Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/71
2018
411-2
‘Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt – Schnittstellen von Film Literatur und bildender Kunst in Edgar Reitz’ Cardillac (1969) im Kontext des Autorenfilms der 1960er Jahre
71
2018
Dennis Gräf
kod411-20107
K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” - Schnittstellen von Film, Literatur und bildender Kunst in Edgar Reitz ’ Cardillac (1969) im Kontext des Autorenfilms der 1960er Jahre Dennis Gräf (Passau) The German ‘ Autorenfilm ’ of the 1960 s tries to establish a new kind of film art and a new way of speaking artistically about film art in a self-reflexive way. The goldsmith Cardillac in Edgar Reitz ’ eponymous film (1969) - in his own estimation an artist of greatest skill - steals back his previously sold jewellery from customers, who he then kills subsequently. Cardillac ’ s conception of art is arguably antiquated in several ways. For one, he rejects any kind of development in his way of creating art. Secondly, he tries to attain perfection in his own art, which carries it to unmatched heights. At the same time, this spells out the end of his art as in his eyes there is no way of creating artworks of higher filigree. The function of Cardillac ’ s outmoded character is to argue for a new creative kind of developing art - very much like the film itself strives to be. The several interfaces the film installs mark this intention by showing a certain need for change in the ideological and aesthetical conceptions of what art could be in the 1960 s. 1 Die 1960er Jahre und die Schnittstellen Der Begriff der Schnittstelle, der hier u. a. im Zusammenhang mit Phänomenen der Intermedialität (cf. Rajewski 2002) steht, lässt sich heuristisch fruchtbar auf die Kunstproduktion der 1960er Jahre anwenden. Zunächst ließen sich bereits die Künste der 1950er Jahre mit Georg Bollenbeck (nach Kleßmann) als “ Modernisierung unter konservativen Auspizien ” (cf. Bollenbeck 2000: 197) fassen. Auch hinter dieser Formulierung lässt sich eine Schnittstelle von Tradition und Modernisierung vermuten, die allerdings, und das arbeitet Bollenbeck in seinem Beitrag explizit heraus, als eine eher subkutane Schnittstelle zu bezeichnen wäre: Für den Film und die Literatur der 1950er Jahre gilt sehr deutlich ein alle Texte tragendes Ordnungsparadigma, das nur ein äußerst gering ausgeprägtes Modernisierungspotenzial aufweist. Damit ist gemeint, dass die Texte - im semiotischen Sinne, also alle medial vermittelten kommunikativen Äußerungen, insbesondere die ästhetischen - narrative Strukturen und Wertebildungsverfahren auf Ordnung hin anlegen: Am Ende eines Textes müssen alle Probleme als gelöst gelten und in einen grundlegenden Raum tradierter Ordnungen überführt werden. Von dieser Struktur grenzt sich das gesamte literarische und filmische Korpus der 1960er Jahre insofern ab, als die Texte der 1950er Jahre zwar durchaus weiterbestehen und wie gewohnt verfahren, nun aber Schriftsteller und Autorenfilmer die Bühne betreten, welche die Strukturen der 1950er Jahre sichtbar machen und aufzubrechen gedenken, mithin also auf der Ebene ästhetischer Kommunikation Gegenentwürfe präsentiert werden, die sich an der Kunst der Elterngeneration abarbeiten. In diesem Zusammenhang sei vor allem auch der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann erwähnt, dessen Werk in der literatur- und medienwissenschaftlichen Forschung bereits breit unter dem Gesichtspunkt der Intermedialität untersucht wurde. 1 Im Folgenden soll also zunächst knapp erläutert werden, vor welchem filmhistorischen und -ästhetischen Hintergrund Reitz ’ Cardillac zu verorten ist. 1.1 Der Autorenfilm der 1960er Jahre Die ästhetischen Wirklichkeitskonstruktionen sind in ihrer Entwicklung von den 1950er Jahren bis zu den 1960er Jahren an die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft gekoppelt und stehen mit dieser in einem signifikanten Verhältnis. In den 1950er Jahren hat sich eine Filmkultur entwickelt, die sich insgesamt auf einer hohen Abstraktionsebene als ‘ Ordnungsformation ’ beschreiben lässt. Das bedeutet, dass sich unabhängig von den erzählten Geschichten für alle Filme eine narrative Strategie rekonstruieren lässt, deren Ziel stets die (Re-)Installierung einer (gesellschaftlichen, familiären, moralischen, juristischen) Ordnung ist. Zu dieser Ordnung gehört - filmübergreifend - auch, dass einzelne Themen tabuisiert werden und nur auf eine konsensuale Weise dargestellt werden dürfen. Erinnert sei hier beispielsweise an die Genres Heimatfilm, Arztfilm und (Anti-)Kriegsfilm, in denen Probleme am Ende als gelöst gelten müssen, in denen Autoritäten die allseits anerkannten Regularitäten formulieren und umsetzen und in denen alle Aspekte des Dritten Reiches oder des Kriegsgeschehens des Zweiten Weltkriegs in Rehabilitationsstrategien münden. Dieses ideologische und narrative Ordnungsparadigma ist dabei an die gesellschaftlichen Regularitäten hinsichtlich des Umgangs mit eben diesen Themen gekoppelt. Gesellschaftliche, öffentliche Diskurse über das Dritte Reich sind in den 1950er Jahren kaum existent (cf. Schildt und Siegfried 2009 sowie Wolfrum 2011). Erst in den 1960er Jahren setzen gesellschaftliche Dynamiken ein, die einer latenten Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft äquivalent sind (cf. Schildt 2000). In diesem Klima entsteht auf dem Gebiet der ästhetischen Kommunikation der sogenannte Autorenfilm, der sich insofern von der gängigen Filmproduktion abgrenzt, als Idee, Drehbuch und Regie von derselben Person stammen und somit eine intellektuelle Kontinuität auf der Ebene der Filmproduktion hergestellt wird. Für den Autorenfilm der 1960er Jahre ist als Gründungsdokument das sogenannte Oberhausener Manifest anzusehen, in dem im Rahmen der 8. Westdeutschen Kurzfilmtage des Jahres 1962 26 junge - ausnahmslos männliche - Regisseure die Erneuerung des bundesdeutschen Kinos in wirtschaftlicher, ästhetischer und ideologischer Hinsicht fordern. 2 Nachdem in den 1 Hier sind u. a. die Beiträge von v. Petersdorff 2009, Hiller 2011 sowie Schmitt 2012 zu nennen, die sich mit den populärkulturellen Medialisierungs- und Hybridisierungsverfahren Brinkmanns beschäftigen. 2 Hier wäre auch von einer Schnittstelle von Kunst und Wirtschaft zu sprechen, indem es im gängigen Filmbetrieb der 1950er Jahre so war, dass für ein fertiges Drehbuch ein Regisseur eingekauft wurde, der das Drehbuch zu verfilmen hatte und dementsprechend in einem mehr oder weniger distanzierten und eher 108 Dennis Gräf (Passau) folgenden Jahren bis auf Herbert Veselys Das Brot der frühen Jahre aus dem Jahr 1962 zunächst eine Vielzahl von Kurzfilmen der entsprechenden Regisseure produziert und veröffentlicht wird, 3 kommt es im Jahr 1966 mit Alexander Kluges Abschied von gestern neben Veselys Film zum zweiten Langfilm, der die Postulate des abstrakt und offen gehaltenen Oberhausener Manifestes in einem 90-minütigen Film umsetzt. Kluges Film ist auf mehreren Ebenen als praktische Arbeit der im Manifest abstrakt geforderten Aspekte zu bezeichnen, indem er sich thematisch mit der Aufarbeitung des Dritten Reiches befasst, was im Film der 1950er Jahre zu keinem Zeitpunkt geleistet wird. In ästhetischer, formaler und narrativer Hinsicht operiert Abschied von gestern hinsichtlich von gängigen Erwartungshaltungen der Zeit deutlich abweichend, indem er auf eine lineare Narration verzichtet und stattdessen Fragmente und Collageteile installiert, die in einem Akt der Rekonstruktion erst zusammengefügt werden müssen, um so die paradigmatische Klammer des Films erkennen zu können. Die Autorenfilme grenzen sich zudem von den von den Ordnungsformationen praktizierten Strategien des Illusionismus und Eskapismus ab, indem sie ihre dargestellten Welten mit Problemlagen ausstatten, die denen der jungen Generation (der Autorenfilmer) potenziell äquivalent sind. 4 Hier - so viel ist vorweg zu nehmen - weicht Cardillac durchaus von dieser Strategie ab, da Reitz ’ Film zwar in der Gegenwart der 1960er Jahre situiert ist, allerdings in einem elitären Kunst-Milieu spielt, dessen symbolischer Bedeutungsrahmen nicht auf eine gesamtgesellschaftliche Relevanz hinweist, sondern konkret auf die Verhandlung von Kunst in einem allgemeinen Sinn deutet. Insofern ist diesem Film Elitarismus zu unterstellen, der sich allerdings produktiv in den Dienst einer in den 1960er Jahren virulent geführten Kunstdebatte einbringt. Indem die Autorenfilme sich zum einen Themen widmen, die bislang als die gesellschaftliche Ordnung destabilisierend gelten, zum anderen dies auf eine Weise tun, die - zumindest teilweise und latent - den Rezipierenden eine rezeptive Anstrengung abverlangt, das Gezeigte erst verarbeiten zu müssen, intendieren sie eine Intellektualisierung und Politisierung des gesellschaftlichen Lebens durch die Kunst: Die Autorenfilme, so ließe es sich als implizites poetologisches Postulat rekonstruieren, machen es sich zur Aufgabe, bundesrepublikanische Ordnungsmuster (wirtschaftlicher, politischer oder moralischer Art) zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren, mithin auf einen Prüfstand der Adäquatheit hinsichtlich einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft zu stellen. In diesem Zusammenhang lassen sich Schnittstellen identifizieren, die sich auf einem auf dem Ordnungsparadigma basierenden und dieses in Frage stellenden Feld alternativer ästhetischer und ideologischer Kräfte befinden, das terminologisch als Angriffsformationen wirtschaftlichen Verhältnis zum spezifischen Film stand. Der Autorenfilm hievt diese Schnittstelle auf eine andere Ebene, indem er das Verhältnis von Film und Regisseur in eine unmittelbare Nähe rückt. 3 Stellvertretend für die große Breite an Kurzfilmen seien hier folgende Produktionen genannt: Brutalität in Stein (1961) von Alexander Kluge und Peter Schamoni, Es muss ein Stück vom Hitler sein (1963) von Walter Krüttner, Marionetten (1964) von Boris Borresholm sowie Granstein (1965) von Christian Doermer. 4 Hier sind beispielsweise die Filme Schonzeit für Füchse (1966), Tätowierung (1967), Der sanfte Lauf (1967) oder Ich bin ein Elefant, Madame (1969) zu nennen, die sich mit der Problematik der Generationendifferenz auseinandersetzen, oder auch Alexander Kluges Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos (1969), der sich mit der Entwicklung der deutschen Gesellschaft hinsichtlich politischer, ökonomischer und auch medialer Fragen beschäftigt. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 109 fassbar zu machen ist. Unter ‘ Angriff ’ ist diejenige Klasse von Filmen zu verstehen, die im Sinne des Oberhausener Manifests die gängigen Muster der Werte- und Ideologievermittlung aufbricht und den gängigen Interpretationsmustern von Gesellschaft und Realität widerspricht oder diese zumindest aufdeckt und zur Disposition stellt: Wenn die Ordnungsformationen eine ontologische Bindung von Kinder- und Elterngeneration etablieren, so weisen die Autorenfilme auf Friktionen zwischen den Generationen hin, die ihrerseits an den Umgang mit der deutschen Vergangenheit gekoppelt sind. Die - bezogen auf die dargestellten Welten der Filme - im Dritten Reich verankerte Elterngeneration wehrt sich vehement gegen einen gesellschaftlichen Diskurs der Vergangenheitsaufarbeitung. Die Verankerung der Eltern im Dritten Reich ist es gerade, die beispielsweise die jungen Männer in Schonzeit für Füchse monieren, ohne dabei allerdings die sich im Alltag, dem Denken und Handeln niederschlagende eigene Sozialisation mit diesen Eltern leugnen zu können. Auch die Denk- und Handlungslogik des dauerhaften konjunkturellen Aufschwungs - des Wirtschaftswunders - stellen die jungen Männer in Frage, bleiben dabei aber ihrerseits - teilweise ohne sich dessen bewusst zu sein, wie der Film Der sanfte Lauf zeigt - davon abhängig. Ordnung und Angriff sind dabei aber keine Oppositionen, sondern Extreme auf einer graduellen Skala, mithin existieren nahezu zwangsläufig Berührungspunkte, weil die Autorenfilme genau auf Friktionen aufmerksam machen wollen, die im Eskapismus und Illusionismus des Nachkriegsfilms verborgen werden. Das heißt, es sind gerade die Schnittstellen, die repräsentativ für den Autorenfilm sind, weil sie es sind, die Alternativen zu gängigen Mustern vorschlagen und dabei nicht umhinkönnen, diese Muster auch offenlegen zu müssen und zu wollen. Darüber hinaus ist es gerade die Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart, die von den Autorenfilmen implizit als fundamental für die Ausdeutung der Gegenwart verstanden wird, indem in den 1960er Jahren die produktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als eines integrativen Bestandteils eines gegenwärtigen Selbstverständnisses der BRD als grundlegend verstanden wird. 5 1.2 Künstlerische Avantgarden der 1960er Jahre in der Semiosphäre Die Beschäftigung mit dem Autorenfilm Cardillac macht in heuristischer und methodischer Hinsicht nicht nur eine medien- und filmsemiotische sowie narratologische Grundlage erforderlich, 6 sie benötigt auch ein Modell, das es ermöglicht, die Stellung sowie Leistung und Funktion des einzelnen Films in seinem kontextuellen, historischen Zusammenhang des Films der 1960er Jahre zu sehen. Dazu eignet sich Jurij Lotmans Modell der Semiosphäre, das er in Die Innenwelt des Denkens (2010) ausführlich erläutert hat. 7 Es handelt sich dabei um ein Kulturbeschreibungsmodell, das “ den gesamten semiotischen Raum einer Kultur ” 5 Hier wäre beispielhaft der Film Alle Jahre wieder (1967) von Ulrich Schamoni zu nennen, in dem anhand des Protagonisten Hannes Lücke symbolisch aufgezeigt wird, inwiefern die anthropologische Ausrichtung der gegenwärtigen BRD an ein einerseits unreflektiert-infantiles, andererseits pathologisches Festhalten an Ritualen des Dritten Reiches - Hannes und seine Freunde treffen sich jedes Jahr zu Weihnachten an ihrer alten Flak-Stellung und lassen die Kriegssituationen wiederaufleben - rückgebunden ist. 6 Zur Mediensemiotik cf. Gräf 2019 sowie Decker 2018, zur Filmsemiotik cf. Gräf et al. 2 2017, zur Narratologie Krah 2 2015. 7 Cf. auch Lotmans Aufsatz zur Semiosphäre in der Zeitschrift für Semiotik aus dem Jahr 1990. 110 Dennis Gräf (Passau) (Lotman 2010: 165) beschreiben kann: Der Kulturraum ist aufgeteilt in ein Zentrum und eine Peripherie, wobei das Zentrum einen Raum hegemonialer Diskurshoheit darstellt, in dem auf der Ebene ästhetischer Kommunikation konsensuale Wirklichkeitsmodelle verhandelt werden, deren oberstes Prinzip stets die Aufrechterhaltung oder Installierung einer (ideologischen) Ordnung ist; Lotman selbst formuliert, dass im Zentrum “ die am weitesten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen ” (Lotman 2010: 169) existieren. Dem gegenüber modelliert Lotman die Peripherie als einen subkulturellen Raum, in dem die im Raum der Ordnung geltenden Regularitäten latent hinterfragt, konterkariert oder angegriffen und “ das Verhältnis zwischen der semiotischen Praxis und der ihr aufgezwungenen Norm immer konfliktträchtiger ” (cf. Lotman 2010: 178) wird. Konkret bedeutet das, dass in Film und Literatur in der Peripherie Texte (im semiotischen Sinn) entstehen, die ästhetische und ideologische Abgrenzungsversuche betreiben, indem sie die im Ordnungsraum geltenden diskursiven Praktiken verletzen. Für Cardillac ist im Folgenden nach einer eingehenden filmsemiotischen Analyse die Frage zu stellen, welchen Standort der Film in der Semiosphäre der BRD-Kultur aufweist und inwiefern dies mit den vom Film installierten, mannigfaltigen Schnittstellen in einem Zusammenhang steht. 2 Edgar Reitz ’ Cardillac (1969) Der Autorenfilm hat in der Regel eine Affinität zu selbst- und metareflexiven Diskursen. Edgar Reitz ’ Film Cardillac aus dem Jahr 1969 führt diesen Diskurs noch in gesteigerter Form: Er rückt nicht nur einen Goldschmiedekünstler in das Zentrum der Handlung und verhandelt somit die Konstruktion des Künstlers im Verhältnis zu seiner Umwelt und seiner Kunst, sondern er basiert insgesamt auf einer literarischen sowie einer musikdramatischen Vorlage. Dabei handelt es sich um E.T. A. Hofmanns Das Fräulein von Scuderi (1819/ 21) als Teil seiner Serapionsbrüder sowie die Oper Cardillac (1926/ 1952) von Paul Hindemith. Dabei weist schon der literarische Referenztext an sich im Sinne romantischer und damit vor allem Schlegelscher Poetologie einen metareflexiven Schriftsteller- und damit Künstlerdiskurs auf. Die romantische Idee einer progressiven Universalpoesie, wie sie sich in Schlegels 116. Athenäum-Fragment konturiert, funktionalisiert Reitz für seinen Film, indem er den zeitgenössischen Diskurs des Neuen Deutschen Films an den romantischen Diskurs einer sich ewig fortschreibenden Poesie anlagert, um somit die Frage nach dem Status von Kunst beantworten zu können. Dabei ist signifikant, dass er mit der Figur Cardillac einen Künstler konstruiert, der sich ausnahmslos an der Vergangenheit orientiert, so wie Reitz sich selbst mit dem Referenztext Das Fräulein von Scuderi seinerseits eines historischen Textes bedient. Der media shift 8 ist es hier, der den Unterschied ausmacht: Indem Reitz von Literatur zu Film wechselt und damit die neuen Bedingungen von Kunst unter dem Aspekt der Medialität auslotet, ist intradiegetisch die Figur Cardillac lediglich an der Fortschreibung eines ‘ Dauerkunstwerkes ’ interessiert, das immer weiter perfektioniert wird. 8 Zur semiotischen Modellierung der Literaturverfilmung cf. Krah 2006 sowie Krah 2008. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 111 2.1 Cardillacs Kunstkonzeption: alt vs. neu Der Film erzählt die Geschichte von René Cardillac, “ eine[m] der renommiertesten Goldschmiede Europas ” (00: 00: 10), der sich nach der Fertigstellung seiner Kunstwerke nicht von diesen trennen kann und die neuen Besitzer ermordet, um den Schmuck wieder an sich zu bringen. Indem Reitz das Kriminalnarrativ von Das Fräulein von Scuderi ausblendet, verschiebt er den Fokus von der Suche nach dem Mörder hin zu einem sich aus einer Introspektion der Figur ergebenden Selbstverständnis des Künstlers und dessen Motivation für die Morde. Dabei entfaltet der Film zwei oppositionelle Perspektiven auf Kunst, die zusätzlich mit unterschiedlichen Generationen korreliert sind. Bereits die Exposition des Films betont, dass Cardillac “ vor dreißig Jahren der Wiedererfinder der berühmten Granulationstechnik [war], eines Verfahrens, das vor ihm nur die alten Etrusker beherrschten ” (00: 07: 25). Seine damit zu Beginn des Films gesetzte Verortung in einem Zustand des ‘ Alten ’ zieht sich strategisch und somit paradigmatisch anhand unterschiedlicher, ihm entgegengesetzter Figuren durch den Film. Cardillac ist als einzige Figur einer älteren Generation zuzuordnen, alle übrigen Figuren gehören der Nachfolgegeneration an und formieren eine oppositionelle Haltung. Dabei stehen vor allem weitere Künstlerinnen und Künstler oder Menschen mit einer konkreten Kunstauffassung im Fokus, an denen ein sich öffnendes, neuartiges Verständnis von Kunst konturiert wird. Die “ Schönberg-Interpretin Liane S. ” (00: 29: 25) steht qua ihres Repertoires für eine die Grenzen konventioneller Musik sprengende Kunstauffassung, indem mit Arnold Schönberg ein Komponist funktionalisiert und semiotisiert wird, der grundlegend die Tonalität sowie die Binarität von Dur und Moll in Frage stellt und dessen Kompositionen somit zu einem revolutionären Musikverständnis führen. Indem Cardillac Liane S. ermordet, wird auch das Cardillac-Syndrom 9 zeichenhaft, indem mit der Interpretin synekdochisch die Aufhebung der Tonalität und damit eine neuartige Musik eliminiert wird. Als nahezu äquivalent zu Liane S. können “ Ali und Katinka, zwei bekannt[e] Grafike[r] ” (01: 17: 50) gelten, die Menschen mit einem von Cardillac veredelten Schaumgummi einkleiden wollen. Wenn Cardillac die beiden Grafiker auch nicht umbringt, so distanziert er sich in Folge dennoch deutlich von ihren Ideen, weil sie “ nicht den Schmuck, sondern die Träger des Schmuckes [verändern] ” (01: 24: 45) wollen und damit für ein grenzüberschreitendes Schmuckverständnis stehen. Cardillacs zweites im Film vorgeführtes Mordopfer nach Liane S. ist der Mineraloge Albert v. Boysen, nach dessen Ansicht Steine nicht veränderbar sind: “ [Den Stein] können wir noch etwas verformen, wir können ihn spalten, wir können ihn einfassen [. . .], aber er bleibt der Stein [. . .]. Ein Granit bleibt Granit ” . (01: 07: 35) Gerade anhand der von v. Boysen Cardillac zur Einfassung überlassenen Steine und Perlen demonstriert der Goldschmied, dass er den Steinen eine eigene Semantik gibt und ihnen im Rahmen des gesamten Kunstwerkes, in das sie integriert werden, eine ihnen eigentlich nicht inhärente thematische Figuration verleiht und somit v. Boysens Sichtweise konterkariert. Cardillac unterzieht die real vorgefundenen und an sich aussagelosen Objekte einem Akt der Interpretation und schreibt ihnen dadurch einen semantischen Mehrwert ein, was an und 9 Das Cardillac-Syndrom bezeichnet in der Psychologie ein nach E.T. A. Hoffmanns Text benanntes pathologisches Festhalten des Künstlers an seinen Werken, cf. Parzer 2012. 112 Dennis Gräf (Passau) für sich als Funktionsprinzip von Poetizität schlechthin gelten kann, hier aber - auch aus der Perspektive des Films - als eine Negation der Realität verstanden wird, die ästhetisch so umgedeutet wird, dass sie nicht mehr zu erkennen ist und in einem artifiziellen Gebilde auf- und untergeht. Dahinter verbirgt sich eine die Mimesis ablehnende Haltung, indem die Wirklichkeit verformt wird. Entsprechend ist Cardillacs letztes Kunstwerk von hoher Semiotizität: Was mir gefallen hat, das war diese unendliche Feinheit der Formen, diese mikroskopischen Strukturen, diese Blasen und Zellgewebe. Jeder hätte gesagt, dass das aus Gold nicht zu machen ist. Das Allerschwierigste, was ich je gemacht habe. Das hier ist eigentlich kein Schmuck mehr. Bei der geringsten Unvorsichtigkeit zerbricht er. Eine Perle ist schon abgebrochen. Eine unvorsichtige Bewegung und alles bricht. Das ist die Grenze meiner Möglichkeiten. (01: 24: 50) Das auf den Abb. 1 und 2 zu sehende letzte Schmuckstück Cardillacs ist als logisch konsequenter Abschluss seines künstlerischen Schaffens und auch Selbstverständnisses zu sehen, weil es an Filigranität und Mikropräzision nicht mehr zu übertreffen ist. Cardillacs Kunst ist somit eine immer schon teleologisch angelegte Kunst, die sich kontinuierlich auf das Ziel absoluter Perfektion als eines finalen Zustandes von Kunst bewegt. Kunst ist in dieser Logik endlich, so dass sich Cardillac nach der Fertigstellung dieses Schmucks konsequenterweise umbringt, da sich nach diesem Kunstwerk nichts mehr schaffen ließe, was einen noch höheren Grad an Perfektion erreichen könnte. Abb. 1 und 2: Das letzte Schmuckstücks Cardillacs Signifikant ist vor diesem Hintergrund auch, dass sich der Film gerade für einen Goldschmied entscheidet, der Schmuck herstellt, der zwar durchaus einen Grad an Semiotizität aufweisen kann, dem aber niemals eine gesellschaftsverändernde Funktion inhärent ist. Die Korrelation von Handwerk und Kunst ist hier eine vom Alltagsverständnis des Begriffes “ Kunsthandwerk ” abweichende, nicht selbstverständliche Korrelation, die Kunst in ihrer Leistung und Funktion für die Gesellschaft zu bestimmen versucht. Wie Ali und Katinka erläutern, geht es ihnen mit ihrer Schaumkunst darum, ein anderes, neues Bewusstsein der Menschen herzustellen. Cardillacs Kunst ist dagegen Selbstzweck, was sich gerade auch auf das Cardillac-Syndrom zurückführen lässt: Sein Schmuck dient noch nicht “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 113 einmal dazu, von Menschen getragen zu werden. Indem er die Kunden ermordet und den Schmuck wieder an sich bringt, schafft er seine gesamte Kunst ausschließlich für sich selbst. Entsprechend platziert er bei seinem Suizid sein gesamtes Oeuvre in einem Bogen um sich selbst, um es noch einmal vollständig betrachten zu können. Die “ Grenze seiner Möglichkeiten ” , wie er es nennt, entspricht der Auflösung von Kunst, indem das Schmuckstück bei der geringsten Bewegung zerbricht: Eine solche Kunst hat keine Funktion mehr, sie kann nur noch als Objekt der Betrachtung dienen, im Sinne des Schmucks dient sie nicht mehr als tragbares Objekt, im Sinne von Kunst allgemein entzieht sie sich jeglicher Handhabung und/ oder Funktionalität. 2.2 Kunst und Künstler Cardillacs Suizid entspricht insofern seinem Kunstverständnis, als er seinen Freitod auch explizit zu einer Inszenierung macht. Zum einen positioniert er sein Oeuvre vor sich, zum anderen konstruiert er einen elektrischen Stuhl, der mit Hilfe eines Elektronenhelms Strom in das Gehirn leitet (siehe Abb. 3 und 4). Dieser Helm ist allerdings als Krone stilisiert, wie vor allem Abb. 4 deutlich macht. Der Blick in den Spiegel bestätigt das egozentrische, vor allem aber narzisstisch ausgerichtete Kunstverständnis. Die konkrete Kameraposition lässt den Elektronenhelm zu einer Krone werden - siehe auch die entsprechende gestische 10 Die Selbststilisierung als poeta laureatus lässt sich nicht nur auf den Zeitraum der Frühen Neuzeit als eines Paradigmas des ‘ Alten ’ beziehen, vielmehr ist die Konzeption eben dieses poeta laureatus an sich bereits an Konzepte des Tradierens gebunden, soll sich der Dichter nach Petrarca doch in der Kunst der Alten üben und in deren Sprache in einen künstlerischen Wettstreit (imitatio et aemulatio) treten. Cf. dazu ausführlicher Mertens 1996. Abb. 3 und 4: Der selbst konstruierte elektrische Stuhl und die poeta laureatus-Inszenierung Cardillacs 114 Dennis Gräf (Passau) Zeichenhaftigkeit Cardillacs - , so dass er ikonografisch einem poeta laureatus ähnelt, der sich hier allerdings selbst krönt. Auch hinter dieser filmischen Inszenierung von Cardillacs Selbstinszenierung, die ganz im Sinne romantischer Doppelreflexion funktioniert, erscheint das Paradigma des ‘ Alten ’ , weil hier von Cardillac ein Kunst- und Dichterverständnis der Frühen Neuzeit und des Barock aktualisiert wird, das vor der Folie der jungen Künstlerfiguren des Films als absolut antiquiert gelten darf. 10 Dieser spezifische Suizid installiert zudem die Identität von Kunstwerk und Künstler, nicht nur, weil das perfekte Kunstwerk in dieser Logik zu einem Tod des Künstlers führen muss, vielmehr auch, weil erstens der elektrische Stuhl selbst gebaut ist und somit kein äußerer Einfluss akzeptiert wird. Zweitens ‘ zerbricht ’ er unter dem Strom analog zu seinem letzten Kunstwerk, das unter einer äußeren Bewegung zerbricht. Dieser Logik folgend ist es schlussendlich so, dass Figuren, die nicht künstlerisch tätig sind wie bspw. sein Assistent Olivier und seine Tochter Madlon keine Identität besitzen. Wenn Cardillac ein Schmuckstück arbeitete, dann sagte er: Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt, und es geht darum, dass dieses Werk unverwechselbar ist, nur von mir möglich. Das erreiche ich dadurch, dass ich Schwierigkeiten einführe, zu deren Bewältigung ein Cardillac nötig ist. (00: 18: 55) Das ist die Tragik unseres Berufes, dass man keine Übersicht über sein Leben [Herv. v. mir, DG] hat. Allen Schmuck, den man Zeit seines Lebens angefertigt hat, der ist irgendwo in der Welt verstreut, bei Privatleuten, die einem nicht mal sagen, ob sie ihn weiterverschenkt haben oder nicht. Und so wird der Künstler anonym und schlussendlich um sein Lebenswerk betrogen. (00: 37: 55) Die Identität des Künstlers mit seinem Werk verhindert in diesem Sinne eine kritische Distanz, die zu existenziellen Fehldeutungen der Realität und zu einer Isolation von der gesamten Außenwelt führt. Cardillacs Assistent Olivier meldet die Werke des Künstlers ohne dessen Wissen bei einem hochrangigen, internationalen Schmuckwettbewerb an ( “ Ich wollte, dass Cardillac aus seiner Höhle rauskommt ” , 00: 16: 05) und gewinnt diesen, was Cardillac jedoch vehement ablehnt: Ich lehne den Preis ab. Ich habe immer wieder gesagt, Kunst kann nur aus sich selbst heraus wirken, muss aus sich selbst heraus wirken. Unterwerfung unter diese zum Teil staatlich nominierten Jurys ist doch entwürdigend, ist doch Hurerei. Ich weigere mich, an dieser Bullenprämierung teilzunehmen. (00: 17: 15) Autonome Kunst darf nach Cardillac nicht Teil gesellschaftlicher und kultureller Diskurse sein - etwa im Gegensatz zur klassischen Auffassung Moritz ’ und Schillers - , sie muss unter allen Umständen Selbstzweck bleiben. Aus diesem Grund findet bei ihm nahezu zeitgleich die Produktion und der Entzug eines Kunstwerkes statt - siehe in diesem Zusammenhang Cardillacs Zitat im Titel dieses Beitrags. Cardillacs soziale und institutionelle Isolation entspricht seinem Verständnis von Kunst als Selbstzweck, was auch die Exposition des Films zeigt, indem sie Cardillac als Kunstwerk ähnlich einer Statue präsentiert und die Kamera unterschiedliche Betrachtungsperspektiven eines simulierten Rezipienten imitiert. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 115 Abb. 5 - 8: Darstellung Cardillacs zu Beginn des Films Dabei ist in der syntagmatischen Reihung der Filmbilder (Abb. 5 - 8) nicht nur der Künstler als Kunstobjekt erkennbar, sondern auch eine Distanzierung der Kamera, die einer Distanzierung des Point of View von Cardillacs Kunstverständnis äquivalent ist; in diesem Sinne spricht das Voice over zu Beginn des Films auch von einem “ krankhafte[n] Leben ” (00: 01: 20). 2.3 Generationendifferenz und Geschlechterrollen Im Laufe des Films wird die Ablehnung von Cardillacs Person vor allem seitens seines Assistenten Olivier zunehmend deutlicher, signifikanterweise aber, weil Cardillac sich temporär überlegt, mit Hilfe von Alf und Katinka einen völlig neuen Stil zu generieren, was er schlussendlich nicht realisiert. [Olivier: ] Der Kunsthandel ist eben empfindlicher als andere Märkte. Was sie da machen, ist so, als wenn man ein hochwertiges Präzisionsinstrument nimmt und mal kräftig durchschüttelt. Der Markt hat seine Gesetze und gegen die kann man nicht verstoßen. [Cardillac: ] [. . .] Das ist doch völlig lächerlich. Man kann doch einen Künstler nicht zwingen, sein Leben lang eine einzige Idee zu variieren. Ist doch albern. Ich lass mich auf meine bisherigen Verhaltensweisen nicht festlegen. Dies hier ist ein völlig freier Entschluss. [Olivier: ]Sie können doch nicht 30 Jahre lang einen bestimmten Stil kultivieren und auf einmal alles umstoßen. Erstens machen sie sich dabei selbst kaputt und zweitens überfordern sie ihre Partner. [Cardillac: ] Es genügt mir, wenn ich mir selbst glaubwürdig bin. [Olivier: ] Sie müssen doch begreifen, dass sie nicht alleine sind. [Cardillac: ] Ich war aber immer allein. Von meiner Arbeit verstand niemand etwas. Ich hatte immer nur einen Maßstab: mich selbst. Dies hier ist ‘ ne völlig neue Erfahrung. [Olivier: ] Sie sind kein Anfänger mehr. [Cardillac: ] Aber das Experiment reizt mich. (01: 20: 45) Damit ist Olivier zwar Repräsentant der jungen Generation, als ‘ identitätslose ’ Figur aber nicht berechtigt, sein eigens Kunstverständnis zu äußern. Dahinter steckt eine Manipulation: Indem der Film grundsätzlich eine Korrelation von Jung-Sein und einem offenen Kunstverständnis etabliert - “ Ich bin nicht mehr jung genug, Ali und Katinka sind mir fremd ” (01: 24: 40), führt Cardillac aus und bestätigt damit die Relevanz der Generationendifferenz vor der Folie der Kunstauffassung - , wird der finanziell von Cardillac abhängige Olivier von seinem metaphorischen Vater ( “ [. . .] Vaterverhältnis zu Cardillac. Lehrmeister, godfather und so weiter ” , 00: 02: 10) zu einem sich verselbständigten Echo Cardillacs gemacht. In seinen Privaträumen hängt demgegenüber ein kubistisches Gemälde und damit ein Zeichen experimenteller Kunst. Tatsächlich führt die Voice over-Stimme zu Beginn aus, 116 Dennis Gräf (Passau) dass “ Cardillac in diesen Menschen [Madlon und Olivier, DG] und den Verhältnissen, die er hinterlassen hat, weiter[lebt] ” (00: 01: 50). Dies bezieht sich vor allem auf eine spezifische Art von Sexualität, die Cardillac symbolisch verschlüsselt an seiner Tochter auslebt. Vom zwölften Lebensjahr an musste ich jeden Sonntagmorgen vor dem Frühstück Vater seinen Schmuck vorführen. Manchmal kam er auch ganz unerwartet. Die Dachkammer unseres Hauses, die er eigens dafür eingerichtet hatte, betrat ich nur mit nüchternem Magen. Manchmal verband Vater mir die Augen, wenn mich das Licht so blendete. (00: 19: 35) Der symbolisch praktizierte Inzest und Missbrauch korreliert seinerseits mit dem Status des Künstlers. Wenn Olivier als “ künstlerisch impotent ” (00: 03: 05) bezeichnet wird, aber sexuell nicht impotent ist, unterdrückt der in Identität mit sich und seinem Werk lebende Künstler Cardillac seine Sexualität und installiert eine Umwegstruktur: Er betrachtet seine nackte Tochter, die seinen Schmuck trägt, dirigiert sie in unterschiedliche Positionen ( “ Senken. Hoch. Zurück ” , 00: 20: 15, siehe Abb. 9), was einer Beischlafbewegung entspricht, und blendet sie mit einem Lichtstrahl (siehe Abb. 10), wodurch sie physischen Schmerz erleidet. Dadurch wird zweierlei verdeutlicht: Erstens erzeugen die emotionslosen Anweisungen des Vaters das Bild patriarchaler und machtbasierter Sexualität, zweitens legt das Ende des Films Wert darauf, dass Madlon aus dieser Situation mit einer gestörten Sexualität geht, aufgrund derer sie eine dauerhafte Beziehung nur zu einem homosexuellen Mann eingehen kann. Abb. 9 und 10: Cardillac fotografiert seinen Schuck an seiner Tochter Madlon “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 117 Wenn der jungen Generation sowohl durch Ali und Katinka und ihre Idee eines performativen Schmückens als erotischer Akt als auch durch Olivier, der sexuelle Annäherungsversuche an Madlon unternimmt, eine positive Sexualität attestiert wird, dann argumentiert der Film hier mit Triebhemmungen der alten Generation, mit denen sich die junge Generation als Erblast arrangieren muss. Madlon als Repräsentantin der von Cardillac ansonsten abgelehnten jungen Menschen scheint dabei allerdings problemlos als Sexualobjekt zu fungieren, womit der Film ihm eine Doppelmoral attestiert, die sich aus seiner egoistischen Persönlichkeit speist. Dabei geht die Übermächtigkeit des Vaters über die sexuelle Ebene hinaus: Madlon wächst isoliert auf, sie darf mit 24 Jahren nur auf dem eigenen Grundstück Rad fahren und kann nur über Funk Kontakt zur Außenwelt aufnehmen. 11 Die Argumentation des Films weitet den Krankheitsstatus Cardillacs auf die generelle patriarchale Handlungs- und Deutungshoheit gegenüber nachfolgenden Generationen aus. Der Film versteht sich dabei als Plädoyer für eine Ablösung von der alten Generation, was sich an der Entwicklung Oliviers und Madlons nach Cardillacs Tod zeigt. Olivier führt Folgendes aus: Cardillac. Was hab ich eigentlich damit zu tun? Dieser ganze Quatsch, diese, diese muffigen Räume, dieser kleine Werktisch. Im Grunde bin ich ganz anders aufgewachsen, mich interessieren auch ganz andere Sachen. Mich würd ’ s interessieren rumzufahren, mich um Leute zu kümmern, zu fragen, was um mich ‘ rum passiert, was draußen los ist. (01: 13: 45) Olivier betont den offenbar seinem Wesen entsprechenden Wunsch nach Offenheit im Gegensatz zu seiner Aufgabe der Abriegelung Cardillacs von der Öffentlichkeit. 12 Äquivalent fragt sich Madlon, “ wo [sie] denn Leute kennenlernen [soll] ” (01: 26: 50). Erst der Tod Cardillacs, der hier als metaphorisches Ende der Elterngeneration zu lesen ist, ermöglicht den jungen Menschen eine Herausbildung ihrer eigenen Identität, die sie bislang zu unterdrücken und zu verleugnen hatten. 2.4 Der Film als Kunst Der Film selbst markiert deutlich seine Position zur skizzierten Gemengelage, indem er seinerseits seinen Konstruktionscharakter betont. Figuren und Geschichte werden durch Fiktionalitätssignale, die an Brechtsche Verfremdung angelehnt sind, aus einer kritischen Distanz vorgeführt. Zu Beginn des Films geben die Schauspieler Rolf Becker und Catana Cayetano in einer Art Interviewsituation gegenüber der Kamera Auskunft über ihr Verständnis ihrer Rollen Olivier und Madlon, wobei gerade signifikant ist, dass Hans Christian Blech zu keiner Zeit aus seiner Rolle des Cardillac heraustritt. Dabei argumentiert der Film mit dem Parameter der Distanz: Kritische Selbstreflexion ist nur den jungen Figuren gestattet; der alte Cardillac verharrt in einer maximalen Subjektivierung, die zu einer Grenzschließung gegenüber der Außenwelt führt. In dieser Logik ist auch der 11 An dieser Stelle sei an die bewusste Selbstausgrenzung Cardillacs aus dem Kunstmarkt und die daraus resultierende gesellschaftliche Isolation erinnert. 12 Madlon sagt über Olivier in einem marginalen bzw. nicht weiter kontextualisierten Off-Kommentar: “ Olivier wechselte Autos wie Anzüge. Jeden Tag kam er mit einem anderen Auto an, das er sich irgendwo ausgeliehen hatte. Ich glaube, er muss Autos sehr gemocht haben ” (00: 39: 40). 118 Dennis Gräf (Passau) Schauspieler Blech als Vertreter einer älteren Schauspielergeneration identisch mit seiner Rolle des Cardillac homolog zu Cardillacs Identität mit seiner Kunst. Eine Inkorporierung des Rezipierenden wird zudem durch eine den Film einleitende und kontinuierlich anwesende männliche Off-Stimme erschwert, die nüchtern-referenziell biografische Fakten und Hintergründe liefert. Auch Olivier und Madlon rekonstruieren aus dem Off ihre Erinnerungen, so dass diese Ebene des Films der Kritik und Distanzierung vorbehalten ist. Die Filmkunstschaffenden treten damit in Opposition zu dem von ihnen verhandelten Gegenstand: Sie bewahren Distanz, indem sie in den Interviewsequenzen den eigenen Film zu einem verhandelbaren Diskurs machen, der den Film in seiner endgültigen Version erst konstituiert. In dieses Paradigma der Distanz reiht sich auch die Farbverwendung des Films ein: Farbe, Sepia und schwarz/ weiß stehen gleichberechtigt nebeneinander, so dass ästhetisch eine Grenze überschritten wird, die intradiegetisch nicht überschritten werden dürfte. Auch hier distanziert sich der Film von seinem Protagonisten. Die Existenz der drei Farbvarianten demonstriert darüber hinaus noch einmal die Gemachtheit des Kunstwerks, die Cardillac intradiegetisch in seinem wahnhaften Perfektionismus gerade zu kaschieren versucht. Wenn auch den drei unterschiedlichen Farbvarianten nicht kohärent Semantiken oder Zeitebenen zuzuordnen sind, so manifestiert sich gerade auf der Ebene des ‘ Farbspiels ’ die Relevanz von Neuheit als eines Wertes an sich, den der Film für sich geltend macht. 13 Der Umgang mit Vorlagen und Referenzen etabliert im Film Cardillac die Veränderung als Grundlage des impliziten Kunstdiskurses: Eine durch den Titel angezeigte Engführung (z. B. in semantischer Hinsicht) an Paul Hindemiths Oper Cardillac, die der Neuen Musik subsumiert wird, wird nicht eingelöst. Vielmehr ist es die Oper an sich, die in ihrer Genese relevant wird. Hindemith hat die 1926 komponierte Fassung im Jahr 1952 umgearbeitet, allerdings nicht unter dem Zeichen der Perfektion im Sinne des Modells der Klassik (Umschreibung bis zum Erreichen einer ästhetischen Harmonie), sondern aufgrund der veränderten Zeit und der Eindrücke des Zweiten Weltkrieges (cf. Laubenthal 189: 64 - 69). Somit handelt es sich bei der zweiten Fassung um ein verändertes Werk, dessen Funktion anscheinend gerade nicht in der Selbstreflexion, sondern in der Integrativität neuer und virulenter Diskurse besteht. Die Tatsache, dass die Komposition Hindemiths zu einer Avantgarde zu rechnen ist, verstärkt die Anbindung der Opernreferenz an die Paradigmatik des Films: Neues wird zum Wert an sich. Die Oper stellt ihrerseits eine deutliche inhaltliche Veränderung des literarischen Referenztextes von E.T.A Hoffmann dar, so dass sich Reitz ’ Film - tatsächlich im romantischen Sinne - als Ergebnis eines multipel transformierten Kunstwerkes modellieren lässt. Diese Konstruktion findet sich zudem intradiegetisch bei Cardillacs “ Lieblingsmusik ” (00: 21: 25) wieder: Es handelt sich um ein von Bach (BMV 596) für Orgel arrangiertes Violinkonzert Vivaldis (RV 565). Indem Bach Vivaldis Konzert verändert, dürfte es in der 13 Cf. dazu auch die auf allen Ebenen banalisierende Untersuchung von Parzer (2012), die hinsichtlich der Farbverwendung zu dem Ergebnis kommt, dass “ sich dieser Farbwechsel scheinbar zusammenhanglos durch den ganzen Film ” ziehe (cf. Parzer 2012: 59). Parzer nimmt zudem lediglich die Unterscheidung in schwarz/ weiß und Farbe vor; die Verwendung des Sepiatons entgeht ihr vollständig. Gerade damit schöpft der Film aber alle Farbmöglichkeiten aus und verweigert sich keiner Alternative oder Variante und distanziert sich damit umso deutlicher vom konservativen Cardillac. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 119 Logik der dargestellten Welt eigentlich nicht mit Cardillac korreliert werden. Tatsächlich existiert in Cardillac ausschließlich veränderte Kunst: Auch die literarischen Texte des Pierrot Lunaire Albert Girauds sind nur in der von Otto Erich Hartleben übersetzten und von Arnold Schönberg vertonten Fassung im Film präsent. Kunst ohne Veränderung ist nicht möglich, und so ist Cardillac implizit die einzige Figur des Films, die in ihrer Denk- und Handlungslogik gegen eine vom Film als grundsätzlich verstandene Auffassung von Kunst als prozessualer Entwicklung und Veränderung verstößt. In dieser Logik ist die filmische Bezugnahme auf alte Referenztexte nicht als Orientierung an der Vergangenheit zu lesen, sondern als Fortschreibung und Entwicklung, als Anpassung an eine neue Zeit, in der unter Zuhilfenahme überlieferter Kunstwerke neue Kunstdiskurse entwickelt werden. Dabei fungiert die progressive Universalpoesie der literarischen Romantik als grundlegende Idee eines sich dauerhaft verändernden und sich fortschreibenden Kunstwerkes, das a-historisch ist. Cardillac entwickelt damit schlussendlich die Frage, mit welchen künstlerischen Aufgaben sich der Neue Deutsche Film konfrontiert sieht. Die im Film verhandelte Generationendifferenz wird zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Revision des Kunstverständnisses: Kunst verändert sich mit nachfolgenden Generationen, deren Lebensumstände eine entsprechend eigene und neue Kunst erforderlich machen, die sich aber sowohl inhaltlich als auch ästhetisch nicht von jeglicher bisheriger Kunst zu lösen, sondern diese produktiv in das je neue Kunstverständnis zu integrieren hat, wie es Ali und Katinka machen. Hinter der Figur Cardillac zeichnet sich dann auch eine überkommene Filmkunst ab, die auf bewährte Muster und Inhalte setzt, sich aber aufgrund einer sich transformierenden Gesellschaft nicht mehr rechtfertigen lässt. Der Suizid Cardillacs ist in einem metareflexiven Sinn dann als eine metaphorische Forderung gegenüber der alten Filmindustrie zu verstehen, das Feld zu räumen um es den jungen Filmemachern zu überlassen. Der Suizid ermöglicht der nachfolgenden Generation zudem einen schuldfreien Beginn, während Cardillac als Mörder eine gewalttätige Figur ist, so dass (im Sinne der Diskursverflechtung) der Elterngeneration Schuld attestiert wird. Darüber hinaus wird mit den beiden gezeigten Morden, die im Affekt begangen werden, Cardillacs Kunst mit Kontrollverlust korreliert, während der Film selbst durch seine Verfremdungseffekte Kontrolle und Reflexion als der Kunstproduktion zugrundeliegende Bedingungen anführt. Zudem legt der Film sogar Wert auf die bürgerliche Existenz Cardillacs, dessen Villa eine deutlich großbürgerliche Semantik hervorruft: Das Bürgerliche in der Kunst, die konsensuale Moral der als antiquiert verstandenen Filmindustrie, wird hier in einem Aufwasch mit entsorgt. 3 Schnittstellen als Zeichen neuartiger Filmkunst-Konzeption Der Film Cardillac, so deutet dies die vorausgehende Analyse bereits an, zeigt eine Reihe von Schnittstellen auf, die allerdings noch systematisiert werden müssen, um die Repräsentativität des Films hinsichtlich des deutschen Autorenfilms der 1960er Jahre erkennbar werden zu lassen. Eine erste Klasse von Schnittstellen lässt sich im Bereich von Ästhetik und Kunst erkennen: Dies betrifft (i) die Verfilmung eines literarischen Referenztextes, (ii) die 120 Dennis Gräf (Passau) Verhandlung des Kunsthandwerks in einem Film, (iii) das Verhältnis von Kunstschaffenden und Kunst(gegenstand), (iv) das Verhältnis von Film und Musik, (v) das Verhältnis von altem und neuem (Autoren-)Film sowie (vi) das Verhältnis von schwarz/ weiß, Sepia und Farbe. Eine Literaturverfilmung kann (vii) gewiss weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für den Autorenfilm der 1960er Jahre sein, allerdings ist die Referenz auf einen historischen, literarischen Text insofern kohärent in das System des Autorenfilms zu integrieren, als durch die Bezugnahme die Komplexität des Filmkunstwerks gesteigert wird. Die Steigerung des Komplexitätsgrades ist als Wunsch nach Intellektualisierung zu verstehen und wird hier gleich doppelt betrieben: Indem sich der Film nicht nur auf einen literarischen Referenztext bezieht, sondern durch diese Referenz auch schon das im Referenztext angelegte Thema des Verhältnisses von Kunstschaffenden und Kunst(gegenstand) behandelt, ergeben sich die Schnittstellen von Referenzialität und Reflexivität. Cardillac lotet auf dieser Ebene (implizit und übertragen) das Verhältnis von Regisseur und Film aus, das im typischen Nachkriegsfilm der 1950er Jahre, so die implizite Argumentation des Films über die dieses Verhältnis repräsentierende Figur Cardillac, auf einem Beharren an permanenter Steigerung des immer gleichen Prinzips basiert. Das Paradigma der Ordnung wird filigran gesteigert, ohne Veränderungen zuzulassen. Dahinter verbirgt sich ein ideologischer Angriff auf das Filmverständnis einer älteren Generation von Filmemachern, die den Film als Vehikel einer überkommenen Wertehaltung versteht. Im neuen Verständnis ist der Film Repräsentation einer vorgeblichen (Alltags-)Wirklichkeit, die hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung auf dem Prüfstand steht. Der Regisseur des Autorenfilms ist in diesem Verständnis nicht nur der intellektuelle Autor eines Drehbuchs, sondern auch derjenige, der durch die Identität - die hier als eine gesteigerte Schnittstelle zu verstehen ist - von Drehbuchautor und Regisseur unmittelbar die intellektuellen Ideen kreativ filmisch umsetzt. Gerade diese Identität von Drehbuchautor und Regisseur führt aber nicht zu einer Identität von Künstler und Kunst im Sinne Cardillacs, die den Filmemacher an das Kunstwerk koppeln würde: Cardillac geht es um den Entzug des Kunstwerkes, den Autorenfilmern geht es um die Diskursgenerierung in der Öffentlichkeit, mithin um die in den Filmen verhandelten Themen, die von den Autoren als gesellschaftlich virulent verstanden werden. Ästhetik hat hier die Funktion, auf inhaltliche, ideologische Veränderungen hinzuweisen, sie ist kein ästhetischer Selbstzweck, wenn es auch stets um eine Auslotung von Kunst an sich geht; dies ist hier nicht als Widerspruch zu verstehen. In diesem Sinne - der Film holt schließlich auch die Handlung des Referenztextes in die Gegenwart der 1960er Jahre - verhandelt der Film auch die (filmhistorische) Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart. 14 14 Die implizite Verhandlung von Vergangenheit und Gegenwart als grundlegende Folie des filmischen Welt- und Wertemodells ließe sich im Hinblick auf das gesamte Korpus des Autorenfilms auch auf den Umgang der Gesellschaft der 1960er Jahre mit der gesellschaftspolitischen Vergangenheit im Sinne des Dritten Reiches lesen. Allerdings markiert der Film dies an keiner Stelle, höchstens das Alter Cardillacs, der im Dritten Reich ca. sein viertes/ fünftes Lebensjahrzehnt verbracht haben muss, wäre dementsprechend zu lesen. Hier verweisen Filme wie beispielsweise Schonzeit für Füchse, Der junge Törless oder Jonathan weitaus deutlicher auf das Dritte Reich als einen diskursiven Schwerpunkt. Zu nennen wäre aber auch das Verhältnis von Vergangenem in der Spielart des Tradierten und der Gegenwart, wie es sich beispielsweise in Jagdszenen aus Niederbayern äußert, in dem jegliche anthropologische Veränderung aus dem tradierten bäuerlichen Raum ausgegrenzt wird. “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 121 Im Zusammenhang mit der Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart ist unterstützend die Schnittstelle von Schauspieler und Rolle in diesem Film signifikant: Hans Christian Blech ( Jahrgang 1915) als Cardillac ist der einzige ältere Schauspieler im gesamten Cast, der zudem in den 1950er Jahren in vielen Filmen agiert hat, die sich den Ordnungsformationen subsumieren lassen. Die Starpersona des Schauspielers wird somit zu einem Bestandteil der filmischen Argumentation, indem der Film eine Identität von Rolle und Schauspieler herstellt: Blech wird zum Repräsentanten des abzulehnenden alten Films. Cardillac inszeniert darüber hinaus eine Schnittstelle von Fiktion und Dokumentarismus. Gerade der Beginn des Films installiert im Rahmen einer Authentifizierungsstrategie eine Distanzierung von der Figur Cardillac (siehe Kap. 2.2), so dass der quasi-dokumentarische Stil die Funktion zugewiesen bekommt, jeglichem Illusionismus vorzubeugen, sodass sich das Publikum nicht mit dem exzeptionellen Künstlerindividuum Cardillac identifiziert. Die Fiktion ist dem Bereich der Handlung vorbehalten, der sich mit den jüngeren Figuren beschäftigt. Das paradigmatisch ‘ Alte ’ wird dadurch per se ferngehalten, währende die jüngere Generation, die sich im Film privat mit abstrakter und moderner Malerei und Kunst beschäftigt, offen für Neues und Experimentelles ist. Das abstrakte Prinzip der Schnittstelle, das, wie die Analyse von Cardillac zeigt, über das Konzept der Intermedialität hinausgeht und weiterführende Möglichkeiten von Berührungspunkten innerhalb eines (filmischen) Zeichensystems anzeigen kann, mag heuristisch vielfältig anwendbar sein. Für den westdeutschen Autorenfilm der 1960er Jahre bietet es eine fruchtbare Möglichkeit, die impliziten argumentativen Strategien sowie das implizite Selbstverständnis der Filme zu modellieren. Es sind die Schnittstellen, die anzeigen, dass das filmische Gesamtkorpus einem Wandel unterzogen wird, dass sich Revisionen vollziehen, was direkt an den Filmen ablesbar ist, indem sie ‘ neuen ’ Positionen ältere entgegensetzen und somit den neuen Positionen Geltung verleihen. Filmographie Abschied von gestern (D 1966, Alexander Kluge) Alle Jahre wieder (D 1967, Ulrich Schamoni) Brutalität in Stein (D 1961, Alexander Kluge und Peter Schamoni) Cardillac (D 1969, Edgar Reitz) Das Brot der frühen Jahre (D 1962, Herbert Vesely) Der junge Törless (D 1966, Volker Schlöndorff ) Der sanfte Lauf (D 1967, Haro Senft) Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos (D 1969, Alexander Kluge) Es muß ein Stück vom Hitler sein (D 1963, Walter Krüttner) Granstein (D 1965, Christian Doermer) Ich bin ein Elefant, Madame (D 1969, Peter Zadek) Jagdszenen aus Niederbayern (D 1969, Peter Fleischmann) Jonathan (D 1970, Hans W. Geißendörfer) Marionetten (D 1964, Boris Borresholm) Schonzeit für Füchse (D 1966, Peter Schamoni) Tätowierung (D 1967, Johannes Schaaf ) 122 Dennis Gräf (Passau) Primärquellen Hindemtih, Paul 2009: Cardillac. Opera d ’ Oro Hoffmann, E.T.A 1986: Das Fräulein von Scuderi. Stuttgart: Reclam Bibliographie Bollenbeck, Georg 2000: “ Die fünfziger Jahre und die Künste: Kontinuität und Diskontinuität ” , in: Bollenbeck (ed.) 2000: 190 - 213 Bollenbeck, Georg (ed.) 2000: Die janusköpfigen 50er Jahre, Opladen: Westdeutscher Verlag Decker, Jan-Oliver 2018: “ Strukturalistische Ansätze in der Mediensemiotik ” . In: Endres und Herrmann (eds.) 2000: 79 - 95 Endres, Martin und Leonhard Herrmann (eds.) 2018: Strukturalismus, heute. Brüche, Spuren, Kontinuitäten, Stuttgart: de Gruyter Fauser, Markus (ed.) 2011: Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne, Bielefeld: transcript Frese, Matthias et al. (eds.) 2003: Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn/ München: Schöningh Frese, Matthias und Julia Paulus 2003: “ Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels - die 1960er- Jahre in der Bundesrepublik ” , in: Frese et al. (eds.) 2003: 1 - 23 Gräf, Dennis 2012: “‘ Grün ist die Heide ’ . Die (Re-)Konstruktion von ‘ Heimat ’ im Film der 1950er Jahre ” , in: Nies (ed.) 2012: 53 - 82 Gräf, Dennis et al. 2017: Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate, Marburg: Schüren Hammer, Erika und Edina Schandorfi (eds.) 2006: “ Der Rest ist - Staunen ” . Literatur und Performativität, Wien: Praesens Hiller, Marion 2011: “ Kreis, Punkt, Linie. Poetische Verfahren und Medialität in R. D. Brinkmanns Die Umarmung, Die Stimme und Godzilla ” , in: Fauser (ed.): 125 - 156 Krah, Hans 2 2015: Einführung in die Literaturwissenschaft/ Textanalyse, Kiel: Ludwig Krah, Hans 2008: “ Der Hitlerjunge Quex - Erzählstrategien 1932/ 1933: vom Großstadtroman der Weimarer Republik zum ‘ mythischen ’ Erzählen im NS-Film ” , in: Spedicato und Hanuschek (eds.) 2008: 11 - 38 Krah, Hans 2006: “ Performativität und Literaturverfilmung. Aspekte des Medienwechsels am Beispiel von Franz Kafkas Der Prozeß (1925), Orson Welles ’ Der Prozess (1962) und Steven Soderberghs Kafka (1991) ” , in: Hammer und Schandorfi (eds.) 2006: 144 - 187 Laubenthal, Annegrit 1989: “ Cardillac ” , in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, München/ Zürich: Piper: 64 - 69 Lotman, Jurij M. 2010: Die Innenwelt des Denkens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Lotman, Jurij M. 1990: “ Über die Semiosphäre ” , in: Zeitschrift für Semiotik. Band 12 Heft 4 (1990): 287 - 305 Mertens, Dieter 1996: “ Zur Sozialgeschichte und Funktion des poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I ” , in: Schwinges (ed.) 1996: 327 - 348 Nies, Martin (ed.) 2012: Deutsche Selbstbilder in den Medien. Film 1945 bis zur Gegenwart, Marburg: Schüren Petersdorff, Dirk von 2009: “ Intermedialität und neuer Realismus. Die Text-Bild-Kombinationen Rolf Dieter Brinkmanns ” , in: Schmidt und Valk (eds.) 2009: 361 - 377 Rajewsky, Irina O. 2002: Intermedialität, Tübingen/ Basel: A. Francke “ Es gibt keine Aufgabe, die außerhalb dieser Arbeit liegt ” 123 Schildt, Axel 2000: “ Materieller Wohlstand - pragmatische Politik - kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik ” , in: Schildt et al. (eds.) 2000: 21 - 53 Axel Schildt et al. (eds.) 2000: Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg: Christians Schildt, Axel und Detlef Siegfried 2009: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik - 1945 bis zur Gegenwart, München: Hanser Schmidt, Wolf Gerhard und Thorsten Valk (eds.) 2009: Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968, Berlin/ New York: de Gruyter. Schmitt, Stephanie 2012: Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik, Bielefeld: transcript Schwinges, Rainer Christoph (ed.) 1996: Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, Berlin: Duncker&Humblot Spedicato, Eugenio und Sven Hanuschek (eds.) 2008: Literaturverfilmung. Perspektiven und Analysen, Würzburg: Königshausen und Neumann Wolfrum, Edgar 10 2011: Die Bundesrepublik Deutschland (1949 - 1990) (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Band 23), Stuttgart: Klett-Cotta Internetquellen Gräf, Dennis 2019: “ Mediensemiotik in der Lehrer*innenbildung ” , in: Zimmermann et al. (eds.) 51 - 97. (= VZKF-Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 7/ 2019), im Internet unter https: / / ojs3.unipassau.de/ index.php/ skms/ article/ view/ 202 [28. 10. 2019] Parzer, Melanie. Cardillac - eine intermediale Übersetzung. Die Novelle “ Das Fräulein von Scuderi ” von E. T. A. Hoffmann im Vergleich mit Edgar Reitz ’ Film “ Cardillac ” . Wien 2012, im Internet unter http: / / othes.univie.ac.at/ 19891/ [28. 10. 2019] Zimmermann, Amelie et al. (eds.): Spuren - Netze - Horizonte. Potenziale eines semiotischen Blicks in der Lehrer*innenbildung, (= VZKF-Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 7/ 2019), im Internet unter https: / / ojs3.uni-passau.de/ index.php/ skms/ article/ view/ 198 124 Dennis Gräf (Passau)