Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/71
2018
411-2
Schnittstelle/n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten – eine Einführung in den Band
71
2018
Jan-Oliver Decker
Amelie Zimmermann
kod411-20003
K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten - eine Einführung in den Band Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) This issue brings together a selection of the contributions at the section “ Literatur 2.0 - Literatur und (alte/ neue) Medien ” of the 15th “ Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik: Grenzen. Kontakt - Kommunikation - Kontrast ” (Universität Passau, 12. - 15. 09. 2017). The section ’ s central question was how literature in multimodal, trans-, interand multimedia and intertextual contexts has developed in the 20th and 21th century as a separate, independent art form or as an art form that has always been crossmedia. The contributions compiled here thus aim to provide elements for a semiotic appropriate description of literary texts in trans-, multiand intermedia contexts and their methodological and theoretical reflection. All contributions focus on the semantics and function of the interface(s) ( “ Schnittstelle/ n ” ) as a way to systematically describe and explain the interaction of literature and other media in multimodal correlations. - This essay introduces the volume and the contributions and outlines the basic questions of the essays collected here. 1 Zur Genese und Konzeption des Bandes Im Zuge der digitalen Revolution stellt sich verstärkt die Frage nach der Rolle und Funktion der Künste Literatur, Film, Graphic Novel, Videospiel, Oper usw. und nach ihrer Konkurrenz und Kooperation mit den jeweils anderen Künsten. Aus dieser Perspektive versammelt der vorliegende Band erstens eine Auswahl von Beiträgen, die in der Sektion “ Literatur 2.0 - Literatur und (alte/ neue) Medien ” auf dem 15. internationalen Kongress “ Grenzen. Kontakt - Kommunikation - Kontrast ” der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) e.V. vom 12. - 15. September 2017 vorgestellt wurden. Über vier Tage hinweg stand hier die Grenze konkret und im übertragenen Sinne als Thema des Kongresses im Zentrum der Sektion, die nicht nur Forschende aus Literatur-, sondern auch aus Kultur- und Medienwissenschaft zusammenbrachte und so ein breiteres Spektrum semiotischer Forschung mit textwissenschaftlicher Methodik abzubilden suchte. Es kristallisierte sich dabei in der Diskussion dann schnell heraus, dass der Begriff der Grenze mit seinen Merkmalen ‘ trennend ’ und ‘ dichotom ’ zwar für die Analyse vieler textueller Phänomene fruchtbar ist, dass es aber in den hier versammelten Beitragsthemen im Besonderen um Anschlüsse, Transformation und Austausch geht. Diesem Diskussionsergebnis trägt der vorliegende Band Rechnung, indem er statt des Begriffs der Grenze den neutraleren (und moderneren) Begriff der Schnittstelle prominent macht, der insbesondere den Austausch zwischen verschiedenen Zeichensystemen, Informationskanälen und medialen Systemen fokussiert. Deshalb haben wir zweitens zusätzlich Beiträge in diesen Band integriert, die Aspekte des Austausches zwischen Zeichensystemen, Medien und Informationskanälen auch im Autorenfilm oder aber in Graphic Novels fokussieren und so den semiotischen Blick über die Literatur hinaus erweitern. 2 Konstellationen von Themen/ Fragen/ Zugängen - die Beiträge Das Konzept der Schnittstelle vereint in unserem Verständnis die Konzepte der Grenze und der Zone, vollzieht also gleichzeitig eine Trennung und bringt das Getrennte zugleich auch in einem systemischen, spatialen und/ oder temporalen Raum des Übergangs zusammen. Das englische “ interface ” , das häufiger im Deutschen genutzt wird als der Begriff der Schnittstelle, wenn es um technische oder informatische Fragestellungen geht, ist allerdings spätestens seit Steven Johnsons Interface Culture 1997 nicht auf diesen Bereich beschränkt. Johnson löst die starre Verbindung zur Technik, indem er die semiotische Funktion des interfaces betont: The interface serves as a kind of translator, mediating between the two parties, making one sensible to the other. In other words, the relationship governed by the interface is a semantic one, characterized by meaning and expression rather than physical force. (cf. Johnson 1997: 14) Grundlegend erschien es uns deshalb zunächst einmal wichtig zu sein, sich (i) mit der Semantik des Konzepts der Schnittstelle auseinanderzusetzen: Sebastian Feils Beitrag untersucht sowohl den Begriff der “ Schnittstelle ” als Signifikat als auch umgekehrt den Begriff “ Begriff ” als semiotische Schnittstelle. Dabei beleuchtet er die historische, aber auch die systemische und kontextuelle Verwendung und auch die Häufigkeit der Nutzung der beiden Konzepte in einem systematischen Zusammenhang. Damit eröffnet Sebastian Feil diesen Band und eröffnet zugleich den Begriff der Schnittstelle als einen semantischen Raum, der die diskursive Auseinandersetzung um die Semantik und Funktion der Schnittstelle als Konzept und als Metapher in den folgenden Beiträgen ermöglicht. Die Grundfrage der Sektion war ursprünglich, (ii) wie sich die Literatur in multimodalen, trans-, sowie inter- und plurimedialen und intertextuellen Zusammenhängen als abgegrenzte eigenständige oder aber als immer schon medienübergreifende Kunstform im 20. Jh. entwickelt hat und wie sie sich im 21. Jh. weiterentwickeln wird. Dabei wurde gefragt, welche Funktionen Literatur in Kombination mit anderen medialen Formaten und Künsten in einem übergeordneten Zusammenhang übernimmt, welche Synergieeffekte also durch die Schnittstellen der Literatur mit anderen medialen Formaten entstehen. Hier schließen sich Fragen an, ob und wie sich neue digitale Formen ihrerseits zurück auf die scheinbar traditionelle, gedruckte Literatur auswirken. Aus genau dieser Perspektive fragt Vera Bachmann in ihrem Beitrag, inwiefern Literatur als Ort der Aushandlung zwischen Analogem und Digitalem sowohl innerhalb des Romans Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Clemens Setz als auch in der vom Verlagsmarketing bewusst gestalteten 4 Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) Online-Kommunikation Positionen und Konzepte des Analogen und Digitalen einander gegenübergestellt, übersetzt und reflektiert werden. Hier fungiert Literatur als Schnittstelle, die verschiedene Systemgrenzen aufzeigt und als Kommunikationsort und Zeichensystem eine Verhandlung der Positionen möglich macht. Die wechselseitige Öffnung der Literatur und der digitalen Medien zeigt sich (iii) nirgends so deutlich wie an den Stellen, an denen Literatur durch andere Medien paratextuell gerahmt und erweitert wird, wo also Schnittstellen durch wechselseitige Referenzbeziehungen, auch im Rahmen von Medienwechsel, Intermedialität und Intertextualität von Literatur und anderen medialen Formen ausgebildet werden. Hieran anknüpfend erschließt die Mehrheit der hier vorgelegten Beiträge aus narratologischer Perspektive den Fragenkomplex, wie medienübergreifende Narrative in einer unterschiedlichen medialen Umsetzung Bedeutungen transferieren, umkodieren, de-semantisieren und zu Wissensordnungen in Beziehung setzen. Beispielsweise untersucht Stephan Brössel das relativ junge Genre des Buchtrailers, i. s. kurze audiovisuelle Filme, die mehrheitlich über das Internet rezipiert werden, und fragt wie Literatur in den (neuen) Medien inszeniert und vermarktet wird. Stephan Brössel identifiziert deskriptiv, welche medialen und narrativen Strukturen Buchtrailer aufweisen, und grenzt sie theoretisch und typologisch von Filmtrailern und Werbespots ab. Dabei erklärt der Beitrag die intermediale Konstellation, die Buchtrailer mit ihrem literarischen Bezugstext eingehen, als wichtigstes, genrekonstituierendes Merkmal. Der Beitrag von Miriam Frank widmet sich audiovisuellen Adaptionen von Literatur auf YouTube, die besonders bei Schülerinnen und Schülern beliebt sind. Die Weltliteratur-to-go- Videos von Michael Sommer sind kurze Clips mit Playmobil-Spielfiguren und konzentrieren sich auf eine kompakte Übermittlung und Bewertung der Handlungsstruktur. Dabei werden die literarischen Spezifika getilgt und die literarischen Werke einem als Marke etablierten Format untergeordnet. Hier kann also weniger von einer Adaption, als vielmehr von einer Neuschöpfung gesprochen werden, welche literarische Wissensmengen in digitale Wissensformationen umkodiert. Wo in den Weltliteratur-to-go-Videos die Literatur dem digitalen Format angepasst wird, da zeigt umgekehrt der Beitrag von Martin Hennig, wie sich neue digitale Formate an literarische Strukturen anpassen. Martin Hennig identifiziert in seinem Beitrag die verschiedenen Erzählstrategien der Visual Novel, die sich durch die Kombination der Zeichensysteme Bild, Spiel und Literatur ergeben. Obwohl Visual Novels als mediale Hybride aus Comic, Computerspiel und Literatur angesehen werden können, stehen sie aufgrund ihrer reduzierten Interaktionsschemata und visuellen Details vor allem der Literatur nahe. Hier werden also (iv) Fragen diskutiert, wie sich beispielsweise narrative Strukturen der Literatur im Rahmen eines Videospiels/ Text-Adventures ludologisch oder aber im Rahmen eines YouTube-Videos didaktisch ausprägen und welche Erzählstrategien sowie Werte und Normen neue literarischen Formen im Netz wie Handyromane, Fanfictions, aber auch neue audiovisuelle Formen wie Buchtrailer und Videos zu Klassikern der Weltliteratur im Rahmen neuer mediendispositiver Strukturen realisieren. Fast alle Beiträge beschäftigen sich dabei dann mehr oder weniger intensiv (v) auch mit Fragen der Selbstreflexion und der Selbstreferenz, die in Beziehung zu fremdreferenziellen Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten 5 Wissensordnungen gesetzt werden. Es zeigt sich, dass einerseits durch die Thematisierung von Medien in Medien und andererseits durch die die trans-, inter- und plurimediale Verfasstheit von Texten im digitalen Zeitalter Wissensordnungen hergestellt werden, die essenziell für die kulturelle Orientierung, die Verhandlung kultureller Werte und Normen in der Gegenwart sind. 1 Solche Fragen sind beispielsweise auch aus der Perspektive der Forschung zur Rolle der Performativität in Präsenzmedien von Bedeutung. So untersucht Stephanie Großmann in ihrem Beitrag das Musiktheater als Schnittstelle zwischen Libretto, Musik und Konkretisierung. Anhand der meist gespielten Opern Die Zauberflöte und La Traviata zeigt sie auf, wie die Bedeutungsebene der konkreten Operninszenierung überholte kulturelle Werte, Normen und Konzeptionen von Gender, die über die Ebene des vor Jahrhunderten verfassten Librettos kommuniziert werden, aufbrechen und selbstreflexiv thematisieren und damit für die Kultur der Gegenwart akzeptabel machen kann. Aus der Perspektive der künstlerischen Selbstreflexion beschäftigt sich der Beitrag von Dennis Gräf mit Schnittstellen verschiedener Zeichensysteme im Autorenfilm der 1960er Jahre. Anhand von Edgar Reitz ’ Film Cardillac (1969) arbeitet er dabei das darin etablierte Konzept von Kunst heraus, welches im Besonderen anhand des Protagonisten filmisch konstruiert wird. Mit Hilfe dieser Künstlerkonzeption semantisiert sich der Film auf einer selbstreflexiven Ebene selbst als Kunst, indem er seine mediale Konstruiertheit herausstellt. Dies inszeniert der Film durch Schnittstellen zwischen Selbst- und Fremdreferenz, die der Film durch seine intertextuellen Bezüge installiert. Am Beispiel medialer Bearbeitung des Leonidas-Stoffes untersucht schließlich Hans Krah Schnittstellen zwischen Texten, Medien und Wissen, insbesondere unter dem Fokus von Wissensfortschreibung und Vorlagenaneignung. Zum einen zeigt er das Verhältnis von Text und Wissen und führt die Unterscheidung zwischen einer epistemischen und einer konfigurativen Bezugnahme ein. Zum anderen zeigt der Beitrag, wie der in ein anderes Medium (Film) transformierte Text (Graphic Novel) auch Wissenskonfigurationen transformiert und damit, welchen Status solche Adaptionen haben. Der Beitrag beschreibt damit den Umgang mit dem in Medien fassbaren Wissen und erklärt dessen ideologische Relevanz zwischen Bedeutung, Deutung und Zuschreibung. Im Ergebnis ist damit auf einer Metaebene auch eine Intention der hier vorgelegten Beiträge, Bausteine für eine semiotisch angemessene Beschreibung von literarischen Texten in trans-, multi-, pluri, und intermedialen Zusammenhängen und für ihre methodische und theoretische Reflexion zu liefern. Damit geht es in den Beiträgen dieses Bandes insgesamt um die Aushandlungsprozesse in und zwischen unterschiedlichen medialen Systemen, sei es innerhalb der Literatur oder des Films oder sei es zwischen einem literarischen und anderen audiovisuellen Texten oder in Bezug auf andere Zeichensysteme und ihre Funktionen für Wissensordnungen und Kulturen. Von hier aus müssten die Forschungen nun in zwei Richtigen weitergehen: 1 Cf. zum ganzen Komplex der Selbstreflexion durch das Wechselspiel von Selbst- und Fremdreferenz die Bände Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 39. 3 - 4 (2016) zur Literatur und Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 40. 1 - 2 (2017) zu anderen audiovisuellen Medien und Künsten. 6 Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) Erstens sollten die Beschreibungsinventare weiter semiotisch fundiert, auf andere Theorien der Inter-, Trans-, Pluri sowie Multimedialität und Multimodalität bezogen und von diesen bestehenden Theorien auch abgrenzt werden, um sowohl die semiotische Theoriebildung als auch andere Theorien weiterzuentwickeln. Auf diese Weise sollte weiter zur Vertiefung und Entwicklung semiotischer Literaturtheorie im Besonderen und semiotischer Medientheorien im Allgemeinen beigetragen werden. Zweitens bleibt in größeren Korpusanalysen zu fragen, wie sich Klassifikationssysteme wie beispielsweise Hoch- und Populärkultur oder der Kunstbegriff und die Schemaliteratur im Zuge transmedialer Re-Funktionalisierungen, Umkodierungen, De-Semantisierungen und Erweiterungen klassischer Literatur weiterentwickeln. Die Beiträge dieses Bandes möchten damit also auch zu weiteren Analysen konkreter Beispiele anregen, damit synchron und diachron kulturspezifische Wissensordnungen durch das System sie repräsentierender medialer Ordnungen rekonstruiert werden. 3 Grenze(n) - Schnittstelle(n): Lotmans Konzept der Semiosphäre Eine Möglichkeit, systematisch die medialen Beziehungen zwischen Literatur und Medien zu beschreiben, sei mit Lotmans Konzept der Semiosphäre abschließend noch angefügt (cf. Lotman 1990). Viele der hier vorgelegten Beiträge berufen sich mehr oder weniger explizit auf dieses Konzept, wie es ähnlich schon mehrfach dargelegt wurde (cf. Decker 2016, Decker 2017 und Decker 2018). Dabei sei zunächst kurz auf das Verhältnis der Begriffe ‘ Grenze ’ und ‘ Schnittstelle ’ eingegangen, um ihren in der Regel metaphorischen Gebrauch besser reflektieren zu können. Grenzen bestimmen unser Handeln als Menschen, indem sie uns Orientierung verleihen: Sei es, dass architektonische und topographische Grenzen Lebensräume, Arbeits- und Freizeitwelten voneinander scheiden; sei es, dass soziale, kulturelle und historische Grenzziehungen Ideologien, Religionen und Mentalitäten in Opposition und oder in eine Beziehung zueinander bringen und unser Denken und unsere Tradition prägen. Grenzen strukturieren beispielsweise als visuell inszenierte Grenzen zwischen außen und innen, fremd und eigen, bekannt und neu unseren Alltag ebenso wie als abstrakte Grenzen unser Denken in Kategorien, Begriffen und Denkmustern. Indem Menschen Grenzen ziehen und Wahrnehmungen, Sachverhalte und Begriffe voneinander trennen, schaffen Grenzen durch ihre Unterscheidung in das Eine und das Andere Strukturen, die es überhaupt erst ermöglichen in dieser Unterscheidung Bedeutung und Sinn zu konstituieren und sich über sich selbst zu verständigen. Schon wenn sich ein Ich als ein Subjekt im Gegensatz zu einem Objekt setzt, über das es nachdenkt, manifestiert sich im menschlichen Denken eine Grenze, der eine Kommunikation darüber vorausgegangen sein muss, was das Ich eigentlich im Gegensatz zu einem Anderen in seiner Umwelt auszeichnet (cf. Eco 1972: 28 - 44). 2 Grenzziehungen sind also immer Ergebnis eines menschlichen Erkenntnis-, Interaktions- und Kommunikationsprozesses, die durch die Kraft der Unterscheidung Kontakt 2 In eine ähnliche Richtung weist Wittgenstein auch mit dem Satz 5.632 im Tractatus Logico-Philosphicus: “ Das Subjekt gehört nicht zur Welt, es ist eine Grenze der Welt. ” (Cf. Wittgenstein 1922: Satz 5.632) Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten 7 zwischen unterschiedlichen Seins- und Objektbereichen herstellen können und menschliches Denken, Handeln und Kultur generell strukturieren: Grenzen in diesem Sinne fungieren als Schnittstellen zwischen Systemen, die sie zueinander in Beziehung setzen. Insofern das menschliche Denken dabei immer an einen zeichenbasierten, vor allem imaginär-sprachlichen Kommunikationsprozess gebunden ist, bedeuten nach Wittgenstein für das Subjekt “ die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt ” (Wittgenstein 1922: Satz 5.6). Hier fundiert Wittgenstein das Grundverständnis der Semiose - also der menschlichen Kommunikation als Zeichenproduktion, Zeichenwahrnehmung und Zeichendeutung - einerseits als eine anthropologische Konstante. Andererseits sind die Zeichen und Zeichensysteme, mit denen sich der Mensch die Welt in einem Deutungsakt innerhalb eines Kommunikationsprozesses erschließt, kulturelle Konstruktionen und Prozesse. Dabei setzt sich das Subjekt mittels der kulturell vorgefundenen Zeichensysteme in Bezug zu einem Weltentwurf und dem propositionalen und prozessualen Wissen seiner ihn umgebenden (Teil-)Kulturen. Angesichts des gegenwärtigen Medienwandels durch die neuen Medien und die allgegenwärtigen multimodalen Kommunikationsformen ließe sich in dieser Perspektive Wittgensteins logozentrische Auffassung zeitgemäß formulieren: ‘ Die Grenzen der mir verfügbaren Zeichensysteme und Kommunikationsmittel sind die Grenzen meines Weltentwurfes und meiner Verarbeitung kulturellen Wissens. ’ Der Entwicklung semiotischer Prozesse und damit medialem Wandel kommt damit auch eine Rolle in der Modernisierung der Gesellschaft und im kulturellen Wandel zu, da neue Wahrnehmung, neues Denken und neue kulturelle Praxen nur durch neue Zeichen, Zeichenkombinationen oder Zeichensysteme möglich werden. Auf genau diesem Verständnis von Semiose baut der estnische Literatur- und Kultursemiotiker Jurij Lotman mit seinem Konzept von der Semiosphäre auf (Cf. Lotman 1990), das die menschliche Kultur als Menge in sich strukturierter Zeichenräume erfasst und beschreibt, an deren unterschiedlichen Grenzen Sinn produktiv neu entstehen und von einem Zeichenraum in einen anderen Zeichenraum übersetzt werden kann. Lotman bildet den Begriff der Semiosphäre in Anlehnung an die Begriffe Biosphäre und Zoosphäre als vom Menschen erzeugter, abgrenzbarer Zeichenraum, der einerseits die kommunikativ in Semiosen hervorgebrachte menschliche Kultur in Gänze umfasst und andererseits auf alle möglichen National-, Teil-, Subkulturen synchron und diachron übertragen werden kann. Semiosphären strukturieren sich dabei durch fortlaufende Prozesse der Integration von Texten, Kodes und Zeichen, die ein Zentrum in Form von Haltungen, Einstellungen, Leitdifferenzen, Werten und Normen, Problemlösungsstrategien, verfestigten Kodes und Zeichen der Zeichenbenutzer ausbilden. Gleichzeitig laufen permanent Prozesse der Desintegration und Entsemiotisierung ab, so dass die Zeichenbenutzenden nicht mehr alle und nicht mehr vollständig kohärent und konsistent die Bedeutung und Verknüpfung von Zeichen, Bedeutungen, Kodes und Texten leisten. An dieser Peripherie der Semiosphären kommt es nach Lotman nun zu Kontaktphänomenen, bei denen an Schnittstellen Übersetzungen über die Grenzen einer Semiosphäre in eine andere vorgenommen werden und so neue Zeichen, neue Kodes und neuer Sinn entstehen können. Durch diese Kontaktphänomene an den Schnittstellen von Semiosphären lassen sich also sowohl medienübergreifende also auch kulturspezifische Prozesse der Vernetzung von Zeichen, Kodes und medialen Formaten in den neuen Medien ebenso wie in 8 Jan-Oliver Decker (Passau) und Amelie Zimmermann (Passau) traditionellen kulturellen Bereichen systemisch beschreiben, wie das Konzept der Semiosphäre entgegengesetzt auch erlaubt, die Kanonbildung in Einzelmedien und Teilkulturen aus einer medienkulturwissenschaftlichen Perspektive zu erklären. Mit Hilfe der Semiosphäre kann damit kultureller Wandel ebenso wie Medienwandel systematisch auf der Grundlage semiotischer Prozesse und semiotischer Beschreibungs- und Analyseverfahren beschrieben und erklärt werden. Ausgehend vom basalen differenzlogischen Prinzip des menschlichen Denkens zeigt sich im Konzept der Semiosphäre damit nicht im Umkehrschluss, dass die Welt in einfache binäre Dichotomien strukturiert wäre. Vielmehr zeigt sich im Konzept der Semiosphäre, wie das Denken an seinen Schnittstellen komplexe und dynamische kulturelle Systeme in vielfältigen medialen und semiotischen Bedingtheiten generiert. Auch dies zu erkennen und zu analysieren, möchte der vorliegende Band ermöglichen. Bibliographie Decker, Jan-Oliver 2016: “ Transmediales Erzählen. Phänomen - Struktur - Funktion ” , in: Hennig und Krah (eds.) 2016: 137 - 171 Decker, Jan-Oliver 2017: “ Medienwandel ” , in: Krah und Titzmann (eds.) 2017: 423 - 446 Decker, Jan-Oliver 2018 a: “ Strukturalistische Ansätze in der Mediensemiotik ” . In: Endres und Herrmann (eds.) 2000: 79 - 95 Decker, Jan-Oliver (ed.) 2018 b: Selbstreferenz und Selbstreflexion in a/ v-Medien. Formen und Funktionen in medien- und kulturhistorischen Kontexten, Tübingen: Narr (=Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 40. 1 - 2, 2017) Decker, Jan-Oliver et al. (eds.) 2018: Selbstreferenz und Selbstreflexion in der Literatur. Formen und Funktionen in literatur- und kulturhistorischen Kontexten, Tübingen: Narr (= Kodikas/ Code An International Journal of Semiotics 39. 3 - 4, 2016) Umberto Eco 1972: Einführung in die Semiotik, München: Fink Endres, Martin und Leonhard Herrmann (eds.) 2018: Strukturalismus, heute. Brüche, Spuren, Kontinuitäten, Stuttgart: de Gruyter Hennig, Martin und Hans Krah (eds.) 2016: Spielzeichen. Theorien, Analysen und Kontexte des zeitgenössischen Computerspiels, Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch Johnson, Steven 1997: Interface Culture. How new technology transforms the way we create and communicate. New York (NY): Basic Books Krah, Hans und Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive, Passau: Schuster Lotman, Jurij M. 1990: “ Über die Semiosphäre ” , in: Zeitschrift für Semiotik. Band 12 Heft 4 (1990): 287 - 305 Wittgenstein, Ludwig von 1922: Logisch-philosophische Abhandlung, London: Kegan Paul (= Tractatus Logico-Philosophicus) Schnittstelle/ n zwischen Literatur, Film und anderen Künsten 9
