Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2018
413-4
Semiotische Notate
121
2018
Gesine Lenore Schiewer
kod413-40335
K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Article Semiotische Notate / Semiotic Notations Das wissenschaftliche Tagebuch Johann Heinrich Lamberts (1728 - 1777) / The Scientific Diary of Johann Heinrich Lambert (1728 - 1777) Gesine Lenore Schiewer (Bayreuth) Abstract: The article presents an extensive review of Johann Heinrich Lambert, Philosophische Schriften. Supplement: Johann Heinrich Lamberts Monatsbuch. Neu herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und mit Verzeichnissen zu Lamberts Schriften, Briefen und nachgelassenen Manuskripten versehen von Niels W. Bokhove und Armin Emmel. Teilbände I und II. Hildesheim/ Zürich/ New York: Georg Olms Verlag, 2020 [Philosophical writings. Supplement: Johann Heinrich Lambert ’ s Monatsbuch. Newly edited, introduced, annotated, and with indexes to Lambert ’ s writings, letters, and bequeathed manuscripts by Niels W. Bokhove and Armin Emmel. Parts I and II. Hildesheim/ Zurich/ New York: Georg Olms Verlag, 2020]. Warum erscheint eine Rezension einer zweibändigen kommentierten Ausgabe von Johann Heinrich Lamberts “ Monatsbuch ” in Code/ Kodikas? Dies bedarf einer Erklärung. Der Philosoph, Kosmologe, Mathematiker, Physiker und Naturforscher Lambert hatte so vielfältigen Interessen, dass er selbst für das 18. Jahrhundert - mit seinen im Vergleich zu heute anders angelegten Disziplingrenzen - bereits als so etwas wie ein interdisziplinärer Forscher betrachtet werden kann. Zu den ausgewiesenen Schwerpunkten Lamberts gehört die Zeichentheorie. Seine umfangreiche “ Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge ” als ein Abschnitt von vier großen Teilen seines ersten philosophischen Hauptwerks “ Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrtum und Schein ” , 1764, ist nach John Lockes Erwähnung der Semiotik in seinem “ Versuch über den menschlichen Verstand ” Ende des 17. Jahrhunderts dafür impulsgebend, dass der Begriff wieder ins Bewusstsein gerückt wurde. In seiner Bedeutung für die Semiotik wurde Lambert auch in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt (vgl. Kodikas/ Code. Ars Semeiotica, Vol. 16, ¾ 1993; Vol. 25, ½ 2002; Vol. 36, ¾ 2013). Das “ Monatsbuch ” ist so etwas wie das wissenschaftliche Tagebuch oder das persönliche Notiz- und Aufgabenheft Lamberts, dass er nahezu während seines gesamten wissenschaftlichen Lebens geführt hat und in dem “ sich Lamberts schriftstellerische Tätigkeit recht vollständig [. . .] repräsentiert findet ” (Lambert 2020, XXXVIII). 2020 ist das Monatsheft in zwei Supplement-Teilbänden der “ Philosophischen Schriften ” Johann Heinrich Lamberts im Georg Olms Verlag publiziert worden. Um es vorweg zu nehmen: Bewundernswertes und Herausragendes wurde von Niels W. Bokhove und Armin Emmel geleistet - hier kann tatsächlich einmal zu recht in Superlativen gesprochen werden. In gewisser Weise handelt es sich um Vorarbeiten für die “ Rohform eine[r] Biografie des Wissenschaftlers Lambert, die ein philosophie-, wissenschafts-, und kulturgeschichtliches Desiderat bleibt ” (Bd. 1, XXXVII). Vielleicht ist gerade die kommentierte “ Rohform ” , die nun vorliegt, sogar ein besonders anregendes Dokument eines beeindruckenden Wissenschaftlerlebens im 18. Jahrhundert? Der erste Supplement-Teilband umfasst eine umfangreiche Einleitung, Bemerkungen zur Entstehungsgeschichte der Bände (die u. a. aufgrund der großzügigen Erbschaft, die der Lambert-Forscher Hans Werner Arndt der Universität Mannheim mit dem Auftrag, die von ihm in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begonnene Ausgabe der “ Philosophischen Schriften ” fertig zu stellen, tatsächlich bemerkenswert ist), das “ Monatsbuch ” mit Text und Kommentaren, einen zweihundertachtzigseitigen(! ) Katalog der Nachlassmanuskripte, die zum größten Teil an der UB Basel, zu kleineren Teilen im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und in der Koninklijke Bibliotheek Den Haag (ehemals im Besitz von Jean Henri van Swinden, 1746 - 1823) aufbewahrt werden. Letzteres eine überraschende Entdeckung von mehr als 300 Seiten bisher unbekannter Lambert-Handschriften in Den Haag (vgl. Bd. 1, CXXV). Der zweite Supplement-Teilband umfasst ein Briefverzeichnis, eine Primärbibliografie und einen Anhang mit einem Serviceteil und Erschließungsmaterial. Alles auf das Sorgfältigste erarbeitet und präsentiert. Ausführliche Informationen finden sich zur Edition der philosophischen Schriften Johann Heinrich Lamberts, die an der Universität Mannheim gehostet ist (https: / / www. phil.uni-mannheim.de/ philosophie/ forschung/ projekte/ arbeitsstelle-lambert-edition/ editi on/ ) und auf der Website des Herausgebers Armin Emmel (https: / / www.emmel-philosophie. de/ lambert_mb). Auf beide sei hier verwiesen. Zunächst ist der Abschnitt 1.2.2 “ Rezeption des lambertschen Werks - einige Beispiele ” zu erwähnen (Bd. 1, LIV-CVIII). Hier wird insgesamt ein sehr guter Überblick der Leistungen Lamberts in seinen unterschiedlichen Schwerpunktgebieten und ihrer wissenschaftlichen Würdigung zum Teil bis zur Gegenwart vorgelegt. Nachhaltige Bedeutung erlangte er beispielsweise in Mathematik und Naturwissenschaften, speziell mit seiner Wärmelehre. Seine beiden philosophischen Hauptwerke wurden von Zeitgenossen einschließlich Kants - mit dem Lambert zeitweilig auch im Briefwechsel stand - durchaus aufmerksam wahrgenommen und diskutiert. Bedauerlicherweise gehen die Herausgeber Niels W. Bokhove und Armin Emmel hier nicht ausführlich auf Lamberts Leistungen in der Semiotik und ihre Rezeption ein. Dabei hat seine Auseinandersetzung mit der “ cognitio symbolica ” in der Semiotik des zwanzigsten Jahrhunderts sehr wohl tiefe Spuren hinterlassen, insbesondere sind die betreffenden Schriften Gerold Ungeheuers zu Lamberts Semiotik hervorzuheben (H. Walter Schmitz 1982, Necrologia Gerold Ungeheuer † ): 336 Gesine Lenore Schiewer (Bayreuth) Ausgehend von Studien zu J. H. Lambert, den er ganz besonders schätzte ( “ Über das ‘ Hypothetische in der Sprache ’ bei Lambert ” , 1970; “ Lambert in Klopstocks ‘ Gelehrtenrepublik ’” , 1980; etc.), entdeckte er zunächst bei Leibniz und dann bei Wolff ( “ Sprache und symbolische Erkenntnis bei “ Wolff ” , 1979, erscheint) das große Problemfeld der “ cognitio symbolica ” , der semiotischen Bedingungen menschlicher Erkenntnis, aber auch menschlicher Mitteilung. Eine Sichtung des Monatsbuchs und der ausführlichen Kommentare von Niels W. Bokhove und Armin Emmel zeigt, dass Lambert sich tatsächlich immer wieder mit Fragen der “ characteristica universalis ” , der “ Semeiologia ” , der “ Zeichenkunst ” , den natürlichen Sprachen im Vergleich zu formalen Kalkülen und der “ Systematologie ” befasst hat. Dies belegt im übrigen auch sein Ansatz in der “ Anlage der Architectonic ” , in der er sorgsame Begriffsklärungen aus seiner Sicht zentraler philosophischer Termini vornimmt (vgl. XCVIII f.): Den vermutlich bisher anspruchsvollsten, jedenfalls einen nach wie vor spannenden Versuch, Lamberts Architectonic (im Verbund mit dem Neuen Organon und weiteren methodologischen Schriften) als Begründung eines eigenständigen zukunftsweisenden Typs von Wissenschaftsphilosophie zu verstehen [. . .], hat Gereon Wolters 1980 in den ersten drei Kapiteln seiner Studie zu Lamberts Theorie der axiomatischen Methode vorgelegt. [. . .] Wolters sieht sehr klar, dass Lamberts “ Basisproblem ” , nämlich die ‘ als Klärung ihrer Bedeutung verstandene Begründung wissenschaftlicher Grundbegriffe in der Erfahrung ’ , es nahe legt, bei ihm nur ein empiristisches Standardprogramm zu erkennen. Da Lambert aber unübersehbar gleichzeitig eine apriorische Fundierung der Wissenschaft anstrebt, muss er über Locke hinausgehen, was er - laut Wolters - erreicht, indem er zwei Erfahrungsbegriffe unterscheidet. Auch Lamberts bemerkenswerte, erkenntnistheoretisch und semiotisch fundierte Metapherntheorie, seine aufmerksame Wahrnehmung der Erkenntnistheorie und Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, der “ Noachide ” Johann Jakob Bodmers 1 sowie des “ Messias ” Friedrich Gottlieb Klopstocks machen Lamberts Auseinandersetzung mit Sprache deutlich. Sowohl in der Verwendung als Wissenschaftssprache - wo er, wie Bokhave und Emmel betonen, “ einen ersten Schritt zu Etablierung des Deutschen als Wissenschaftssprache getan ” hat (Bd. 1, LVII; vgl. auch Bd. 1, LXIII) - als auch in ihren literarischen Formen und im Hinblick auf ihre Erkenntniskraft im Bereich der sogenannten “ niederen Erkenntnisvermögen ” hat er Wichtiges geleistet. Am Schluss der Einleitung wird von Bokhove und Emmel deutlich gemacht, dass es das Ziel der Edition sei, die Lambert-Forschung zu fördern (vgl. Bd. 1, CVIII) - eine Zielsetzung, die angesichts der schleppenden Forschungsaktivitäten mehr als volle Berechtigung in Anspruch nehmen kann. Ich folge gewissermaßen hier gleich der Aufforderung und lege einen von mir zusammengestellten Überblick über Erwähnungen mit semiotischen Bezügen im Monatsbuch vor: 1 Gesine Lenore Schiewer (2009): Johann Jakob Bodmers Sprachtheorie - Kontroversen um die Standardisierung und pragmatische Fundierung des Deutschen, in: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der Zürcher Aufklärung, hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa. Göttingen: Wallstein, 638 - 659. Semiotische Notate 337 Jahr / Seitenzahl Eintrag im Monatsbuch Fußnotennummer mit Kommentar 1752 / 2 Methodus Logic[es]. Circa Characterist[icam] FN 6 1752 / 2, 3 characterist[ica] FN 9 1752 / 4 Mess. FN 12 (vermutlich Friedrich Gottlieb Klopstocks “ Messias ” ) 1752 / 5 Frühling FN 19 (vermutlich Ewald Christian von Kleists “ Der Frühling, ein Gedicht ” ) 1752 / 8 Semeiologia FN 34 1752 / 9 Langii od œ FN 40 (Samuel Gotthold Lange “ Horazische Oden ” ) 1753 / 12 Noach[idis] 8 Libr[i] lect[i] FN 58 ( Johann Jakob Bodmer “ Der Noah. In zwölf Gesängen “ 1753 / 14 Fabula et tractat[us] de humilit[ate] ad Helvetium FN 68 (Eine Fabel) FM 69 (Claude-Adrien Helvétius) 1753 / 15 L ’ Iliade d ’ homere FN 72 1753 / 16 Versuch d[er] Log[ischen] Zeichenk[unst] I. II. Theil od[er] Versuch FN 79 1753 / 18 Versuch der Logischen Zeichenk[unst] III. Theil FN 89 ( → FN 136) 1753 / 19 Versuch d[er] Log[ischen] Zeichenk[unst] IV. Theil angefangen FN 100 ( → FN 136, 79) 1754 / 28 Legi die Colombona Joseph & Zulika FN 148 ( Johann Jakob Bodmer “ Die Colombona. Ein Gedicht in fynf Ges œ ngen ” und “ Joseph und Zulika, in zween Gesängen “ 1755 / 39 Characteristice resolvuntur FN 201 1756 / 48 Tentamina varia de natura Characteristic œ , et ipsizs fontibus, hypothetice assumtis FN 242 1756 / 50 Qu œ stiones circa Characteristicam ubinam adplicari possit quaque in re consistat? FN 253 1758 / 73 Adnotata logica circa Methodum analyticam inveniendi FN 367 1760 / 99 f. De novo Organo conscribendo cogitavi, praeparantia hunc in finem conscripsi FN 481 1762 / 122 Über Baumgartens Metaphysic FN 567 1762 / 122 Anmerkungen über das M[anu]s[cri]pt d[er] Noachide so mir H[err] Prof. Bodmer communicirt FN 568 338 Gesine Lenore Schiewer (Bayreuth) Jahr / Seitenzahl Eintrag im Monatsbuch Fußnotennummer mit Kommentar 1762 / 129 Syllogismorum characteristica quae nititur congruentia idearum earumque subordinatione FN 592 1763 / 132 Aletheiologia continuata, Semioticam incepi FN 606 1763 / 133 Semioticam FN 612 1764 / 136 f. Ontologiam incepi, Prolegomena, ideae fundamentales, axiomata et Postulata FN 626, unten (zu den in diesen Stücken wiederholt auftauchenden logischen “ Zeichnungsarten ” verweist L. in der Vorrede, S. XIV, auf “ De universaliori calculi idea, Disquisitio, una cum adnexo Specimine ” ) 1764 / 145 f. Schematismus Systemato[ogiae] FN 662 1765 / 148 Responsio ad libellum Dni Holland circa symbolicam syllogismorum constructionem organo insertam FN 668 1767 / 168 Ad characteristicam universalem et calculum logicum meditata FN 755 1767 / 168 De universaliori Calculi idea disquisitio una cum Specimine pro Actis Erud[itorum] FN 756 1768 / 176 De topic animadversones FN 795 (Buch zur “ Leibnitzischen Characteristik ” ) 1768 / 179 f. Sur le Gout FN 811 ( “ Geschmack ” ) 1768 / 181 Claves characterum linguae Sinensis FN 819 ( “ allgemeine Zeichenkunst ” , “ die ‘ alte chinesische Erfindung ’ der Dyadik ” ) 1769 / 184 Theorie du goút FN 835 1771 / 200 Schematismus capitum Systematolgiae FN 899 1771 / 203 Systematol[ogia] incepta FN 912 In knappster Form seien im Folgenden die Grundzüge der Semiotik Lamberts und ihre Bedeutung aus heutiger Sicht skizziert. Anscheinend hat Lambert geradezu widerstrebend die Einsicht anerkannt, daß Naturerkenntnis keine rational endliche Operation, sondern einen prinzipiell unendlichen Prozess darstellt, was eine gewisse Spannung in seinem gesamten Ansatz bedingt, aber auch sein großes Potential ausmacht. Denn in gewisser Weise ist er mit dem ebenfalls integrativ angelegten, dreistelligen semiotischen Ansatz Charles William Morris ’ vergleichbar, der mit den drei Dimensionen der Syntax, Semantik und Pragmatik ebenfalls auf verschiedene Wissenschaftsparadigmen abzielte, dem logischen Positivismus, dem Empirismus und dem Behaviorismus, und somit seine Semiotik mit dem Anspruch einer Integration, manche sprechen auch von einer Unifizierung der Wissenschaften verband. Semiotische Notate 339 Lambert schließt insofern zwar an Denkmuster des philosophischen Rationalismus des 17. Jahrhunderts an, als er der Ansicht ist, dass die Maßstäbe der mathematischen Evidenz und Methodik auch in der Philosophie und Naturwissenschaft zur Geltung kommen könnten. Er verfolgt damit die Idee von notwendiger Wahrheit, die der Mensch in allen Bereichen seines Forschens erzielen könne. Lambert gibt somit die von Leibniz hinsichtlich der Kontingenz menschlicher Erkenntnismöglichkeiten - im Vergleich zur göttlichen Wahrheit - proklamierte Bescheidenheit auf und strebt unabhängig vom Gegenstand nach der Notwendigkeit des Wissens. Diese Wahrheit ist Lambert zufolge jedoch nicht mehr eine rein logisch-apriorische, sondern basiert auf einem Erfahrungsgrund. Bei Lambert ist somit eine Radikalisierung des menschlichen Erkenntnisanspruchs mit einer Umdefinition der Form von Erkenntnis verbunden. Damit stehen in Lamberts Werk eine zurückweisende Orientierung an der ‘ mathesis universalis ’ und die zeitbezogene Theoriebildung der empirischen Naturerforschung nebeneinander, wobei letztere schließlich zu der Sprengung des Konzepts führt und zugleich auch seine zukunftsweisende Aktualität ausmacht. Für Lamberts grundsätzliche Reflexion der Notwendigkeit und Leistung von Zeichen für das menschliche Denken gewinnen die die Sinnlichkeit des Menschen berücksichtigenden psychologischen Ansätze des 18. Jahrhunderts neben einem Baumgartenschen Substrat zentrale Bedeutung. Da ‘ klare Begriffe ’ Lambert zufolge von konkreten Wahrnehmungen abhängen, ist die willkürliche Vergegenwärtigung solcher Begriffe nur mittels der Verwendung von Sprachzeichen möglich, welche gewissermaßen als Ersatz für Empfindungseindrücke fungieren. Diese Sicht basiert ihrerseits auf der Annahme Lamberts, daß grundsätzlich in der sogenannten ‘ Körperwelt ’ und der ‘ Intellectualwelt ’ analoge Verhältnisse herrschen, da jeder Verstandesoperation körperlich-sinnliche Gegebenheiten korrespondieren. Die körperliche Sinnesempfindung könne daher durch das materielle Zeichen ersetzt werden, welches somit für die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen grundlegende Bedeutung erhält. In gewisser Weise hat Lambert damit eine Sprach- und Zeichentheorie entwickelt, die “ dem ganzen Menschen ” Rechnung trägt beziehungsweise den Leistungen von Sprache und ihrer semiotischen Komplexität in Denken, Fühlen und Wollen respektive in den vielfältigen Dimensionen von Kognition, Emotion, Sprachhandeln. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde ferner ein Konzept historischer Sprachbetrachtung ausgebildet, in dem mit der Übernahme prinzipieller Problemstellungen und Entwürfe an sprach- und zeichentheoretische Reflexionen des 17. Jahrhunderts angeknüpft wurde. Die Entwicklung eines semiotischen Wissensbegriffs kann daher bis zu seinen ersten Grundlagen im Denken Descartes ’ zurückverfolgt und in seiner allmählichen Ausformulierung insbesondere durch Leibniz, Étienne Bonnot de Condillac, Johann Heinrich Lambert und Herder nachvollzogen werden, wobei die Reflexion des komplexen Zusammenhangs von Wissensbegriff, Erkenntnisgewinn und Sprache bei Descartes, Leibniz, Condillac, Johann Heinrich Lambert und Herder in der Zeit vom 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu einem konsequenten Umbau der Semantik des System-Begriffs führte. Hingegen blieb die zentrale Bedeutung des Terminus selbst für das Feld von Semiotik, Sprach- und Erkenntnistheorie bis zu Lamberts “ Systematologie ” bestehen. Mit der Verschiebung des semantischen Spektrums ging indes die Ablösung systematischen Denkens durch einen 340 Gesine Lenore Schiewer (Bayreuth) historischen Wissensbegriff einher, dessen sukzessive Herausbildung hier aufgezeigt wird. Das Ergebnis dieser Entwicklung war die Ausformulierung einer Sprachtheorie auf der Basis anthropologischer und psychologischer Grundannahmen, die eine Erklärung sowohl der Genese als auch der Kapazität menschlichen Erkennens anstrebte (vgl. Schiewer, 2005 d). Damit finden sich bei Lambert Überlegungen, die Aufmerksamkeit verdienen in Anbetracht der großen Bedeutung, die in den letzten Dekaden systemtheoretischen Ansätzen, aber nunmehr auch kognitionswissenschaftlichen Ansätzen unter anderem in der Linguistik zugestanden wird. Vor diesem Hintergrund verdienen die, wie oben bereits betont, hervorragende Leistung der beiden Herausgeber Niels W. Bokhove und Armin Emmel größte Anerkennung - und natürlich Johann Heinrich Lamberts Schriften unter anderem in der Semiotik der Gegenwart die intensive Aufmerksamkeit der Forschung. Literatur der Rezensentin zu Lambert (in Auswahl, zum Teil zusammen mit Ernest W. B. Hess-Lüttich) 1993 Die Logik und Zeichentheorie J. H. Lamberts als Bedingungen der Enzyklopädistik des Novalis, in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica, Vol. 16, No. 3/ 4, 303 - 324. 1995 Sprachtheorie im 18. Jahrhundert: Metapher bei J. H. Lambert, in: Lutz Dannebert/ Andreas Graeser/ Klaus Petrus (Hgg.), Metapher und Innovation. Die Rolle der Metapher im Wandel von Sprache und Wissenschaft. Bern/ Stuttgart/ Wien: Haupt, 53 - 65. 1996 Cognitio symbolica. Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Rezeption bei Herder, Jean Paul und Novalis. Tübingen: Niemeyer, 290 p. [Dissertation] 1998 a “ Exakte Wissenschaft ” und natürliche Sprache: Zeichentheoretische Konzepte in den sprachphilosophischen Reflexionen Leibniz ’ und J. H. Lamberts, in: Lutz Danneberg/ Jürg Niederhauser (Hgg.), Darstellungsformen der Wissenschaften im Kontrast. Aspekte der Methodik, Theorie und Empirie. Tübingen: Narr, 455 - 470. 1998 b Lamberts Semiotik: Gedächtnis, Erkenntnis, Kommunikation, in: Ernest W. B. Hess-Lüttich/ Brigitte Schlieben-Lange (Hgg.), Signs & Time. Zeit & Zeichen. An International Conference on the Semiotics of Time in Tübingen. Tübingen: Narr, 208 - 227 [zus. mit Ernest W. B. Hess- Lüttich]. 1998 c “ Der Gebrauch ist der Meister ” . Zeichen, “ Wortstreite ” , einfache Begriffe: Über das kommunikationstheoretische Interesse an der Semiotik des Johann Heinrich Lambert, in: Dieter Krallmann/ H. Walter Schmitz (Hgg.), Perspektiven einer Kommunikationswissenschaft. Internationales Gerold Ungeheuer-Symposium, Essen 6. - 8. 7. 1995. Bd. 2. Signifikation. Beiträge zur Kommunikationswissenschaft, Bd. 1, Münster: Nodus, 341 - 356 [zus. mit Ernest W. B. Hess-Lüttich]. 2002 b Lambert ’ s Semiotics: Memory, Cognition, and Communication, in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica, Vol. 25, No. 1 - 2, 145 - 158. [zus. mit Ernest W. B. Hess-Lüttich]. 2005 d Die Bedeutung von ars inveniendi und System-Begriff für die Ausbildung einer historischgenetischen Sprachbetrachtung im 18. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1/ 2005, 29 - 63. 2010 a La beauté des verités et la beauté des termes - Wissenschaft und Ästhetik in Lamberts Sprachphilosophie, in: › Natur ‹ , Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Semiotische Notate 341 Begründungsdiskurses der Frühen Neuzeit, hg. von Simone De Angelis, Florian Gelzer und Lucas Gisi. Berlin: de Gruyter, 71 - 91. 2014 c Sprache, Zeichen und Erkenntnis. Über das kommunikationstheoretische Interesse am Sprach- und Zeichenbegriff des Johann Heinrich Lambert, in: Kodikas/ Code Ars Semeiotica, Vol 36, No 3/ 4 2013, Themenheft Semiotik und Sprachphilosophie, 161 - 176 [überarb. Wiederabdruck; gem. mit Ernest Hess-Lüttich]. 2020 Metaphern in der Perspektive der Emotionsforschung. Ausgewählte Ansätze vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Metaphernforschung in interdisziplinären und interdiskursiven Perspektiven, hg. von Roman Mikulás. Paderborn: Brill/ Mentis, 15 - 38. 342 Gesine Lenore Schiewer (Bayreuth)