eJournals Kodikas/Code 41/3-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
413-4

Homotextuell - Interkulturell

121
2018
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Im Rahmen der Gender und Cross Cultural Studies vergleicht die mexikanische Germanistin Raquel Soledad López Torres im Ausgang von Jacob Stockingers Ansatz zur Analyse von ‘Homotextualität’ Werke deutscher und mexikanischer Autoren des 20. Jahrhunderts – Bruno Vogel, Hubert Fichte, Detlev Meyer, Luis Zapata, Raúl Rodríguez Cetina und Luis González de Alba – im Hinblick auf die interkulturell und ‘homotextuell’ unterschiedliche literarische Verarbeitung ihrer eigenen sexuellen Identität. Das besondere Augenmerk der Verfasserin gilt dabei nicht nur der Homosexualität als eines literar-ästhetischen Sujets, sondern auch den sozial-historischen Bedingungen, unter denen die Autoren ein zu ihrer Zeit tabuisiertes Thema in ihren verschiedenen Kulturen angesprochen haben. Exemplarisch stellt sie in ihrer Untersuchung jeweils die Modellierung der Figur zweier schwuler Soldaten, die provokative Schreibweise zweier bisexueller Autoren und die (auto-)biographisch heikle Behandlung der Aids-Problematik einander gegenüber. Angesichts der zuletzt vielerorts wieder zunehmenden Homophobie und Xenophobie kommt diese Studie genau zur rechten Zeit, um das Bewusstsein der Leser für die Diskriminierungserfahrung von Minderheiten zu schärfen.
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K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Review Article Homotextuell - Interkulturell / Homotextual - Intercultural Eine gendersensible Lektüre deutscher und mexikanischer Literatur / A Gender Sensitive Reading of German and Mexican Literature Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Abstract: Within the framework of gender and cross-cultural studies, the Mexican Germanist Raquel Soledad López Torres uses Jacob Stockinger ’ s approach to the analysis of ‘ homotextuality ’ to compare works by German and Mexican authors of the 20th century - Bruno Vogel, Hubert Fichte, Detlev Meyer, Luis Zapata, Raúl Rodríguez Cetina and Luis González de Alba - with regard to the interculturally and ‘ homotextually ’ different literary processing of their own sexual identity. The particular focus is not only on homosexuality as a literary-aesthetic subject, but also on the socio-historical conditions under which the authors addressed a subject that was taboo in their time and in their respective cultures. As examples, López contrasts the modelling of the figure of two gay soldiers, the provocative writing of two bisexual authors, and the (auto-) biographically sensitive treatment of the AIDS problem. In view of the recent resurgence of homophobia and xenophobia in many places, this study comes at just the right time to raise readers ’ awareness of the experience of discrimination against minorities. Im Rahmen der Gender und Cross Cultural Studies vergleicht die mexikanische Germanistin Raquel Soledad López Torres im Ausgang von Jacob Stockingers Ansatz zur Analyse von ‘ Homotextualität ’ Werke deutscher und mexikanischer Autoren des 20. Jahrhunderts - Bruno Vogel, Hubert Fichte, Detlev Meyer, Luis Zapata, Raúl Rodríguez Cetina und Luis González de Alba - im Hinblick auf die interkulturell und ‘ homotextuell ’ unterschiedliche literarische Verarbeitung ihrer eigenen sexuellen Identität. Das besondere Augenmerk der Verfasserin gilt dabei nicht nur der Homosexualität als eines literar-ästhetischen Sujets, sondern auch den sozial-historischen Bedingungen, unter denen die Autoren ein zu ihrer Zeit tabuisiertes Thema in ihren verschiedenen Kulturen angesprochen haben. Exemplarisch stellt sie in ihrer Untersuchung jeweils die Modellierung der Figur zweier schwuler Soldaten, die provokative Schreibweise zweier bisexueller Autoren und die (auto-)biographisch heikle Behandlung der Aids-Problematik einander gegenüber. Angesichts der zuletzt vielerorts wieder zunehmenden Homophobie und Xenophobie kommt diese Studie genau zur rechten Zeit, um das Bewusstsein der Leser für die Diskriminierungserfahrung von Minderheiten zu schärfen. Keywords: Gender, Gay Studies, Comparative Queer Literary Studies, Homotextuality, Homosexuality, Bruno Vogel, Hubert Fichte, Detlev Meyer, Luis Zapata, Raúl Rodríguez Cetina, Luis González de Alba / Gender, Gay Studies, Comparative Queer Literary Studies, Homotextualität, Homosexualität, Bruno Vogel, Hubert Fichte, Detlev Meyer, Luis Zapata, Raúl Rodríguez Cetina, Luis González de Alba Mit ihrer im Forschungsumfeld der interkulturellen Germanistik und komparatistischen Gender Studies (bzw. Comparative Queer Literary Studies) angesiedelten Untersuchung über “ Homotextualität in der deutschen und mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts ” zeigt Raquel López aus Mexico City, wie unterschiedlich deutsche und mexikanische Autoren ihre Erfahrungen mit der eigenen Homosexualität literarisch verarbeiten, welche Rolle dabei ihr soziales Umfeld, die jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen in ihren Ländern, der Einfluss der Kirchen und Konfessionen spielen. Dabei bietet sie Hinweise zur Lage der homosexuellen Minderheit und deren Behandlung durch die Mehrheit in Mexiko, die dem deutschen Leser kaum bekannt sein dürften. So sichtet sie beispielsweise Quellen, die (wenn auch stets aus der katholisch empörten Perspektive der christlichen Eroberer und geistlichen Chronisten) über Sodomie im alten Mexico zur Zeit derAztekenreiche berichten; sie wirft einen Blick auf literarische Vorläufer und Werke des 19. Jahrhunderts, in denen männliche Protagonisten als effeminierte Figuren karikiert werden; auf ein zum Topos gewordenes Fest von Aristokraten, bei dem Männer aus höchsten Kreisen in Frauenkleidern auftraten (El baile de los 41) und das im Roman Los cuarenta y uno (1906) von Eduardo Castrejón in denunziatorischer Absicht geschildert wird, um die Dekadenz der Aristokratie zu découvrieren; auf eine Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die sich in den 20er Jahren Los Contemporáneos nannten und sich für eine offenere Gesellschaft engagierten; besonders auf ihr Mitglied Salvador Novo, der sich in seiner 1945 verfassten, aber erst 1998 erschienenen (und Fragment gebliebenen) Autobiographie La estatua de sal selbstbewusst der Entfaltung seiner homosexuellen Identität vergewisserte; auf Carlo Cóccioli schließlich, der den Versuch des Protagonisten seines Romans Fabrizio Lupo schildert, sich aus dem Gefängnis katholischer Doppelmoral und gesellschaftlicher Diskriminierung zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben als Homosexueller zu führen. Nach diesem ausgreifenden Überblick vergleicht Raquel López im Hauptteil ihres Buches Werke deutsche und mexikanischer Autoren unter einem jeweils spezifischen erkenntnisleitenden Interesse (i) an der Figur eines schwulen Protagonisten im homophoben Kontext des militärischen Machismo, (ii) an den provokativen Schreibweisen bisexueller Autoren in ihren autobiographischen Romanen, (iii) an der Literarisierung von Krankheit und Tod im Zeichen der A IDS -Krise in schwulen Subkulturen. So stellt sie Bruno Vogels Roman Alf (1929) der Erzählung De amor es mi negra pena (1983) von Luis Zapatas gegenüber, die beide das Gewahrwerden der eigenen Sexualität und Marginalität der Protagonisten thematisieren, und sucht nach Merkmalen (Sprache, Schauplätze, intertextuelle Bezüge) und Motiven (Spiegel, Maske, Reise, Tod), die die beiden Texte verbinden. Dabei arbeitet sie heraus, wie klarsichtig Vogel im Hinblick auf Sexualität, Religion und Erziehung die verlogene Doppelmoral bürgerlicher Normen entlarvt, gegen die seine Protagonisten Felix und Alf ihre Liebe selbstbewusst zu behaupten suchen, und richtet ihr 366 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) besonderes Augenmerk auf die Sprache des Textes, in der sich beider Begehren zart artikuliert, das alle anderen um sie herum mit Wörtern wie Sünde, Schweinerei, Strafe, Gefängnis, Hölle, Verbrechen wider Gott und Gesellschaft, Sitte und Moral belegen, womit sie eine isotopische Mauer der Feindschaft und Verachtung um die beiden Freunde errichten, während sie zugleich wie selbstverständlich erwarten, dass sie für ebendiese Gesellschaft, die sie existenziell negiert, im Krieg ihr Leben zu lassen bereit sind. Die vage Hoffnung des Autors, die er im Nachwort zur Neuauflage 1978 artikuliert, es müsse doch möglich sein, “ durch Wort und Werk den wirren Wahnsinn irrationaler Aggression zu wandeln in lebensfreundliche, lustfrohe Vernunft ” (S. 83), sie könnte trügen, wie ein Blick rundherum in weite Teile der heutigen Welt lehrt, in der zwei Männer einander eher erschießen sollen als lieben dürfen. Das gilt auch für die Erzählung von Luis Zapata De amor es mi negra pena, die die Unmöglichkeit einer “ Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt ” (Oscar Wilde) im Milieu des lateinisch-katholischen Machismo in Mittelamerika thematisiert, die rohe ‘ Männlichkeit ’ von testosteron-tumben Machos, Soldaten und Bordellkunden, die sich Körperlichkeit unter ihresgleichen nur als trunken-gewaltsame vorstellen können, und die ständige Angst des closeted gay man, vor den Freunden, Kumpels und Kollegen das Gesicht zu verlieren und etwa als dem eigenen Geschlecht zugetan entlarvt zu werden. Auf dieses prekäre Paradoxon stereotyper Heteronormativität, hatte 2002 schon Pierre Bourdieu in seiner luziden Studie über “ la virilité ” hingewiesen (La domination masculine), und López liest Zapatas Erzählung wie eine literarische Illustration dieser soziologischen Befunde. Aber anders als bei Vogel mündet der Text nicht in den Versuch der trotzigen Selbstbehauptung der stigmatisierten Minorität, sondern in die verzweifelte Selbstverleugung, in die Negation der eigenen Identität, aus der ein aggressiver Selbsthass erwächst, der auf den in diesem sozialen Umfeld von Kirche und Kaserne unerreichbaren Geliebten projiziert wird, aus dem erst der Tod den namenlosen Protagonisten ‘ el Guacho ’ zu erlösen vermag. Sein Name und damit seine Identität werden erst posthum enthüllt. Auch in Hubert Fichtes Versuch über die Pubertät von 1974 und Paúl Rodríguez Cetinas El Desconocido von 1977 geht es den Autoren um die literarische Verarbeitung ihrer Entwicklung in der Adoleszenz, das Erwachen ihrer Sexualität, die Spannungsbalance von Eros und Thanatos. Fichtes viertes Buch (nach den Romanen Das Waisenhaus, Die Palette, Detlevs Imitationen ‘ Grünspan ’ ) erfreute sich bekanntlich schnell einer beachtlichen Resonanz, was sicher nicht nur an seinem provokativen Inhalt (Homosexualität, Sadomasochismus, Sex & Gewalt, exotische Riten) und ungewöhnlichen Personal lag (Strichjungen, Prostituierte, Ledermänner, Obdachlose, Kriminelle), sondern auch am neuen Ton seiner Sprache, der López besondere Beachtung schenkt. In seinem autobiographischen Roman El Desconocido verarbeitet Paúl Rodríguez Cetina die Identitätskonflikte des bisexuellen Protagonisten Narveli, der als Strichjunge sein Geld verdient, aber nichts mehr fürchtet, als mit effeminierten ‘ Tunten ’ gesehen zu werden. Cetina zeigt die bigotte Doppelmoral einer konservativ-patriarchalen Gesellschaft, in der ein pater familias breitbeinig alle Macht auf sich vereint, sich vielleicht nächtens mit Knaben vergnügt, aber tagsüber als viriler Macho und braver Katholik auftritt, der Prototyp des mexikanischen Macho, wie ihn niemand treffender beschrieben hat als Octavio Paz in seinem berühmten Essay El laberinto de la soledad (zuerst 1950 erschienen), der bis heute nichts von Homotextuell - Interkulturell 367 seiner Aktualität eingebüßt hat. Mit der Literarisierung der eigenen sexuellen Erfahrung, der Transgression in Sprache und Verhalten, des Verhältnisses von Sexualität und Macht (Gewalt), der dogmatischen Stigmatisierung alles Abweichenden suchen sich die Autoren gegen die ubiquitär herrschende Heteronormativität zu behaupten. In der Biographie der Bestürzung von Detlev Meyer (1989) und dem Roman Agápi Mu (Amor mío) von Luis Gonzáles de Alba (1993) geht es um die Literarisierung von A IDS in einer Zeit, in der die Medien von der “ Schwulenseuche ” schrieben und Politiker die Registrierung und Internierung der Infizierten forderten. Die beiden ersten Teile von Meyers autobiographischer Trilogie - Im Dampfbad greift nach mir ein Engel (1985), David steigt aufs Riesenrad (1987) - spielen noch in dem hedonistischen Schutzraum der schwulen Subkulturen Berlins zu jener Zeit, bevor sich die schwarzen Schatten der tödlichen Krankheit über sie senkten. Im dritten Teil, Ein letzter Dank an die Leichtathleten, ist die Leichtigkeit des Seins dahin, Angst mischt sich in die Lebenslust, die Krankheit schiebt sich zwischen die Freunde, Eros und Thanatos kommen sich näher, die Zeit rennt davon, der heiter-ironische Ton wird spöttisch-sarkastisch, wie um die nahende Gefahr zu bannen, die Depression auszulachen. Meyers Sprachspiel ist wie ein subversives Sprechen, in dem der Ernst sich in den Spaß einnistet, in dem im bitter-schrillen Lachen zugleich die flackernde Panik aufscheint angesichts des sicheren Todes. Der Roman von Gonzáles de Alba, Agápi Mu (Amor mío), demaskiert mit dem Leiden der Protagonisten an der homophoben Gesellschaft und der Stigmatisierung ihrer Infektion zugleich die inhumane Verantwortung von Presse, Kirche und Politik für die Ausgrenzung der doppelt Betroffenen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Werke werden in der Analyse deutlich, die “ minoritäre Bejahung ” (Alexander v. Bormann), die fast trotzige Selbstbehauptung angesichts des Todes bei Meyer, die melancholische Trauer um den Geliebten, die ängstliche Selbstverleugnung bei Gonzáles de Alba, der schonungslos den Horror der Krankheit schildert, die das Leben und das Vertrauen der Liebenden zerstört, ihre Gespräche erstickt. Anhand von Symbolen des Spiegels, von Orten der Homosozialität, von Identität und Rollenbildern, von Reisen und Fluchten, von Eros und Thanatos profiliert Raquel López die ‘ homotextuellen ’ Merkmale und Motive der hier untersuchten Werke von Vogel, Fichte, Meyer einerseits und Zapata, Rodríguez Cetina und Gonzáles de Alba andererseits heraus in der scheuen Hoffnung, die Literarisierung gleichgeschlechtlichen Begehrens könne ihren Teil beitragen zur Emanzipation einer minoritären Gemeinschaft, die sich zu behaupten sucht gegen ihre Ausgrenzung und Unterdrückung durch Kirche und Staat, gegen Ignoranz und Bigotterie einer selbstgewissen und selbstgerechten Majorität. Angesichts der vielfach zu beobachtenden ‘ Wiederkehr des Religiösen ’ , des homophoben Fundamentalismus und fanatischen Missionseifers, des beklemmenden Erstarkens evangelikaler, populistischer, rechtsreaktionärer Kräfte in allzu vielen Ländern gilt es die Rolle widerständiger Kultur und Literatur und ihre kritische Erforschung zu schützen und zu stärken: dem dient dieses Buch. 368 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Literatur Pierre Bourdieu 1998: La domination masculine, Paris: Seuil Fichte, Hubert 2005: Versuch über die Pubertät, Frankfurt am Main: S. Fischer Gonzáles de Alba, Luis 1993: Agápi Mu (Amor mío), Mexico: Cal y Arena Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2000: “ Stätten des Stigmas. Guido Bachmann, Martin Frank, Christoph Geiser, Josef Winkler: fremd unter andern in der Enge des Tals ” , in: Wolfgang Popp [et al.] (eds.) 2000: Forum Homosexualität und Literatur 36 Essen: Die blaue Eule, 43 - 63 López Torres, Raquel Soledad 2021: Strategien des Begehrens: Homotextualität in der deutschen und mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts (= Cross Cultural Studies 35), Berlin: Peter Lang Meyer, Detlev 1989: Ein letzter Dank den Leichtathleten (= Biographie der Bestürzung 3), Düsseldorf: Eremiten-Presse Rodríguez Cetina, Raúl 2007: El Desconocido, México: Plaza y Valdés Vogel, Bruno [1929] 2011: Alf. Eine Skizze, Hamburg: Männerschwarm Zapata, Luis [1983] 1996: “ De amor es mi negra pena ” , in: Mario Muñoz (ed.)1996: De amores marginales. 16 Cuentos mexicanos, Veracruz: Universidad Veracruzana, 149 - 161 Homotextuell - Interkulturell 369