer getroffen, scheint 27 Kraft, wie die Sprechakttheorie von illokutiver “ Kraft ” spricht. Entsprechend Wienold 1995: 54 ff. zur “ Kraft ” von Inschriften. 28 Krochmalnik 1998 stellt dar, wie Moses Mendelssohn, als er über jüdische geheiligte Handlungen mit dem Terminus ‘ Zeremonien ’ schrieb, der Vorwurf gemacht wurde, er habe sie damit herabgesetzt. 390 Götz Wienold (Tokyo) sich der Verehrung der Göttin der Barmherzigkeit in besonderer Weise geöffnet zu haben. Orte der Ruhe, Orte stiller Verehrung im ganz Offenen, Orte, in denen Grauen sich aufgestaut hat und darin verbirgt. Orte in Weiß. Die heutigen gelten dem Tod, dem Tod durch die Gewalt des Krieges. 29 Oofuna, geräuschvolle Kleinstadt im Bann der Großmetropole Tokyo - Kawasaki - Yokohama. Von Tokyo mit dem Zug kommend, hat man bereits aus dem Fenster eine mächtige Figur gesehen. Ausgestiegen und nach Osten gewendet, muss man sich aus dem Gedränge der Stadt hinauszwängen, um von begrünten Kuppen, die nicht mehr Stadt sind, einen Blick auf sie zu erhaschen; verlässt man den Bahnhof nach Westen, so steht man sogleich vor einem plötzlich aus dem Flachen hochgestülpten Huckel, auf ihm in einen dunklen Kranz von Bäumen wie sich in ihn hineinduckend ein von einer Haube bedeckter, weißer weiblicher Kopf. Die Gestalt scheint aus dem Berg empor zu wachsen, wie einst in Rom der Gott Mithras aus dem Fels wuchs, auch er ein Rettergott für die vom Tod im Krieg Getroffenen. Oben steht man vor einer weißen Büste einer Frau ohne Ausprägung einer Brust. Ihre Haube baut sich in Wellen hoch über einem bekrönten Kopf. In der Mitte der Stirne ein gelblicher Knopf, über leicht schräg nach außen aufwärts sich ziehenden, schmalen Augen schwingen sich Brauen, zu vollen Backen ein volllippiger Mund, das untere Ende der Nase um die Nasenlöcher ähnlich ausgeprägt. Dieser Kopf wird gleich einer Nonne unten von weißer, in drei Rollen gewellter, den Hals ganz zudeckender Gewandung eingeschlossen, darunter hängt ein Brustschmuck. In der Mitte der Krone eine kleine Ganzkörperstatue, linker Arm erhoben, die Handfläche Betrachtern zugewandt, der rechte hält Hand und Finger nach unten, ganz wie bei der Statue in Setagaya. Eine kleine Replik in der Stirne der großen, heißt es, zeige die Kannon an. 30 Weiblich, aber nicht mütterlich oder fraulich wirkend; nicht alternd, doch auch nicht jung, bestimmt nicht jugendlich, gar mädchenhaft; in sich gewandt, nicht Liebreiz, gar Erotik ausstrahlend. Etwa 25 Meter hoch und 19 breit, immens groß, doch die Größe erdrückt nicht. Die Büste ist auf eine altarähnliche Struktur gesetzt, man kann sie umwandeln, sich aber nicht auf mehr als etwa zehn Meter nähern. Distanz also, daß die Figur wie im Ausdruck, auch nicht durch die Aufstellung anzieht. Ein Gabentisch davor, Verehrer spenden Geld, Weihrauch, Blumen, Essbares. Einige verharren in betender Haltung. 1929 begonnen, 1934 die Arbeiten abgebrochen. In einem erläuternden Text am Ort selbst heißt es, die nötigen Materialien hätten nicht zur Verfügung gestanden, in einem Buch heißt es, das Geld habe nicht gereicht (Kinoshita 1998: 8): wie immer ausgedrückt, es handelt sich um die militaristische Showa-Zeit, in der der Buddhismus, wie es mit der Meijirestauration allmählich begonnen war, immer stärker zugunsten des zur Staatsreligion gemachten Shinto zurückgedrängt wurde (dazu Hardacre 1989). Kinoshita erwähnt, dass unter den Initianten der Phase ab 1927 auch ein “ großes Tier ” der Rechten gewesen sei, Kannon “ als 29 Von Japan und den USA aus betrachtet, wird dieser Krieg meist als “ pazifischer Krieg ” bezeichnet (Ienaga 1978; Pike 2015), Ienaga sagt m. E. zu Recht, dass er Teil des bereits 1931 begonnenen 15jährigen zweiten Kriegs Japans gegen China ist. So auch Ishida 1999: 430 f. mit weiterer Literatur. 30 Fowler 2016: 7. Der “ emanation buddha ” in einer Krone Avalokite ś varas findet sich auch sonst (Snellgrove 1974, 248). Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse 391 Beschützerin des Landes Japan ” , also durchaus hier schon nationalistisch instrumentalisiert, 31 jedenfalls wurden die Büste und die ganze Anlage erst nach dem Krieg weiter geführt und 1960 fertiggestellt. Unterhalb der Statue ein gutes Stück hügelabwärts und auf einem besonderen Wege als die Statue zu erreichen ein Tempelgebäude, der Tempel erst nach der Statue angelegt, in seiner Nähe eine Flamme. Die Flamme wird, sagt eine Tafel, in Brand gehalten zur Erinnerung an die Toten des Atombombenangriffs auf Hiroshima. Inschrift, Erzählung, Ritual, das entspricht dem Tempel in Setagaya. Doch stehen Tempel und Kannon hier in nur mittelbarer Nachbarschaft, die Tafel, die auf das Kriegsereignis Ereignis hinweist, ebenso entfernt von ihr. Es gibt keine einheitliche semiotische Argumentstruktur wie im Tempel von Setagaya, Tafel und Flamme für Hiroshima unten und die Anlage mit der Kannon-Figur und der Gelegenheit zu Opfer und Verehrung oben je Argumente für sich. Tookyoowankannon “ Kannon der Bucht von Tokyo ” . Hell breitet sich vor dem Besucher, kommt er glücklich an einem sonnigen Tag, die Szene aus. Vom Zug, bevor er zur Station Sanukimachi gelangt, bereits einige Momente zu sehen, wird die Statue zunächst vom dichten Baumwuchs des Hügels zugedeckt. Ins flache Land der Halbinsel sind viele solcher knubbelförmigen Hügelchen gestreut, immer wieder mal einer plötzlich, ohne Übergang in die Ebene. jeweils voll dunkler, dicht gedrängter Vegetation wie sie vor über hundert Jahren wohl es ganz noch bedeckte. Vom Bahnhof etwa zweieinhalb Kilometer Fahrstraße in vielen Windungen hochsteigen, dann, urplötzlich, eine hohe weiße Figur. 56 Meter hoch auf einer Plattform auf einem Hügel an der Bucht von Tokyo - eine frei stehende, weiße Statue der Kannon. In ihren Händen eine Kugel, die der Erde wohl, die linke hält sie von unten, die rechte streicht über die Kugel, die Fingerkuppen leicht nach oben, der Daumen im halben rechten Winkel hoch. Gleich wie im Kannontempel in Setagaya steht auch hier: “ Für den Frieden der Welt ” , um die Figur herum auf steinernen Tafeln sogar mehrfach wiederholt, es läßt sich nicht oft genug sagen. Strahlend weiß. Eine kronenartige Haube, die wie die Statue von Oofuna vorne in sich noch einmal ein Buddhabild trägt, das Gesicht mit vollen Wangen, lang durchgezogener Nase, deren Konturen enden in dicken Brauen. Die Lider dick über schmalen, fast geschlossenen Augen; sie sehen nicht in dieWeite hinaus, nicht auf das, was unter ihnen liegt oder vor sich geht.. Der Mund schmal, volle Lippen, Lachfalten, doch kaum ein Lächeln. Das Gesicht hält sich in sich; wie die Augen kaum auf etwas zu achten scheinen, drückt Anteilnahme sich in ihm kaum aus. Über die Ohren Streifen, die auf die Schultern hängen, über den Armen breitere Stolen, die bis unter die Füße reichen und sich nach hinten strecken. Das Kleid schlicht, mitten hängt von hinter den die Kugel haltenden Händen eine Borte hinab. Auch an diesem Bild Weibliches, Frauliches nicht hervorgehoben. Die Figur ragt, ragt weit nach oben, wer unter ihr steht, muß den Blick hoch strecken. Die meisten Besucher kommen im Auto. Kein lauter Betrieb, kein Getümmel um Verkaufsbuden, wie sie in Japan zu Tempeln in Städten und bebauten Gebieten gehören. Ja doch, ema, die um Erfolg in diesem oder jenem bittenden Täfelchen, werden auch hier aufgehängt, auch omikuji, Papierchen, die bedruckt seit langem vorbereitet, dem, der sie zieht, ein Lebenslos zuschreiben. Doch alles im Vergleich mit derarigen Gelegenheiten in 31 Zur Baugeschichte auch Masumoto 1988: 133 - 174. 392 Götz Wienold (Tokyo) der Stadt begrenzt, herabgestimmt, ohne Trubel, jedenfalls an diesem Sonntag im März. Etwas für sich eine Anlage zur Versöhnung Totgeborener oder Abgetriebener (Mizukokuyoo). 32 Die Kannon der Bucht von Tokyo ist für die Hunderttausende der Zerstörung durch USamerikanische Luftangriffe hier hergestellt worden, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem pazifischen Krieg. Kannon nach dem Tod. Ein solcher wie jener soll nicht wieder sein. Auch der Krieg, der nach Sibirien führen sollte, hier noch einmal: Eine Gedenktafel, anders als die Militärs sich den Marsch dort hinein vorgestellt hatten, für die nach dem verlorenen Krieg in China nach Sibiren in Gefangenenlager geschickten japanischen Soldaten. Diese Tafel ist separat außerhalb derAnlage der Kannonstatue aufgestellt. Jemand hat sich ganz jung noch, mit Neunzehn, freiwillig gemeldet, wie immer das in jener Zeit “ freiwillig ” war, mitgegangen jedenfalls, mitgehangen. In Erdlöchern hätten sie gelebt, erzählt ein älterer Herr, Taxifahrer, der für den die Tafel Lesenden angehalten hat. Sein Großvater sei dabei gewesen, er weist auf den Namen, eben der Neunzehnjährige. Eine private, ganz gelegentliche Erzählung und doch eine Erzählung, die ganz zu diesem Ort gehört. Hier eine Kannon-Statue ganz ohne Tempelanlage. Die Tafel, die auf Kriegsereignisse hinweist, die Erzählung(en) separat, keine zusammenhängende Argumentstruktur. Der Tod, um den es geht, ist der des Bombardements der Riesenstadt Tokyo, in der Ferne sichtbar. Wieder gibt es keine zusammenfassende Argumentstruktur, die Beziehung zwischen Kannon und zu erinnerndem Tod eigentümlich unbezeichnet. Oomori, eine lebendige Außenstadt der Metropole. Eingezwängt, getrost darf man das sagen, ein kleines Geviert mit Mauerumbauung und Zaun. Eingezwängt das Geviert zwischen einem vielgeschossigen Parkhaus, einem Theaterbau und einer Bootsrennbahn. Eingezwängt im lärmigen Geschäftsrummel Tokyos, birgt es eine bronzene Kannon, auf einem menschenhohen, achtteilig geformten, steinernen Sockel, die Statue ebenfalls eher von der Größe eines Menschen. Auf dem Sockel das Zeichen “ a ” der von der indischen Devanagari-Schrift stammenden Siddhamschrift (siddha heißt etwa “ übernatürlich wirkungsvoll ” 33 ). So erscheint in manchen Darstellungen an der Stelle eines Buddha im geöffneten Lotus dieses Zeichen “ a ” . (Snellgrove 1974: 430 ff.; Mori 1988: 232). Rechts vorne ein Reinigungsbecken, links leicht vor der Statue über einer Urne wieder eine miniaturisierte Laube. Die Rundplastik einer stehenden, mit einem langen Gewand bekleideten menschlichen Figur steht wie die von Setagaya in einer aufgegangenen Lotusblüte. Fast weiblichmännlich-gleich scheint das Gesicht, die glatten vollen Wangen um einen schmalen, volllippigen Mund, Brauen in festem, hervorstehendem Strich über offenen, eher schmalen Augen. Auf nach hinten in Locken fallendem Haar sitzt eine Krone. Weiblich-männlich oder 32 Diese gehört vor allem zum Kult einer anderen Erscheinungform des Buddha in Japan, dem Jizoo, gelegentlich erscheint dieser aber auch assoziiert mit Kannon: Hardacre 1997: 28 f., 199, 232, 234. Bei den Kannon-Statuen in Oofuna und bei der Ryoozen-Kannon in Kyoto befinden sich gleichfalls Anlagen für das Ritual des Mizukokuyoo, im Kannon-Tempel von Setagaya eine Mizuko-Kannon. Sie gelten der Besänftigung, von abgetriebenen Föten, Fehl- und Totgeburten. Hardacre 1997 hat gezeigt, daß diese Rituale sich erst einige Zeit nach dem Pazifischen Krieg ausgebreitet haben. Die neue Kannon-Verehrung und das Mizukokuyoo sind eine Verbindung eingegangen. Das zu erörtern geht über die jetzige Studie hinaus. 33 Dem entspricht der japanische Begriff shuuji ‘ Keimzeichen ’ . Kannon-Tempel und Kannon-Statuen in Japan nach dem pazifischen Krieg: Eine semiotische Analyse 393 männlich-weiblich gleich geprägt das Gesicht, doch unter einem schräg von rechts oben nach links unten bis fast an die Hüfte führenden Band Brüste. Der linke Arm am Ellenbogen nach oben geknickt, der Handteller offen zum betrachtenden Blick, Zeigefinger zu einem Ring geformt. Der rechte Arm bis leicht über der Kniegegend nach unten, hält eine Flasche aufrecht, sie scheint offen. Die Wasservase oder -flasche der Kannon, heißt es, enthalte den “ Tau des Mitleids ” (Reed 1992: 163; Pauly 2003: 78) Ein Stolenband um den linken Ellenbogen führt nach unten und wieder hoch zur rechten Hand. Um den Kopf ein Heiligenschein, wie ein Blatt sich breitend und zu einer Spitze zusammenführend. Separat außerhalb der Eingrenzung der Statue eine Tafel: Man bittet um Frieden nach dem bitteren bösen Krieg. Eine große Zahl weiterer nach dem großen Krieg errichteter Statuen der Kannon, ich nenne nur noch: in Chiran in Kyuushuu in einer Erinnerungsstätte für Kamikaze eine Heiwa-Kannon, das heißt Friedenskannon; beim Kaga-Onsen eine 73 m hohe, ein Kind in den Armen haltende bronzene Kannon (Hashizume 1998), in Kyoto eine 24 m hohe Ryoozenkannon, 1955 errichtet, um alle im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Soldaten zu beruhigen (Kinoshita 1998: 12). Auf dem Gipfel des Sangane (Präfektur Aichi) wurde für die rund 500 000 bei den Kämpfen auf den Philippinen Getöteten eine Kannon errichtet, weiß, hoch, weit sichtbar. “ Dieser in der Mitte Japans gelegene Ort sei ausgewählt worden, weil er Blick auf die Mikawa-Bucht gewähre, die dem Lingayen-Golf in den Philippinen ähnele ” (Tanaka: 407). 34 Kannonstatuen wie die beschriebenen, vor allem weit über Menschengröße hohe, weithin sichtbare, weiße, man möchte fast denken: aus einem Programm entsprungene, jedenfalls in so vielen Punkten sich ähnelnde Figuren der Göttin der Barmherzigkeit immer wieder nach dem unheilvoll bösen Krieg, alle dem Gedanken “ Frieden in der Welt ” gewidmet, alle der Toten gedenkend, und - ein wichtiger Unterschied zu Kriegerdenkmälern in Europa und Amerika - die Toten über den gewaltsamen Tod tröstend, sie zu besänftigen, in Frieden zu stimmen wünschend (s. auch Schölz 2016; Krebs 2017). Erst nach dem Tod endlich Barmherzigkeit. Sie haben nicht die Zeit gehabt, um ihr Werk in diesem Leben zu beenden, buddhistisch gedacht, sich aus dem Rad der Wiedergeburt zu lösen. Nach dem Tod Barmherzigkeit heißt also für den, der die buddhistische Lehre von Karma und Wiedergeburt akzeptiert, aus denen man sich zu lösen wünscht und zur Lösung aus denen den Buddha um Hilfe bittet, raise: das Leben nach der nächsten Wiedergeburt (rai ‘ künftig ’ ), die nächste diesseitige Welt (se), aus der den Gläubigen dann endgültig zu befreien man vom Buddha, von der barmherzigen Kannon erhofft. In diesem Licht gewinnen die nur mittelbare Nachbarschaft, die Separierung von Kannon und Tempel, ja die Abwesenheit eines Tempels überhaupt, die weitere Separierung von Kannon und Erzählung, das Nichtbeteiligtsein im Gesichtsausdruck der Kannon, Mitleid nicht im Ausdruck, sondern nur im Symbol der Wasserflasche in Oomori, einen besonderen Sinn. Buddha als Kannon die Klagen der Welt vernehmend ist nicht beteiligt am erzählten, erinnerten, von den Besuchern mitgetragenen Leid, er gehört zur Welt jenseits der, in der man leidet und klagt. Buddha ist nur als Versprechen anwesend: Die durch verfrühten, 34 Auf der anderen Seite des Gipfels ein Grabmal für die sieben Hingerichteten von insgesamt 25 zum Tod Verurteilten des Kriegsverbrecherprozesses von Tokyo 1948 (Tanaka 1999: 407). 394 Götz Wienold (Tokyo) plötzlichen, gewaltsamen Tod nicht dazu kamen, ihr Karma aufzulösen, dürfen hoffen, in einem weiteren ihr Karma zu beenden. Dafür gibt es, eine radikale Lösung dessen, was Roman Jakobson die grundlegende Antinomie alles Zeichenhaften genannt hat ( Jakobson 1975), kein Zeichen. 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