Kodikas/Code
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0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
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2018
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Wolfgang Wildgen 2018: Musiksemiotik. Musikalische Zeichen, Kognition und Sprache, Würzburg: Königshausen & Neumann, 209 pp., 29,80 €, ISBN 978-3-8260- 6290-2
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2018
Ernest W. B. Hess-Lüttich
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K O D I K A S / C O D E Volume 41 (2018) · No. 3 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Recent Readings - Reviews Rezente Lektüren - Kurzrezensionen und Buchempfehlungen Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) Wolfgang Wildgen 2018: Musiksemiotik. Musikalische Zeichen, Kognition und Sprache, Würzburg: Königshausen & Neumann, 209 pp., 29,80 € , ISBN 978-3-8260- 6290-2 Mit seinem jüngsten Buch über Musiksemiotik offenbart der Bremer Linguist Wolfgang Wildgen wieder einmal eine neue Facette des weiten Spektrums seiner wissenschaftlichen Interessen. Wer seinen Namen immer noch mit seiner Differentiellen Linguistik (1977) oder der Archetypensemantik (1985) verbindet, die wie andere seiner frühen Bücher von ausgeprägt formalem Ehrgeiz geprägt und für Kulturwissenschaftler eine eher zu anspruchsvolle Lektüre waren, verkennt die Spannweite seines sprach- und zeichenbezogenen Denkens. Seit 2004 veröffentlicht er Bücher zur Evolution der Sprache, zur Kognitiven Grammatik, zu Giordano Bruno, zur Geschichte der Sprachwissenschaft und zur Visuellen Semiotik. Nun also widmet er sich musikalischen Zeichen, was insofern konsequent ist, als auch seine linguistischen Untersuchungen stets auf einem semiotisch geprägten Grundlagenverständnis von Sprache basierten als einer Manifestationsform der menschlichen Fähigkeit, mittels Zeichen zu denken, zu handeln, sich zu verständigen. Das Verhältnis von Sprache und Musik ist in der Musiktheorie ein nicht eben populärer Gegenstand, der sich konkreter Analyse offenbar leicht entzieht. Was genau wissen wir eigentlich über dieses Verhältnis, wenn es z. B. beschrieben wird wie bei Michael Behr (1983: 34): “ Der Komponist [. . .] spricht durch die Melodie das Gefühl, das noch Unwirkliche, Vorgewußte, Erahnte unmittelbar an ” ? Theodor W. Adorno schrieb schon 1963 in seinem “ Fragment über Musik und Sprache ” (in Quasi una Fantasia): “ Musik ist sprachähnlich [. . .] Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage ” (Adorno 1997: 251). Woran liegt das? Etwa nur daran, daß der Musik eine durchgehende denotative Bedeutungsschicht fehlt? Oder andersherum: Was haben Musik und Sprache gemeinsam? Schon Peter Faltin suchte eine musiksemiotische Antwort: “ Die ‘ Sprachähnlichkeit ’ von Musik ” , sagt er, “ beruht nicht auf der eigentlichen Funktion der Sprache, Verständigung herbeizuführen, sondern nur auf einem Aspekt der Sprache, auf ihrer Fähigkeit, Gedanken zu artikulieren und zu vermitteln ” (Faltin 1985: 178). Es ist offenbar nicht leicht, das Verhältnis von Sprache und Musik begrifflich scharf zu fassen; und schwerer noch, konkret, nicht vage, über Musik zu sprechen. Der verbreiteten Skepsis setzt Wildgen seinen aufklärend-analytischen Zugang entgegen, der auch keine Berührung mit der mathematischen Musiktheorie scheut. In einer konzisen Einleitung zur Evolution der Musik zeigt der Autor zunächst Parallelen auf zwischen den Codes der Sprache und der Musik, zwischen linguistischer Analyse sprachlicher Zeichen und semiotischer Analyse musikalischer Zeichen. Anknüpfend an die Traditionsstränge linguistisch-semiotischer Theoriebildung von Peirce über Saussure bis Lotman plädiert er für die Überwindung des klassisch strukturalistischen Paradigmas der Semiotik und in Orientierung an der von René Thom entwickelten geometrisch-topologischen Modellbildung (Differentialtopologie, Chaostheorie, Katastrophentheorie) für eine Dynamische Semiotik, die in der Weiterentwicklung von Jean Petitot und Per Aage Brandt eine kognitive und neurobiologische Modellierung zeichengebender Prozesse erlaubt. Vor diesem Hintergrund (der zuvor schon seiner Visuellen Semiotik als Ausgangspunkt diente) entfaltet Wildgen dann seine Musiksemiotik in drei Teilen. Im ersten Teil behandelt er unter Berücksichtigung evolutionärer und ethnologischer Aspekte das Verhältnis von Musik und Bedeutung sowie von Musik und Sprache, betrachtet die Koevolution von Sprache und Musik als emergente symbolische Formen, untersucht die Parallelen zwischen Musik und Phonetik und grenzt sie von bildkompositorischen Äquivalenten ab. Dabei hebt er die kognitiven Aspekte der Musik hervor und argumentiert für die Möglichkeit der Analyse auch von literarischen und filmischen Texten mit musiksemiotschen Begriffen. Der zweite Teil ist im Sinne einer ‘ Angewandten Musiksemiotik ’ exemplarischen Analysen zur Struktur, Kontextualität und Intermedialität von Musik gewidmet. Das Interesse zielt hier insbesondere auf die Polyphonie und Komplexität musikalischer Zeichen, auf Johann Sebastian Bachs Kompositionstechnik und seine Kunst der Fuge mit einem Ausblick auf die Folgen für die klassische Musik bis hin zu Arnold Schönberg, aber auch auf die afrikanischen Wurzeln des Blues und die Entwicklung bis zum Jazz sowie auf intermediale Formen im Übergangsbereich von Sprechen und Gesang etwa in Rap Songs. Schließlich wirft derAutor noch einen Blick auf das Verhältnis von Poesie, Musik und Politik, indem er das ‘ politische Lied ’ etwa bei Leonard Cohen und Bob Dylan sowie, im deutschen Sprachraum, Wolf Biermann auf dessen semiotische Dimensionen hin untersucht. Die eingangs nur angerissenen theoretischen Grundlagen, Implikationen und Voraussetzungen der Dynamischen Musiksemiotik entfaltet dann der dritteTeil, der das Zeichen aus musikalischer Perspektive definiert, die musiksemiotische Relevanz der Zeichenklassifikation bei Charles Sanders Peirce herausarbeitet, musikalische Zeichen als Diagramme exponiert, wie sie sich etwa in Partituren präsentieren, oder als Codes, wie sie in der Kommunikation mit Musik ihren Niederschlag finden. Die ‘ dynamische Modellbildung ’ wird im abschließenden Kapitel noch einmal für die Musiksemiotik fruchtbar gemacht, indem deren Ebenen und Bewegungstypen (wie Kinematik, Dynamik, Symmetrie, Fraktalität der Töne) unterschieden werden. Auf dieser Grundlage beschreibt der Autor mit Modellkonzepten der Dynamischen Systemtheorie Phänomene der Melodie, die Dynamik der Fuge und quasi-narrative Strukturen in musikalischen Werken und deren dynamischen Äquivalente. Damit dient die Musiksemiotik neben der Visuellen Semiotik und der Semiotik der sprachlichen Formen dem Verfasser als ein weiterer Grundpfeiler seiner umfassenden (und 372 Ernest W. B. Hess-Lüttich (Berlin/ Kapstadt) in einer Reihe von Büchern und in vielen Einzelstudien entwickelten) Argumentation für die Neuorientierung der von ihm anvisierten Allgemeinen Semiotik, zu der das hier vorgelegte Buch eine Fülle von Anregungen bietet. Den Rezensenten hat aufgrund der Analysen konkreter Beispiele vor allem der Mittelteil der ‘ Angewandten Semiotik ’ fasziniert, aber er empfiehlt auch, die Anstrengung der Lektüre des theoretisch anspruchsvollen dritten Teils nicht zu scheuen, weil er überkommenes (und bequemes) Schubladendenken, wie es zuweilen in hermeneutischen versus formalen Ansätzen zutage tritt, zu überwinden geeignet erscheint. Literatur Adorno, Theodor W. [1963] 1997: “ Fragment über Musik und Sprache ” , in: id.: Gesammelte Schriften, vol. 16: Musikalische Schriften I-III, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 251 - 256 Behr, Michael 1983: Musiktheater. Faszination Wirkung Funktion, Wilhelmshaven: Heinrichshofen Faltin, Peter 1985: Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache, Aachen: Rader Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2008 a: “ Tristan: Sprachliche Komposition und musikalische Bedeutung. Vier Variationen des Themas in Oper/ Theater, Novelle, Film und Fernsehen ” , in: Michael Szurawitzki & Christopher M. Schmidt (eds.) 2008: Interdisziplinäre Germanistik im Schnittpunkt der Kulturen. Festschrift für Dagmar Neuendorff, Würzburg: Königshausen & Neumann, 371 - 382 Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2008 b: “ Benjamin Britten ’ s Opera Death in Venice. The Language of Music, Gaze, and Dance ” , in: Jürgen E. Müller (ed.) 2008: Media Encounters and Media Theories, Münster: Nodus, 171 - 184 Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2009: “ Intermediale Übersetzung: Sprache und Musik ” , in: Ernest W. B. Hess-Lüttich & Joachim Warmbold (eds.) 2009: Empathie und Distanz: Zur Bedeutung der Übersetzung aktueller Literatur im interkulturellen Dialog, Frankfurt am Main: Peter Lang, 43 - 73 Wildgen, Wolfgang 1994: Process, Image, and Meaning. A Realistic Model of the Meanings of Sentences and Narrative Texts (= Pragmatics and Beyond, New Series No. 31), Amsterdam: John Benjamins Wildgen, Wolfgang 2013: Visuelle Semiotik. Die Entfaltung des Sichtbaren. Vom Höhlenbild bis zur modernen Stadt, Bielefeld: tarnscript Wildgen, Wolfgang 2018: Musiksemiotik. Musikalische Zeichen, Kognition und Sprache, Würzburg: Königshausen & Neumann Jochen A. Bär 2015: Hermeneutische Linguistik. Theorie und Praxis grammatischsemantischer Interpretation. Grundzüge einer Systematik des Verstehens, Berlin/ München/ Boston: Walter de Gruyter, 864 pp., 154,95 € , ISBN 978-3-11-040511-8 Mehr als 15 Jahre habe er daran gearbeitet, bekennt Jochen A. Bär im Vorwort zu seinem opus magnum über Hermeneutische Linguistik - und das Ergebnis kann sich wahrlich sehen lassen. Der Heidelberger Germanist versteht sich als ‘ Kulturlinguist ’ . Er hat nach seinem Examen an der Arbeitsstelle Frühneuhochdeutsches Wörterbuch des Germanistischen Seminars der Universität Heidelberg gearbeitet und nebenbei seine Doktorarbeit über die Sprachreflexion in der deutschen Frühromantik geschrieben, die dort von Oskar Reichmann betreut wurde. Bei ihm habilitierte er sich schließlich auch mit dem vorliegenden voluminösen Werk, das ihm (neben seinen anderen Arbeiten) alsbald den Ruf auf eine Professur für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Vechta eintrug. Es erhebt den Anspruch, einen kulturwissenschaftlich integrierten Ansatz zur Explikation der Recent Readings - Reviews 373