Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
413-4
Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne
121
2018
Dagmar Schmauks
In früheren Zeiten waren grundlegende Bedürfnisse wie Ernährung, Verteidigung und Fortbewegung viel schwieriger zu erfüllen als heute. Daher entwerfen Mythen, Märchen und andere fiktionale Texte oft magische Geräte wie das Tischlein-deck-dich, das den Hunger beendet, oder den Knüppel-aus-dem-Sack, der einen gegen Feinde beschützt. Der vorliegende Text untersucht die Märchen der Gebrüder Grimm dahingehend, welche magischen Werkzeuge sie beschreiben und welche davon heute schon verwirklicht sind. Bei einigen der noch nicht vorhandenen Geräte wird geprüft, wie die moderne Science Fiction sich ihre Verwirklichung vorstellt. Ferner wird gezeigt, dass etliche magische Geräte durch die Beobachtung von Tieren inspiriert wurden, dass also manche Märchen
bereits einen bionischen Ansatz vorwegnehmen. Ausgehend von Grundbedürfnissen wie Ernährung und Gesundheit schreitet die Gliederung weiter zu egoistischen Wünschen etwa nach Macht oder Reichtum.
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K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne / From the Stick-out-of-the-Bag to Autonomous Drones Mehr oder weniger erfüllte Menschheitsträume / Human Dreams - More or Less Fulfilled Dagmar Schmauks (Berlin) Abstract: In earlier times, basic needs such as nutrition, defense, and locomotion were much more difficult to fulfill than they are today. Therefore, myths, fairy tales and other fictional texts often design magical devices such as the wishing-table that finishes hunger, or the stick-out-of-the-bag that protects its owner against enemies. The present text investigates the fairy tales of the Brothers Grimm as to which magical tools they describe, and which of them have been already realized today. For some of the not yet existing devices it is examined how modern science fiction proposes their realization. Furthermore, it is shown that many magical devices were inspired by the observation of animals, so that some fairy tales already anticipate a bionic approach. Starting from basic needs such as nutrition and health, the text proceeds to selfish desires such as power or wealth. In früheren Zeiten waren grundlegende Bedürfnisse wie Ernährung, Verteidigung und Fortbewegung viel schwieriger zu erfüllen als heute. Daher entwerfen Mythen, Märchen und andere fiktionale Texte oft magische Geräte wie das Tischlein-deck-dich, das den Hunger beendet, oder den Knüppel-aus-dem-Sack, der einen gegen Feinde beschützt. Der vorliegende Text untersucht die Märchen der Gebrüder Grimm dahingehend, welche magischen Werkzeuge sie beschreiben und welche davon heute schon verwirklicht sind. Bei einigen der noch nicht vorhandenen Geräte wird geprüft, wie die moderne Science Fiction sich ihre Verwirklichung vorstellt. Ferner wird gezeigt, dass etliche magische Geräte durch die Beobachtung von Tieren inspiriert wurden, dass also manche Märchen bereits einen bionischen Ansatz vorwegnehmen. Ausgehend von Grundbedürfnissen wie Ernährung und Gesundheit schreitet die Gliederung weiter zu egoistischen Wünschen etwa nach Macht oder Reichtum. Keywords: Fairy tales and basic needs, magical tools, Science Fiction, bionics / Märchen und Grundbedürfnisse, magische Werkzeuge, Science Fiction, Bionik 1 Einführung und Überblick Ein grundlegendes Thema fiktionaler Texte sind Beschreibungen von Werkzeugen, die unsere Wünsche erfüllen, die von unverzichtbaren Lebensgrundlagen bis zu Luxusobjekten reichen. In klassischen Märchen finden wir magische Geräte wie das Tischlein-deck-dich und den Knüppel-aus-dem-Sack, während heute Lebensmitteldrucker und autonome Waffen entwickelt werden. Alle diese Visionen und Projekte haben als gemeinsames Motiv die ebenso nüchterne wie bittere Einsicht, wie ohnmächtig und gefährdet der schwache Mensch in einer bedrohlichen Umwelt ist. Vom ersten Faustkeil bis zur autonomen Drohne haben wir daher immer neue Werkzeuge entwickelt, um unsere mäßigen Körperkräfte zu verbessern. So steigert ein Speer die Reichweite und Wucht von Stößen, während ein scharfkantiger Stein die zähe Haut eines Beutetiers zu durchtrennen vermag. Später kamen Werkzeuge hinzu, welche die Wahrnehmung erweitern wie Fernglas und Hörrohr oder die Rechengeschwindigkeit steigern wie der Computer. Als bekannt vorausgesetzt wird die grundlegende Ambivalenz aller Werkzeuge. Vor allem kann man nahezu jedes Gerät zum Guten oder Bösen einsetzen - dieselbe Axt, mit der man Brennholz hacken kann, vermag auch einen Gegner zu töten. Ferner haben viele Innovationen auch negative Auswirkungen, was jeder weiß, der auf einer schnellen Zugtrasse nicht mehr die Landschaft, sondern immer wieder Tunnel- oder Schallschutzwände sieht. Und schließlich haben Menschen sehr verschiedene Vorlieben: wo der eine Autofahrer selbst sportlich schalten möchte, freut sich der andere auf gemütliches Lesen im autonomen Fahrzeug. Im Folgenden werden einige fiktionale Texte unter der interdisziplinären Leitfrage untersucht, welche Grundbedürfnisse wie Ernährung, Verteidigung, Heilung und Fortbewegung die magischen Geräte erfüllen und inwieweit sie heute schon verwirklicht sind. Der Schwerpunkt liegt auf klassischen Märchen, insbesondere denen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm (in Zitaten abgekürzt GR 1 ), wobei an geeigneten Stellen deren magische Werkzeuge mit funktional ähnlichen Lösungen in klassischen Mythen und der heutigen Science Fiction parallel geführt werden. Einprägsame Blicke ins Tierreich zeigen, dass viele Innovationen unserer Werkzeugkultur von der Evolution bereits vorweggenommen wurden und die Menschen beim Entwurf neuer Geräte inspiriert haben. Ausgeklammert bleiben Wünsche, die sich ohne Einsatz von Werkzeugen auf bloße Eigenschaften wie Schönheit oder immaterielle Güter wie Glück richten. 2 Die Ausgangssituation: Der Mensch als Prothesengott Aus Sicht der Evolutionstheorie hat der Mensch wie alle anderen Lebewesen nur zwei eng verwobene Aufgaben zu lösen: Er muss so lange am Leben bleiben, bis die nächste Generation sichergestellt ist. Dieses Überleben-Müssen wiederum zerfällt in mehrere Teilaufgaben: Das Lebewesen muss ausreichend Nahrung finden, möglichen Feinden entgehen und gesund bleiben. Unsere frühen Vorfahren waren rein körperlich gesehen für diese Aufgaben nicht sonderlich gut ausgestattet. Viele Beutegreifer sind weitaus schneller als der Mensch und haben auch viel schärfere Sinne. Unsere Nägel und Zähne sind sehr schwache Verteidigungsorgane, und die menschliche Haut ist viel verletzlicher als das derbe, oft stark 1 Damit der Leser die Stelle in beliebigen Ausgaben findet, wurde jeweils auch die laufende Nummer des Märchens angegeben. 228 Dagmar Schmauks (Berlin) behaarte Tierfell. Ferner können Menschen schlecht schwimmen, nur mäßig gut klettern und gar nicht fliegen. Zum Ausgleich entwickelte der Mensch eine einzigartige Kombination von leistungsfähigem Gehirn mit geschickten Händen. Vor allem der opponierbare Daumen erlaubt vielfältige Bewegungen, welche die Entwicklung einer komplexen Werkzeugkultur erst möglich machten. Weil diese vielen Werkzeuge uns schneller, stärker oder sogar klüger machen, nannte Sigmund Freud (1948: 451) den Menschen einen “ Prothesengott ” , was unsere stets bedrohte Situation meisterlich kennzeichnet. Denn dank unserer ständig verbesserten Technik sind wir inzwischen zwar auf der Erde so dominierend, dass man das gegenwärtige Erdzeitalter bereits “ Anthropozän ” getauft hat, aber bei Verlust unserer vielen Krücken sind wir wieder ganz auf unser eigenes Wissen und Können zurückgeworfen. Als Gedankenspiel versetze man sich in eine Lage ohne Mitmenschen und Werkzeuge, etwa nach einem Flugzeugabsturz oder Schiffbruch auf einer unbewohnten Insel. Ohne Süßwasser überlebt der Mensch nur wenige Tage, ohne essbare Pflanzen höchstens einige Wochen, und ohne Waffen und Medikamente wären wir Beutegreifern und Parasiten schutzlos ausgeliefert. In mittleren Breiten würden wir ohne geeignete Höhle oder Möglichkeit zum Feuermachen schon im ersten Winter erfrieren. Und welcher Stadtbewohner kann ohne Internetrecherche eine Schlagfalle bauen oder geeignete Faserpflanzen zum Schlingenlegen finden? Romanautoren arbeiten daher immer mit einem Trick: Sie stellen sicher, dass der gestrandete Mensch nicht gänzlich ohne Hilfsmittel ist. Der sprichwörtliche Robinson (Defoe 1719) rettete aus dem Wrack ein Gewehr samt Kugeln und eine Axt, so dass er jagen und eine Hütte bauen konnte. Die Erzählerin im Roman Die Wand (Haushofer 1963) überlebte in einer wohl ausgerüsteten Jagdhütte, nachdem eine geheimnisvolle Glasmauer sie von anderen Menschen isoliert hatte. Ganz ähnlich bleiben Astronauten nach Bruchlandungen nur unter günstigen Bedingungen am Leben. In Landung auf Darkover (Zimmer Bradley 1972) haben sie sogar doppeltes Glück, denn der bislang unbekannte Planet bietet reiche Ressourcen von Nahrung bis Bauholz und vieleTeile der beschädigten Rakete können anderweitig genutzt werden. 3 Der banalste Bereich: die Abgabe lästiger Alltagspflichten Phantasien von Heinzelmännchen, die alle lästigen Pflichten erledigen, waren früher besonders gut motiviert, da alltägliche Arbeiten wie Kochen und Waschen mühsam und langwierig waren. Für ein besseres Verständnis bequemerAlternativen lohnt sich ein Blick ins Tierreich, wo viele Arten von Parasitismus dem einzelnen Tier bestimmte Aufgaben ersparen. So legen Schlupfwespen ihre Eier in oder an die Larven anderer Insekten, so dass sich ihre eigenen Larven vom Körper ihres Wirtes ernähren können. Bekannter ist der Brutparasitismus beim Kuckuck, der seine Eier in die Nester anderer Vogelarten legt und seine Jungen von diesen Wirtseltern aufziehen lässt. Aasfresser wie Hyänen und Geier schließlich leben auch von der Beute anderer Tiere. Das Schimpfwort “ Sozialschmarotzer ” ächtet folgerichtig Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen. Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 229 In der Realität haben die Reichen und Mächtigen mühsame Arbeiten immer schon von anderen verrichten lassen. Vergleichsweise harmlos waren große Haushalte, die zahlreiche Dienstboten wie Köchinnen, Wäscherinnen, Gärtner und Fuhrknechte beschäftigten - ganz ähnlich, wie man heute beliebige Dienstleistungen kaufen kann. Die keineswegs verschwundene brutale Variante sind Sklaven und Leibeigene, die als Eigentum ihres Besitzers gelten und von ihm nach Gutdünken benutzt werden. In vielen Märchen hingegen tauchen als freundlicher Gegenentwurf uneigennützige Wesen auf, die den Menschen völlig freiwillig helfen. So nähen Wichtelmänner nachts flink und arbeitsteilig Schuhe, nehmen also wichtige Vorteile der Automatisierung vorweg (Die Wichtelmänner, GR 39: 236 f.). Schon die ersten Waschmaschinen kann man als Nachfahren dieser Heinzelmännchen ansehen, da sie die mühselige “ Große Wäsche ” erheblich vereinfachten. Heute verbreiten sich einerseits Geräte wie Saug- und Rasenroboter, die selbstständig eng umgrenzte Arbeiten ausführen, andererseits persönliche Assistenten, die immer mehr Aufgaben von der Kalenderverwaltung bis zum Nachbestellen von Lebensmitteln übernehmen. Als weitere Steigerung handeln die “ elektronischen Heinzelmännchen ” autonom (also auf der Basis einprogrammierter Regeln) und miteinander vernetzt. So bezeichnet “ Smart Home ” ein Netzwerk von Geräten, welche das Leben zuhause sicherer und bequemer machen, die also selbstständig die Türen verriegeln oder die Beleuchtung der Stimmung anpassen. Im Märchen Herr Korbes handeln mehrere Werkzeuge eigenmächtig und zielgerichtet, um einem Menschen zu schaden. Eine Stecknadel und eine Nähnadel stechen ihn, und zuletzt erschlägt ihn der über der Tür lauernde Mühlstein. Als Motiv vermutet der Erzähler lediglich, Herr Korbes müsse “ ein recht böser Mann gewesen sein ” (GR 41: 244). Die Angst vor dem “ Pseudo-Leben ” von Werkzeugen beginnt also bereits bei ganz einfachen Geräten, während sie heute um betrügerische Computerprogramme und rebellierende Roboter kreist. Als freundliche Alternative führen hilfreiche Geräte einen Königssohn zu seinem Glück (Spindel, Weberschiffchen und Nadel, GR 188: 768). Die Spindel leitet ihn an einem goldenen Faden zu seiner Braut, ist demnach eine Art automatisierter Ariadne-Faden. Das Weberschiffchen webt einen Teppich vor der Türschwelle, um ihn willkommen zu heißen, während die Nadel alle Möbel mit kostbarem Tuch überzieht und prächtige Vorhänge anfertigt. 4 Sichere Ernährung Der Mensch als Allesfresser ist im Gegensatz zu Nahrungsspezialisten wie dem Koala in einer recht günstigen Ausgangslage, da er sich von zahlreichen Pflanzen und Tieren ernähren kann. Die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht in der neolithischen Revolution vor etwa 12.000 Jahren machte die Ernährung noch sicherer, da nun an Stelle weiträumiger und oft erfolgloser Jagdzüge vielerlei Nahrung in Nähe zum Wohnort vorhanden war. Bei diesem Übergang bestand eine gewaltige kognitive Leistung darin, gerade die besten Körner für die nächste Aussaat aufzusparen, anstatt sie sofort zu verzehren. Erst diese Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub machte es möglich, Vorräte für den 230 Dagmar Schmauks (Berlin) Winter zu sammeln und die Ernte im nächsten Jahr sicherzustellen (vgl. Dawkins 2008: 58 und 557). Dennoch blieben unsere Vorfahren auch weiterhin ständig von Hunger bedroht, falls etwa Dürren die Ernte vernichteten oder Seuchen die Herden dahinrafften. Viele Kulturen kennen daher einen fruchtbaren Paradiesgarten, in dem “ Milch und Honig fließen “ , oder ein Schlaraffenland voll mit nahrhaften Leckereien. Im Märchen erhält man als einfachstes Mittel gegen quälenden Hunger die üblichen Grundnahrungsmittel in beliebiger Menge. So wird ein Brot wird “ niemals alle ” (Das Wasser des Lebens, GR 97: 488) und ein Topf kocht auf Befehl so lange süßen Hirsebrei, bis man ihn wieder zum Stehen bringt (Der süße Brei, GR 103: 508). Eine moderne Verbesserung sind Komplettnahrungen, die zwar ausgewogener, auf Dauer aber sicher ebenso langweilig sind. Deutlich luxuriöser sind üppig gedeckte Tafeln mit vielerlei edlen Speisen, die durch einen Spruch (Tischlein deck dich, GR 36: 218) oder durch eine Ziege herbeigezaubert werden (Einäuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein, GR 130: 612). Heute gibt es in den reichen Ländern keinen Hunger mehr, und Lieferdienste bringen jederzeit beliebige Leckereien ins Haus. Lebensmitteldrucker stellen bereits Pfannkuchen und Pizza her oder bedrucken Esspapier mit Lebensmittelfarbe. Künftige Modelle sollen vielerlei Speisen drucken, indem man die Grundstoffe isoliert, haltbar macht und nach Bedarf zusammenmischt. Insofern das Gerät auch bäckt, entfallen alle Arbeitsschritte vom Kauf der Zutaten bis zur Zubereitung - der Mensch muss nur noch essen. 5 Kampf und Verteidigung Lebewesen haben drei grundlegende Möglichkeiten, auf Aggressionen zu reagieren, nämlich Flucht, Tarnung und Gegenwehr. Die Auswahl hängt unter anderem davon ab, wie sie die Kräfteverhältnisse einschätzen. 5.1 Flucht und Tarnung Eine Flucht ist nur dann zielführend, wenn man deutlich schneller als sein Angreifer ist, raffinierte Finten wie das Hakenschlagen beherrscht oder in sichere Räume ausweichen kann. Durch die vielen Varianten der Tarnung wird das betreffende Lebewesen entweder gar nicht oder aber nicht als Beute wahrgenommen. So entspricht das Unsichtbarwerden der Behauptung “ Ich bin gar nicht da ” . Während transparente Quallen im Wasser gänzlich unentdeckt bleiben, ist die Strategie von Tintenfischen komplexer. Sie erzeugen eine Tintenwolke, die der Angreifer attackiert, während der Tintenfisch selbst flieht. Märchen nennen oft Verstecke, in denen der bedrohte Held eine Gefahr übersteht. Neben natürlichen Räumen wie hohlen Bäumen (Allerleirauh, GR 65: 372) kommen auch künstliche Objekte in Frage wie ein Uhrkasten (Der Wolf und die sieben Geißlein, GR 5: 64). Sehr kleine Helden passen sogar in Mauselöcher und Schneckenhäuser (Daumesdick, GR 37: 230) sowie in Fingerhüte und Tischritzen (Daumerlings Wanderschaft, GR 45: 252). Es sei daran erinnert, dass kleine Kinder glauben, sie würden dann für andere unsichtbar, wenn sie sich die Hände vor die Augen halten oder eine Decke über den Kopf ziehen. Erwachsene wissen es besser und können sich nur noch wünschen, “ im Boden zu Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 231 versinken ” oder aber eine Tarnkappe zu besitzen. Dieses begehrte Hilfsmittel kommt bereits in griechischen Mythen vor, in denen etwa der Unterweltgott Hades durch einen Helm unsichtbar gemacht wird. In den Grimmschen Märchen werden Menschen durch magische Mäntel unsichtbar (Der König vom goldenen Berg, GR 92: 469 sowie Die Rabe, GR 93: 475). Militärische Tarnkappenflugzeuge reflektieren durch ihre besondere Form und Beschichtung deutlich weniger elektromagnetische Wellen und werden daher vom feindlichen Radar nur schwer erfasst. Die Redewendung “ unter dem Radar fliegen ” hingegen bezieht sich auf die Vorteile des Tiefflugs, bei dem der Angreifer länger durch Sichthindernisse verdeckt bleibt. Auch das Totstellen ( “ Schreckstarre ” ) kann als Tarnung gelten, da manche Beutegreifer wie etwa Schlangen vor allem auf die Bewegungen ihrer Beute reagieren. Zugleich leitet es über zu einer Strategie, die der Aussage “ Ich bin nur ein uninteressanter Gegenstand ” entspricht. In der Biologie spricht man von “ Mimese “ , wenn ein Lebewesen einen Teil seiner unbelebten Umgebung nachahmt und daher unentdeckt bleibt. So sehen Stabheuschrecken aus wie vertrocknete Zweige, Fetzenfische wie treibende Tangbüschel, und manche Kleinschmetterlinge wie Vogelkot. Neben diesen statischen Tarnungen gibt es raffinierte dynamische, so können Kraken die Farbe und Struktur ihrer Haut aktiv an den jeweiligen Meeresboden anpassen. Menschen setzen ähnliche Strategien systematisch ein, so entspricht die gefleckte Tarnkleidung von Jägern und Soldaten farblich der jeweiligen Umgebung. Weitaus aufwendiger ist die Camouflage größerer Objekte; so werden Panzer und Schützengräben mit Netzen und Blattwerk abgedeckt, während man Hangars wie harmlose Scheunen gestaltet. Deutlich bedrohlicher wirkt die sog. “ Bates ’ sche Mimikry ” als Nachahmung einer wehrhaften Art und als Gegenstück zur Aussage “ Vorsicht, ich bin gefährlich! ” So wird die harmlose Schwebfliege von Fressfeinden gemieden, weil ihr schwarz-gelb gestreifter Körper (bis auf die fehlende “ Wespentaille “ ! ) der gefürchteten Wespe ähnelt. 5.2 Passive und aktive Waffen Im militärischen Bereich bezeichnet derAusdruck “ Schutzwaffen ” alle Teile derAusrüstung, die nicht aktiv eingesetzt werden, sondern ihren Träger gegen Angriffe schützen. Auch dieser passive Schutz hat zahlreiche Vorbilder im Tierreich, etwa Panzer (Krebs), Schalen (Muschel), Stacheln (Igel) sowie giftige Schleimschichten (viele Amphibien). In der Nibelungensage wurde der Held Siegfried durch ein Bad in Drachenblut unverletzlich. Allerdings blieb eine Stelle zwischen seinen Schulterblättern ungeschützt, weil dort ein Lindenblatt die Wirkung des Drachenblutes verhinderte. Folglich konnte Hagen, dem Kriemhild diese Schwachstelle verraten hatte, Siegfried durch einen gezielten Lanzenstich töten. Die Entwicklung tatsächlicher Schutzwaffen begann mit Lederwesten und führte über eiserne Ritterrüstungen bis zu modernen Kevlarwesten. Speziellere Schutzwaffen sind Helme, Brillen und Atemschutzmasken. Einen Übergang zu aktiven Waffen bilden Exoskelette mit Antrieb, die beim Militär etwa zum Hochheben und Tragen schwerer Lasten eingesetzt werden sollen. 232 Dagmar Schmauks (Berlin) Auch Angriffswaffen haben zahlreiche Vorbilder im Tierreich, vor allem Zähne, Krallen, Hufe, Hörner, Schwanz, Scheren, Stachel sowie das Spucken von Gift. Da lag es nahe, dass der Mensch mit seinen bescheidenen Kräften und schwachen Fingernägeln immer schon geeignete Gegenstände zu Angriff und Verteidigung einsetzte. Die Waffengeschichte beginnt mit der Benutzung vorgefundener Gegenstände, etwa wenn man mit einem abgerissenen Ast oder geschleuderten Stein die Reichweite seiner Handlungen steigert. Von einem echten Werkzeug spricht man hingegen erst dann, wenn Gegenstände durch Bearbeitung zweckdienlich gemacht werden. Beispiele gibt es bereits im Tierreich, so knabbern Affen geeignete Stöcke spitz zu, um mit diesen Speeren Halbaffen zu erstechen, und Krähen verbiegen Drahtstücke zu Häkchen, um Leckerbissen herbeizuziehen. Die einfachste aktive Märchenwaffe ist der sprichwörtliche “ Knüppel-aus-dem-Sack “ , der auf Befehl seines Besitzers alle Gegner verprügelt (Tischlein deck dich, GR 36: 224). Das andere Extrem ist die Möglichkeit, durch Klopfen auf einen Ranzen beliebig viele Soldaten und mächtige Waffen herbeizuzaubern (Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein, GR 54: 310 ff.). Zeitgenössische Hieb- und Stichwaffen treten in automatisierten Varianten auf, so ein Degen, der von selbst alle Gegner köpft (Der König vom goldenen Berg, GR 92: 469), ein Schwert, das ganze Heere schlägt (Das Wasser des Lebens, GR 97: 488) sowie ein Säbel, der alles tötet (Der gelernte Jäger, GR 111: 543). Noch wirksamer sind natürlich Schusswaffen wie ein Gewehr, das immer trifft (Der gelernte Jäger, GR 111: 542) oder sogar um die Ecke sein Ziel trifft (Die vier kunstreichen Brüder, GR 129: 610). Heutige Marschflugkörper als ein Beispiel treffen ihr Ziel punktgenau und weichen selbstständig Hindernissen aus. In Entwicklung befinden sich autonome Drohnen, die aktiv auch bewegliche Ziele verfolgen. Wenn man sie mit Software zur Gesichterkennung ausstattet, können sie autonom Zielpersonen orten, ansteuern und “ ausschalten ” (wie der übliche Euphemismus lautet). Sobald sie sich zu geordneten Schwärmen zusammenschließen, können sie auch große Ziele wie feindliche Siedlungen oder Heere angreifen. Aus der Beobachtung abgeleitet, dass Menschen sehr verschiedene Talente haben, entwerfen mehrere Märchen eine unbesiegbare Gruppe von außergewöhnlichen Mitgliedern. Neben naheliegenden Eigenschaften wie Kraft, Treffsicherheit oder Schnelligkeit gibt es auch originellere wie die Fähigkeit, beim Ausatmen einen Sturm zu erzeugen, oder so starken Frost zu machen, dass man sogar im Feuer überleben kann (Sechse kommen durch die ganze Welt, GR 71: 387 ff.). Die sechs Diener im gleichnamigen Märchen (GR 134: 625) haben überlegene Sinnesleistungen (alles sehen, alles hören) oder können ihre Körpermaße verändern (sich beliebig dick oder beliebig lang machen). Einer kann mit seinem Blick alles zersprengen und der sechste friert in Hitze und schwitzt in Kälte. So sind raffinierte Gruppenleistungen möglich: einer entdeckt das feindliche Heer aus weiter Ferne, einer macht sich blitzschnell lang und trägt so die Gruppe ans Ziel, und einer vernichtet die Feinde durch seinen Blick. In modernen Computerspielen kann der Spieler ähnliche Gruppen zusammenstellen, indem er geeignete Individuen wählt, sie gezielt trainiert oder durch Zaubertränke “ dopt ” . Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 233 6 Heilmittel, Jungbrunnen und Transhumanismus Bis in die Neuzeit blieb das medizinische Wissen und Können sehr begrenzt. So starben Menschen nach alltäglichen Unfällen an Sepsis, viele Frauen im Kindbett und Kinder durch heute leicht behandelbare Infektionskrankheiten. Da lag es nahe, dass Phantasien um ein möglichst wirksames Heilmittel kreisten (6.1). Deutlich ehrgeiziger sind magische Mittel, die ewige Jugend verleihen (6.2) oder dem Menschen ganz neue Fähigkeiten verschaffen (6.3). 6.1 Heilmittel Das in mehreren Märchen erwähnte “ Wasser des Lebens ” ist gut gewählt, da das ganze irdische Leben vom Wasser abhängt. Phylogenetisch stammen wir aus dem Wasser, unser Körper besteht zum größten Teil aus Wasser, und ohne Zufuhr von Süßwasser sterben wir innerhalb weniger Tage. Die sich heute bereits deutlich abzeichnenden Kriege um Trinkwasser belegen diese Zusammenhänge besonders einprägsam. Wie jedoch das “ Wasser des Lebens ” wirkt, bleibt recht vage - man erfährt etwa, dass es “ Schmerzen nimmt und Kraft verleiht ” (Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet, GR 121: 578). Aber sogar ein Enthaupteter wird wieder lebendig, als man ihn mit dem Wasser des Lebens bestreicht (Der König vom goldenen Berg, GR 92: 467). Heute wird Wasser in vielerlei Weise als innerlicher oder äußerlicher Jungbrunnen vermarktet. Premium-Mineralwasser aus möglichst exotischen Quellen (Gletscherwasser aus Norwegen! Tiefseewasser aus Hawaii! ) soll wunderbare Heilkräfte besitzen, während Wellness-Einrichtungen von der klassischen Kneippkur bis zum Spaßbad dem Menschen eine zeitweilige Rückkehr ins Wasser erlauben. Diesen Wunsch kann man als Heimweh nach dem vorgeburtlichen Leben deuten oder sogar als Sehnsucht zu urzeitlichen Lebensformen wie in Gottfried Benns Gedicht “ Gesänge ” (1960: 25): O daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Während die märchenhafte Wirkung des “ Wasser des Lebens ” gerade darin bestand, alle Krankheiten aller Menschen zu heilen, verfolgt heute die sog. “ personalisierte Medizin ” ein in gewisser Weise gegensätzliches Ziel, nämlich die Entwicklung von Medikamenten in Abhängigkeit von individuellen Eigenschaften wie genetische Merkmale, Geschlecht, Wohnort, Chronotyp, Konstitution und Lebensweise. Nur als witzige Übertragung schließlich bezeichnet man Hochprozentiges wie Whisky als “ Wasser des Lebens “ . Da Heilkräuter vermutlich schon von vorgeschichtlichen Schamanen eingesetzt wurden, treten auch pflanzliche Arzneimittel auf. So lässt das Auflegen von drei grünen Blättern eine zerstückelte Schlange wieder zusammenwachsen und eine durch Krankheit verstorbene junge Königin wieder lebendig werden (Die drei Schlangenblätter, GR 16: 127). Weitere magische Heilmittel sind ein Pflaster (Der Geist im Glas, GR 99: 496) sowie eine Salbe, die alles heilt (Die drei Feldscherer, GR 118: 565). Eine zweischneidige Gabe des Arztes besteht darin, bei jedem Krankheitsbild eine absolut sichere Prognose geben zu können. Die beiden sehr ähnlichen Märchen Der Herr Gevatter (GR 42: 244) und Der Gevatter Tod (GR 44: 247 ff.) beschreiben, wie sich der (nur für den Arzt 234 Dagmar Schmauks (Berlin) sichtbare) Tod bei guter Prognose ans Kopfende, bei schlechter ans Fußende des Krankenbettes stellt, wobei der Arzt eine schlechte Prognose schließlich zu unterlaufen versucht. Ein besonderes Therapieziel ist der Ersatz fehlender Körperteile. Die Geschichte begann mit Holzbeinen und anderen passiven Prothesen, während heutige Prothesen durch Mikroprozessoren gesteuert werden und komplexe Bewegungen erlauben. Bei der Transplantation hingegen werden Gewebe oder Organe eines anderen Lebewesens übertragen. Da menschliche Spenderorgane immer zu knapp sind, sollen sie zunehmend durch tierische ersetzt werden; so werden Schweine-Herzklappen bereits erfolgreich transplantiert. Diese Idee vom Tier als “ Ersatzteillager ” spielt bereits das Märchen Die drei Feldscherer durch, in dem Katzenaugen und ein Schweineherz auf Menschen übertragen werden - mit dem unerwarteten Ergebnis, dass der Empfänger des Schweineherzens vergnügt im Unrat herumwühlt (GR 118: 566). Das mit Abstand phantasievollste Heilmittel ist eine Nadel, die alles (weich oder hart) nahtlos zusammenfügt (Die vier kunstreichen Brüder, GR 129: 609). Ihr Besitzer näht zerschossene Vogeleier so geschickt wieder zusammen, dass die Vogeleltern sie weiter ausbrüten. Als gesunde Junge schlüpfen, tragen sie an den Nähten lediglich “ ein rotes Streifchen um den Hals ” (ebenda 610). 6.2 Jungbrunnen Unsere Vorfahren lebten deutlich kürzer als Menschen heute; noch im 19. Jahrhundert lag die statistische Lebenserwartung bei unter 40 Jahren. Angesichts ständiger Bedrohung durch Hunger, Kriege, Unfälle und Krankheiten ist leicht nachvollziehbar, wie sehr man sich ein längeres Leben wünschte. Immer schon beobachtete man bei Tieren seltsame Verhaltensweisen, die Phantasien vom sprichwörtlichen “ Jungbrunnen ” nährten. Wenn etwa Schlangen sich häuten, erscheinen sie durch die neue Haut optisch als deutlich “ verjüngt ” . Ferner erfuhr man von etlichen Tierarten wie Elefanten, Papageien und Schildkröten, dass sie weitaus länger leben als der Mensch. Im Märchen macht das bereits erwähnte “ Wasser des Lebens ” einen alten König “ stark und gesund wie in seinen jungen Tagen ” (Das Wasser des Lebens, GR 97: 489). Heute sprudelt dieser Jungbrunnen sehr kräftig unter dem Schlagwort “ Anti-Aging ” und setzt vielerlei Methoden ein. Kosmetik und Schönheitsoperationen sollen eine optische Verjüngung bewirken, während besondere Diäten und Nahrungsergänzungsmittel eine tatsächliche Verlangsamung der Alterungsprozesse versprechen. Jede Anpreisung einer bestimmte “ Superfood ” erscheint durch ihre Einengung auf nur einen Nahrungsbestandteil wie ein später Nachfahre des “ Wasser des Lebens ” . Besonders ehrgeizig ist das aktuelle Projekt “ Senolyse ” , das durch spezielle Medikamente alle seneszenten (also vergreisten) Zellen auflösen möchte, die sich nicht mehr teilen können, aber Schadstoffe produzieren. Winterschlaf und Winterstarre motivierten die Vorstellung von einem todesähnlichen Zauberschlaf, in dem man nicht altert - derart schlummernd warteten etwa Dornröschen (GR 50: 281 ff.) und Schneewittchen (GR 53: 305 ff.) auf ihre Erlösung. Zugleich nährten solche Wiedererweckungen die früher weit verbreitete Angst davor, scheintot begraben zu werden. Heute versetzt man Schwerverletzte in einen künstlichen Kälteschlaf ( “ Hiberna- Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 235 tion ” ), um während schwieriger Phasen einer Intensivbehandlung ihr Schmerzempfinden und Bewusstsein auszuschalten. Eine noch weiter ausgreifende Vision ist die Kryonik, die unheilbar Kranke in der Hoffnung einfriert, die fortgeschrittene Medizin einer späteren Epoche könne und wolle sie heilen (vgl. Schmauks 2012: 137 f.). In der Science Fiction sollen lange interstellare Reisen möglich werden, indem man die Astronauten nach dem Start in einen Kälteschlaf versetzt und das Raumschiff bis zur Ankunft automatisch gesteuert wird. 6.3 Transhumanismus “ Transhumanismus ” ist der Sammelbegriff für vielfältige Visionen, welche die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen erheblich steigern wollen. So soll der Mensch durch technische Implantate zum “ Cyborg ” werden oder durch maßgeschneiderte Drogen sein Bewusstsein erweitern. Die Science Fiction entwirft gentechnisch veränderte Menschen mit zusätzlichen Organen (Kiemen, Schwimmhäute, Flügel . . .) oder zusätzlichen Sinnesorganen (etwa für Radioaktivität, Infrarot und Ultraschall), damit sie dauerhaft andere Planeten besiedeln können (vgl. Schmauks 2015: 129 ff.). Mythen und Märchen beschreiben oft die Verwandlung von Menschen in Pflanzen oder Tiere, wobei die Motive die ganze Skala zwischen Hilfe und Fluch abdecken. So wird in Ovids Metamorphosen die Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum verwandelt, um sie vor ihrem Verfolger Apoll zu tarnen, die Weberin Arachne hingegen zur Strafe in eine Spinne, weil sie die Göttin Athene herausforderte. Ein Motiv für die Vorstellung von so weitreichenden Verwandlungen könnte der lange unverstandene Gestaltwandel mancher Tiere gewesen sein, wenn sich etwa die kriechende Raupe in einen anmutigen Schmetterling verwandelt oder die wenig strukturierte Kaulquappe in einen gelenkigen Frosch. In Grimms Märchen werden Menschen oft durch den Fluch einer missgünstigen Stiefmutter oder Hexe verwandelt, so ein Königssohn in einen Frosch (Der Froschkönig, GR 1: 43), zwölf Brüder in Raben (Die zwölf Brüder, GR 9: 83), ein Junge in ein Reh (Brüderchen und Schwesterchen, GR 11: 93), sechs Königssöhne in Schwäne (Die sechs Schwäne, GR 49: 276 f.), ein Mädchen in eine Nachtigall ( Jorinde und Joringel, GR 69: 383), ein unartiges Kind in einen Raben (Die Rabe, GR 93: 470), ein Mensch in einen Esel (Der Krautesel, GR 122: 583) sowie Geschwister in ein Lamm und einen Fisch (Das Lämmchen und Fischchen, GR 141: 647). Deutlich seltener sind hilfreiche Verwandlungen, die bedrohte Helden vor ihren Verfolgern tarnen. So wird ein Glückskind in eine Ameise verwandelt (Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, GR 29: 194) und ein Geschwisterpärchen in einen Rosenstrauch (Fundevogel, GR 51: 289). In der Horrorliteratur und Science Fiction treten an die Seite solcher Verwandlungen vielerlei unheimliche Manipulationen der Identität wie Körpertausch und Körperdiebstahl. 7 Schnelle bequeme Fortbewegung Menschen waren immer schon ständig unterwegs, um Nahrung zu finden, Gefahren auszuweichen und neue Gebiete zu erkunden. Nach Sesshaftwerdung und zunehmender Arbeitsteilung mussten nur noch bestimmte Berufsgruppen weite Wege zurücklegen, etwa 236 Dagmar Schmauks (Berlin) Wanderhirten, Fernhändler und Gesellen auf der Walz. Pilger brachen zu entlegenen Zielen auf, während Soldaten fremdbestimmt in den Kampf zogen. Da Reittiere und gut ausgebaute Wege fehlten, waren Phantasien von leichterem Fortkommen gut motiviert. Einige Märchen beschreiben die naheliegende Lösung, durch wundertätige Stiefel schnell ans Ziel zu gelangen. So legt eine Hexe mit ihren “ Meilenstiefeln ” mit jedem Schritt eine Wegstunde zurück, also eine Strecke von rund fünf Kilometern (Der liebste Roland, 56: 319). Die sprichwörtlichen “ Siebenmeilenstiefel ” hingegen stammen aus dem Kunstmärchen Der kleine Däumling von Charles Perrault (1697) und wurden von vielen Autoren übernommen. Abgesehen von der Sieben als magischer Zahl waren die Siebenmeilenstiefel übrigens viel ehrgeiziger als die einstellige Zahl vermuten lässt, denn wenn man einen Schritt pro Sekunde und preußische Meilen (= 7,5 km) annimmt, übertreffen sie mit über 50 km/ s bereits die dritte kosmische Geschwindigkeit (42 km/ s), mit der eine Rakete das Sonnensystem verlassen könnte. Ferner legten neidvolle Beobachtungen es nahe, schnelle Tiere als Vorbild zu wählen. Eine märchenhafte Übertreibung des schnellen Reitens ist das Pferd, das einen überall hin trägt (Die Rabe, GR 93: 475). Während jedoch das Reiten den Menschen seit Jahrtausenden vertraut war, blieb das Fliegen bis in die Neuzeit ein reiner Wunschtraum. Evolutionär ist Fliegen eine überlegene Methode, um seinen Feinden zu entkommen, einen vollständigen Überblick zu gewinnen (vgl. Abschnitt 8), weite Strecken zurückzulegen und dabei auch Hindernisse wie Flüsse und Gebirge zu überwinden. Weil der Luftraum eine so attraktive ökologische Nische war, wurden Flügel mehrfach unabhängig voneinander entwickelt, nämlich von Insekten, Sauriern, Vögeln und Fledertieren. Hierbei halten die Vögel erstaunliche Rekorde, so fliegen Sperbergeier bis zu 10.000 m hoch, Wanderfalken im Sturzflug bis zu 320 km/ h schnell und Küstenseeschwalben legen jede Saison bis zu 50.000 km zurück. Antike Legenden berichten, dass der Götterbote Hermes sich mit Flügelschuhen schnell fortbewegte. Der mythische Tüftler Dädalus war einer der ersten Bioniker und baute aus echten Federn und Wachs naturgetreue Vogelschwingen, mit denen er sich in die Luft erhob. Auch Leonardo da Vinci wollte noch den Schlagflug imitieren, was sich als falscher Ansatz erwies und später durch starre Flügel ersetzt wurde. Albrecht Berblinger, der “ Schneider von Ulm “ , versuchte 1811 mit seinem Hängegleiter die Donau zu überqueren und stürzte wegen ungünstiger Windverhältnisse ab. Heute, rund 200 Jahre später, kann jeder mit dem Billigflieger überallhin reisen, während sich auf der Erdoberfläche autonome Autos verbreiten. Weitaus eleganter wäre die Teleportation, also ein Ortswechsel ohne Durchmessen des Raumes. Angesichts der riesigen Entfernungen im Weltraum spielt sie eine wichtige Rolle in der Science Fiction. Bei diesem sog. “ Beamen ” wird der Körper des Reisenden am Ausgangsort vollständig vermessen und dematerialisiert, woraufhin der Datensatz mit Lichtgeschwindigkeit an den Zielort übermittelt und die Person dort rematerialisiert wird. Durch die Obergrenze der Lichtgeschwindigkeit wären jedoch interstellare Reisen weiterhin langwierig und ließen die unerfreuliche Frage unbeantwortet, wo der Reisende während der Datenübermittlung eigentlich “ existiert ” . Märchen, die sich meist auf die Erdoberfläche beschränken, waren hinsichtlich dieser Frage sehr viel ehrgeiziger, denn sie beschreiben Geräte, die einen “ augenblicklich ” ans gewählte Ziel bringen. Hier finden wir wiederum Stiefel (Der König vom goldenen Berg, Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 237 GR 92: 469) sowie einen Wunschring (ebenda 467), einen Wunschmantel (Der Krautesel, GR 122: 580), einen Wunschhut (Die Kristallkugel, GR 197: 798) sowie einen “ Sattel, der einen augenblicklich überallhin trägt ” (Der Trommler, GR 133: 785) 8 Wahrnehmung und Wissen Wer mehr weiß als seine möglichen Gegner, ist meist im Vorteil. Eine erste Voraussetzung sind leistungsstarke Sinnesorgane, insbesondere scharfe Augen. Das Vorbild hier sind vor allem die Vögel, deren überlegenes Sehvermögen auch aus mehreren Kilometern Höhe noch Beute entdeckt. Der nordische Gott Odin schickte jeden Morgen seine beiden Raben Hugin und Munin aus, die über die ganze Erde flogen und ihm alle Neuigkeiten berichteten. Menschen als Bodenbewohner mussten exponierte Felsen besteigen oder gar Türme erbauen, um dieser sprichwörtlichen “ Vogelperspektive ” näher zu kommen. Die Vorteile einer erhöhten Position bilden ein umfangreiches und weit verzweigtes kognitives Modell entlang der Achse “ Oben - Unten ” (vgl. die klassische Analyse “ Orientational Metaphors ” in Lakoff und Johnson 1980: 14 ff.). In den Mythen aller Kulturen wohnen die Götter auf Bergen, in der Heraldik ist der Adler ein häufiges Wappentier, den “ Oberen Zehntausend ” standen immer zahllose “ Untergebene ” gegenüber, und unsere Stimmung kann schwanken zwischen “ hochgemut ” und “ tiefbetrübt ” . Diese gottähnliche Perspektive “ von oben, auf alles ” ist heute technisch weitgehend verwirklicht. Durch Satellitenfernerkundung ist die gesamte Erdoberfläche bekannt, Videokameras machen eine ständige Überwachung möglich, und durch unauffällige Drohnen lassen sich sogar schlecht zugängliche Gebiete erkunden. Programme wie Google Earth kombinieren Satelliten- und Luftbilder so, dass der Benutzer einen virtuellen Globus in beliebiger Auflösung erkunden kann. Auch Märchen haben bereits Geräte entworfen, die alle drei Räume wahrnehmen, nämlich die Erdoberfläche, den Luftraum sowie die Geschehnisse unter der Erde. So gibt es im Märchen Die vier kunstreichen Brüder ein Fernrohr, "mit dem man alles sehen kann, was auf Erden und am Himmel vorgeht ” (GR 129: 608). Einer Königstochter zeigen die zwölf magischen Fenster ihres Schlosses immer schärfer alles, was “ über und unter der Erde ” ist (Das Meerhäschen, GR 191: 772). Sie verspricht ihre Hand dem, der sich trotzdem erfolgreich vor ihr verstecken kann. Drei Brüder wagen die Wette und die beiden ältesten werden sofort entdeckt. Dem jüngsten helfen drei Tiere, die er bei der Jagd auf deren Bitten hin verschont hat (ebenda 773 ff.). Der Rabe versteckt ihn in einem Ei und die Königstochter sieht ihn erst durch das elfte Fenster. Der Fisch verschluckt ihn und erst der Blick durch das zwölfte Fenster zeigt ihn im Fischmagen. Der Fuchs schließlich verwandelt ihn in ein Meerhäschen (also ein Kaninchen), das sie nicht als Menschen erkennt. Eine eitle Königin befragt immer wieder einen sprechenden Zauberspiegel, wer die Schönste im ganzen Land ist (Schneewittchen, GR 53: 298). Der Spiegel nennt nicht nur Schneewittchen als deutlich überlegene Rivalin, sondern verrät auch deren jeweiligen Aufenthaltsort. Ein Sonderfall des Wissenserwerbs ist das Erlernen einer Fremdsprache. Der Wunsch, mit wenig Mühe eine neue Sprache zu erlernen, ist im Zeitalter der Globalisierung deutlich häufiger als früher, als die ländliche Bevölkerung nicht reiste und die Gebildeten sich mit Latein verständigen konnten. Die untersuchten Märchen kennen daher keine magischen 238 Dagmar Schmauks (Berlin) Vorläufer von Übersetzungscomputern, aber berichten von jemandem, der Tiersprachen verstand (Die drei Sprachen, GR 33: 207). Allerdings geht es nicht wie in der Kognitiven Ethologie darum, die Tiere von ihrem eigenen Leben her zu verstehen, sondern wieder um ihren Nutzen für Menschen. So verraten Hunde dem Helden, wo ein großer Schatz versteckt liegt, und Frösche sagen ihm voraus, dass man ihn zum Papst wählen wird. Nach dieser Wahl übernehmen zwei Tauben eine sehr witzige Rolle, denn sie sitzen bei Gottesdiensten auf seinen Schultern und flüstern dem formal gesehen völlig ungebildeten Papst die Worte der Liturgie ins Ohr. Das Märchen Der singende Knochen schließlich beschreibt eine interessante und berührende Art des Wissenserwerbs, die in den Bereich moderner Kriminologie gehört (GR 28: 191). Der Knochen eines längst skelettierten Ermordeten wird nach vielen Jahren zufällig gefunden und als Mundstück eines Horns benutzt. Zum Erstaunen der Zuhörer erzählt er bei jedem Blasen den Hergang der Tat und nennt seinen Mörder. Im Gegensatz zu heutigen technischen Methoden wie der DNA-Analyse gewinnt hier also das Opfer selbst noch einmal eine Stimme und klagt seinen Mörder an. 9 Macht und Reichtum Macht und Reichtum sind zwei eng verknüpfte Möglichkeiten, um eigene Ziele zu erreichen und dabei andere Menschen zu benutzen. 9.1 Macht Ein durch alle Epochen wirksamer und in allen Textsorten behandelter Wunsch ist der nach Macht über Dinge und Menschen. Im Märchen verhilft oft der Besitz magischer Geräte zum gewünschten Einfluss. Immer wieder geht es um das Überwinden von Barrieren, etwa durch einen Stock, der alle Türen öffnet (Die Rabe, GR 93: 474 f.). Das einfachste Werkzeug, nämlich ein Zauberschlüssel, wird benutzt, um die Neugier des Lesers auf ein Geheimnis zu verspotten. Der Erzähler berichtet recht umständlich vom Fund eines Schlüssels und der mühsamen Suche nach dem dazu gehörigen Kästchen - “ und nun müssen wir warten, bis er [. . .] den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen ” (Der goldene Schlüssel, GR 200: 809). Im Zeitalter elektronischer Barrieren wurden Zauberschlüssel und der veraltete Dietrich durch das Ausspionieren von Code-Nummern ersetzt. Wunschringe führen beliebige Befehle aus (Der Trommler, GR 193: 786) oder rufen bei jedem Drehen Luftgeister herbei, die alle Wünsche erfüllen, auch die nach schnellem Ortswechsel, Geld, oder dem Sieg über Gegner (Der starke Hans, GR 166: 706). Um Mitmenschen seine Ziele aufzuzwingen, reichen im Märchen ebenso wie in der Realität die eingesetzten Mittel von subtiler Manipulation bis zu brachialer Gewalt. So besitzt ein Jüngling eine Geige, deren Spiel alle Zuhörer zum Tanzen bringt (Der liebste Roland, GR 56: 320), während der Knüppel-aus-dem-Sack sehr rabiat einwirkt (vgl. Abschnitt 5.2). Ein eigenes umfangreiches Thema sind die Mittel, mit denen böse Personen am Ende brutal bestraft werden, wobei neben Feuer und glühendem Pech auch spezielle Folterwerkzeuge auftreten. So muss sich eine böse Stiefmutter in glühenden Eisenpantoffeln zu Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 239 Tode tanzen (Schneewittchen, GR 53: 308) und eine falsche Braut wird in einem innen mit Nägeln gespickten Fass zu Tode geschleift (Die Gänsemagd, GR 89: 453). Was wir heute “ Mobbing ” nennen, hat einen Vorläufer in den Schikanen, mit denen Aschenputtel täglich von seinen Stiefschwestern gepeinigt wird (GR 21: 154 ff.). Als nur scheinbare Verbesserung ist heute an die Seite der klassischen Folter die sog. “ weiße Folter ” getreten, deren Methoden auf die Psyche des Opfers einwirken und schwerer nachweisbar sind. Zu ihnen zählen Schlafentzug, ständige Beschallung, Isolationshaft sowie Scheinhinrichtungen und andere Inszenierungen, die Todesangst bewirken. In Entwicklung befinden sich Geräte, die durch Messung der Hirnströme ein sog. “ Lesen von Gedanken ” erlauben. Wie jedes Werkzeug ist auch dieses ambivalent, denn es kann heute schon Personen mit Locked-In-Syndrom die Kommunikation mit anderen ermöglichen, soll als Zukunftsvision aber auch zur Überwachung eingesetzt werden, indem es bereits die Absicht zu Straftaten erkennen vermag. 9.2 Reichtum Viele Märchen kreisen um den Wunsch nach Reichtum, wobei der Held genau wie bei heutigen Geldanlagen entweder einmalig eine große Summe erhält oder regelmäßig eine geringere. Als Beispiel für die erste Möglichkeit verschenkt ein mitleidiges Mädchen seine gesamte ohnehin bescheidene Habe an noch ärmere Personen. Nachdem es auch sein Hemd weggegeben hat, fallen die Sterne als Taler vom Himmel und machen es “ reich für sein Lebtag ” (Die Sterntaler, GR 153: 668). Ein Glückskind erhält als Dank für Hilfe mehrere mit Gold beladene Esel (Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, GR 29: 197). Einen Übergang zur zweiten Möglichkeit bilden allerlei Behälter, die nie leer werden und so lebenslänglichen Wohlstand sichern. Stereotype Beispiele sind ein Mantel, dessen Taschen immer voll Gold sind (Der Bärenhäuter, GR 101: 502), eine Tasche, die immer voll Geld ist (Die drei Handwerksburschen, GR 120: 572) sowie ein Geldbeutel, der nie leer wird (Die weiße und die schwarze Braut, GR 135: 631). Das kostbare Gold kann auch täglich neu oder auf Befehl hin auftauchen. In der heutigen Metaphorik noch lebendig ist der sprichwörtliche “ Dukatenesel ” (oder auch “ Dukatenscheißer ” ): Der Befehl “ Bricklabrit ” lässt einen Esel Goldstücke ausspucken, und zwar “ hinten und vorn ” (Tischlein deck dich, GR 36: 221). Kleine Männchen versprechen einem hilfsbereiten Mädchen, dass “ Goldstücke ihm aus dem Mund fallen, sooft es ein Wort spricht ” (Die drei Männlein im Walde, GR 13: 109). Frau Holle lässt über ihre Magd zum Dank für treue Dienste einen Goldregen fallen (Frau Holle, GR 24: 170). Ein Mädchen verschluckt ein Vogelherz und findet künftig jeden Morgen ein Goldstück unter seinem Kopfkissen (Der Krautesel, GR 122: 580), ebenso wie die beiden Kinder, die Herz und Leber des Goldvogels essen (Die zwei Brüder, GR 60: 339). Eine Peitsche schließlich zaubert bei jedem Knallen Geld herbei (Der Teufel und seine Großmutter, GR 125: 593). Ebenso beliebt sind magische Mittel, die unedle Stoffe in Edelmetalle oder Juwelen verwandeln. Bekannt wurde König Midas, der sich gedankenlos wünschte, alles von ihm Berührte möge zu Gold werden - und so in Gefahr geriet, an Durst und Hunger zu sterben. Die Alchemisten suchten nach dem “ Stein der Weisen ” , der unedle Metalle in Gold oder Silber verwandeln sollte. Rumpelstilzchen im gleichnamigen Märchen kann Stroh zu Gold 240 Dagmar Schmauks (Berlin) spinnen (GR 55: 314). Einer Königstochter verleiht eine weise Frau die Gabe, an Stelle von Tränen kostbare Perlen zu weinen (Die Gänsehirtin am Brunnen, GR 79: 739). Ein magisches Pflaster verwandelt Eisen in Silber (Der Geist im Glas, GR 99: 496), und freundliche kleine Leute verschenken unscheinbare Kohlen, die sich - allerdings nur bei guten Menschen - über Nacht in Goldstücke verwandeln (Die Geschenke des kleinen Volkes, GR 182: 747). Das bekannte Märchen Von dem Fischer und seiner Frau (GR 19: 135) führt pädagogisch sehr drastisch vor, wie verhängnisvoll der Wunsch nach immer mehr Macht und Reichtum ist. Die ehrgeizige Fischerfrau wünscht sich vom geretteten Butt zunächst immer bessere Behausungen vom “ Pissputt ” über Hütte und Haus bis zum Schloss, dann immer einflussreichere Positionen vom König über den Kaiser bis zum Papst. Als sie schließlich “ wie der liebe Gott ” werden will, wird sie wieder in den “ Pissputt ” versetzt (ebenda 142). 10 Partnerwahl Auch der Traum vom sozialen Aufstieg wird im Märchen oft erfüllt, manchmal sogar durch erstaunliche Überschreitungen von Standesgrenzen. Besonders plakativ wählt ein Königssohn eine Gänsemagd zur Braut (Die Gänsemagd, GR 89: 451) und ein Schneider gewinnt die Hand der Königstochter (s. u.). Im Folgenden wird ein besonderer Aspekt der Partnerwahl im Märchen kurz skizziert, nämlich wie häufig ein besonders tierlieber Bewerber bei den gestellten Aufgaben unerwartet erfolgreich abschneidet. Man kann nicht oft genug daran erinnern, dass am Beginn aller Hochkulturen die Domestizierung von geeigneten Tieren stand, welche die schnell wachsende Bevölkerung ernährten und als Arbeitstiere kulturelle Leistungen wie Landwirtschaft, Städtebau und Fernhandel erst möglich machten. In Ballungsräumen sind Tiere heute eher Freizeitpartner oder Familienmitglieder, während sie in ärmeren Ländern als Reit- oder Tragtiere weiterhin unverzichtbar sind. Ferner haben Tiere den Menschen immer schon in seine zahllosen Kriege begleitet. Diese militärische Pervertierung des Nutztier-Konzeptes betrifft erstaunlich viele Arten. Noch im zweiten Weltkrieg wurden Brieftauben als Postboten und in der Luftaufklärung eingesetzt, während man später Delphine zur Minensuche ausbildete und Esel bei Sprengstoffattentaten benutzte. Im Märchen hingegen macht Tierliebe sich auffallend häufig später bezahlt, wenn die Tiere ihre Dankbarkeit beweisen. Es wurde bereits erwähnt, wie mehrere Tiere einem Königssohn beim Verstecken helfen (Das Meerhäschen, GR 191: 773ff, vgl. Abschnitt 8). Ein anderer Königssohn rettet Ameisen, Enten und Bienen vor seinem brutalen Bruder (Die Bienenkönigin, GR 62: 362). Zum Dank helfen ihm die Tiere bei drei schwierigen Aufgaben, durch deren Lösung er die Hand der Königstochter gewinnt. Ganz ähnlich können sogar “ Männer aus dem Volk ” ihr Glück machen. So verschont ein hungriger Schneider ein Füllen, einen Storch, junge Enten und einen Bienenschwarm (Die beiden Wanderer, GR 107: 522 ff.). Später helfen ihm diese Tiere, vier schwierige Aufgaben zu lösen und er heiratet die älteste Königstochter. Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 241 11 Offene Wünsche Es hat sich gezeigt, dass der Mensch seinen vielen Wünschen schon deutlich näher gekommen ist. Menschen leben länger und sind gesünder, es gibt prozentual gesehen weniger Hunger, Reisen wurden schneller und bequemer, man kann weltweit schnell kommunizieren und sich (insofern keine Zensur herrscht) über alle Wissensgebiete informieren. Andererseits haben Krieg und Terror nicht aufgehört, sondern benutzen die jeweils modernste Technik sehr zielsicher. Auch die Sklaverei ist keineswegs abgeschafft und die Kluft zwischen Armen und Reichen wird sich wohl nicht schließen. Welche Werkzeuge fehlen uns nun noch? Der sprichwörtliche “ Nürnberger Trichter ” , der Schüler schnell und mühelos mit Wissen füllt, soll durch implantierte Gehirnchips einmal Wirklichkeit werden. Wikipedia könnte man als schwachen Abklatsch ansehen, allerdings müssen die enthaltenen Inhalte ja noch ein einen menschlichen Verstand eingebaut werden, um nützlich zu sein. Teleportation, also die “ augenblickliche ” Fortbewegung, scheint nach den uns bekannten Naturgesetzen unmöglich, wenn auch die Science Fiction von Techniken wie “ Sprünge durch den Hyperraum ” oder “ Krümmung des Raumes ” spricht. Auch die punktuelle Aufhebung der Gravitation, Zeitreisen und sichere Vorhersagen der Zukunft werden wohl Wunschträume bleiben - ist doch schon das Wettergeschehen in der Atmosphäre so komplex, dass verlässliche Vorhersagen nur für wenige Tage möglich sind. Bleibt noch der Wunsch nach ewiger Jugend. Wer sich die gänzliche Abschaffung des Todes wünscht, möge sich daran erinnern, dass die irdische Unsterblichkeit oft als Fluch galt. Eine christliche Legende berichtet, wie Ahasver Jesus auf seinem Weg zur Kreuzigung verspottet und zur Strafe ruhelos wandern muss bis zum Jüngsten Tag (erst später wurde er als Jude bezeichnet und taucht als “ Ewiger Jude ” in zahlreichen antisemitischen Texten auf.). Es scheint also, dass die Zunahme der gesunden Jahre ein viel erstrebenswerteres Ziel wäre, und zwar für alle Menschen und nicht nur für die ohnehin begünstigten. Vor allem aber möge man sich klarmachen, dass der individuelle Tod der Preis ist, den wir für die beträchtlichen Vorteile der Zweigeschlechtlichkeit zahlen. Das Erbgut von Einzellern, die sich immer nur teilen, kann nur durch Mutationen verändert werden. Ein ungleich erfolgreicherer Motor der Evolution ist daher der Austausch von genetischem Material zwischen den Geschlechtern. Den Erfolg dieser Innovation belegt die überwältigende Vielfalt von Lebewesen, die mit uns zusammen die Erde bewohnen - sie alle sind mit uns verwandt und sollten entsprechend gut behandelt werden. Anmerkungen Ich danke Norbert Reithinger für seine hilfreichen Ergänzungen zu den technischen Passagen. 242 Dagmar Schmauks (Berlin) Literatur Benn, Gottfried 1960: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 1: Gedichte. Wiesbaden: Limes Dawkins, Richard 2004: The Ancestor ’ s Tale. A Pilgrimage to the Dawn of Life. London: Weidefeld & Nicolson. Deutsch: Geschichten vom Ursprung des Lebens. Eine Zeitreise auf Darwins Spuren. Berlin: Ullstein 2009 Defoe, Daniel 1719: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe. Deutsch: Robinson Crusoe. Stuttgart: Reclam 2012 Freud, Sigmund 1930: “ Das Unbehagen in der Kultur “ . Leipzig u. a.: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. In: Gesammelte Werke Band 14: 419 - 506. Frankfurt a. M.: Fischer 1948 Grimm, Brüder 1999: Kinder- und Hausmärchen. 19. Auflage. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler Haushofer 1963: Die Wand. Gütersloh: Mohn Lakoff, George und Mark Johnson 1980: Metaphors We Live By. Chicago and London: The University of Chicago Press Perrault, Charles 1697): Le petit poucet. Deutsch: Der kleine Däumling. Berlin: Der Kinderbuchverlag 1958 Schmauks, Dagmar 2012: “ Von der Makrobiotik zum Transhumanismus. Wissenschaftliche Visionen der Lebensverlängerung “ . In: Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Alfred K. Treml (eds.): Enhancement - Die zweite Evolution? Norderstedt: Books on Demand: 127 - 144 Schmauks, Dagmar 2015: “ Zwischen Terraformierung und genetischer Anpassung. Visionen der Weltraum-Kolonisierung in der Science-Fiction “ . In: Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Bernhart Ruso (eds.): Kolonisierung. Wie Ideen und Organismen neue Räume erschließen. Norderstedt: Books on Demand: 115 - 133 Zimmer Bradley, Marion 1972: Darkover landfall. New York: Daw Books. Deutsch: Landung auf Darkover. Augsburg: Weltbild 2004 Vom Knüppel-aus-dem-Sack zur autonomen Drohne 243