eJournals Kodikas/Code 41/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
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Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache

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2018
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Im deutschsprachigen Raum gibt es – anders als in der angloamerikanischen Forschung – kaum empirisch basierte Untersuchungen zu der Frage, ob es ein Phänomen wie gayspeak (Chesebro) überhaupt gibt und ob der Diskurs in gay subcultures (Kulick) als ein ausgeprägter Soziolekt bezeichnet werden kann. Der Beitrag fragt danach, ob Homosexuelle sich gegenseitig anhand ihres Sprachgebrauchs identifizieren können. Nach einer kurzen Abklärung der begrifflichen Grundlagen und der forschungsgeschichtlichen Einbettung der diskursiven Fragestellung in die gesellschaftliche Entwicklung der gay liberation als Bedingung ihrer Möglichkeit wird ein knapper Überblick gegeben über den aktuellen Stand der gay discourse Forschung einschließlich einiger Erträge der Untersuchung sprachliche Strukturen des Sprechens in schwulen Subkulturen in anderen Sprach- und Kulturräumen. Abschließend wird ihr Verhältnis zur queer discourse Forschung diskutiert, die dann ihrerseits nach ihren soziolinguistischen Ergebnissen gefragt wird.
kod413-40261
K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache / Language and Subculture: Signs of Belonging to the Gay Community Verständigung in der gay community. Fragen an die queer discourse Forschung / Some questions for queer discourse research Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Abstract: In the German-speaking world there are - in contrast to Anglo-American research - hardly any empirically based studies on the question whether a phenomenon like ‘ gayspeak ’ (Chesebro) exists at all and whether the discourse in gay subcultures (Kulick) can be described as a distinct sociolect. The contribution asks whether homosexuals can identify each other through their use of language. After a brief clarification of the terminological framework and a sketch of the socio-historical context of the gay liberation movement, a overview is given of the current state of gay discourse research, including some results of the investigation of linguistic structures of speech in gay subcultures in other languages and cultures. Finally, its relation to queer discourse research will be discussed, which in turn will be asked about its sociolinguistic results. Im deutschsprachigen Raum gibt es - anders als in der angloamerikanischen Forschung - kaum empirisch basierte Untersuchungen zu der Frage, ob es ein Phänomen wie gayspeak (Chesebro) überhaupt gibt und ob der Diskurs in gay subcultures (Kulick) als ein ausgeprägter Soziolekt bezeichnet werden kann. Der Beitrag fragt danach, ob Homosexuelle sich gegenseitig anhand ihres Sprachgebrauchs identifizieren können. Nach einer kurzen Abklärung der begrifflichen Grundlagen und der forschungsgeschichtlichen Einbettung der diskursiven Fragestellung in die gesellschaftliche Entwicklung der gay liberation als Bedingung ihrer Möglichkeit wird ein knapper Überblick gegeben über den aktuellen Stand der gay discourse Forschung einschließlich einiger Erträge der Untersuchung sprachliche Strukturen des Sprechens in schwulen Subkulturen in anderen Sprach- und Kulturräumen. Abschließend wird ihr Verhältnis zur queer discourse Forschung diskutiert, die dann ihrerseits nach ihren soziolinguistischen Ergebnissen gefragt wird. Keywords: Gayspeak, Gay Liberation, Gay Speech, Gay Culture, Gay Discourse, Queer Theory, Queer Discourse, Language of Gays, Gay Scenes and Subcultures / Gayspeak, Gay Liberation, Queer Theorie, Queer Diskurs, Subkultur, Schwulensprache, Schwulenszene Für James D. Steakley zum 75. Geburtstag 1 1 Jim and His Kind - Erinnerung an 1987 Mit dem Germanisten, Literatur- und Kulturhistoriker James D. Steakley ( Jim, unter Freunden) verbindet mich neben gemeinsamen Forschungsinteressen die Erinnerung an ein unvergessliches Austauschsemester im Jahre 1987. Unterstützt von der Fulbright Foundation tauschten Jim und ich für ein Semester Wohnsitz und Lehrdeputat, nicht aber, wie David Lodge (1975) es in seinem ersten Campus-Roman Changing places mit amüsant-ironischem Blick auf die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem europäischen Universitätsalltag so anschaulich beschreibt, auch unsere jeweiligen Partner (wenn ich einmal von Susan absehe, die Jim meiner strengen Fürsorge anvertraute: sie gewöhnte sich nur langsam an mich, verweigerte tagelang die Nahrungsaufnahme, aber am Ende schien sie es schnurrend zu genießen, auf meinem Schoß gestreichelt zu werden und abends mit mir gemeinsam die Fernsehnachrichten zu verfolgen; jedenfalls konnte ich sie Jim nach einem halben Jahr gesund und mit seidigem Fell zurückgeben). Der tägliche Austausch mit den berühmtesten Repräsentanten unseres Faches am German Department der University of Wisconsin at Madison hat mich ungemein beflügelt: Jost Hermand schaute auf eine Zigarette vorbei, Reinhold Grimm erzählte mir von seinen Vorträgen weltweit, Klaus Berghahn lud mich zum Essen ein, Valters Nollendorfs und seine Frau Cora Lee empfingen mich zum Antrittsbesuch, Jürgen Eichhoff erinnerte mich an das kulturelle Erbe der deutschen Einwanderung in den amerikanischen Mittelwesten, Salvatore (Sal) Calomino traf ich abends zum Drink, mit George Mosse ging ich ins Kino. . . - aus Kollegen wurden Freunde, mit denen ich auch nach meiner Rückkehr an die Freie Universität Berlin gern in Verbindung blieb. 2 Nebenbei nahm ich in jenem Herbst an allen wichtigen Kongressen unserer Zunft teil, an der GSA in St. Louis, an der AATG in Atlanta, an der MLA in San Francisco, und knüpfte Kontakte mit wunderbar inspirierenden Kolleginnen und Kollegen wie Karl F. Otto, Richard A. Morris, Mike West, Robin Huff, Jeff Peck, Robert di Donato, Alexander Stephan, Helga Kraft, Tony Kaes u. v. a., mit einigen - wie Paul Michael (Mike) Lützeler, Hinrich Seeba, Roland Heine - bin ich bis heute freundschaftlich verbunden und in regelmäßigem Austausch. Sie und viele andere ließen in mir den Entschluss reifen, mich an eine US- Universität zu bewerben und in die US-Germanistik zu integrieren. Ich absolvierte die üblichen Interviews, die berühmte Ruth Klüger (damals noch Ruth Angress), Helmut Schneider und Frank Schlossbauer wollten mich nach Irvine holen (was am Veto einiger grimmig auf Noam Chomskys Syntaxtheorie eingeschworener Linguisten scheiterte), 1 Eine online-Version dieses Beitrags soll in einer von Florian G. Mildenberger herausgegebenen Festschrift für James D. Steakley erscheinen, die voraussichtlich als open access-Publikation zu seinem 75. Geburtstag erscheinen wird. 2 Nach dem altrömischem Rechtsgrundsatz “ Pronuntiatio sermonis in sexu masculino ad utrumque sexum plerumque porrigatur ” (Corpus Iuris Civilis Dig. 50, 16, 195) und im Einklang mit aktueller höchstrichterlicher Rechtsprechung (s. BVG-Personenstandsurteil 1 BvR 2019/ 16 v. 10. 10. 2017 gem. Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und BGH-Personenbezeichnungsurteil VI ZR 143/ 17 v. 13. 03. 2018), aber auch in vager Erinnerung an dereinst geltende Regeln der deutschen Grammatik und stilistischen Standards möge die generisch gebrauchte maskuline Form in diesem Beitrag Personen jedweden Geschlechts bezeichnen. 262 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Ingeborg Hoesterey, Stephen Wailes und Albrecht Holschuh boten mir eine Max Kade Professur an der IU Bloomington an, die beiden Seiten als Testlauf diente; im Jahr darauf erhielt ich vom Dekan Albert (Al) Wertheim (der ein enger Freund wurde, dessen allzu früher Tod mich tief erschütterte) ein für mein Alter (wie ich fand) sehr gutes Angebot, als Full Professor mit einem joint appointment in German, Comparative Literature und Linguistics nach Bloomington Indiana zu kommen. Ein Traum ging in Erfüllung. Durch die Erfahrungen während dieser Jahre differenzierte sich freilich mein positives Bild von der US-Gesellschaft. Insbesondere Freitag, der 13. November 1987, ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben, an dem ich den institutionellen Rassismus von Teilen der US- Polizei am eigenen Leibe erfuhr: mit dem vollen Programm, wie man es hierzulande aus den amerikanischen Krimis kennt (Hände hoch und aufs Autodach, Beine breit, Abtasten nach Waffen, Verhaftung, Nacht in der Zelle etc.). Mein Verbrechen? Ich hatte mich vor einer Bar mit der landestypisch üblichen Umarmung ( “ with a hug ” ) von einem schwarzen Freund verabschiedet. Daraus machten zwei rassistische, homophobe, xenophobe Polizisten den Tatbestand der “ Erregung öffentlichen Ärgernisses ” und verhafteten uns beide. Nach vielen Stunden in der Zelle wurde ich gegen Kaution entlassen, der afroamerikanische Freund nicht. Um das später zu rechtfertigen, dichteten sie noch eine wilde Story dazu, die ihre Willkür camouflieren sollte. Meine Beschwerde trug mir Jahre später einen Platz auf George W. Bushs nach 9/ 11 eilig kollationierten Terroristenlisten ein. Bei jeder Einreise in die USA werde ich bis heute zu peinlicher Befragung in einen Sonderraum abkommandiert - für eine Abschiedsumarmung vor 33 Jahren in einem Land, das einst ich liebte. Jim Steakley bewohnte zu jener Zeit mein kleines Apartment im Schöneberger Regenbogenviertel, das ich in einem Beitrag für eine andere Festschrift unter dem erkenntnisleitenden Aspekt der urban semiotics mit dem methodischen Instrumentarium der Ansätze zur Analyse von linguistic landscapes ausführlicher beschrieben habe (Hess- Lüttich 2017). Ein Kuss unter Männern würde hier niemanden aufmerken lassen. Das seit gut hundert Jahren international bekannte rainbow quarter zieht Besucher aus diversen Subkulturen in aller Welt an, die hier dem heteronormativen Korsett ihrer Heimatgesellschaften zu entrinnen suchen und ihre Identität angstfrei bekennen wollen. In jüngerer Zeit aber wird diese Zone der Toleranz zunehmend von homophoben Jugendlichen mit radikalislamischem und fundamental-katholischem Hintergrund bedroht. Schon ist das Geviert vom zuständigen Polizeiabschnitt 41 als Kriminalitätsschwerpunkt eingestuft, in dem sich die Überfälle auf Schwule häufen. Strich und Drogenhandel machen sich breit, Shisha-Bars expandieren, in denen finstere Gestalten dubiose Geschäfte abwickeln, halbleere Ladenlokale dienen der systematischen Geldwäsche. Die Streitfrage, ob Bezirk und Polizei den traditionellen Charakter dieses bunten Viertels zu bewahren fähig und überhaupt willens sind, ist noch nicht entschieden. Im Respekt vor dem kulturhistorischen und -komparatistischen Interesse des hier zu Ehrenden soll es nun indes um etwas anderes gehen, nämlich um die immer wieder gestellte und m.W. nie befriedigend beantwortete Frage, ob man die sexuelle Orientierung homosexueller Männer und ihre Zugehörigkeit zur schwulen Subkultur an ihrer Sprache erkennen könne, und wenn ja, ob ein Vergleich einschlägiger (möglichst empirischer) Untersuchungen dazu übereinzelsprachliche Merkmale eines solchen ‘ Soziolekts ’ als Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 263 Mitgliedschaftsausweis und Identifikationsmerkmal (zur membership categorization s. Gumperz 1982) zutage zu fördern vermöchte. 2 Ausgangsfragen, terminologische Festlegungen, epistemologische Grundlagen Die Geschichte der Forschung auf dem Gebiet der sog. Queer Linguistics ist relativ jung. Ihre Anfänge fielen in die Zeit der Emanzipation schwuler Subkulturen in den westlichen Gesellschaften. Erst seit Anfang der 1980er Jahre beginnen Linguisten, Psychologen und Soziologen zu fragen, ob es ein solches Phänomen wie eine “ schwule Sprache ” (gay speech) überhaupt gebe. Bald wurde klar, dass es nicht ausreichte, lexikalische Elemente, die als ‘ schwul ’ betrachtet wurden, einfach zu sammeln und in Form von Listen mit schwulen Vokabeln, Wörterbüchern mit schwulem Slang usw. anzuhäufen. Es stellte sich eine substantiellere Frage: Was genau verstehen wir unter schwuler Sprache, schwuler Kommunikation, schwulem Diskurs? William Leap definiert ‘ gay language ’ als “ a set of discursive practices associated with a subject position ( ‘ gay men ’ ), and which has emerged in the context of gay liberation struggles in the 1970 s ” (Leap 2010: 555). Er weist zugleich darauf hin, dass sich der Schwerpunkt der Forschung in diesem Bereich seit der HIV/ AIDS-Krise dramatisch verändert habe. Welches waren die wichtigsten theoretischen Ansätze und empirischen Untersuchungsmethoden in diesem neu zugeschnittenen Forschungsgebiet? Ist es überhaupt ein abgrenzbares Forschungsfeld oder löst es sich auf in der Pluralität immer subtiler nuancierter sexueller Identitäten, die Queer Studies und Facebook- Profile zutage fördern? Haben wir noch den Überblick über all die Segmente im Spektrum der LGBTTQQIP2SAA-Communities, 3 also die Untergruppen der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transvestiten und Transsexuellen, die queer Changierenden und die sich nach ihrer bevorzugten sexuellen Orientierung vergeblich Fragenden, die Intersexuellen und flexibleren Pansexuellen, ‘ die doppelt Spirituellen ’ des ‘ dritten Geschlechts ’ , die spröden A-Sexuellen und die emotional indifferenten A-Romantiker, die wir beobachten? Wenn ja, behalten wir ihn auch, wenn wir genauer in die Verästelungen und inneren Differenzierungen der einzelnen Szenen und Subgruppen eindringen, die sich voneinander oft durchaus scharf abzugrenzen wissen? Was hat die toughe Lederszene mit der schrillen Tuntengemeinde gemein, was die bears mit den drag queens, die Otter mit den Fistern, die Twinks mit den Scattern, die Urophilen mit den Podophilen. . .? Da können die praktischen hanky codes hilfreich sein, einander zu erkennen im Hinblick auf Vorlieben und Praktiken und Zuordnungen im Gewirr der Grindr-Tribes. Aber die Sprache? Wie soll ein gay code zum Gruppensymbol all dieser Fraktionen taugen? Ist das, was heute als Queer Theory bezeichnet wird, überhaupt eine Theorie im engeren Sinne des Wortes, oder ist es eher eine politische Idee, die für eine Neukonzipierung von Kategorien von Geschlecht und Sexualitäten plädiert, die in pluralistischen Gesellschaften “ problematisch ” (d. h. nicht mehr unhinterfragbar) geworden sein könnten (vgl. Hark 1993: 103 f.)? Was genau bedeutet Simone de Beauvoirs zu Tode zitierter Leitspruch, “ on ne naît pas femme, on le devient ” (Beauvoir 2001: 13) und trifft er in entsprechender 3 Für engl. Lesbian, Gay, Bisexual, Transvestite, Transgender, Queer, Questioning, Intersex, Pansexual, Two- Spirit, Asexual, Aromantic. 264 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Weise auf Männer zu? Stimmt es eigentlich, wie Judith Butler behauptet, dass nicht nur die sexuelle Identität, sondern auch die biologische männlich/ weiblich-Dichotomie der sexuellen Orientierung tatsächlich ein kulturelles Konstrukt sei, das in einem Diskurs produziert werde, der allein von sozio-politischen Interessen und Machtverhältnissen bestimmt sei (Butler 1991: 24)? Ist die etablierte Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) noch zeitgemäß und für unser Forschungsinteresse hinlänglich deskriptiv? Nach einigen Jahrzehnten der Diskussion scheint jedenfalls immer noch kein allgemein akzeptierter Konsens in Sicht. Für die begrenzten Zwecke dieser Studie mögen einige terminologische Festlegungen vielleicht ausreichen. In Anlehnung an Mary Bucholtz und Kira Hall in ihrem Beitrag zu Language and Society (Bucholtz & Hall 2004: 470) mag hier den Begriff ‘ Sexualität ’ vorläufig als Oberbegriff für alle Ideologien, Praktiken und Identitäten gelten, durch die der Körper eine gesellschaftspolitische Bedeutung erlangt, sei es im erotischen oder reproduktiven Bereich. Und unter Bezugnahme auf das von Liz Morrish und Helen Sauntson bei Palgrave Macmillan publizierte Standardwerk über Language and Sexual Identity (Morrish & Sauntson 2007) sei ‘ sexuelle Identität ’ als Teil der sozialen Identität verstanden, unabhängig davon, ob das Objekt der Begierde männlich oder weiblich ist - was je nach der selbst definierten Sexualität des begehrten Anderen als heterosexuelle, homosexuelle oder bisexuelle Orientierung etikettiert werden kann, während Transsexualität, Intersexualität und Asexualität nicht als sexuelle Orientierung bezeichnet wird. Solche begrifflichen Festlegungen scheinen heute nötiger denn je in dem Maße, in dem sich deskriptive Kategorien im Zeichen der Queer Theory aufzulösen beginnen, in dem eine (vermeintlich) linke Identitätspolitik unter Berufung auf Martin Heidegger und seine französischen Jünger den universalistischen Humanitätsbegriff Immanuel Kants zur Disposition stellen zu sollen meint, in dem eine amerikanische Cancel Culture ‘ Identität ’ an die Stelle von Empirie, Beschreibung und Argument zu setzen im Begriffe ist, in dem die Pluralität Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 265 der Perspektiven ersetzt zu werden droht durch eine Orthodoxie vorentschiedener Gewissheiten, die sich jeder Rechtfertigungspflicht enthoben weiß. Omri Boehm, Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York erinnert in der Zeit (49 v. 26. 11. 2020: 56 - 57) zu Recht daran, dass Kant die Freiheit des Menschen normativ als moralische ‘ Idee ’ begründet, nicht als biologische Tatsache; der Mensch sei frei, weil Gründe und Rechtfertigungen sein Handeln bestimmen können, nicht nur Ursachen; weil für ihn Moralvorstellungen Geltung heischen, nicht nur Macht; weil er nicht auf seine Identität reduziert werden könne, sondern weil er vermöge seiner Verantwortlichkeit, sich moralische Verpflichtungen zu setzen, als Zweck zu behandeln sei, nicht als Mittel. Erst die abstraktmetaphysische ‘ Idee ’ eines von biologischen Determinanten, kulturellen Traditionen, sozialen Zwängen unabhängigen Humanismus ’ verleihe ihm jene ‘ Würde ’ , ohne die z. B. der Kampf diskriminierter Gruppen um ihre Grundrechte seinen Legitimationsgrund verlöre. 3 Kurzer Rückblick: Der lange Kampf um gleiche Rechte Den Kampf homosexueller Menschen gegen ihre Diskriminierung halten viele, oft auch sie selbst, zumindest in den demokratisch verfassten Gesellschaften, für längst gewonnen. In der queeren Pluralität fluider sexueller Identitäten fühlen sie sich vorläufig sicher aufgehoben. Ihnen geht es oft nicht mehr um die Einforderung von Grundrechten, weil ihnen der liberale Rechtsbegriff so verdächtig ist wie manchen meiner afrikanischen Studenten in Kapstadt die als ‘ kolonialistisch ’ denunzierten Naturgesetze ( “ Science must fall ” ). Die sich zunehmend ausdifferenzierenden psychosozialen Kategorisierungen sind im Übrigen eine jüngere Entwicklung. Außerhalb der einschlägigen ‘ Szenen ’ ist heute vielen gar nicht mehr bewusst, wie steinig der Weg z. B. in Deutschland bis zur (weitgehenden) rechtlichen Gleichstellung homosexueller Menschen im Juli 2017 war, immerhin 150 Jahre nachdem der Jurist Karl Heinrich Ulrichs auf dem Deutschen Juristentag 1867 in München erstmals die Forderung nach Straffreiheit gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen und der rechtlichen Gleichstellung von Homosexuellen (den “ Urningen ” ) erhoben und die Möglichkeit der Eheschließung zwischen zwei Männern erörtert hatte. Die Rechtsmaßstäbe von vielen seiner empörten Hörer waren noch geprägt von einer europäischen Rechtstradition, nach der “ widernatürliche Unzucht ” zwischen zwei Männern nach § 116 der 1532 von Karl V. geschaffenen und praktisch in ganz Europa geltenden Constitutio Criminalis Carolina bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Todesstrafe geahndet und in Preußen erst ab 1794 aufgehoben und in Gefängnisstrafe bzw. Verbannung umgewandelt wurde. Nach der Reichsgründung wurde das Gesetz 1872 als § 175 in das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) übernommen. Deshalb muss man dem Mut der bekannteren Protagonisten in der Geschichte der gay liberation, also der Emanzipation der Schwulen, Respekt zollen, die sich selbst erst spät im 19. Jahrhundert ganz allmählich als ‘ Homosexuelle ’ zu bezeichnen begannen, nachdem der österreichische Schriftsteller Karl Maria Benkert (der unter dem Pseudonym Kertbeny schrieb) um 1868 den Begriff als Neologismus aus griech. hom ό s ( ὁμός gleich) und lat. sexus geprägt hatte. Um die Jahrhundertwende nahmen sich die ersten Bürgerrechtsbewegungen des Themas wieder an und initiierten eine liberalere Haltung gegenüber Homosexuellen. Ihre Selbstorganisation begann wahrscheinlich mit der 1924 gegründeten Chicago-Gesellschaft für 266 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Menschenrechte 4 und natürlich mit dem legendären Wissenschaftlich-humanitären Komitee in Berlin. Aber erst in dem von dem jüdischen Neurologen Magnus Hirschfeld 5 begründeten und im Juli 1919 zusammen mit dem Dermatologen Friedrich Wertheim und dem Psychologen Arthur Kronfeld 6 am nördlichen Rand des Tiergartens (In den Zelten 9 a) eröffneten Institut für Sexualwissenschaft, dem weltweit ersten seiner Art, konnte ohne Voreingenommenheit das Spektrum menschlichen Sexualverhaltens in seiner ganzen Vielfalt theoretisch und empirisch erforscht werden (Sigusch & Grau 2009). Aber sofort nach der Machtergreifung der NSDAP, verfügten die Nazis 1933 die Schließung dieses einzigartigen Forschungsinstituts; Grundstück und Gebäude wurden “ entschädigungslos ” beschlagnahmt und antijüdischen Verbänden zur Verfügung gestellt; das Stiftungsvermögen wurde eingezogen und “ hygienischen Zwecken ” zugeführt; die unersetzliche Sammlung von Büchern und Exponaten wurde auf dem Opernplatz verbrannt; Hirschfeld starb zwei Jahre später (am 14. Mai 1935) im französischen Exil (cf. Dose 2005; Genske & Hess-Lüttich 2004: 65 - 77). Im selben Jahr wurde § 175 RStGB von der NSDAP - mit der Begründung, dass Männer, “ die mit einem andern Manne Unzucht treiben ” , den “ Volkskörper ” schädigten - noch einmal massiv verschärft; im Wortsinne ‘ ungezählten ’ Betroffenen heftete man das Stigma- Zeichen des ‘ Rosa Winkels ’ an, bevor man sie in den Konzentrationslagern ermordete. Nach 1945 wurde das Reichsstrafgesetzbuch unter Mitwirkung des Alliierten Kontrollrates zwar gründlich novelliert, aber § 175 blieb in der Nazifassung bestehen und wurde 1957 durch das Bundesverfassungsgericht sogar noch ausdrücklich bekräftigt. Es kam zu mehr als 100'000 Ermittlungsverfahren und über 50'000 rechtskräftigen Verurteilungen. Man muss die aus heutiger Sicht haarsträubend anmutenden Urteilsbegründungen der Richter lesen, um zu verstehen, unter welchem gesellschaftlichen Druck (und welcher strafrechtlich konkreten Bedrohung) schwule Männer lebten, bis das Gesetz durch den sozialdemokratischen Bundesjustizminister Gustav Heinemann 1969 endlich abgemildert wurde. Und man muss diejenigen, die heute über ihren jahrzehntelangen Kampf um gleiche Rechte lästern ( “ Was wollen sie denn noch! ” ), daran erinnern, dass die polizeiliche Registrierung und Überwachung von Homosexuellen bis weit in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein gängige Praxis waren. Die sog. “ Rosa Listen ” der Polizei verzeichneten allein in München ca. 3000 und in Berlin (West) über 4500 Männer; in Thüringen, Bayern und Nordrhein-Westfalen war ‘ homosexuell ’ bis 2005 (! ) eine polizeilich registrierte ‘ Tätergruppe ’ , ihre diskreten Treffpunkte galten als potentielle ‘ Tatorte ’ . Und bis heute sammelt Europol Daten zum Sexualleben von Menschen (cf. Federl 2017: 5). 4 “ On December 10, 1924, the state of Illinois issued a charter of a nonprofit corporation named The Society of Human Rights, located in Chicago. This society is the earliest homosexual emancipation organization in the United States …” (Katz 2008: 32). 5 Die zeitgenössische Berufsbezeichnung war wohl meist: ‘ Nervenarzt ’ . Manfred Herzer 2017 schreibt in seiner Biographie: “ Hirschfelds Berufsbezeichnung war etwa seit 1910 ‘ Spezialarzt für nervöse u. psychische Leiden ’ . Ferner erhielt er das neurologische Thema der Doktorarbeit - Ueber Erkrankungen des Nervensystems im Gefolge der Influenza - von Emanuel Mendel, dem Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Universität ” (Herzer 2017: 35). 6 Kronfeld war zugleich ein Pionier der Psychotherapie und Verfasser eines frühen Lehrbuchs dazu (Kronfeld 1924; cf. Sigusch & Grau eds. 2009). Etliche weitere Spezialisten (wie Hans Graaz u. a.) verstärkten das Team der Gründer und trugen zu dem weltweiten Ansehen des Instituts bei (cf. Sigusch 2008: 345 - 364). Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 267 Es war ein zähes Ringen, bis den Opfern am 22. Juli 2017 (! ) durch ein “ Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen ” (StrRehaHomG) endlich Gerechtigkeit widerfuhr. Auch das zweite Gesetz, das seither gleichgeschlechtliche Eheschließungen ermöglicht, wurde erst nach jahrzehntelangem Kampf gegen den erbitterten Widerstand der konservativen Parteien und der katholischen Kirche durchgesetzt. Mit der Verabschiedung des Gesetzes war die juristische, gesellschaftliche und theologische Debatte aber keineswegs beendet. Denn Politiker der CDU, CSU und AfD sowie die katholischen Bischöfe, allen voran der Erzbischof von München und Freising Kardinal Reinhard Marx als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, kündigten umgehend Verfassungsklagen gegen das Gesetz an. Obwohl sich aus Art. 6 GG wohl kaum ein Gebot der Benachteiligung gleichgeschlechtlicher Paare zwingend ableiten lässt, so soll ihnen doch ebendieser gleiche Rechtsstatus verwehrt bleiben. Aber nicht nur die üblichen Verdächtigen, auch viele sich links und liberal gerierende Menschen, die betonen, “ nichts gegen Homosexuelle ” zu haben, sind strikt dagegen, dass sie auch heiraten oder gar Kinder adoptieren können sollen. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers von der Humboldt Universität zu Berlin kommentiert die Scheinheiligkeit der Argumentation unjuristisch klar: “ Der Sprechakt lautet: Du bist in Ordnung, wie du bist. Du sollst nur nicht dieselben Rechte haben wie ich ” (Die Zeit 28 v. 06. 07. 2017: 37). 4 Linguistics of gay language - Auf der Suche nach Strukturen schwuler Sprache Als eigenes Forschungsfeld profilierte sich die Untersuchung von sprachlichen Merkmalen des gay discourse erst in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Es war die Zeit eines Paradigmenwechsels von der Wahrnehmung der ‘ Homosexualität ’ als eines medizinischen, wenn nicht gar pathologischen Konzepts hin zu einem der gesellschaftspolitischen und körperlichen Identität, die 1990 auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bewog, ‘ Homosexualität ’ endlich aus ihrer Liste der Psychokrankheiten zu streichen. Es war auch die Zeit, in der die ersten Studien zur “ schwulen Sprache ” (gay language) erschienen, die dort als sprachliche Varietät einer sozialen Minderheit, als Soziolekt bzw. Gruppensprache, definiert wurde. Rudolf Gaudio (1994) versuchte zum Beispiel, phonetische Beweise für das Stereotyp schwuler Männer zu finden, die “ anders klingen ” als Heterosexuelle, indem er ihre prosodischen Tonhöhenverläufe verglich. Die Ergebnisse zeigten allerdings, dass der Tonumfang und die Tonhöhenvariabilität (pitch range and pitch variability) in der Intonation nicht statistisch signifikant mit der sexuellen Orientierung korrelierten. Die Probanden identifizierten die homosexuellen Sprecher im Vergleich zu heterosexuellen auf noch ungeklärte Weise dennoch überwiegend korrekt. Rudolf Gaudio (1994: 54) kommt zu dem Schluss, dass [. . .] the fact that the listeners fairly consistently judged speech as sounding either ‘ gay ’ and ‘ effeminate ’ or ‘ straight ’ and ‘ masculine ’ points to a need for sociolinguists to investigate the cultural sources of these judgements, not only in the area of pitch and intonation, but also in other phonological domains, such as the pronunciation of sibilants, duration of vowels, the use of standard versus nonstandard phonological forms, and voice. 268 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Empirisch-phonographische Studien dieses Typs folgten also der Prämisse, dass schwule Männer anhand ihrer Art zu sprechen identifiziert werden könnten. Allerdings bezog sich die Salienz ‘ schwulen ’ Sprechens in der Wahrnehmung durch heterosexuelle Beobachter meist auf dessen stereotype Parodie und kaum auf empirische Daten alltäglichen Sprechens in gay communities. Ein anderes schnell expandierendes Forschungssegment war die Erstellung von Wortlisten, die darauf abzielten, den mysteriösen ‘ Code ’ zu entschlüsseln, den Mitglieder der gay community angeblich gebrauchen. Auch die Studien dieses Typs wurzelten in der Zeit, in der soziologische und linguistische Interessen sich auf alle möglichen Arten und Sparten von Subkulturen richteten. In seinem Überblick über die einschlägigen Glossarien jener Zeit fand Greg Jacobs (1996) zwar eine Fülle von lexikalischen Belegen (auch zur Kompositabildung) subkulturtypischen Sprachgebrauchs, aber keine, die es erlaubten, sie als Lexikon einer spezifischen gay language zu beschreiben. Je mehr solche Untersuchungen jedoch über die Art und Weise ihrer je gruppeninternen Kommunikation herausfanden, desto mehr begannen sie an der Vorstellung von homogenen Subkulturen insgesamt zu zweifeln. In einem Aufsatz über “ Sexist slang and the gay community ” stellten Julia Penelope und Susan Wolfe (1979: 1) daher fest, dass [. . .] any discussion involving the use of such phrases as ‘ gay community ’ , ‘ gay slang ’ or ‘ gay speak ’ is bound to be misleading, because two of the implications are false: first, that there is a homogeneous community, composed of lesbians and gay males, that shares a common culture or system of values, goals, perceptions, and experience; and second, that this gay community shares a common language. Ähnliche Studien - wie z. B. die von James R. Conrad und William W. More - kamen ebenfalls zu dem Schluss, “ that a lexical code or argot does not necessarily mark the parameters of sub-cultural identity ” (Conrad & More 1976: 22). Einige Untersuchungen - etwa die von Bruce Rodgers über The Queens ’ Vernacular (1972) oder über Gay Talk (1979) - gelten bis heute als Standardkompendien für die schwule Lexik im Englischen. Für die deutsche Sprache war es vor allem Jody Skinner (1999), der Tausende von lexikalischen Einträgen für sein Wörterbuch des schwulen Vokabulars sammelte, das er verdienstvollerweise durch einen zweiten Band über dessen morphologische, semantische, soziolinguistische und diachrone Aspekte ergänzte. So verzeichnet er zahlreiche Übernahmen aus dem Englischen (straight, queer, safe sex, coming out u. a.), die lexikalische Lücken zu schließen halfen, aber, wie Heidi Minning (2004) bestätigt, selten morphologisch in die grammatische Struktur des Deutschen integriert werden (wie sich/ jemanden outen). Ein drittes prototypisches Forschungsthema der queeren Linguistik war (und ist bis heute) die Verwendung von femininen Substantiva und Pronomina für männliche Begleiter in der gay community. Beim Vergleich englischer und französischer Usancen der Genusmarkierung fiel z. B. Anna Livia (1997) auf, dass französisch sprechende Schwule auf ihre Freunde häufiger mit femininen Bezeichnungen (fille, ma chérie, folle, pétasse, salope) referieren und sich (aber nur innerhalb ihrer Gruppe) im deiktischen oder anaphorischen Gebrauch femininer Pronomina vom heterosexuellen Mainstream abzuheben suchten, Befunde, die Ross Higgins (2004) für französisch sprechende Gays in Montréal in ähnlicher Weise bestätigt hat. Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 269 Deutlich zurückhaltender agieren japanische Sprecher bei Kategorisierungen ihre Zugehörigkeit zur Gruppe männlicher Gays, schon weil der soziale Konformitätsdruck der japanischen Gesellschaft ihnen nicht viel Raum lässt, gendertypische Rollenbilder und Erwartungsmuster sprachlich zu unterlaufen (cf. Valentine 1997). In ihrer Analyse der Dialoge des ersten japanischen Dokumentarfilms über ein schwules Paar (Rasen no Soboyo aus dem Jahre 1990) konzentrieren sich Naoko Ogawa und Janet Shibamoto Smith daher besonders auf Referenzpronomina und satzfinale Partikeln. So verwenden die beiden Protagonisten z. B. Personalpronomina der ersten und zweiten Person “ to represent themselves as participating in not sex but gender categories commonly held in Japanese culture to underlie the organization of domestic units (or couples) ” (Ogawa & Smith 1997: 408), also entsprechend dem gesellschaftlich akzeptierten Rollenmodell der w/ m- Binarität, “ invoking the sexual division of interactional labor in the encoding of complementarity in heterosexual domestic pairs in the larger Japanese context ” (ibid.: 411), teilweise zusätzlich verstärkt durch die Verwendung von satzfinalen Partikeln, die sich im Japanischen nach dem Sexus der Sprecher unterscheiden und damit die sprachliche Unterminierung konventioneller Gender-Komplementaritäten erschweren. Noch vorsichtiger sind Schwule in muslimisch geprägten Gesellschaften, weil sie dort aus vorgeblich religiösen Gründen oft massiver Diskriminierung ausgesetzt sind (s. u. Anm. 3; cf. Çetin 2012). In der tschadischen Verkehrssprache der Hausa im westlichen Zentralafrika etwa werden effeminierte Sprecher als ‘ Yan daudu bezeichnet, ein Etikett, das umstandslos alle Homo-, Transsexuellen und Transvestiten umfasst, die dem heterosexuellen Rollenmodell des maskulinen Macho-Mannes nicht entsprechen können oder möchten (cf. Sinikangas 2004). Die Sprache von Angehörigen dieser Gruppen sei von einer merkwürdigen Ambivalenz zwischen vorsichtiger Indirektheit, selbstironischer Distanz und sprachspielerischem Selbstbewusstsein geprägt, meint Rudolf Gaudio, der sie aus ethnographischem Interesse beobachtet hat: By ‘ hiding meanings ’ (boye ma ’ ana) in proverbs and insinuations, ‘ yan daudu articulate a response to the marginalization they experience as gender and sexual deviants in Muslim Hausa society; indirect ways of talking allow them to appear to be playful and entertaining at the same as they address socially and/ or personally sensitive topics that most other Hausa speakers would rather not discuss (Gaudio 1997: 417). Während die indirekte Sprechweise den ‘ Yan daudu sowohl derAbgrenzung ihrer Subkultur nach außen dient als auch ihrer Kohäsion nach innen, nutzen sie diese Art des Sprechens aber auch zum sprachlichen Wettstreit untereinander - einem Wettbewerb um beschränkte Ressourcen, um Status innerhalb einer ausgegrenzten Gemeinschaft und natürlich auch um potentielle Partner als Objekten ihres Begehrens (cf. Gaudio 1997: 425). Wie aber signalisieren die Gays sprachübergreifend die Zugehörigkeit zu ihrer Subkultur in polykulturellen und multilingualen Vielvölkerstaaten wie beispielsweise Indonesien mit seinen 360 Ethnien, ebenso vielen Sprachen und zahllosen Dialekten? Sie nehmen die malaiisch basierte Amtssprache Bahasa Indonesia als Ausgangspunkt und modifizieren bestimmte morphologische Strukturen dieser Standardvarietät für ihre Zwecke, indem sie etwa mit der Substitution von Suffixen, Affixen und Infixen spielen, aber auch mit Vokalverschiebungen, Akronymen und Neologismen (noch ohne indes aus dem global 270 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) verbreiteten Reservoir von Entlehnungen aus dem Englischen zu schöpfen - zahlreiche Beispiele für das Bahasa gay liefert Tom Boellstorff 2004: 181 - 201). Bereits eher diskursanalytisch orientiert ist die Studie von Tal Morse zur Sprache der israelischen Gays. Er beschreibt, wie sie Sprache gebrauchen “ as a social vehicle in order to subvert the gendered structure of society ” (Morse 2008: 205). Da das Hebräische das Geschlecht in Substantiva, Pronomina, Verben und Adjektiven markiert, lasse sich die linguistische Strategie mit exemplarischer Präzision nachweisen, etwa beim Gebrauch von femininen Referenzpartikeln für eine männliche Person, eine sprachliche Strategie, wie sie ähnlich Anna Livia für das Französische nachwies (s. o.), und die dazu diene, “ to dissociate the speaker from a heterosexual alliance [. . .] a statement of sexual orientation rather than of sexual identity ” (Livia 1997: 359), eine Auffassung, die Morse teilt, wenn er schreibt: The use of inverted appellation demonstrates gay critique on prevalent heterosexual perceptions of gender in society [. . .] The speakers take advantage of the gendered grammar and cleverly convert it to serve their cause. The inverted appellation strategy enables gay men to re-examine and challenge existing gender categories and question their naturalness (Morse 2008: 208 f.). So werde z. B. oft auch der Name eines Freundes feminisiert, obwohl das im Hebräischen bei Eigennamen kaum möglich sei, weil dort “ [. . .] one way of changing proper nouns and other nouns from masculine to feminine is by adding the suffix ‘ -it ’ to the name or noun ” (ibid.: 206). Zwar halten sie die Strategie bei Verben und Pronomina nicht durch, aber dafür verwenden sie feminine Suffixe gern auch bei Selbstreferenzen, obwohl die grammatische Morphologie für schwule Sprecher anders als das Türkische oder das Englische einen genustypologisch relativ rigiden Rahmen vorgibt. Weil Substantive oder Adjektive eben immer als Maskulinum oder Femininum markiert werden, zwinge die Sprache dazu, das Geschlecht einer Person zu benennen, was genderneutrale Ausdrücke wie “ my lover and I ” unmöglich mache, wie Liora Moriel hervorhebt: If I wish not to draw attention to my non-heterosexuality in fully gendered Hebrew, then the word lover must be gendered as someone of the opposite sex, [. . .] in other words, I would have to lie [. . .]. To avoid outing my partner or myself, I would have to choose what is heteronormative in a lover ’ s gender assignation for my culture and my vernacular (Moriel 2004: 113). Einer speziellen Form des Gay Slang, dem Oxt š it, widmet sich der 2020 an die Universität Bern berufene amerikanische Soziolinguist Erez Levon, der freilich die Skepsis gegenüber der Annahme einer homogenen Gay Community und damit eines gruppenkonformen Soziolekts teilt (cf. Levon 2010).. Er beschreibt Oxt š it als “ gay-identified variety ” (Levon 2012: 188): With very few exceptions, it is used and understood exclusively by gay men in gay settings, and its use results in the linguistic construction of a gay persona. Yet, crucially, I argue that the gay persona constructed through oxt š it is distinct from the persona with which the variety is affiliated. Rather, I suggest that users of oxt š it deploy it as a means to disrupt an ideology of gay homogeneity, a belief in a unified gay male ‘ group ’ , and to instantiate in its place a culturally salient boundary between distinct articulations of Israeli gay identity. Oxt š it ist die Sprache der Oxt š ot, die als feminin sich gerierende junge Männer aus dem Mittleren Osten oder Nordafrika beschrieben werden, die gern Make-up und schrille Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 271 Kleidung trügen und beim Sex den passiven Part einnähmen. Ihre Sprache sei geprägt durch deren hohe Tonlage und dynamische Prosodie. Das gruppenspezifische lexikalische Repertoire sei freilich eher begrenzt und bezeichne überwiegend mit Weiblichkeit assoziierte (sprachliche) Praktiken, enthalte zwar auch Wörter na š at (femininer schwuler Mann), birz (gutaussehender Mann) oder led ž ardel (sich ‘ nuttig ’ benehmen), ansonsten aber viele Entlehnungen: These words of foreign origin are structurally largely unaltered from their source languages, aside from a slight adaption to Hebrew phonological and morphological patterns. So, for example, the English word apt becomes [aft] in oxt š it, presumably due to a normal process of postvocalic spirantization in Hebrew. In another case, the German noun Strich, literally ‘ line ’ but colloquially used to mean ‘ street ’ in expressions like Strichjunge [for] ‘ male prostitute ’ and auf den Strich gehen [for] ‘ walk the streets ’ , is borrowed as a noun, but is then also transformed into a verb (leha š trex) through a normal process of Hebrew morphological derivation (Levon 2012: 190 - 191). Andere Einträge im Lexikon von Oxt š it seien zwar hebräisch-standardsprachlichen Ursprungs, aber durch bestimmte phonologische, morphologische und semantische Verfremdungsprozesse als gay markiert: das hebräische Verb lexalel für ‘ Flöte spielen ’ werde durch einen Vokalwechsel zu lexolel, was dann in Oxt š it soviel wie ‘ aktiven Oralsex geben ’ bedeute (vulgo ‘ jemandem einen lutschen ’ ). Levon räumt ein, bei seinen Feldforschungen in Israel nie einem Oxt š ot begegnet zu sein, aber deren Sprechweise, eben das Oxt š it, sei durch seine Probanden und Informanten hinlänglich beglaubigt. Er schließt daraus, dass die Varietät nicht wirklich konstitutiv sei für eine von der restlichen Gay Community in Israel abgegrenzte soziale Identität, sondern eher das Instrument der sich vorsichtig abschottenden Subgruppe der Oxt š ot, die Vorstellung von einer homogenen Gay Community zu dekonstruieren: I quickly discovered that while all of my lesbian and gay informants were [. . .] familiar with the words of oxt š it, people not affiliated with the Israeli gay and lesbian ‘ scene ’ had never heard of oxt š ot nor had any knowledge of their characteristic language style (Levon 2012: 189). Den hier aus einer schier unüberschaubar gewordenen Fülle einschlägiger Untersuchungen 7 exemplarisch referierten Typen von Untersuchungsansätzen ist gemeinsam, dass sie eine Antwort suchen auf die Ausgangsfrage (was ist ‘ schwule Sprache ’ ? ), indem sie von der Hypothese ausgehen, dass homosexuelle Männer auf die eine oder andere Weise ‘ anders ’ sprechen. Aber die Frage bleibt: Was genau können wir als verlässliche Indikatoren des schwulen ‘ Codes ’ identifizieren? Ist es derAusdruck der sexuellen Orientierung selbst? Sind es die Stereotypen, die wir über die ‘ schwule Sprache ’ haben? Wenn ja, können Schwule anhand ihrer Sprache identifiziert werden, noch bevor sie sich ‘ outen ’ oder sogar bevor sie selbst wissen, dass sie schwul sind? Sind es ihre eigenen Zeichen der bekennenden Zugehörigkeit zu ihrer in-group? Diese Art von Fragen hat zu neuen Ansätzen geführt, die ‘ schwule Sprache ’ unabhängig von einer schwulen Identität zu analysieren unternehmen. 7 Cf. die umfangreiche, von Gregory Ward kompilierte Bibliographie: Studies on LGBTQ Language: A Partial Bibliography, Department of Linguistics, Northwestern University (Ward 2006): https: / / faculty.wcas.northwestern.edu/ ~ward/ newbib.html#pp [Abruf: 06. 12. 2020] 272 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) 5 Queer discourse - Konstruktion der Identität durch Sprache Das ist, grob gesagt, seit Anfang der 1990er Jahre der Ausgangspunkt der Queer Theory, die für sich beanspruchte, den essentialistischen Sexualitätsbegriff zum konstruktivistischen Modell einer transitorischen Identität fortzuentwickeln. Sie wurde zunächst durch die Rezeption des französischen Poststrukturalismus in den Vereinigten Staaten inspiriert, insbesondere durch die Schriften Michel Foucaults und deren fruchtbare Anwendung in der Feminismus-Bewegung und in den aufkommenden Gender Studies. Als deren prominenteste Vertreterin galt alsbald die sich als ‘ non-binär ’ deklarierende Philosophin Judith Butler, die an der University of California in Berkeley lehrt und deren Bücher Gender Trouble (1990), Bodies that matter (1993) und The Psychic Life of Power (1997) zu Programmschriften der Queer Theory wurden. Ihre zentrale Hypothese war (und ist), dass das ‘ soziale Geschlecht ’ weder ein Status noch eine Substanz sei, sondern das Ergebnis kultureller Routinen innerhalb eines starr regulierenden Rahmens. Das Ensemble von Handlungen, die einen diesbezüglich kohärenten Diskurs bilden, nannte Butler (1991: 60 f.) ‘ Performance ’ (Performativität), was zunächst für etwas Verwirrung sorgte, weil er leicht verwechselt werden konnte mit dem einerseits in der Linguistik, andererseits in den Theater- und Medienwissenschaften gebräuchlichen Begriff von ‘ Performance ’ . In all ihren Büchern bis hin zu ihrem jüngsten Buch über Das Ethische im Politischen (Butler 2020) variiert sie die These von der Kontingenz von ‘ sex and gender ’ , von anatomisch definierter und performativ inszenierter Geschlechtsidentität, die vielmehr ein Resultat von Sprechakten sei, die die heteronormative Ordnung binär sortierter Geschlechtsidentitäten als Machtinstrument zu etablieren und zu stabilisieren strebten, was es durch Dekonstruktion zu überwinden gelte. Der universalistische Anspruch des Ansatzes könnte zwar durch historische und kulturkomparatistische Studien unschwer relativiert werden, was seinen Erfolg unbeschadet sowohl innerfeministischer (Alice Schwarzer) als auch politischer Kritik - etwa an ihrem Engagement für die (nicht nur von Samuel Salzborn 2018: 109 - 112) als antisemitisch bewerteten BDS-Kampagnen - indes kaum schmälerte. Im Gegenteil: In der Rezeption durch die schnell wachsende Queer-Gemeinde verfestigte er sich entgegen seiner dekonstruktivistischen Intention zunehmend selbst zum Ideologem identitärer Fixierung eines tertium non datur (z. B. bei Motschenbacher 2010). Trotz der oberflächlich von John Austin übernommenen Terminologie blieb das im engeren Sinne sprachphilosophische und linguistische Instrumentarium methodisch weitgehend ungenutzt. Schon in seinem frühen Überblick über den Stand der Forschung kritisierte Don Kulick (2000: 247), dass selbst in einem Standardwerk wie der umfassenden Encyclopedia of Homosexuality (Dynes 1990) sprachliche Aspekte bzw. linguistische Analysen allenfalls am Rande Erwähnung fanden und dass a marked feature of much of the literature [scil. on queer theory] is its apparent unfamiliarity with well-established linguistic disciplines and methods of analysis, such as conversation analysis, discourse analysis, and pragmatics. That the Encyclopaedia of Homosexuality could refer to sociolinguistics, in 1990, as “ an emerging discipline ” (Dynes 1990: 676) is indicative of the lag that exists in much of the literature between linguistic and cultural theory and the work that is done on queer language. Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 273 Kulicks Kritik wurde seinerzeit in der Annual Review of Anthropology veröffentlicht, und in der Tat wurde ein Großteil der auf diesem Gebiet geleisteten Arbeit weniger von Linguisten als von Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Philosophen und Literaturwissenschaftlern initiiert. Es ist freilich auch erst eine jüngere Entwicklung, dass Soziolinguisten nicht nur wie früher nach Korrelationen zwischen sozialen Parametern und sprachlichem Verhalten suchen, sondern auch danach, wie Sprecher soziale Rollen schaffen. Allerdings bin ich skeptisch, ob so etwas wie eine ‘ schwule Sprache ’ sich im statischen Sinne des Wortes (als spezifischer Code) nachweisen lässt, eher neige ich der Auffassung von Don Kulick zu, dass “ language is used by individuals who self-identify as gay ” , denn zu sagen, dass “ sometimes language use in certain ways in certain contexts is not the same thing as saying that there is a gay [. . .] language ” (Kulick 2000: 247). Das ist eine etwas andere Perspektive als in den traditionellen soziolinguistischen Ansätzen zur Beobachtung von Sprachgemeinschaften bzw. Gruppensprachen oder Soziolekten. Durch die Rezeption der Queer Theory verlagerte sich auch der Focus der Erforschung sog. ‘ schwuler Sprache ’ (gay discourse research). Michel Foucault hatte die Sensibilität für Rollenverhältnisse der Macht geweckt, was das Interesse auf die Beobachtung der Inszenierung von Queerness in einem heteronormativen Umfeld lenkte und damit auf die Sprache als ihr Medium, also auf die Frage, mittels welcher (verbaler, para- und nonverbaler) Codes Queerness performiert werde, die Zeichensysteme, mittels derer die Zugehörigkeit zur Gruppe der Queers signalisiert bzw. perzipiert wird. Daher schlugen Deborah Cameron und Don Kulick (2003 a, b) seinerzeit vor, sich eher mit dem Ausdruck des Begehrens als mit sexueller Identität zu befassen, wogegen Mary Bucholtz und Kira Hall (2004) einwandten, dass es wohl eher einen Rückschritt bedeuten würde, nicht mehr auch die sexuelle Identität zu betrachten, nachdem Soziolinguistik, Anthropologische Linguistik und Diskursforschung endlich akzeptiert hätten, dass es notwendig sei, die sprachliche Konstruktion von Identität zu analysieren. Schon ihrer Einleitung zu dem Sammelband Queerly Phrased hatten die Herausgeberinnen Anna Livia und Kira Hall (1997) zu Recht daran erinnert, dass gesellschaftliche Konzepte, die mit Adjektiven wie ‘ queer ’ , ‘ schwul ’ , ‘ lesbisch ’ usw. bezeichnet werden, historisch und kulturell höchst spezifisch sein können; dass sie zu anderen Zeiten und an anderen Orten ganz anders sind oder waren oder auch gar nicht existieren. Statt aber das Projekt insgesamt aufzugeben, plädieren sie auch für eine Orientierung am Konzept der ‘ Performativität ’ , mit dem Judith Butler (1997) in ihrem Buch Bodies that matter die Entwicklung und Verfestigung sozialer Identitäten von Mitgliedern einer heteronormativen Gesellschaft beschrieben hatte, die in ihren Körpern buchstäblich ‘ inkorporiert ’ seien. Schon der Akt der ersten Benennung ( “ Es ist ein Junge! ” ) wirke sich gleichsam wie eine normative Anweisung aus, sich den damit verbundenen Normalform-Erwartungen gemäß zu verhalten, d. h. in komplementären, durch Iterativität stabilisierten, binären Rollensystemen gesellschaftlich zu ‘ funktionieren ’ . Dadurch aber schwinde das Bewusstsein ihrer historischen Entwicklung, ihrer kulturellen Relativität und der sozialen Konventionen, auf denen sie basieren. Sich von einem solchen familiären und gesellschaftlichen Erwartungsdruck zu befreien, aus dem Gefängnis der normativen Rollensysteme auszubrechen und sich als ‘ gay ’ oder ‘ schwul ’ bzw. ‘ lesbisch ’ zu bekennen, sich zu ‘ outen ’ , ist deshalb ein Akt der Emanzipation, 274 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) der erheblichen Mut erfordert, weil es jene performative Rollenidentität verwirft, der gemäß man sich sozial angemessen zu verhalten habe. Didier Eribon (2016) hat diesen Prozess in seiner autobiographischen Studie Retour à Reims nicht nur anschaulich beschrieben, sondern auch soziologisch eingeordnet, und sein ehemaliger Student, der spätere Schriftsteller Édouard Louis (2016), hat sich daran orientiert, als er sich an die eigene Befreiung aus der “ Zwangsjacke des Subjekts ” erinnerte, ein Bild, das schon Andreas Kraß (ed. 2003) in seiner Einleitung zu dem Suhrkamp-Band Queer denken aufgerufen hat. Dies impliziert keineswegs, dass man sexuelle Identitäten beliebig wechseln könne wie die Kleidung, sondern dass es eben ihre ‘ performance ’ sei, ihre Aufführung, die mit normativen Rollensystemen in bestimmten Kontexten spiele und diese in Frage stelle wie seinerzeit die androgyne Strategie und glamouröse Theatralik einer bestimmten Sparte der Rock- und Popmusik in den 1980er Jahren. Wenn die Queer Theory den Anspruch erhebt, in vager Orientierung an Freuds Psychoanalyse das ‘ Begehren ’ (desire) statt dessen (sprachlichen) Ausdruck ins Zentrum ihres Interesses rücken, kann es nicht verwundern, dass Linguisten mit ihrem eher empirischen Besteck sich selten angesprochen fühlen. Don Kulick plädierte dennoch dafür, einen genaueren Blick auf das zu werfen, was ‘ hinter ’ der Identität stecke, auf das, was Sexualität ausmache, also “ fantasy, desire, repression, pleasure, fear, and the unconscious ” (Kulick 2000: 270), denn “ what are specific to different kinds of people are the precise things they desire and the manner in which particular desires are signalled in culturally codified ways ” (ibid. 273; cf. id. 1997). Deborah Cameron und Don Kulick (2003 b: 95) sahen eine Brücke zwischen Psychoanalyse und Linguistik in der Theorie von Jacques Lacan, der désir nicht nur als eine ‘ Kraft ’ im Sinne Freuds definierte, als ‘ Energie ’ , sondern als Kluft zwischen dem Subjekt und dem Anderen (I and the Other), als Lücke, die nur die Sprache zu überbrücken vermöge: “ The gap between the need and its expression - between a hope and its fulfilment - is where Lacan locates the origins and workings of desire ” (Cameron & Kulick 2003 a: 109). Sie stimmen Lacan darin zu, dass die sexuellen ‘ Rollen ’ unserer Eltern uns als ‘ Jungen ’ oder ‘ Mädchen ’ definierten: “ Sexuality is the primary channel through which we arrive at our identities as sexual beings. In other words, gender is achieved through sexuality ” (ibid. 110). Lacan zufolge werde die Erfahrung der Leerstelle ( ‘ the gap ’ ) zwischen dem Ich und dem generalisierten Anderen in den Körper des anderen Geschlechts integriert, auf den dann die Erfüllung der eigenen Wünsche projiziert werde. Aber stimmt das überhaupt? Lässt es sich empirisch nachweisen? Wohl kaum, und im übrigen kann man sich dann auch fragen, warum Kinder, die z. B. von gleichgeschlechtlichen Paaren adoptiert werden, ohne weiteres heterosexuell werden können - Aspekte der bio-genetischen Disposition spielen vielleicht doch eine größere Rolle als manche Queer-Theoretiker sich vorstellen möchten. 6 Mission accomplished? Gay Liberation vor dem Roll-Back? Kann der Lacan-Ansatz mit seinem désir-Konzept für die Beschreibung schwuler Sprache so fruchtbar gemacht werden, wie sich die Queer Theory das offenbar erhofft? Die Ergebnisse der Studien, die Deborah Cameron und Don Kulick in ihrem berühmten Buch Language and Sexuality heranziehen, wecken Zweifel (Cameron & Kulick 2003 a). Vermag die sprachliche Form des désir allein schon eine Antwort auf die Frage geben, wie genau etwa ein schwuler Zeichen der Zugehörigkeit: Subkultur und Sprache 275 Mann seinem homosexuellen Begehren im heteronormativen Umfeld der Gesellschaft Ausdruck verleiht, ohne mehr oder weniger subtile Diskriminierung gewärtigen zu müssen, oder wie er seine Angst davor camoufliert? Die Forderung, die Queer-Linguistik müsse ihre Fixierung auf ‘ Identität ’ überwinden, sehen etwa Liz Morrish und Helen Sauntson in ihrem Buch New Perspectives on Language and Sexual Identity durchaus kritisch und fragen: To disinvest from notions of identity means breaking ranks with the rest of sociolinguistics, for example, how do we envisage the study of language and race, or dialect, or gender, without making identity the starting point and rationale for enquiry? (Morrish & Sauntson 2007: 13). Andererseits räumen sie ein, dass es schwierig oder sogar unmöglich sei, Sexualität und Gender von der Sprache analytisch sauber zu trennen, denn für sie [. . .] it is clear that sexuality and language overlapped with gender and language and the two have influenced each other (and continue to do so), and in making performative statements about one, we are inevitably making performative statements about the other (ibid.). Aber statt des Versuchs, Lacans oft etwas opake Metaphern zu entschlüsseln und in die Sprache wissenschaftlicher Beschreibung zu übersetzen, interessiert mich mehr, wie schwule Sprecher die Sprache (neben anderen Zeichensystemen) faktisch gebrauchen, um ihrer Identität im Hinblick auf sexuelle Orientierung und soziales Geschlecht authentischen Ausdruck zu verleihen. Empirisch-corpusbasierte Ansätze scheinen mir dafür zuverlässigere und besser überprüfbare Aussagen darüber zu erlauben, wie die Zeichen der Zugehörigkeit zur Minderheit der Homosexuellen ihren verbalen, paraverbalen und nonverbalen Ausdruck nach innen und nach außen finden als das psychoanalytische Metaphernspiel Lacan ’ scher désir-Theoreme über Identität und Sprache in manchen Ausprägungen der Queer Theory. Die Datenerhebung wird dabei nicht eben erleichtert durch den fast verzweifelten Versuch einer wachsenden Zahl junger Männer, zumal solcher ‘ mit Migrationshintergrund ’ in den türkischen und arabischen Parallelgesellschaften unserer Metropolen in Deutschland (oder auch der durchschnittlichen College-Boys in den Vereinigten Staaten), den Erwartungen der heteronormativen Umgebung zu entsprechen, die sich in bestimmten Segmenten der Gesellschaft immer noch oder wieder verstärkt an traditionellen Rollenmodellen orientiert, die wir in anderen sozialen Milieus längst schon für überwunden hielten. Sie pflegen in ihrer Sprache, in ihrem Verhalten, eine stereotyp prononcierte Maskulinität, um ihren Minderwertigkeitskomplex kraftvoll zu kaschieren und ihre Unsicherheit bezüglich kulturell veränderter oder feministisch in Frage gestellter Rollenmodelle zu kompensieren, eine Orientierungslosigkeit, die sie aufgrund der familiären, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Erwartungen belastet, denen sie in ihren peer-groups ständig ausgesetzt sind. In ihrer heute wieder aktuell werdenden Studie über “ The Role of Heterosexuality in the Construction of Hegemonic Masculinity ” hat Jennifer Coates schon vor Jahren gezeigt, wie ein bestimmtes Modell von Männlichkeit (wieder) dominant wird, weil das im Interesse derer sei, die Macht ausüben (möchten) und ihren Status gegenüber Minoritäten zu behaupten suchen, zumal solche, die ihr Rollenmodell herauszufordern wagen, das von “ hardness, toughness, coolness, competitiveness, dominance, and control ” geprägt werde 276 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) (Coates 2007: 42). Wer aus dem normativen Korsett der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft auszubrechen sucht, wird dann schnell als ‘ unmännlich ’ , effeminiert, ‘ schwul ’ denunziert. Das Stigma-Adjektiv, das die Schwulenbewegung einst zu ihrem Fahnenwort erhob, ist längst wieder zu dem häufigsten Schimpf- und Schmähwort auf deutschen Schulhöfen geworden, ‘ Schwuchtel ’ eine der gern geteilten üblen Nachreden beim zunehmenden Cyber-Mobbing. Coates ’ konversationsanalytische Auswertung eines Corpus von Kneipengesprächen zwischen britischen Studenten aus der oberen Mittelschicht förderte eine mit so unbekümmertem Stolz zur Schau getragene Homophobie zutage, dass sie zu dem Schluss kommt, hegemoniale Männlichkeit sei praktisch kongruent mit heterosexueller Männlichkeit, “ which claims power and the direct or indirect performance of violence towards those fellow men who do not axiomatically desire women and, therefore, cannot possibly be what they regard, and respect, as ‘ real men ’” (ibid.). Der Befund gewinnt zusätzliche Plausibilität vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklungen in den USA mit dem messbaren Einfluss von reaktionären Wählern der Republican Party und 80 Millionen Evangelikalen mit ihrem biblisch-fundamentalistischen Weltbild, in dem für Homosexuelle kein Platz ist. Ähnliches gilt übrigens auch anderswo: in der Mehrzahl aller Länder werden Schwule nach Auskunft der International Lesbian and Gay Association (I LGA ) bis heute selbst kriminalisiert statt Gewalt gegen sie zu ahnden. 8 In Polen erklärt sich ein Drittel der Städte und Gemeinden stolz zu “ LGBT-freien Zonen ” ; in Ungarn nehmen die Repressalien gegen Schwule immer mehr zu. Aber gilt derlei etwa auch im vermeintlich so liberalen Deutschland? Leider ja: das Bundesinnenministerium registriert allein für 2019 ca. 600 Straftaten aufgrund der sexuellen Orientierung, darunter mehr als 150 Gewalttaten. Die Zahlen, die der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) erhebt, zeichnen ein noch drastischeres Bild. 9 Die aktuelle Polizeistatistik in Berlin schlägt ebenfalls Alarm: allein im Bezirk Neukölln habe sich die Zahl von Straftaten gegen Schwule zwischen 2015 und 2020 mehr als vervierfacht, der Anteil von Gewaltdelikten aufgrund homophober Hasskriminalität sei mit ca. 50 % extrem hoch. Das schwule Anti- Gewaltprojekt in Berlin Maneo meldet 2019 eine neue Rekordzahl von Angriffen auf queere Menschen in Berlin, einen Anstieg von 32 % gegenüber dem Vorjahr. 10 Zur Entwarnung besteht demnach kein Anlass, zu mehr Forschung schon. 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