eJournals Kodikas/Code 40/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2017
403-4

Rezeption und/oder Wirkung fiktionaler Medieninhalte - Fragende Bemerkungen zu einem neuen Buch

121
2017
Hans J. Wulff
kod403-40398
K O D I K A S / C O D E Volume 40 (2017) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Article Rezeption und/ oder Wirkung fiktionaler Medieninhalte Fragende Bemerkungen zu einem neuen Buch Hans J. Wulff Czichon, Miriam, Carsten Wünsch & Marco Dohle (eds.) 2016: Rezeption und Wirkung fiktionaler Medieninhalte (= Jahrestagung der Fachgruppe Rezeptions- und Wirkungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 2015 in Bamberg, Rezeptionsforschung 35), Baden-Baden: Nomos, 243 pp., ISBN: 978-3-8452-6295-6, 44,00 € . Inhalt: Miriam Czichon, Daniela Schlütz: Die fiktionale TV-Serie als kommunikationswissenschaftlicher Forschungsgegenstand. Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektiven (13 - 37). - Monika Suckfüll: Nähe durch Distanz. Filmische Mittel der Distanzierung und ihre Funktion im Rezeptionsprozess (39 - 62). - Nicole Neben, Holger Schramm: Parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit fiktionalen Medienfiguren - aktuelle Forschung und Desiderate (65 - 77). - Matthias Hofer: Der Einfluss von Faktualität und Fiktionalität auf eudaimonisches Unterhaltungserleben - die mediierende Rolle wahrgenommener Realität (79 - 95). - Matthias Hofer, Andreas Hüsser, Patricia Brandao: “ Schweigen ist Gold ” . Zum Einfluss von Avataremotionen auf das Emotionserleben bei Computerspielen - Identifikation als Mediator (97 - 111). - Cordula Nitsch, Carsten Wünsch: Fiktionale Videomalaise? Ein Prolonged-Exposure-Experiment zur Wirkung von fiktionalen Politikdarstellungen auf die Politikverdrossenheit der Rezipienten (115 - 133). - Carsten Wünsch, Miriam Czichon: Fiktion oder Realität: Agenda-Setting und Medien-Priming durch fiktionale Medieninhalte? (135 - 151). - Patrick Weber: Narrative Kohärenz und persuasiveWirkungen fiktionaler Medieninhalte: Die Bedeutung von Transportation und Toleranzprozessen (153 - 170). - Manna Gölz, Julia Niemann, Michael Schenk: An den Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation. Eine Studie zu den Kultivierungseffekten von Scripted Reality unter Berücksichtigung der Wahrnehmung des Inszenierungscharakters (173 - 194). - Hannah Ziegler, Olaf Jandura, Marco Dohle: Der wahrgenommene Realitätsgrad von Scripted-Reality-Sendungen - eine Befragung unter Jugendlichen verschiedener Bildungsstufen (195 - 210). - Katharina Ratzmann, Maxime Steuer, Patrick Rössler; Mira Schielke, Maximilian Hofer; Katharina Badenhausen, Jana Koltzau: Politikerstatt Politikverdrossenheit? Wie die Nutzung der heute-show die politischen Einstellungen von jungen Erwachsenen beeinflussen kann (211 - 237). Ob Texte (welchen Mediums auch immer) Bedeutungen tragen wie dieWörter einer Sprache oder ob sie ihnen erst in der Rezeption zugewiesen werden, ist eine Diskussion, die jede Art von Beschäftigung mit den kommunikativen Qualitäten von Texten - und insbesondere von fiktionalen Texten - geführt werden muss. Die Auffassungen sind weit gespannt, allgemein akzeptierte Modelle kaum in Sicht. (1) Manchmal wird von einer festen, allerdings komplexen Relation von Text und Bedeutung ausgegangen, eine an exegetischen Umgang mit Texten gemahnende Unterstellung, die einen Determinismus der Beziehung des Textes zum Rezipienten behauptet und davon ausgeht, dass alle Auslegungstätigkeiten in der Rezeption vom Text gesteuert sind, dass also die Spielräume der Bedeutungszuweisungen äußerst begrenzt sind. Einzuwenden ist allerdings, dass schon in einer vor-empirischen Zuwendung zu Textverarbeitungen klar sein dürfte, dass Texte längst nicht eindeutig, sondern polysem sind und dass Rezipienten unterschiedlich mit ihnen umgehen; sie erweisen sich eher als Bedeutungsangebote denn als Festlegungen von dem, was ihnen an semantischen Konstrukten zugeordnet werden soll (oder kann). (2) Eine zweite, meist dem Kognitivismus zugeordnete Position nimmt die Relation zwischen den beiden Hauptrelata Text und Rezipient als eine auf Schemawissen fundierte Interaktion an, in der der Leser/ Hörer/ Zuschauer nicht frei ist, sondern dass er durch die textuellen Vorgaben gebunden ist, die auch die Freiräume der Interpretation definieren, in denen Subjektives sich manifestieren kann; Schemata gehören zum Fundus des kollektiven Wissens, sind eine eigene Bindung des Rezipienten in das kulturelle Feld, dem er zugehört. Schemata wirken auf alle Ebenen des Textes ein, von den Konventionen der filmischen Darstellung über die formulae der Erzählung bis zu den ideologischen, moralischen und praktischen Implikaturen der Texte. (3) Vor allem in den Cultural Studies ist viel über die Freiheit des Rezipienten spekuliert worden, die Bedeutungen auszugestalten, weil (zumindest in den extremsten Formulierungen) die Texte selbst keine Bedeutungen trügen oder zumindest unterdeterminiert seien. Gleichgültig, welcher Annahme man zuneigt, muss bedacht werden, dass Bedeutungen weder den Texten fest zugeordnet noch beliebig sind. Ganz im Gegenteil: Offenbar wird der Rezipient äußerst genau vom Text gesteuert, kognitiv und emotional. Man könnte diese Diskussion in mehrere Forschungsprojekte einmünden lassen - ein erstes, das nach den Strukturen der Texte fragt und nach den Steuerungs- und Kontroll-Leistungen, die sie erbringen, ein zweites, das nach den Eingriffen und Modifikationen fragt, die Leser, Hörer oder Zuschauer am Text vornehmen, ein drittes, das zu verstehen sucht, wie Texte auf Adressaten einwirken, ihn ändern, ihn lernen lassen, ihn in lebensgeschichtlichen Dingen absichern etc. Seit den ersten massiven Entwürfen einer Rezeptionsästhetik in den 1970er Jahren ist die Diskussion über die Frage nach der Text-Rezipient-Beziehung bzw. nach der Bedeutungsstabilität von Texten nie abgebrochen, die sich noch weiter kompliziert, wenn man versucht, eine historisierende Perspektive einzunehmen und in den historisch variierenden “ Konkretisationen ” (ein Ausdruck Roman Ingardens) nach der im Text angelegten Rezipientenrolle zu fragen versucht. Während die Frage nach den bedeutungstragenden (narrativen und dramatischen) Strukturen und den im Text angelegten Konzeptionen des Adressaten bzw. sogar dem Verstehen von künstlerischen Texten für viele geisteswissenschaftliche und semiotische Rezeption und/ oder Wirkung fiktionaler Medieninhalte 399 Ansätze der Medienanalyse lange Traditionen hat, in der phänomenologischen Literaturtheorie bis mindestens in die 1920er Jahre zurückreicht, spielen fiktionale Inhalte in der kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung der Medienrealität aber seit wenigen Jahrzehnten eine nur untergeordnete Rolle, obwohl die Unterscheidung fiktional/ faktual eine fundamentale Qualität ist, die Texte hinsichtlich Realitätshaltigkeit, Wahrheit, Glaubwürdigkeit, Aufrichtigkeit des Kommunizierenden, praktischer Relevanz und anderer kommunikationsethischer Attributionen voneinander unterscheiden. Diese tiefere kommunikationstheoretische und semiotische Qualität der Unterscheidungen wird in den einschlägigen Untersuchungen aber kaum je berührt. 1 Zwar war der Einfluss von Texten aller Art auf Einstellungen und Meinungen von Rezipienten immer ein Gegenstand auch kommunikationswissenschaftlicher Forschungen. Die Untersuchung von Kontexten - die Rolle von Meinungsführern etwa oder die Frage nach (kollektiven oder individuellen) Gratifikationen - wurde in Theorien und detaillierten Untersuchungen reflektiert und modelliert, doch war in diesem Rahmen die Fiktionalitätskategorie bzw. die Non- oder Pseudorealität der dargestellten Welt in der Untersuchung fingierter Dramen und Geschichten kaum zu erfassen. Inhaltsanalysen bleiben mit Blick auf die Rezeption bis heute meist oberflächlich, weil sie auf eine referentielle und wesenhafte Beziehung zwischen Inhalts- und Wissenseinheiten gründen müssen, die die Operationalität der Medienaneignung wie auch die Instabilität von Bedeutungen aber nicht greifen können. Wirkungsforschung ist angewiesen auf die Spuren, die Medieninhalte auf das Verhalten von Rezipienten haben, was in Meinungsumfragen und Beurteilungsszenarien noch gut zu operationalisieren ist, in manchen Fragen aber ratlos bleiben muss. Die Frage etwa, welche längerfristige “ Wirkungen ” die Besichtigung einer DSDS-Show haben soll, könnte man höchstens als ironischen Einwurf oder als Karikatur der Wirkungsforschung abtun. Auch die vor allem in der Werbewirkungsforschung lange Tradition der Erhebung physiologischer Daten, die während der Rezeption spezifischer Texte erhoben werden können, zeigen zwar, in welcher Vielfalt der Rezipient körperlich auf das Angebot reagiert, doch haben sie kaum explanative Qualität erreicht, die Inhalt, Gestaltung, Thema, subjektive Disposition, Rezeptionssituation etc. sinnvoll miteinander verbinden könnten. Der vorliegende Sammelband stößt unmittelbar in diese so komplexe Forschungsproblematik hinein. Auf den ersten Blick unterscheiden sich die rezeptionsästhetischen Forschungen scharf von den kommunikationswissenschaftlichen. Die ersteren formulieren Thesen über die “ Rolle des Rezipienten ” , die in der Struktur der Texte angelegt oder sogar definiert ist. Und sie fordern, die Verbindungen von Inhalten und den jeweils besonderen (historisch und soziologisch besonderen) Wissenshorizonten von Lesern, Zuschauern und auch Spielern darzustellen. Letztere dagegen konzipieren Modelle des Rezipienten, seiner Disposition, der Strategien und Ziele der Informationsverarbeitung, aber auch von Leitprinzipien wie “ (passive) Kontrolle ” , Schutzmechanismen des Rezipienten wie “ Distanzierung ” und anderes mehr. 1 Dagegen wird das Problem der ontologischen Differenz der beiden Referenzmodi in der Filmtheorie seit vielen Jahrzehnten diskutiert. Cf. dazu den Überblick in Vinzenz Hediger 2009: “ Vom Überhandnehmen der Fiktion. Über die ontologische Unterbestimmtheit filmischer Darstellung ” , in: Gertrud Koch & Christiane Voss (eds.) 2009: “ Es ist, als ob ” . Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Fink, 163 - 184. 400 Hans J. Wulff Textrezeption ist ein vielschichtiges Geschehen, das nur in Modellen erfasst werden kann, das diverse Bezugsgrößen zu Relationen und Relationsbündeln verbindet. Zwar bleibt das Gegenüber von Text und Rezipient fundamentale Ausgangsbasis, doch stehen beide in vielfältigen symbolischen, sozialen, historischen und anderen Bezügen, die allesamt Einfluss auf den Prozess ausüben, in dem der Text wahrgenommen und mit Bedeutung versehen wird. Nur selten wird mit Modellen gearbeitet, die Realweltwissen von Rezipienten, das Wissen um narrative, dramatische und stilistische Konventionen (das von Peter Ohler sogenannte “ Filmizitätswissen ” ), das Verfügbarmachen von Wissens- und Einstellungsgrößen des Rezipienten in Verbindung miteinander bringen (vgl. etwa S. 140), denen man gern noch das “ Genrewissen ” zugesellen möchte - doch auf genaue Verifizierung dieser Tätigkeiten der Wissenaktivierung in Auseinandersetzung mit dem jeweils konkreten Film wird in aller Regel keine Rücksicht genommen. Eigene Aufmerksamkeit verdient der Artikel von Manna Gölz, Julia Niemann, Michael Schenk ( “ An den Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation ” , S. 173 - 194), der am Beispiel von Sendungen des Typus “ Scripted Reality ” der Fähigkeit einer sehr großen Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 20 Jahren nachspürt, die Fiktionalität und Inszeniertheit der Beispielsendungen zu erkennen, mit dem für eine Diskussion der pädagogisch oft geforderten “ Medienkompetenz ” erschreckenden Ergebnis, dass ein erstaunlicher Teil der Vpn den Geschichten dokumentarische Authentizität zubilligte (bis zu fast 25 %). Doch auch diese Untersuchung stimuliert Nachfragen, gleich zweierlei Art: In einer umfangreichen Inhaltsanalyse wurden auch die Figuren der Handlung hinsichtlich ihrer physischen Attraktivität beurteilt, eine Größe, die sich (offenbar primär bei Vielsehern) allerdings nur in der subjektiven Einschätzung der Verbreitung von Tattoos niederschlägt - ein Befund, dessen Bedeutung für das Verstehen von Texten in Frage gestellt werden muss, deutet er doch in ein Feld von Weltwissen hinüber, das nur locker mit der Fiktionalität (bzw. Faktualität) der Darstellung verbunden ist. Der zweite Artikel zur Scripted-Reality von Hannah Ziegler, Olaf Jandura, Marco Dohle bestätigt die berichteten Zahlen, zeigt allerdings auch, dass der Anteil derjenigen, die die Sendungen für “ dokumentarisch ” hielten, unter Haupt- und Mittelschülern höher war als unter Gymnasiasten. Man möchte die Untersuchung von Gölz, Niemann und Schenk weiterdenken und danach fragen, ob die dramaturgisch für Narration so wichtige Kategorie des “ Konflikts ” und die damit zusammenhängende Verteilung prosozialer und aggressiver Verhaltensweisen nicht von viel größerer Relevanz ist als die Beurteilung des Fiktionalitätsmaßes des Sendungen oder der Figuren selbst, die gewissermaßen aus dem Sinnkontext des Spiels oder des Dramas herausgebrochen werden (vgl. S. 181 f ). Derartige Handlungsdevisen und -qualitäten spielen in den Episoden des Genres eine wichtige Rolle, machen wohl erst den dramatischen Kern der Erzählung aus - und deshalb auch könnte könnte eine Vorstellung von “ Konflikt ” (bzw. “ Konfliktbearbeitung ” ) auf einem viel höheren Niveau von Abstraktion und Generalisierung gelernt werden und im Modus des “ Modell-Lernens ” sogar Kultivierungseffekte haben. Der vorliegende Text von Gölz et al. diskutiert das Problem nicht. Eine zweite Frage richtet sich auf die Differenz von Scripted-Reality- und Dokumentations-Sendungen des Fernsehens, weil die Frage, in welchem Umfang tatsächliche TV- Dokumentationen auf genau die gleichen Strategien der “ Dramatisierung, Intimisierung Rezeption und/ oder Wirkung fiktionaler Medieninhalte 401 und Emotionalisierung ” (S. 195 f) wie die Doku-Soaps zurückgreifen, so dass man das Verfahren spielerisch umdrehen könnte und genau die tatsächlichen, nicht-skriptifizierten Dokumentationen als Produkte der Skriptifizierung ausgeben und ihrerseits beurteilen lassen könnte. Die Befunde lassen sich womöglich zu einer neuen Frage kondensieren: Lässt sich drehbuchgeleitete Serienproduktion (scripting) tatsächlich an textuellen Merkmalen festmachen oder stehen skriptifizierte und dokumentarische Formen des TV-Erzählens in einem Kontinuum und unterscheiden sich gar nicht wesenhaft, sondern auf Grund von Rahmenwissen? Dann wäre die Feststellung von “ Skriptifizierung ” eine Qualität der Texte, die eher auf der Evaluation einer skriptifizierten Dokumentation an der vorgeblich dokumentierten Realität beruht als auf der Erkenntnis der Dramatisiertheit und Fingiertheit des Dargestellten außerhalb der Relationierung der Dokumentation an Realität und Wissen über dieselbe. In eine ähnliche Richtung argumentiert Ursula Ganz-Blaettler (2004) 2 : Wenn man Fernsehen insgesamt als eine performing art auffasst, dann ist es insbesondere für geskriptete Beiträge zum Reality-TV nötig, nicht nur die Szenen vorzuplanen, sondern darüber hinaus die Rollen der Handelnden zu besetzen und das Schauspiel der Akteure anzuleiten (und zu kontrollieren). Ohne Kenntnis der Produktionsprozesse ist das schließliche Ergebnis - die Montage und Rhythmisierung des Materials treten noch hinzu, überlagern das Vorfilmische zusätzlich - vom Laien kaum noch von einem nichtgeskripteten Beitrag zu unterscheiden (es sei denn, die erzählte Geschichte hält der Realitätsprüfung anhand des Weltwissens der Rezipienten nicht stand). Außerdem tritt möglicherweise die hypothetische Rekonstruktion der Intention der Textproduzenten hinzu, die in einen Eindruck von “ Faktualität ” oder “ Fiktionalität des Textes einmündet ” . Und eine Vermutung über eine verborgene hermeneutische Befangenheit sei ebenfalls benannt - sind Untersuchungen über die Fähigkeit von (noch dazu jugendlichen) Probanden, die Fingiertheit einer Darstellung zu erkennen, vor allem für diejenigen von Bedeutung, die die Befunde in Verbindung mit “ Medienkompetenz ” (also der Fähigkeit, ein distanziertes Verhältnis zum Dargestellten einzunehmen), interpretieren wollen, es also in eine medienpädagogische und bildungspolitische Dimension einrücken wollen. Auch die Frage, ob die Probanden den Machern in der Rezeption ein intentionales Moment unterstellen (dass also die Skriptifizierung als Strategie der Propaganda, der “ lehrhaften Vereindeutigung ” , der Satitirisierung usw. erkennbar wird), muss gestellt werden, weil die Beurteilung der Fiktionalität von Texten dann in ganz unterschiedliche Horizonte sinnunterlegter Textkommunikation eingerückt würde. Die Kontexte, in denen sich Forschungen wie die im vorliegenden Band berichteten erschließen, sind zum größeren Teil medienpädagogischer Art, betreffen den Einfluss von Medien und besonderen Textformaten für das Entstehen oder die Beförderung von Politikverdrossenheit, die Rolle von Medien in einem verborgenen Lerncurriculum sozialer Verhaltensweisen, ganz praktisch auch der Medienaufsicht etc. Wenn es dabei zu Kurzschlüssen kommt, die irritieren, stehen diese wiederum wohl öfters in Zusammenhang mit den Adressaten oder Auftraggebern der Studien. Wenn im letzten Beitrag des Bandes von 2 Ursula Ganz-Blaettler 2004: “ Scripted and Staged Media Realities ” , in: Studies in Communication Sciences 4.1 (2004): 111 - 128. 402 Hans J. Wulff Katharina Ratzmann u. a. (S. 211 - 237) mögliche Wirkungen von Satiresendungen nachgegangen wird, erhebt sich nicht nur die Frage, ob es und unter welchen Bedingungen es möglich ist, die Heute-Show (ZDF) mit einem “ traditionellen Nachrichtenformat ” (S. 213) zu verwechseln, oder ob die Satire-Markierung so deutlich ist, dass die Nutzung des TV- Formats “ Nachrichten ” ebenso erkennbar ist wie der Meta-Status der einzelnen “ Berichte ” einschließlich der pointierten Schrägstellung von Moderation und Inhalt - wobei von der Präsenz und Aktivität des Live-Publikums noch ganz abgesehen ist (die in der Untersuchung überhaupt nicht bedacht wird, obwohl Live-Publika ein klarer Indikator für Nicht- Nachrichten-Formate sind). Und wenn sich am Ende des Artikels gar die Frage danach stellt, ob Satire Einstellungsänderungen produziert, fragt man sich auch, wie man sich in diesem Kontext mit der Kunstform “ Satire ” beschäftigen soll. Der Band enthält mehrere literaturberichtsartige Überblicksdarstellungen (zur Rezeption von TV-Serien [13 - 37], zur parasozialen Interaktion/ Beziehung [65 - 77]), die sich aber auf reinen Bericht beschränken. Die anderen Beiträge sind empirische Studien zu Detailproblemen. Als Bezugstheorien werden immer wieder die Kultivierungsthese, die Agenda- Setting-Forschung und der Uses-and-Gratifications-Approach als modellhafte Vorstellungen funktionaler Rezeptions- oder Wirkungstheorien genannt; Überlegungen aus anderen Bezugswissenschaften (wie etwa die dem Kognitivismus verpflichteten Studien von Murray Smith oder Carl Plantinga) werden nicht einbezogen, selbst verwandte medienpsychologische Ansätze (wie etwa die emotionspsychologischen Arbeiten Ed Tans oder die der Erfassung der für Fiktionalitätsrezeption so wichtigen Kategorie der suspension of disbelief von Saskia Böcking) spielen keine Rolle. Gerade letztere ist für die Kernthematik des vorliegenden Bandes von größtem Interesse, geht es doch um die so unklare und seit vielen Jahren immer mehr verschwimmende Grenze zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Formen des Films von größtem Interesse. Das Phänomen der suspension of disbelief (deutsch etwa: “ Aussetzung des Unglaubens ” ) benennt eine prärezeptive Einstellung des Rezipienten, den zu rezipierenden Text als “ Fiktion ” aufzufassen und ihn deshalb einer “ dichten Synthese ” zu unterwerfen. Die Annahme durchzieht alle Phasen der Rezeption, äußert sich etwa als Bereitschaft, Modalitätswechsel (wie etwa vom realistischen zum phantastischen Erzählen) zu ertragen und in die rezeptive Arbeit zu integrieren. Böcking (2008) hat versucht, das Konzept für empirische Arbeiten zu erschließen und macht die eigentlich metarezeptive Einstellung durch die Annahme operationalisierbar, dass sie “ Wirklichkeitsnähe ” und “ Konsistenz ” des narrativen Textes als eine - bei ihr nicht weiter diskutierte - die Rezeption begleitende Evaluationsebene der Rezeption ansetzt. 3 Treten nun Verletzungen der beiden Evaluationskriterien auf, werden diese entweder übersehen oder für nicht relevant gesetzt ( “ tolerante Rezeption ” ) oder aber als Störungen der vorausgesetzten Bereitschaft, den suspension of disbelief als Rezeptionsmodalität beizubehalten, interpretiert und münden dann in eine kritische, möglicherweise 3 Cf. zu diesem Modell vor allem Saskia Böcking 2008: Grenzen der Fiktion? Von Suspension of Disbelief zu einer Toleranztheorie für die Filmrezeption (= Unterhaltungsforschung 5), Köln: von Halem, sowie die Studie von id., Werner Wirth & Christina Risch 2005: “ Suspension of Disbelief. Historie und Konzeptualisierung für die Kommunikationswissenschaft ” , in: Volker Gehrau (ed.) 2005: Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten (= Rezeptionsforschung 7), München: Reinhard Fischer, 39 - 58. Rezeption und/ oder Wirkung fiktionaler Medieninhalte 403 den Text (bzw. die vom Text behauptete Realität der Erzählung) sogar ablehnendnegierende Haltung ein. In die Wahrnehmung des Fiktionalitätsstatus des Textes gehen Weltwissen wie auch Genrewissen ein, zudem ein formales Wissen über dramaturgische Konventionen des Erzählens - entsprechend werden bei Böcking “ externer Realismus ” (gemessen am Referenzrahmen der “ realen Welt ” ) und “ fiktive Welt ” (als “ interner Realismus ” bezeichnet) voneinander unterschieden. Neben der Unterdrückung von Inkonsistenzen ( “ affirmative Rezeption ” ) kann es aber zur Bewusstwerdung von Inkonsistenzen kommen (und evtl. folgendem Akzeptieren derselben - als “ kritische Rezeption ” ) oder zum Ausstieg aus den die Informationen des Textes akzeptierenden Prozessen der Sinnsynthese kommen (als Erscheing des disbelief ). Eingangs der Rezension war vom Gegenüber der text- und der kommunikationswissenschaftlichen Zugänge zur Rezeption insbesondere fiktionaler Medieninhalte die Rede. Eine Kenntnisnahme der Verfahren und Modelle der jeweils anderen Zugänge findet kaum statt, und obwohl es unmittelbar einleuchtet, wie produktiv ein Dialog beider wäre, ist dieser unterentwickelt und erschöpft sich in dazu oft noch schiefen Übernahmen von Terminologien. Gelegentlich werden Differenzierungen schlicht ignoriert (und schon gar nicht diskutiert); ob etwa parasoziale Beziehungen zu einem Schauspieler, einer textspezifischen fiktiven Figur, einer mehrere Texte übergreifenden Figur oder zu einem allgemeineren Rollenfach, in dem der gleiche Schauspieler immer wieder eingesetzt wird, bestehen, wird zugunsten des Gegenübers von “ Schauspieler ” und “ fiktionale Medienfigur ” schlicht eingeebnet (S. 67). Wenige Beiträge tragen der Instabilität der Textbedeutung Rechnung. Patrick Weber geht den Phänomenen “ narrativer Inkohärenz ” und (textsemantischer) “ Störung ” nach und arbeitet mit der Metapher einer “ toleranten Verarbeitung ” (S. 154). Gemeint ist damit die Annahme, dass Verletzungen der Wirklichkeitsnähe oder der verfälschenden Darstellung von Realgeschehnissen in fiktionalen Texten weniger Einwirkungen auf Einstellungen von Rezipienten hätten als in realistischen. Wie Rezipienten mit modalen Brüchen und anderen tieferen Inkonsistenzen von Texten umgehen, bleibt auch in diesem Modell natürlich unbeschreibbar. Matthias Hofer stellt in seinem Beitrag “ Der Einfluss von Faktualität und Fiktionalität auf eudaimonische Unterhaltungserleben ” (S. 79 - 95) das antike Prinzip der Eudaimonie als Funktionshorizont von Rezeption in den Vordergrund. Man versteht darunter “ Glück ” als dem Menschen angemessene Lebensweise (meist weiter ausgeführt: als Lebensführung nach den Anforderungen und Grundsätzen einer philosophischen Ethik). Textrezeption erweist sich in dieser Perspektive auch als Auseinandersetzung mit den “ für die jeweilige Person zentralen Werte ” (S. 79), enthält so eine zutiefst selbstreflexive Komponente. Am Beispiel einer 30-minütigen Kurzfassung des Films Bronson (Großbritannien 2008, Nicolas Winding Refn), die er einer Gruppe von Vpn als “ fiktiv ” , einer anderen gegenüber als “ faktual ” ausgab, kann er zeigen, dass für die faktualen Teilnehmer das “ eudaimonische Unterhaltungserlebnis ” als intensiver wahrgenommen wurde als für die anderen. Wie es allerdings möglich ist, den komplexen Film von Refn auf ein Drittel zu kürzen und die hochstilisierte Darstellung des Geschehens alternativ als “ fiktiv ” oder “ faktual ” auszugeben (und dabei als Forscher noch glaubwürdig zu bleiben), bedürfte eigenen 404 Hans J. Wulff Nachdenkens (tatsächlich basiert der Film auf der Autobiographie eines englischen Strafgefangenen). Interessanter ist, dass die so verlockende Idee einer eudaimonischen Funktion der Rezeption kaum ausgeschöpft wird. Abgesehen davon, dass auch Hofer seine Überlegungen an der Unterscheidung fiktional/ faktual entlang ausführt, deutet er die viel weitergehenden Implikationen einer eudaimonisch eingefassten Rezeptionstheorie nicht einmal an (was schade ist, weil sie sich sowohl auf die Erwartungskonstruktionen von Spannungs-Szenarien, Beziehungen von Rezipienten zu Figuren der Handlung, die Positionierung von Rezipienten zu den diegetischen Wertewelten wie auch zu Erzählkonventionen des Textschlusses - als Happy-End, sad ending, tragischer Schluss usw. - und anderes beziehen ließen). Vor allem die Vermutung, dass die Erwartung einer eudaimonischen Gratifikation in die Rezeption einfließt und dass es (während der Aktualgenese der Textrezeption oder post receptionem) zu einer Evaluation der ethischen Qualitäten der vorgeführten Handlungen kommt (sei es, dass sie zu Bewusstsein kommen, sei es, dass sie vorbewusst bleiben), kann so nicht weiter reflektiert werden. Zurück zu Hofers Artikel: Nähe zur Realität also als Impulsgeber zur Steuerung von Erlebnisintensitäten? Der Befund - der ja diverse Untersuchungen zum “ wahrgenommenen Realismus ” vor allem von Reality-Sendungen bestätigt (vgl. im vorliegenden Band auch S. 118 f und S. 154 f ) - , der in der Untersuchung so evident zu sein scheint, kann dennoch nicht verallgemeinert werden. Andere Untersuchungen zeigen, dass die Explizitheit der Darbietung manchmal sogar umgekehrt proportional zur empfundenen Intensität der Ausdrucksqualitäten ist: Hofers eigene Untersuchung (zusammen mit Andreas Hüsser und Patricia Brandao, S. 97 - 111) zur Rolle der Effekte expliziter Ausdrucksdarstellungen eines Avatars in einem Survival-Horrorspiel zeigen, dass gerade die Abwesenheit von Ausdrucksgesten zur Steigerung der empfundenen Intensität der Identifikation führt. Die filmsemiotischen Arbeiten zum “ ausdruckslosen Gesicht ” , die die Ausdrucksleere (vor allem des Gesichts) als Angebot einer Projektionsfläche resp. als Feld einer empathischen Ausarbeitung der Empfindung der Figuren interpretieren, kennen die Autoren offensichtlich nicht; immerhin könnte man nachfragen, ob es um “ Identifikation ” mit Figuren geht (wie von Hofer und seinen Mitautoren behauptet) oder um die kognitiv-emotionale Ausgestaltung der “ psychischen Innenwelten ” der dargestellten Figuren. Das Zentrum fast aller Beiträge des Bandes sind Modelle, die den Rezipienten, seine Voreinstellungen und seine Aktivitäten zu erfassen suchen und dabei vom Geschehen bei der Aktualgenese von Rezeption absehen. Wird mit Beispielfilmen gearbeitet (Cordula Nitsch und Carsten Wünsch etwa arbeiteten mit sechs langen Spielfilmen; Wünschs und Czichons Beitrag nutzt sechs Episoden der Simpsons-Animationsserie), geht es um Einstellungs- oder Meinungsmessung nach der Rezeption, nicht um die Rekonstruktion der Rezeptionsprozesse im engeren Sinne (bei Nitsch/ Wünsch mit dem Ergebnis, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen Filmen mit positiv oder negativ charakterisierten Protagonisten gibt, sondern dass beide die gemessene “ Politikverdrossenheit ” minderten). In vielen Beiträgen geht es um Methoden, Erhebungsinstrumente, skalierbare Subtypen besonderer Aneignungsstrategien oder Rezipient-Text-Bindungen, nicht aber um die Steuerung der Lernprozesse der Rezeption in Auseinandersetzung mit der Präsentation von Informationen im Text. Die Konkreta der Texte, die das Material der Aneignungs- Rezeption und/ oder Wirkung fiktionaler Medieninhalte 405 prozesse in actu sind, werden in den meisten Beiträgen des vorliegenden Bandes kaum zur Sprache gebracht - leider, möchte man hinzufügen. In summa: Der vorliegende Band gibt einerseits einen Aufblick auf neuere kommunikationswissenschaftliche Überlegungen und beispielhafte Untersuchungen zum Themenfeld der “ Fiktionalität ” von Kommunikaten. Er zeigt aber auch, wie unterentwickelt die fächer- und disziplinenübergreifende Kenntnisnahme von Modellen, Hypothesen und Analyseverfahren ist - ein Befund, den man eher als Aufforderung zur Kooperation der Zugänge zum Problem denn als Klage über deren Unterentwickeltheit verstehen sollte. Literatur Böcking, Saskia 2008: Grenzen der Fiktion? Von Suspension of Disbelief zu einer Toleranztheorie für die Filmrezeption (= Unterhaltungsforschung 5), Köln: von Halem Böcking, Saskia, Werner Wirth & Christina Risch 2005: “ Suspension of Disbelief. Historie und Konzeptualisierung für die Kommunikationswissenschaft ” , in: Volker Gehrau (ed.) 2005: Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten (= Rezeptionsforschung 7), München: Reinhard Fischer, 39 - 58 Ganz-Blaettler, Ursula 2004: “ Scripted and Staged Media Realities, in: Studies in Communication Sciences 4.1 (2004): 111 - 128 Hediger, Vinzenz 2009: “ Vom Überhandnehmen der Fiktion. Über die ontologische Unterbestimmtheit filmischer Darstellung ” , in: Gertrud Koch & Christiane Voss (eds.) 2009: “ Es ist, als ob ” . Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, München: Fink, 163 - 184 406 Hans J. Wulff