eJournals Kodikas/Code 41/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/71
2018
411-2

Bild – Spiel – Literatur. Zur Interaktion audiovisueller, ludischer und literarischer Erzählstrategien in der Visual Novel

71
2018
Martin Hennig
kod411-20073
K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Bild - Spiel - Literatur. Zur Interaktion audiovisueller, ludischer und literarischer Erzählstrategien in der Visual Novel Martin Hennig (Passau) The Japanese Visual Novel as a mixed media artefact enriches the dominant text with supplementary illustrations and sound on the one hand, and incorporates simple ludic structures with influence on the narrated story on the other. Using selected examples, this paper will first analyze the text-image relationship of the visual novel. Secondly, it will work out the values and norms transported in this context with a focus on the question to what extent cultural specifics can be observed here. Thirdly, I will examine how the basic structures of digital games are realized in the literary format. On the basis of these dimensions, a final conclusion will be drawn as to the position of the Visual Novel in the media network and the synergy effects between the media complements in this context. 1 Die Visual Novel als digitaler Medienhybrid Die Visual Novel ist ein spezielles, aber in zweierlei Hinsicht besonders aufschlussreiches Beispiel für aktuelle medienkulturelle Tendenzen. Erstens ist sie ein digitaler Medienhybrid und inkludiert vielfältige Schnittstellen zwischen Literatur und anderen Medien. Die Visual Novel, auf Deutsch auch ‘ Bildroman ’ , wird stationär auf PC und Spielekonsolen veröffentlicht, viele Titel werden jedoch gleichzeitig auch für mobile digitale Medien wie Smartphones, Tablets und mobile Spielekonsolen wie die Playstation Vita oder den Nintendo 3DS produziert. Dabei reichert die Visual Novel ihre primäre Textausgabe einerseits multimedial mit grafischen Standbildern (teilweise auch einfachen Animationen), Sprachausgabe und Sound an, andererseits inkorporiert sie reduzierte ludische Elemente, also interaktive Spielstrukturen, mit denen an einzelnen Punkten Einfluss auf den weiteren Verlauf der erzählten Geschichte genommen werden kann. Hinzu kommt zweitens eine interkulturelle Dimension der digitalen Textgattung. Visual Novels werden in der Regel auch heute noch primär in Japan produziert und sind dort äußert populär und erfolgreich. So konnte Steins; Gate 0 (5pb. 2015), der Nachfolger des Visual-Novel-Klassikers Steins; Gate (5pb./ Nitroplus 2009) bereits am ersten Veröffentlichungstag über 100.000 Kopien absetzen (cf. Ressler 2015). Dabei gewinnt die Visual Novel jedoch auch international an Relevanz und Popularität: So listet die Seite VisualNovel.de mittlerweile über 120 Veröffentlichungen mit deutscher (zum Teil von Fans produzierter) Übersetzung (cf. VisualNovel.de 2019) und zusätzlich zu den Neuveröffentlichungen, die häufig zumindest eine englische Sprachvariante enthalten, erfahren Klassiker der Gattung zunehmend eine Wiederveröffentlichung für den amerikanischen und europäischen Markt. Dabei sind die exklusiv in Japan veröffentlichten Produktionen und solche, die auch in Amerika und/ oder Europa lizensiert werden, auf thematischer Ebene tendenziell unterscheidbar: Während der japanische Markt von Visual Novels mit romantischen Inhalten dominiert wird, die außerhalb Japans weniger populär sind, basieren die exportierten Produktionen im Schwerpunkt auf im westlichen Raum konventionalisierten Genres wie der Kriminal-, Science-Fiction- oder Horrorerzählung (cf. Cavallaro 2010). Dabei erschöpft sich die Visual Novel jedoch keineswegs in solchen - nach Genette - architextuellen Gattungsreferenzen, sondern fügt relevante Bedeutungsebenen hinzu, wobei ihre grundsätzlichen Erzählstrukturen genreübergreifend vergleichbar auch mit den Texten mit romantischen Inhalten angelegt sind. Mit Blick auf Schnittstellen zur Literatur wird der folgende Beitrag nun anhand ausgewählter Beispiele erstens das Text-Bild-Verhältnis der Visual Novel analysieren, mit einem Schwerpunkt darauf, inwiefern systemische Nullpositionen von Text und Bild durch das jeweilige Komplement gefüllt und konkretisiert werden. Zweitens wird herausgearbeitet, welche Bedeutungen die Visual Novel im Allgemeinen transportiert und inwiefern hier kulturelle Spezifika auszumachen sind. Drittens wird untersucht, wie sich interaktive Grundstrukturen des Computer- und Videospiels in diesem Format realisieren. Auf dieser Basis soll viertens ein Fazit dazu gezogen werden, welche Stellung dem Dispositiv der Visual Novel im Medienverbund zukommt. Als Grundlage der Untersuchung dienten 20 Visual Novels aus unterschiedlichen Erzählgenres 1 , denen sämtlich eine gewisse Popularität zukommt, insofern sie alle eine (in der Regel englischsprachige) Lokalisierung für den westlichen Markt und zum Teil auch eine Fortsetzung erfahren haben. 2 Text-Bild-Verhältnis Grundsätzlich ist bezüglich des Text-Bild-Verhältnisses der Visual Novel ein einheitliches Schema zu konstatieren: Am unteren Bildrand konstituiert sich die eigentliche Erzählung über eine Abfolge von Textkästen, wobei deren Textlänge - dem häufig mobilen Nutzungskontext geschuldet - in der Regel wenige Zeilen nicht überschreitet. Der Wechsel der Bildschirmtexte erfolgt entweder nach einer gewissen Zeit automatisch oder muss durch einen Tastendruck gesondert initiiert werden. Der Erzählinhalt wird auf grafischer Ebene ergänzt durch eine recht generische Abfolge von Standbildern, die den jeweiligen Handlungsort repräsentieren. Gemäß filmischer Darstellungskonventionen wird dabei zur Raumorientierung von Panoramaaufnahmen der jeweiligen Handlungsorte zu Standbildern der Innenräume geschnitten, auch dominiert eine zentrale Bildperspektive, seltener 1 Dabei wurden unter anderem Beispiele aus den Genres Science-Fiction (Psycho-Pass: Mandatory Happiness, 5pb. 2015), Horror (Corpse Party: Blood Covered, Team GrisGris 2008), Thriller (Virtue ’ s Last Reward, Spike Chunsoft 2012), Krimi (Hotel Dusk: Room 215, CING 2007), Justiz (Phoenix Wright: Ace Attorney Trilogy, Capcom 2014) und Romantik (Is It Love? Carter Corp, 1492 Studio 2019) gewählt. 74 Martin Hennig (Passau) finden sich isometrische Raumbilder. In Dialogen kommt ein Portrait der jeweiligen Sprechenden im Bildvordergrund hinzu (cf. Abb. 1). Abb. 1: Screenshot aus Psycho-Pass: Mandatory Happiness Hier ergeben sich auf den ersten Blick nun zwar deutliche ästhetische Parallelen zum Medium des Comics und noch spezifischer zur Graphic Novel, die sich aufgrund ihrer thematischen Ausrichtung und strukturellen Komplexität in der Regel tendenziell ebenfalls an ein erwachsenes Zielpublikum richtet. Als erster Unterschied fällt allerdings auf, dass Dialoge in der Visual Novel nicht durch Sprechblasen vermittelt werden, sondern konventionell wie die schriftbasierte Weltbeschreibung in die Textkästen unten im Bild integriert sind, die damit die Funktion einer impliziten Erzählinstanz als vermittelnder Größe zwischen Intra- und Extradiegese übernehmen und diese im Bild verorten. Zweitens ist die bildliche Struktur der Visual Novel gegenüber dem Comic außerordentlich starr angelegt, die Konventionalität der Inszenierung geht regelmäßig entgegen ihrer diegetischen Kohärenz und entspricht nicht den Regeln der Kontinuitätsmontage des klassischen Hollywood-Kinos (an denen sich zumindest Mainstream-Comics häufig orientieren): Nicht nur, dass sämtliche Sprechende im Dialog stets in Frontalansicht abgebildet und damit den Rezipierenden (anders als etwa im Schuss-Gegenschuss-Verfahren) permanent zugewandt sind. Auch verweist der Bildhintergrund der Charakterportraits häufig nur zeichenhaft und nicht mimetisch auf die dargestellte Situation. So wird ein Dialog zwischen zwei Figuren in einem fahrenden Auto in der Visualisierung von Psycho Pass vor dem statischen Hintergrund einer Straße inszeniert, derAutoinnenraum bleibt eine visuelle Leerstelle. Hier zeigt sich, dass die Bildhaftigkeit einer Visual Novel nur oberflächlich den in der Regel um Kohärenz bemühten Darstellungskonventionen des Filmes oder des Mainstream- Comics entspricht, ihr Mehrwert liegt vielmehr in einer losen räumlichen Orientierung sowie der Konkretisierung von schriftbasierten Charakterbeschreibungen. Auch wenn es auf dem Bildschirm den größeren Raum einnimmt, ist das Bild dem Text hier deutlich subordiniert und funktional für die maximal ökonomische Struktur der schriftbasierten Bild - Spiel - Literatur 75 Informationsvergabe (mit jeweils nur wenigen Zeilen Text pro Bild). Als Konsequenz wird die dargestellte Welt (die im Beispiel Psycho Pass genrebedingt eigentlich im Fokus der Science-Fiction-Erzählung steht) nur ausschnittsweise anhand weniger Standbilder sichtbar, ihre Details werden ausschließlich über Figurendialoge und Beschreibungen der impliziten Erzählinstanz in den Textkästen expliziert, was der Visual Novel eine dezidiert literarische Qualität verleiht. Demgegenüber ist etwa das Text-Bild-Verhältnis 2 des Vergleichsmediums des Comics und der Graphic Novel im Schwerpunkt komplementär angelegt. Analog zum interaktiven Charakter der Visual Novel realisiert die Portraitästhetik darüber hinaus eine ästhetische Referenz auf das digitale Spiel. Insofern die Sprechenden konventionell in einer Frontalansicht abgebildet sind, akzentuieren Visual Novels die Blickachse zwischen Rezipierenden und Figuren. Das Dargestellte wird folglich äquivalent zu den meisten Computer- und Videospielgenres “ über die Zurichtung und Ausrichtung des Sichtbaren ” (Zumbansen 2008: 193) auf die Blickperspektive der Nutzenden strukturiert, auch wenn Dialogzeilen zum Beispiel eigentlich an jemand anderen im Bild gerichtet sind. Mithilfe dieses intermedialen Bezugs werden der interaktive Charakter der Erzählung und die aktive Rolle der Rezipierenden bei der Handlungsrealisation hervorgehoben. Insgesamt wird durch diese Mixtur aus generischer, unterkomplexer grafischer Oberfläche und den schon in der Gattungsbezeichnung als romanhaft ausgewiesenen Erzählungen eine ästhetische Differenz erzeugt. Diese Differenz wird insofern kohärent in die erzählten Geschichten eingebettet, als diese in ihren Themen häufig ebenfalls eine Dichotomie aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ entwerfen, womit die Histoire die ästhetische Opposition des Discours multipliziert: Die Erzählungen der Visual Novel kreisen im Schwerpunkt um psychische Traumata, Identitätskrisen oder verworrene Familiengeschichten im Sinne biografischer Tiefenstrukturen, die im Rahmen der Mediennutzung sowohl ‘ hinter ’ der generischen grafischen Oberfläche wie auch ‘ hinter ’ scheinbar stereotypen Strukturen der dargestellten Welt und ihren Figuren freizulegen sind. Diese Beobachtung führt zur semantischen Struktur. 3 Semantische Struktur Auf visueller Ebene der Charakterportraits einer Visual Novel finden sich häufig stark jungen- oder mädchenhafte Zeichnungen im sogenannten kawaii-Stil. 3 Dieser repräsentiert eine Art überzeichnetes Kindchenschema oder nach Dani Cavallaro: “ the cult of cuteness ” (cf. Cavallaro 2010: 21). In der Manga- und Anime 4 -Forschung wird dieser Zeichenstil einerseits als eine gezielte Abweichung gegenüber den kulturellen Paradigmen der Strenge und Ernsthaftigkeit im Kontext von Arbeit, Familie und sozialen Beziehungen in Japan aufgefasst. Anderseits würden damit Konzepte von Einfachheit, Schwäche oder gar Unfähigkeit aufgerufen, was einer buddhistischen Weltsicht entspräche, welche die 2 Cf. allgemein zum Verhältnis von Texten und Bildern Titzmann 2017. 3 Zu den Spezifika japanischer Medien- und insbesondere von Spielkultur cf. den breiten Überblick bei Kato/ Bauer 2020. 4 Der Begriff subsumiert in Japan produzierte Zeichentrickfilme, zu denen häufig Mangas (japanische Comics) die Vorlage liefern. 76 Martin Hennig (Passau) Akzeptanz eigener Schwächen als Voraussetzung zur Selbsterkenntnis propagiere. Dabei repräsentiere sich im Kindchenschema ein eher emotionaler gegenüber einem rein rationalen Weltzugang (cf. Cavallaro 2010: 19 - 27). 5 Insgesamt wird der Zeichenstil folglich als Kompensationsstrategie gegenüber rigiden kulturellen Normen verstanden. In diese Richtung mag auch die häufig starke visuelle Sexualisierung der in der Regel mädchenhaften weiblichen Charaktere deuten, womit die Bilder einer dominanten Male-gaze-Struktur (cf. grundlegend Mulvey 1994) unterworfen werden, 6 was vor allem im Falle sehr junger Protagonistinnen zusätzlich irritierend auf westliche Sehgewohnheiten wirkt. Aus mediensemiotischer Perspektive ist nun allerdings weiter nach der Funktion von derlei Oppositionsbildungen in der Charakterisierung zwischen kindlich und erwachsen (was auf die bereits besprochene Dichotomie aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ verweist) für die Bedeutungsbildung der Visual Novel in ihrer Gesamtheit zu fragen. Ein Schwerpunkt der Visual Novel liegt im sogenannten Otome-Genre. Hier gilt es, durch Entscheidungen an ausgewählten Punkten des Geschehens darüber zu bestimmen, mit welcher Figur der Protagonist oder die Protagonistin eine romantische Beziehung eingehen soll. Insofern diese Struktur stark konventionalisiert ist, finden sich mittlerweile einige Werke, die das zu Grunde liegende Schema reproduzieren, dabei jedoch selbstreflexiv mit dem Sujet umgehen und eine weitere Bedeutungsebene eröffnen, wobei die angesprochenen Oppositionen aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ dramaturgisch noch einmal pointiert werden. Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür wird im Folgenden näher untersucht. 7 In Hatoful Boyfriend HD (Mediatonic 2014) 8 werden drei Trimester an einer japanischen High-School geschildert, wobei im Idealfall am letzten Tag des Schuljahres eine romantische Beziehung zu einer der übrigen Figuren konstituiert wird. Dafür gilt es, an über 20 Handlungspunkten kleinere Entscheidungen zu treffen (welches Schulfach wähle ich, wen nehme ich mit zum Sportfest usw.), die dann in der abschließenden Beziehungsanbahnung kulminieren. Das besondere an Hatoful Boyfriend HD ist nun allerdings, dass sämtliche Charaktere, bis auf die Protagonistin, Tauben sind (s. Abb. 2). Dies spielt für den Handlungsverlauf allerdings auch erst einmal eine untergeordnete Rolle, denn dieser Umstand manifestiert sich neben der visuellen Charakterdarstellung lediglich in wenigen diegetischen Details (zum Beispiel dienen als Geschenke zwischen den Figuren Körner). Im Schwerpunkt reproduziert die textuelle Struktur dabei weiterhin Charakter-Stereotypen der Otome: Es gibt den nachdenklichen (Tauben-)Aristokraten, den fürsorglichen Freund, einen reiferen Männertypus mit tragischer Vergangenheit etc. Diese simple Textstruktur sieht vor, dass es im Normalfall genügt, sich an mehreren narrativen Knotenpunkten für eine dieser Figuren zu entscheiden, um eine Beziehungsintensivierung zu gewährleisten. Das geht dann stets mit der Aufdeckung einer psychologischen 5 Aus einer produktionsästhetischen Perspektive wird von Cavallaro weiter auf die historischen Anfänge der japanischen Comickultur und deren Orientierung an der Ästhetik früher Disney-Cartoons verwiesen. 6 Dies gilt insbesondere für die in einigen Visual Novels auftauchenden sogenannten Panty Shots, in denen eine untersichtige Kameraperspektive den Blick auf die Unterwäsche der Figuren lenkt. 7 Ein weiteres einschlägiges Beispiel für selbstreferenzielle und selbstreflexive Formen der Visual Novel ist Doki Doki Literature Club (Team Salvato 2017). Cf. die Analyse bei Ruf/ Matt 2020. 8 Untersucht wurde hier das internationale Remake des japanischen Originals aus dem Jahr 2011. Bild - Spiel - Literatur 77 Tiefenstruktur oder biografischen Zäsur einher: Ein traumatisches Erlebnis in der Vergangenheit des jeweiligen Partners wird offenbart; der Grund für dessen abweichendes Verhalten in der Gegenwart wird ausgeführt. Die Offenbarung dieses figurendefinierenden Geheimnisses repräsentiert dabei zeichenhaft den romantischen Erfolg, denn die eigentliche Beziehung oder eine erotische Ebene sind kein Teil der einzelnen Geschichten mehr - was mit Blick auf die speziesübergreifende Personenkonstellation von Hatoful Boyfriend HD noch pointiert wird, da diese die Darstellung einer sexuellen Vereinigung von vornherein auszuschließen scheint. In diesem Rahmen führt das Untersuchungsbeispiel über eine implizite Gattungsreferenz selbstreflexiv die Funktionsweise des Otome-Genres vor Augen: Die übliche darstellungsästhetische Opposition aus ‘ Kindchenschema ’ vs. ‘ Sexualisierung der Charaktere ’ inszeniert auf visueller Ebene eine Opposition aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ , die auf Handlungsebene in der Regel jedoch gerade nicht im Sinne sexueller Ausschweifungen aufgelöst wird. Solche sind im kulturellen Kontext üblicherweise in der Gattung des Hentai angesiedelt, der pornografischen Variante des Mangas oder Animes. 9 Dagegen wird in der Visual Novel die nicht aufgelöste bildliche erotische Opposition ( ‘ Kindchenschema ’ vs. ‘ Sexualisierung der Charaktere ’ ) durch die Aufdeckung einer weiteren Tiefenstruktur kompensiert: Die Diskrepanz zwischen kindlich-stereotyper Charakterzeichnung in den Dialogen und der aufzudeckenden biografischen Tiefe verweist auf genau jene Konnotation von ‘ Erwachsensein ’ und ‘ Erwachsenwerden ’ , auf die sonst auch die visuelle Sexualisierung der Figuren deutet. Hieran anknüpfend verweigert Hatoful Boyfriend HD durch das Taubenmotiv von vornherein jegliche erotisierte Blickstruktur und übersteigert gleichzeitig das Otome- Erzählprinzip. Weil die Protagonistin nie zu sehen ist und weil ihre potenziellen Liebhaber sämtlich Tauben sind, die zwar charakterlich als stark unterschiedlich beschrieben werden, visuell jedoch - analog zur figurenübergreifenden Sexualisierung der weiblichen Charaktere und der im kawaii-Stil gehaltenen männlichen Figuren in anderen medialen Beispielen - kaum voneinander abweichen, wird unterstrichen, dass die visuelle Ebene hier strukturell eine nur untergeordnete Rolle spielt. Die visuellen Zeichen bilden lediglich die zu ‘ enthüllende ’ und damit transparent zu werdende Oberfläche der Erzählung. Den eigentlichen Handlungskern der Otome bildet dagegen die Aufdeckung der individuellen, zumeist tragischen und schriftbasiert vermittelten Figurenhintergründe, wobei sich diese Ebene hinter der knallbunten Oberfläche der Dating-Erzählung, deren Farbschema im vorliegenden Fall von im Schwerpunkt rosafarbenen Pastelltönen geprägt ist, nur maskiert. Hat man nun in Hatoful Boyfriend HD die zentralen Beziehungskonstellationen einmal durchlaufen, das heißt, man ist in mehreren Handlungsdurchläufen mit jeder Hauptfigur eine Beziehung eingegangen, öffnet sich eine weitere Ebene der Geschichte. Das dargestellte Schuljahr folgt dem üblichen Ablauf, doch an einem vordefinierten Handlungspunkt wird die Leiche der bisherigen menschlichen, weiblichen Hauptfigur aufgefunden und die Nutzenden verkörpern von nun an einen der männlichen (Tauben-)Charaktere (Ryouta), mit dem es im ursprünglichen Programmmodus galt, eine Beziehung zu beginnen. 9 Wobei es auch entsprechende Visual Novels gibt, die allerdings - vor allem mit Blick auf jene für den westlichen Kulturraum lokalisierten Produktionen - deutlich in der Minderheit sind. 78 Martin Hennig (Passau) Mit dem Wechsel der Erzählperspektive ist dabei gleichzeitig ein Wechsel des Erzählgenres indiziert: Aus der Beziehungssimulation wird eine Kriminal- und Verschwörungsgeschichte. 10 Dabei werden laufend Elemente der Ursprungserzählung des Dating-Adventures rekontextualisiert, indem etwa zeitliche Leerstellen in einer Figurenerzählung nun zu Gelegenheiten für eine Mitwirkung an der Ermordung der Protagonistin umgedeutet sind. 11 Zum Schluss stehen die beiden Handlungsteile dann in Opposition zueinander. Denn gilt es im ersten Teil weitestgehend unproblematisiert durch die Anbahnung einer Liebesbeziehung eine Brücke zwischen den Spezies Mensch und Taube zu schlagen, dreht sich der trotz des Sujets sehr ernst erzählte (siehe unten) und an die bildlichen Kodes des Horrorfilms angelehnte zweite Teil 12 um die unauflösbare ideologische Differenz der beiden Gruppen. Der Mord an der Protagonistin ist das Resultat eines übergeordneten Konflikts zwischen Menschen und Tauben. Das Finale dreht sich gar um ein Massaker der Tauben an den Menschen durch die Verbreitung eines Vogelgrippevirus (! ), was nur knapp verhindert werden kann. Dieser Handlungsumschwung korrespondiert wiederum mit den typischen Erzähltechniken der Visual Novel im Allgemeinen. Cavallaro subsumiert diese folgendermaßen (cf. Cavallaro 2010: 12): narrative multiperspectivalism; branching and crisscrossing yarns; deliberately inconclusive resolutions; unconventional blend of the mundane and the supernatural; interweaving of domestic and mythological milieux. Die hier konstatierte Tendenz zur Grenzüberschreitung auf Ebene der strukturell häufig offen endenden, multiperspektivischen Erzählungen (indem sich Genres und Motive in ihnen vermischen) korrespondiert mit einer Vielzahl von Grenzen innerhalb des Erzählten, die funktional für die Inszenierung der Visual Novel sind. Im zweiten Handlungsteil von Hatoful Boyfriend HD zeigt sich die Tendenz zur Grenzkonstruktion auf mehreren Ebenen: 1. Kulturell: Handlungstragend für den zweiten Teil der Geschichte ist eine kulturelle Grenze (Menschen vs. Tauben), die in einen Genozid zu münden droht, auf deren Grundlage ein Konflikt zwischen kulturellen Selbst- und Fremdbildern verhandelt wird. Dieser ideologische Konflikt wird einerseits dramaturgisch in Form des Perspektiv- und Genrewechsels zwischen erstem und zweitem Handlungsteil von Hatoful Boyfriend HD angezeigt. Dabei wird der ideologische Konflikt andererseits durch die Zäsur zwischen den beiden Weltentwürfen, die mit Dating- und Detektiverzählung jeweils verkoppelt sind, strukturell in Form von unterschiedlichen Erzählmodellen und darauf bezogenen Interaktionen erst kanalisiert. 10 Wenn mit dem Gender der Hauptfigur auch das Genre wechselt, dann stellt dies natürlich einen stereotypen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Protagonisten und der Erzählweise her. 11 Diese Polysemie betrifft auch den Titel des Spieles. “ Hato ” beutet im japanischen “ Taube ” und “ Hatoful ” lässt sich je nach englischer Aussprache entweder als “ heartful ” oder “ hateful ” verstehen. 12 Auch außerhalb von so herausgehobenen Beispielen wie Hatoful Boyfriend HD ist es im Otome-Genre nichts Ungewöhnliches, dass das Motiv der zukunftsgerichteten Partnersuche durch auffallend düstere Erzählwendungen (konventionell durch ein Aufdecken der Vergangenheit der Figuren) konterkariert wird. Bild - Spiel - Literatur 79 2. Sozial: Dieser übergeordnete kulturelle Konflikt manifestiert sich im Rahmen der Kriminalerzählung in der sozialen Grenze zwischen Individuum und Kollektiv. Potenziell sind alle Figuren für den Protagonisten verdächtig. Statt Nähe im Rahmen der Dating- Erzählung herzustellen, wird nun reflexive Distanz im Dialog erzeugt, insofern es gilt, sämtliche Äußerungen zu hinterfragen und die Figuren damit zu konfrontieren. 3. Psychisch: Schließlich wird auf individueller Ebene die Grenze zwischen Ich und Nicht- Ich thematisch. Ryouta deckt im Handlungsverlauf sukzessive Erinnerungen an seine Vergangenheit und den Tod seiner Eltern auf. 13 Hier wird wieder die Brücke zur obersten Ebene geschlagen, denn Ryoutas Vorgeschichte steht ebenfalls im Zusammenhang mit dem Konflikt der Spezies. Am Ende wird enthüllt, dass Ryouta selbst ohne sein Wissen mit dem Vogelgrippevirus infiziert wurde, als lebende Waffe gegen die Menschheit eingesetzt werden sollte und aufgrund einer ungewollten Ansteckung für den Tod der früheren Protagonistin verantwortlich zeichnet. Derlei semantische Oppositionen und Grenzziehungen sind typisch für die Visual Novel. Sie werden lediglich je nach Sujet unterschiedlich ‘ befüllt ’ , etwa wenn in Bezug auf kulturelle Konflikte das Verhältnis ‘ Mensch ’ vs. ‘ Technik ’ verhandelt wird (cf. etwa das Beispiel Psycho Pass: Mandatory Happiness vom selben Entwicklungsstudio) oder wenn im Rahmen einer Horrorerzählung der Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv über eine zeitweilige dämonische Besessenheit der Figuren erzeugt ist (cf. Corpse Party: Blood Covered). Generell zeichnen sich die Erzählungen der Visual Novel damit stets durch eine Vielzahl an Grenzziehungen zwischen Protagonisten und Umwelt aus und transportieren im Schwerpunkt Entfremdungserfahrungen. Dies wird funktional für die hier repräsentierten, stark subjektivierten, häufig autodiegetischen Erzählungen in der ersten Person, die in der Regel keine den Protagonisten übergeordnete, personalisierte Erzählinstanz aufweisen. Dieser Ich-Fokus der Erzählung sorgt dafür, dass neben der zentralen Figur auch die Lesenden unmittelbar adressiert werden, was wiederum die interaktive Handlungsposition der Nutzenden akzentuiert. 4 Interaktive Struktur Im Rahmen der in der Visual Novel verhandelten Grenzkonflikte besteht das oberste Spielziel stets in einer Überwindung dieser Grenzen, wobei Hatoful Boyfriend HD diese Struktur dramaturgisch pointiert, insofern sich die eigentlich simpel zu überwindende soziale Grenze der Dating-Erzählung hier im Verlauf in eine ideologische Grenze transformiert, die nicht endgültig zu tilgen ist. 13 Dieses Motiv derAufdeckung einer familiären Vorgeschichte haben Visual Novels mit ebenfalls eher text- und erzählorientierten Computer- und Videospielgenres wie dem Adventure gemein, insofern das sukzessive Aufdecken von Geheimnissen hier homolog den Spielfortschritt symbolisiert (cf. Hennig 2017 b: 170). Im Rahmen der symbolischen Rekonstruktion der Familie durch die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit fungiert die damit präsupponierte Wertedimension als ein “ Minimalkonsens in den Kulturen der Moderne ” (Decker 2016: 142), der gerade bei international distribuierten Produktionen für Anschlussfähigkeit sorgt. 80 Martin Hennig (Passau) Für die Visual Novel gilt dabei eines der grundlegenden Prinzipien interaktiver 14 Erzählungen: Je stärker Nutzende durch Entscheidungssituationen auf den Verlauf einer erzählten Geschichte einwirken können, desto schwieriger gestaltet sich die Erzeugung eines kohärenten, sequenzübergreifenden Bedeutungszusammenhangs. Nach Martinez und Scheffel konstituiert sich die Einheit einer Geschichte dadurch, dass sie nicht nur einem chronologischen, sondern auch einem kausalen Zusammenhang folgt (cf. Martinez und Scheffel 2009: 25). Aus dieser Perspektive produzieren alternative Handlungsverläufe stets ein erhöhtes Maß an Kontingenz, denn keine Ereignisfolge ist damit als zwangsläufig zu verstehen. Auch müssen mindestens zwei unterschiedliche Handlungsabläufe programmiert werden, wenn die Entscheidungen der Nutzenden gleich zu Beginn schwerwiegende Auswirkungen auf den Verlauf der erzählten Geschichte nehmen. Mit jeder weiteren Entscheidung potenziert sich dieser Entwicklungsaufwand. Prinzipiell offeriert deshalb auch die Visual Novel Einflussmöglichkeiten auf Ebene der Histoire lediglich an einigen wenigen ausgewählten Kardinalpunkten (cf. zum Begriff Barthes 1988 b), wobei sich die Entscheidungen der Nutzenden vorrangig in unterschiedlichen Endsequenzen summieren (sowohl auf Ebene der Einzelkapitel als auch das Ende der Gesamterzählung betreffend). 15 Dies hält den Programmieraufwand angesichts multilinearer Narrationsverläufe in Grenzen. Allerdings sind Visual Novels prinzipiell auf mehrere Komplettierungsvorgänge der erzählten Geschichte angelegt, um die Erzählung erneut aus einer anderen Figurenperspektive zu verfolgen, oder aber es werden abhängig von den Entscheidungen unterschiedliche episodische Einschübe innerhalb der Diegese aktualisiert, die einzelne Figuren mit einer erweiterten Hintergrundgeschichte versehen. Beispielsweise wenn man sich in einer Otome für eine/ n andere/ n Partner/ in entscheidet und dann dessen/ deren individuelle Biografie offengelegt wird. Hatoful Boyfriend HD übersteigert dieses Prinzip noch, da sich hier die eigentliche Geschichte erst nach mehreren Durchläufen einer anderen Geschichte offenbart. Die hohe Figurenfokussierung der Erzählungen einer Visual Novel erlaubt es folglich generell, Varianzen in der sujetlosen Struktur (nach Lotman: reines Geschehen, ohne Ereignisse, cf. Lotman 1973) der Personenkonstellation zu implementieren, ohne dass dies unmittelbaren Einfluss auf den übergeordneten, sujet- und ereignishaften Handlungsverlauf hätte. Das zu Grunde liegende Schema trägt den Eigenheiten der gewählten Figuren auf Ebene des Geschehens Rechnung, während es prinzipiell identische Ereignisverläufe auf Ebene der sujethaften Textschicht produziert. Die sich aus den Entscheidungsalternativen ergebenden Konsequenzen sind damit in ihren Auswirkungen auf das übergeordnete Weltmodell als gering einzustufen. Visual Novels suggerieren ihren Nutzenden durch die quantitativ vielfältigen Entscheidungssituationen jedoch oberflächlich einen hohen situationsübergreifenden Einfluss. In diesem Zusammenhang halten Marcel Schellong und Tobias Unterhuber der häufig rezeptionsseitig formulierten Kritik, dass solche ausgestellten Handlungsentscheidungen in digitalen Spielen generell nur marginale Konsequenzen nach sich zögen, entgegen: 14 Zu den Unschärfen des Interaktivitätsbegriffs und seinen Bedeutungsdimensionen cf. Hennig 2017 a. 15 Bei Hatoful Boyfriend HD ist es auf diese Weise etwa möglich, einen zusätzlichen Epilog freizuschalten, der andeutet, dass ein Impfstoff für das Virus gefunden wurde, womit das Spiel dann insgesamt auf einer etwas positiveren Note ausklingt. Bild - Spiel - Literatur 81 [Es ist] nicht so wichtig, ob die Entscheidungen Auswirkungen haben, sondern dass die Spielerin annimmt, sie hätten welche. Die Inszenierung der Entscheidung macht die Momente der Entscheidung aus. Wir nehmen sie anders wahr. Wenn wir den Entscheidungsmomenten im heiligen Ernst des Spiels entgegentreten, werden sie erlebbar als Simulationen von realer Erfahrung. (cf. Schellong und Unterhuber 2016: 26) Doch wie lässt sich diese spezifische interaktive Erfahrung der Visual Novel zusammenfassend bewerten? Aufbauend auf den bisherigen Ausführungen lässt sich konstatieren, dass die Visual Novel vornehmlich einer literarischen Struktur folgt und dieser auch prinzipiell nähersteht als den Strukturen digitaler Spiele. Tatsächlich entsprechen ältere Varianten der intermedialen Text-Spiel-Kombination, also etwa Textadventures wie Zork (Marc Blank u. a./ Infocom, 1979) oder Abenteuer-Spielbücher wie diejenigen aus dem Mantikore-Verlag, der interaktiven Grundstruktur digitaler Spiele wesentlich eindeutiger, da sie auch situative Interaktionen außerhalb von strukturell herausgehobenen Entscheidungssituationen kennen. Sowohl im Textadventure als auch in Abenteuer-Spielbüchern werden in der Regel Kämpfe ausgefochten und im Kontext des Abenteuer-Spielbuchs selbst ausgewürfelt. Konventionell muss auch die Figurenbewegung im Textadverture von den Rezipierenden selbst initiiert werden. Demgegenüber stellt die Visual Novel Verbindungen zum Dispositiv des digitalen Spiels vornehmlich auf ästhetischer und thematischer Ebene her. Dies manifestiert sich insgesamt als eine Korrelation zwischen (i) subjektivierter Perspektivierung, (ii) personenzentrierter Erzählung und (iii) Interaktionsschemata. So akzentuieren digitale Spiele bereits auf Ebene ihrer grundlegenden Spielmechaniken und Rauminszenierungsstrategien strukturell die herausgehobene Position der Spielenden: Computerspiele handeln thematisch meist von topographischer Inbesitznahme [durch den Avatar, M. H.] (und visualisieren dadurch eingängig die Zunahme der Machtfülle), sie stellen den Spieler graphisch in den Mittelpunkt (was gerade bei Ego-Shootern vervollkommnet wird), und sie ordnen sich auf technischer Ebene dem realen Spieler stets unter. (cf. Gorsolke 2009: 281) In der Visual Novel repräsentiert sich dieses Prinzip zum einen ebenfalls auf Ebene der Perspektivierung - also im Rahmen der bereits besprochenen Zurichtung des Sichtbaren auf die Perspektive der gespielten Figur, was die dargestellte Welt homolog auf die Nutzenden ausrichtet. 16 Die herausgehobene Position von Spielenden und gespielter Figur manifestiert sich weiter in den vielfältigen intradiegetischen Grenzziehungen zwischen dem Ich und der dargestellten Welt sowie den dort beheimateten Figuren. Schließlich steht das Paradigma der Person im Fokus der Histoire, insofern diese sukzessiv charakterliche Tiefenstrukturen freilegt und die Aneignung der Welt durch die Nutzungsinstanz in der im Handlungsverlauf zunehmenden ‘ Lesbarkeit ’ der übrigen Figuren repräsentiert wird. Diese spezifische Struktur der Visual Novel findet sich im Bereich der populären Beispiele, die auch in der westlichen Kultur erfolgreich sind, semantisch signifikant verdichtet in der Serie Ace Attorney (auf Deutsch: Anwaltsass), deren Serienteile in der Regel 16 Dass sich Figur und Nutzungsinstanz in der Inszenierung aneinander annähern, zeigt sich auch darin, dass die eigene Spielfigur bei vertonten Visual Novels in der Regel keine Sprachausgabe und damit auch keine eigene Stimme erhält. 82 Martin Hennig (Passau) sogar über eine deutsche Lokalisierung verfügen. Weite Teile der dort erzählten Anwaltsgeschichten bestehen aus Gesprächen und Wortgefechten mit Staatsanwälten und Richtern; regelmäßig sind Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen und dabei jeweils Lücken und Lügen in den Aussagen aufzudecken. Anders als im verwandten Computerspielgenre des Adventures üblich sind dabei Welträtsel weniger zentral, bei denen gefundene Gegenstände geschickt kombiniert werden müssen, um ein Weiterkommen in der Topografie des Spiels zu ermöglichen. Stattdessen müssen primär Unstimmigkeiten in persönlichen Aussagen gefunden werden, um damit die ‘ wahre ’ Person hinter ihrer schützenden Fassade freizulegen. Der Figurenfokus der Visual Novel wird hier also eingebunden in das Setting des Gerichtsprozesses als Ort der institutionalisierten Wahrheitsfindung und ist in diesem konventionellen Rahmen auch im westlichen Raum populär. In ähnlicher Weise ergeben sich innerhalb der Visual Novel Strukturanalogien zwischen Erzählung und Interaktionsschemata, wenn sich die spielstrukturell simulierte Freiheit während der Entscheidungssituationen in Verhandlungen von persönlicher Freiheit und Autonomie sowie umgekehrt Kontrolle und Fremdbestimmung innerhalb der erzählten Geschichten spiegeln. Dies gilt prinzipiell für die meisten interaktiven Erzählformen, insofern ihre strukturellen Entscheidungsfreiheiten durch die parallele Thematisierung von semantischen Feldern wie ‘ Autonomie ’ vs. ‘ Heteronomie ’ innerhalb der erzählten Geschichte aufgewertet und mit einer über sie selbst hinausgehenden Bedeutung versehen werden (cf. hierzu ausführlich Hennig 2017 b: 211 - 266). Im Rahmen der thematischen Schwerpunkte der Visual Novel zeigt sich diese Analogie zwischen der Struktur der dargestellten Welt und der auf sie bezogenen Interaktionen dann etwa darin, dass sich die Vorstellung von multiplen Universen in der Diegese homolog zu den strukturell offerierten, multiplen Handlungsverläufen der Erzählung gestaltet (cf. etwa Steins; Gate) oder auch konkret in den dargestellten Konflikten, die um Themen wie individuelle Autonomie in Mensch-Technik-Verhältnissen kreisen (cf. Psycho-Pass), was wiederum auf den technischapparativen Kontext der Mediennutzung verweist. 5 Die Visual Novel im Medienverbund Die Visual Novel ist als Hybridform zwischen Literatur, Comic und Computerspiel zu verstehen. Allerdings sind diese Mediensupplemente vor allem funktional für die Inszenierung der Visual Novel als literarisches Medium. So nähert sie sich in ihrer Ästhetik eher dem Buch als den Medien Comic oder Computerspiel an; denn die reduzierten visuellen Details sind zuvorderst funktional für die Rezeptionsökonomie des Textes, genau wie auch die reduzierte interaktive Struktur primär einer erneuten Rezeption der Werke zuarbeitet und nur marginale situative Interaktion zulässt. In Einklang mit dem spezifisch technisch-apparativen Rezeptionskontext, - der zum Teil vor allem eine Spielumgebung wie etwa bei dem japanischen Handheld PS Vita ist, auf dem Visual Novels einen großen Teil der in Europa und Amerika exklusiv veröffentlichten Produktionen einnehmen - , finden sich aber auch dramaturgische, thematische und darstellungsästhetische Referenzen zum digitalen Spiel. Die erzählte Geschichte wird überwiegend über Dialoge vermittelt und aus einer subjektivierten Perspektive präsentiert. Auch die Vermischung unterschiedlichster medialer Formen, Gattungen, Genres und Bild - Spiel - Literatur 83 Stilelemente verweist auf die Hybridität des digitalen Spiels (cf. Wenz 2003). Dabei verursacht der Rückgriff auf ähnliche Interaktionsschemata eine hohe strukturelle Ähnlichkeit der erzählmotivisch unterschiedlichen Beispiele. Somit verspricht die Visual Novel unabhängig von der jeweiligen Thematik eine äquivalente Rezeptionserfahrung, die aus einer individualisierten Erkundung einer ‘ literarischen ’ Welt besteht, die wiederum gleichbedeutend mit einer Offenlegung und Aneignung dieser Welt ist, die durch eine zunehmende Transparenz der handelnden Figuren vermittelt wird. Auf diese Weise füllt die Visual Novel eine Lücke im Medienverbund, insofern digitale Spiele im Rahmen ihrer allgemeinen ästhetischen Entwicklung mittlerweile konventionell vor allem intermediale Referenzen auf den Spielfilm integrieren (cf. Rauscher 2011) - Beispiele mit starkem Erzählfokus und marginaler Interaktion werden nicht umsonst zur Gattung des ‘ interaktiven Films ’ gezählt. Die Visual Novel leistet Ähnliches in Bezug auf einen literarischen Kontext und macht die Opposition aus ‘ Oberfläche ’ vs. ‘ Tiefe ’ auch marktstrategisch funktional: An der Oberfläche zeigt die Visual Novel eine Spiel- und Comicästhetik - verbunden mit dem Versprechen ‘ literarischer Tiefe ’ . Dabei sind die vordergründigen Stereotype auf Darstellungsebene funktional für die Erfüllung dieses Versprechens, da ‘ Tiefe ’ hier vor allem als Abgrenzung von einer sehr dominanten ‘ Oberfläche ’ und weniger als ästhetische, denn als strukturelle Kategorie zu verstehen ist. Letztlich werden im Kontext der Visual Novel damit ganz traditionelle Werte und Bedeutungen von Literatur aufgerufen und im digitalen Kontext mit dem Versprechen partizipativer Teilhabe und hoher ästhetischer Zugänglichkeit verknüpft. 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