Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
92
2024
431-2
Texte und Aneignungskulturen
92
2024
Jan-Oliver Decker
Hans Krah
An essential part of one’s own self is a distancing from oneself, which enables the space for the appropriation of another and by another. Based on this thesis, we want to show in the following how such appropriation phenomena can be fundamentally grasped and described using the example of Little Britain (BBC 2003–2006). In order to accurately describe the references in and around Little Britain and its appropriations in terms of textual science, to explain the cultural references, and also to reflect on the critique of Little Britain, in the following we will (i) first explain the basics of cultural and media semiotic analysis, (ii) concomitantly refer to Little Britain, (iii) present variants of appropriation and relevant categorizations and outline a case study, and finally (vi) undertake our own evaluation of Little Britain within cultural studies in the current scholarly discourse and derive and focus on aspects that seem relevant to us in this context. The removal of the seasons of Little Britain from BBC iPlayer, Netflix and BritBox seems to us as part of a culturally critically initiated protest culture of ‘cancel culture’ in essential points inappropriate and itself an object phenomenon of a cultural discourse, which should be considered analytically. Overall, our contribution would like to provide an introduction to semiotic procedures, approaches, and research interests in cultural studies of mediality, and to sensitize us to the relevance of the diversity of media appropriations in contemporary cultures through the analysis of Little Britain.
kod431-20007
die Gestaltung der Erzählung einbezogen werden. Ziel dieses Beitrags ist es, einen ersten Einblick in eine mögliche Typologie und einen Überblick über die Breite des Spektrums multimodal arbeitender zeitgenössischer Kinder- und Jugendliteratur zu geben. Der nächste Beitrag von Dennis Gräf beschäftigt sich mit Instagram-Posts, die (i) aus der Vergangenheit der analogen Fotografie sowie (ii) aus der DDR stammen und schlägt anhand dieser Beispiele (iii) ein heuristisches Verfahren zur Analyse von Instagram-Posts vor, das sich grundsätzlich an einem semiotischen Ansatz orientiert. Auf dieser Grundlage wird (iv) die Funktion alter DDR-Bilder innerhalb von Erinnerungsdiskursen untersucht und (v) die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen zum Verhältnis von analogen Medienprodukten zu digitalen Netzwerken und von Zeichen der Vergangenheit zu Medienkanälen der Gegenwart geklärt. Der folgende Beitrag von Marco Krause öffnet den Blick für sub- und teilkulturelle Aneignungsformen von Narrativen der Hip-Hop-Szene. Er widmet sich dem Thema des szenespezifischen Produktkonsums. Kern ist die strukturelle Charakterisierung des szenespezifischen Produktkonsums im Kontext der Hip-Hop-Szene, die auf einer durchgeführten ethnographischen Studie basiert. Dabei wird der Zusammenhang zwischen dem Konsum szenespezifischer Produkte und der Herausbildung interner Strukturen der Hip- Hop-Szene aufgezeigt. Einen vergleichbaren Ausgangspunkt nimmt auch der anschließende Beitrag von Paul Eisewicht, Pao Nowodworski und Pauline Kortmann. Die Grundthese des Beitrags ist, dass in modernen Gesellschaften Zugehörigkeit weniger eine gegebene soziale Entität ist, sondern vielmehr permanent performativ konstruiert und kontinuierlich gemanagt werden muss. In der verwirrenden Vielfalt moderner Zugehörigkeitsangebote, die je nach individuellen Vorlieben, Relevanzen und Interessen gesucht, angeeignet und auch wieder verändert werden und die sich nicht per se am Körper ablesen lassen, ist es typischerweise notwendig, mentalen Zugehörigkeiten materiellen Ausdruck zu verleihen. In der modernen Konsum- und Mediengesellschaft geschieht dies durch den Erwerb und die Nutzung entsprechender Konsumgüter sowie deren mediale Dokumentation und Präsentation. In ihrem Beitrag konzentrieren sich Paul Eisewicht, Pao Nowodworski und Pauline Kortmann auf ein bislang wenig beachtetes, aber szenetypisches Narrativ im Skateboarding, nämlich die misslungenen Tricks. Anhand eines Fallbeispiels rekonstruieren sie die Bedeutung der medialen Darstellung des Scheiterns im Skateboarding und ordnen dieses als Zeichen freiwilliger individualisierter Risikoarbeit in der Streetart-Sportart Skateboarding ein. Der Band wird mit dem Beitrag von Julia Wustmann und Angelika Poferl beschlossen, der mit seiner Untersuchung des Frauenbildes der Fridays For Future-Bewegung einen Bogen zurück zum Artikel von Kathrin Fahlenbrach schlägt. Der Artikel konzentriert sich auf die zentralen weiblichen Demonstranten der Fridays For Future-Bewegung, die als Frauen an vorderster Front untersucht werden. Aufgrund ihrer Effektivität nehmen sie eine Scharnierposition zwischen Organisation und medialer Kommunikation ein. Daher ist es notwendig zu untersuchen, wie sich das Phänomen der Frontfrauen der Fridays For Future-Bewegung aktuell behauptet und welche symbolische Rahmungen mit ihm verbunden sind. Um das Phänomen der Frontfrauen historisch einordnen zu können, wird ein historischer Rückblick auf das Engagement von Frauen im Umwelt- und Naturschutz gegeben. Im Anschluss daran werden die sozialwissenschaftlichen Debatten zu Gender, Mediale Transformationen und/ als Innovation narrativer Formate 5 Klima und sozialen Bewegungen zusammengefasst, um die Untersuchung zu begründen. Nach einer exemplarischen Analyse, die sich auf eine spezifische Repräsentationsweise von Greta Thunberg und ihrer Kontextualisierung in Twitter-Postings bezieht, wird schließlich diskutiert, warum die Frontfrauen der Fridays For Future-Bewegung für die Etablierung einer neuen Art von sozialer Figur stehen. Dieser Beitrag verdeutlicht darüber hinaus, dass wir die Beiträge dieses Bandes auch als Bausteine einer Semiotik verstehen, die Media Literacy und/ oder Medienkompetenz fokussiert und dazu beiträgt, methodische und didaktische Konzepte des Empowerments, der informationellen Selbstbestimmung, des informellen und formellen Lernens und der Aneignung von Welt durch Medien zu reflektieren und damit zu ermöglichen. References Decker, Jan-Oliver, Martin Hennig & Hans Krah 2023: “ Digitalität - Dispositiv / Methoden / Analyse. Bestandsaufnahme aus mediensemiotischer Perspektive ” , in Krah & Seefried (eds.) 2023, 167 - 201 Lotman, Jurij M. 1993: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink Kimminich, Eva. 2023: Symbolische (Ver)formungen. Einführung in eine kultursemiotische Beobachtung gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Baden Baden: Ergon Krah, Hans 2023: “ Multimodalitäten - Differenzierungen / Konturierungen / Kontexte Bestandsaufnahme aus textsemiotischer Perspektive ” , in: Krah & Seefried (eds.) 2023, S. 21 - 92 Krah, Hans & Romina Seefried 2023 (eds.): Multimodalität als ‘ Medialität zweiter Ordnung ’ . Lesarten eines text-bild-medienübergreifenden Dispositivs (= Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik, hrsg. v. Martin Nies), SKMS | Online - Open Access Journal 12 (2023) 6 Jan-Oliver Decker / Eva Kimminich K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Texte und Aneignungskulturen Ein semiotischer Ansatz am Beispiel Little Britain Jan-Oliver Decker (Passau) & Hans Krah (Passau) Abstract: An essential part of one ’ s own self is a distancing from oneself, which enables the space for the appropriation of another and by another. Based on this thesis, we want to show in the following how such appropriation phenomena can be fundamentally grasped and described using the example of Little Britain (BBC 2003 - 2006). In order to accurately describe the references in and around Little Britain and its appropriations in terms of textual science, to explain the cultural references, and also to reflect on the critique of Little Britain, in the following we will (i) first explain the basics of cultural and media semiotic analysis, (ii) concomitantly refer to Little Britain, (iii) present variants of appropriation and relevant categorizations and outline a case study, and finally (vi) undertake our own evaluation of Little Britain within cultural studies in the current scholarly discourse and derive and focus on aspects that seem relevant to us in this context. The removal of the seasons of Little Britain from BBC iPlayer, Netflix and BritBox seems to us as part of a culturally critically initiated protest culture of ‘ cancel culture ’ in essential points inappropriate and itself an object phenomenon of a cultural discourse, which should be considered analytically. Overall, our contribution would like to provide an introduction to semiotic procedures, approaches, and research interests in cultural studies of mediality, and to sensitize us to the relevance of the diversity of media appropriations in contemporary cultures through the analysis of Little Britain. Keywords: text semiotics, cultural semiotics, (cultural) appropriation, media analysis, cultural studies, semiosphere, materiality, self and external reference, Little Britain, ‘ cancel culture ’ , 1 Texte und ihre kulturellen Fortschreibungen - zum Einstieg Das Komiker-Duo Matt Lucas und David Walliams ist bis heute vor allem durch seine Performance in der Sketch-Serie Little Britain (BBC 2003 - 2006) bekannt, die als eigenständige mediale Konstruktion einen Blick auf das United Kingdom wirft, der abseits imperialer Größe und Macht das Abseitige und das Abweichende, das Aparte und das Absonderliche fokussiert. Erkennbar formt Little Britain auf diese Weise einen eigenen medialen Weltentwurf, eine rein mediale Konstruktion, die einerseits unzweifelhaft Bezüge zur britischen Gegenwartskultur, ihren Motiven, Narrativen und Topoi aufweist, die hier satirisch verarbeitet werden. Andererseits formt der Erfolg der Sketch-Serie ein eigenes Paradigma Little Britain aus, das bis heute mit den verkörpernden Schauspielenden, ihren Persönlichkeiten und Images verknüpft wird und als eigener medialer Kosmos Little Britain sowie als eigenständiger, schräger Blick auf die britische Kultur im kulturellen Wissen nicht nur Großbritanniens gespeichert ist. Schon hier zeigen sich die vielfältigen Bezüge und Bezugnahmen, die sowohl im medialen Kosmos von Little Britain verarbeitet werden als auch umgekehrt der unterschiedlichen kulturellen und zeittypischen Kontexte, in denen der Weltentwurf von Little Britain vielfältige Bedeutungen erlangen kann. Mit den folgenden Ausführungen möchten wir deshalb versuchen, aus einer medien- und kultursemiotischen Perspektive Kategorien und Strukturen zu identifizieren, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Verarbeitungen sowohl von Kultur in der Serie als auch der Serie in Kultur(en) differenzieren und analysieren lassen. Dabei wollen wir an ausgewählten Beispielen ein textkritisches Close-Reading durchführen, das zunächst einmal genaue Befunde an konkreten medialen Strukturen erhebt, um diese dann auf größere Korpora und kulturelle (Teil-)Systeme zu beziehen. Insofern wenden wir zunächst einen engen Textbegriff an, der sich dem konkreten Medienprodukt annähert, um dann in einem weiten Textbegriff die einzelnen Beispiele in systemischen Zusammenhängen zusammenzudenken und die Verallgemeinerbarkeit unserer Ergebnisse zu skizzieren. Dabei leiten uns primär Fragen nach den Formen und den Referenzen der verarbeiteten Selbst- und Fremdbilder, mit deren Hilfe wir die Leistungen des mediensemiotischen Ansatzes für die Analyse kulturwissenschaftlich relevanter medialer Artefakte aufzeigen möchten. Im Folgenden werden wir uns dabei nicht nur mit der Aneignung von kulturellen Referenzen in Little Britain auseinandersetzen, sondern auch einen Blick auf die Aneignung von Little Britain in der kulturwissenschaftlichen Forschung werfen. Die Frage der Referenz ist für uns nicht nur eng mit der Frage der Textgrenze und der prinzipiellen Hypertextualität und Simultaneität unterschiedlichster medialer Formate und Verarbeitungen von Kultur in Little Britain, sondern auch mit der Aneignung von Little Britain selbst in der Kultur verknüpft. Zur Modellierung dieser systemischen Zusammenhänge werden wir dabei Jurij M. Lotmans Modell der Semiosphäre aufgreifen und anwenden (cf. Lotman 1990). Dabei bildet der mediale Weltentwurf in Little Britain einen Bedeutungskern aus, der an der Peripherie von anderen Texten verarbeitet wird. 1.1 I ’ m with Stupid (2006) - Little Britain featuring Pet Shop Boys Eine Verarbeitung des medialen Weltentwurfs der Sketch-Serie Little Britain findet sich beispielsweise im Musikvideo I ’ m with Stupid (UK 2006, Rob Leggatt) zum gleichnamigen Song der Pet Shop Boys. Das Video behandelt die spezielle Beziehung zu einem Dummen, die als Beziehung zwischen dem damaligen Premier Tony Blair und dem US-Präsidenten George W. Bush in diversen Diskursen über das Video kolportiert wird. Matt Lucas und David Walliams wenden im Video ein Verfahren an, wie es typisch für den Erzählstil der Serie Little Britain ist. Mit Hilfe scheinbar einfacher Lowtechverkleidungen und Requisiten wird ein ausgefeiltes ästhetisches Konzept vermittelt, bei dem ein Spiel zwischen Selbst- und Fremdreferenz, Aneignung und Tribut, Medialität und Materialität auf die Spitze getrieben wird: Lucas und Walliams verkörpern Neil Tennant und Chris Lowe von den Pet Shop Boys und simulieren computergenerierte digitale Ästhetiken aus deren Videos Go 8 Jan-Oliver Decker / Hans Krah West und Can You Forgive Her (beide UK 1993, Howard Greenhalgh). Sie führen diesen Tribut in einer Art Casting auf einer Bühne vor den Pet Shop Boys auf, die gefesselt im Parkett sitzen, die Show also über sich ergehen lassen müssen. Die handgemachte Simulation betont dabei den materialen Aspekt als Element der eigenen Künstlerhandschrift von Lucas und Walliams, die sich die fremde Ästhetik der Pet Shop Boys auf ihre individuelle Weise meisterhaft aneignen. Lucas und Walliams treten hier gerade nicht in einer ihrer Rollen aus Little Britain auf, die hier fortgeschrieben werden würden, sie inkorporieren diese aber (i) selbst als Ikonen. Einbezogen werden hier als ‘ Text ’ zunächst also die Akteure und das mit ihnen aufgerufene Wissen über ihr textuelles ‘ Starimage ’ (Cf. zur Starimageanalyse einführend Decker 2005). Dies korreliert (ii) damit, dass sie auch hier das machen, wofür sie bekannt sind: in Rollen zu schlüpfen, wobei diese Rollen bereits durch den Liedtext als irgendwie ‘ anders ’ , eine spezifische Semantik von “ stupid ” , ausgewiesen werden. Ebenfalls wird (iii) deutlich gemacht, dass es sich um Rollen handelt, dass hier also explizit (auf einer Bühne) performt wird, wobei diese Rollen zudem auf der Ebene der Akteure mit Tennant und Lowe identifiziert werden können - diese sind es, die eigentlich als Interpreten in ihren Musikvideo zu erwarten wären. Die beiden Pet Shop Boys werden nun zu Zuschauern und in dieser Rolle wird ihnen ein Bild ihrer selbst vorgehalten, dessen sie sich (iv) nicht erwehren können. Auch wenn sie körperlich gefesselt sind, scheinen sie nicht von dieser Performance gefesselt zu sein. Das Spiel muss nicht jedem gefallen, zumindest übt es auch Gewalt aus, bedarf also einer spezifischen Rezeption. 1.2 The Big Night In (2020) - Little Britain goes Covid-19 Ein weiteres Beispiel einer spezifischen Aneignung des Weltentwurfs von Little Britain findet sich anlässlich der Entwicklungen der Covid-19-Pandemie 2020. BBC 1 hat am 23.04.2020 einen “ Telethon ” genannten Spendenmarathon mit dem Titel The Big Night In für Comic Relief im Internet veranstaltet, 1 bei dem auch ein ca. fünfminütiges Video von Lucas und Walliams gesendet wurde, das bis heute abrufbar ist (cf. https: / / www.youtube.com/ watch? v=c-OwVBuYNLM). In 17 Einstellungen, die meisten davon im Splitscreen, werden zentrale Figuren aus den bisherigen Staffeln von Matt Lucas und David Walliams in 13 kurzen Sketchen wieder in Szene gesetzt. Der Splitscreen zeigt Matt Lucas und David 1 Mitte April 2020 waren die Folgen der Covid-19-Pandemie gerade auch in Großbritannien bereits dramatisch: Am 23.04.2020 wurden offiziell nach den Daten der WHO 4.583 neue Fälle und 843 neue Todesfälle gemeldet. Faktisch gab es im Vereinigten Königreich wohl zwischen Mitte März und Mitte Mai eine Übersterblichkeit von ca. 62.000 Menschen, von denen ca. 48.000 Covid-19 zugeschrieben werden (cf. BBC, https: / / www.bbc. com/ news/ health-52890515). Am 5. April hielt Elizabeth II. ihre bisher vierte Rede an die Nation und rief die Bevölkerung dazu auf, die Ausgangsbeschränkungen einzuhalten; am selben Tag wurde Boris Johnson mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert. Der Telethon am 23.04.2021 wurde von Comic Relief durchgeführt, einer Wohltätigkeitsorganisation, die auf Initiative von Jane Tewson 1985 angesichts der Hungerkatastrophe in Äthiopien gegründet wurde und besonders seit 1986 am alle zwei Jahre durchgeführten “ Red Nose Day ” Spendengelder durch einen Fernsehmarathon einsammelt. Dabei wird das Prinzip der Stilfigur ‘ comic relief ’ aufgegriffen, einen ernsten und tragischen Zusammenhang durch eine humoristische Szene zu durchbrechen und damit durch zahlreiche Sketche mit Prominenten und Künstler*innen die Zuschauenden zum Spenden zu motivieren. Seit 1986 haben in Großbritannien zahlreiche Stars in vielfältigen humoristischen Szenen bisher über eine Milliarde britische Pfund Spendengelder eingesammelt. Hervorzuheben ist, dass jedes gespendete Pfund in Projekte fließt und die Kosten der Organisation von Sponsoren und Zinserträgen noch nicht verwendeter Spendengelder getragen werden. Texte und Aneignungskulturen 9 Walliams dabei je isoliert in einer Hälfte des Splitscreens vor neutral weißem Hintergrund. Der Splitscreen zeigt einerseits die Notwendigkeit an, sich im Lockdown isoliert voneinander in (s)einem Zuhause aufzuhalten. Andererseits ermöglicht die durch den Splitscreen im Bild inszenierte Grenze zwischen den beiden Teilbildern im Filmbild auch, diese Grenze durch die Inszenierung vor der Kamera in der Mise en Scène und durch die Montage zu überschreiten. Vorgeführt werden Austauschbeziehungen zwischen den beiden Teilbildern durch Requisiten-Transfer und eine scheinbar direkte Kommunikation zwischen den beiden Personen durch ihre Körperhaltung(en), Gestik(en) und Mimik(en). Die Bedeutung dieser selbstreflexiven Inszenierung ist klar: Das Medium inszeniert einen Kontakt zwischen den eigentlich getrennten Personen und diese Bedeutung lässt sich auch auf das Medium des Videos selbst übertragen, das erstens erneut die ikonischen Figuren der Sketche wieder auf die Bildschirme und in Kontakt mit den Zuschauenden bringt und damit zweitens durch die ausgelösten Emotionen und guten Gefühle die Zuschauenden dazu bewegt, Geld an Comic Relief zu spenden. Die Möglichkeiten der medialen Inszenierung sollen also Interaktionen zwischen Medium und Zuschauenden ermöglichen. In der vorletzten Einstellung erfolgt dann auch direkt durch die Kamera hindurch folgender, an die Zuschauenden adressierter Appell durch eine männliche Person: “ This was created as a part of The Big Night In and we hope you like the videos and we also hope that you click the link below and make a donation! ” Als Gegenpart einer erfolgreichen und direkten Kommunikation sollen die Zuschauenden per Maus-Click Geld spenden. Auch die Kommentare unter dem Video bei YouTube sollen hier Raum für eine direkte Kommunikation zwischen den Zuschauenden geben. In der Mise en Scène sind nun vor allem Requisiten und Kostüme zu sehen, die als ‘ do it yourself ’ erscheinen: Unter anderem werden Haare aus Klopapierpapprollen oder aus ausgeschnittenen, bemalten und an die Stirn geklebten Pappen oder bemalten Damenstrümpfen gebildet, Brillen werden aus Draht geformt oder auch aus Pappe ausgeschnitten und ebenfalls bemalt und Kleider werden durch vor den Körper bis zum Hals gehaltene Pappen mit darauf skizzierten Kleidungen dargestellt. Diese Inszenierung suggeriert auf den ersten Blick eine mit einfachsten Mitteln selbst durch die im Bild abgebildeten Personen hergestellte Verkleidung. Sie zeigt dabei aber durch die Erkennbarkeit der jeweils verkörperten Figuren - die Reduktion der Requisiten auf wesentliche Schemata der Person (Haare, Gesicht, Kleidung) basiert auf kondensierenden Reduktionen komplexerer Figurenmerkmale, die auf das Little Britain-Universum referieren und es als bekannt im kulturellen Wissen voraussetzen - den ikonischen Status an, den zahlreiche Figuren des Little Britain-Universums bekommen haben: Andy Pipkin im Rollstuhl und sein Betreuer Lou Todd, die abgehalfterte Oberschichtsfrau Bubbles, die ‘ Ladys ’ Florence Rose und Emily Howard, der Premierminister (Anthony Head) und Sebastian Love, der Hypnotiseur Kenny Craig, Mr. Mann und der Ladenbesitzer Roy, Ray McCooney mit seiner Flöte (hier ein zerbrechender Grissino), Marjorie Dawes von den Fat Fighters, der schwule Daffyd und die Wirtin Myfanwy (Ruth Jones), Carol Beer vor ihrem Computer, Vicky Pollard und ein Constable, der kleine Dennis Waterman, Judy Pike und die sich übergebende xeno- und homophobe Maggie Blackmoor. Die scheinbar einfachen Kostüme und Requisiten stehen zudem in Kontrast zur doch filmtechnisch guten Qualität der Videoproduktion: Unterlegt wird ein durchlaufender musikalischer Soundtrack, die Sketche wechseln durch auf- 10 Jan-Oliver Decker / Hans Krah wändige Wischblenden in alle Richtungen des Bildes. Ganz zu Beginn des Videos imitiert das filmische Material auch die Zeilen und Störungen eines gesendeten und empfangenen Fernsehbildes, verweist also vom eigentlichen Distributionsmedium Internet auf das ursprüngliche TV-Format und markiert sich zugleich auch als medial gemachtes Produkt. 2 Die Bedeutung ist auch hier offenkundig: Die Erkennbarkeit der prototypischen Figuren, die gekonnte Reduktion auf diese Figuren mit einfachsten Materialien und die gleichzeitig komplexen Austauschbeziehungen zwischen den Darstellenden und Figuren im Splitscreen zeigen den Zuschauenden die Wertigkeit des Inszenierungskonzepts an und signalisieren, dass die dem Video zugrundeliegende, vorausgehende, komplexe gedankliche Arbeit wichtiger ist als die konkrete Ausführung der Requisiten und Kostüme in Zeiten des Lockdowns. Semiotisch gesprochen könnte man sagen, dass die Requisite hier chiffre-artig ein Universum anzeigt und indiziert, das sowohl die realen Bedingungen des Lockdowns als auch sich selbst als mediales Universum reflektiert. So sagt beispielsweise Emily (Lucas) im dritten Sketch als Reaktion auf Florences (Walliams) Eröffnung “ I ’ m a lady ” (ab 1: 26): “ I ’ m also a lady and I ’ m not sure we should be doing this sketch anymore ” , nimmt damit also auf die Kritik Bezug, die einige Figuren als misogyn und transsowie homophob wahrgenommen hat. Das Spannungsfeld, das sich hier auf den ersten Blick umreißen lässt, kann man also auf der Ebene der Gemachtheit des medialen Artefakts Video zwischen den Polen Materialität und Medialität bestimmen. Auf der Ebene der Kommunikation mit den Zuschauenden und der Rezeption bewegt sich das Spannungsfeld des Videos zwischen den Polen Fremd- und Selbstreferenz und indiziert dadurch kulturellen Wandel, der sich in der Bewertung der Gegenwart des Lockdowns durch die Figuren in den Sketchen des Videos und der Bewertung der Figuren des Little Britain-Universums durch die Diskurse der Gegenwart niederschlägt. 1.3 Auswertung: Erkenntnisinteressen Wie das Musikvideo zu ‘ I ’ m With Stupid ’ zeigt, existiert das im Video zu The Big Night In zugrunde gelegte ästhetische Konzept als ein ausgearbeiteter, eigener Erzählstil auch jenseits der Serie Little Britain schon länger. Im Unterschied zum Video der Pet Shop Boys eignen sich aber Lucas und Walliams im Video zu The Big Night In allerdings nicht die fremde Ästhetik der Pet Shop Boys, sondern ihre eigene mediale Vergangenheit in Little Britain selbstreflexiv an. Beide Beispiele zeigen damit deutlich, dass Little Britain selbst ein Paradigma auf der Ebene der Inszenierung und des Inszenierten darstellt. Auf beiden Ebenen wird dabei durch die Aneignung des eigenen Selbst gezeigt, dass der kohärent ins Paradigma ‘ Abweichung ’ integrierte Bruch mit der eigenen ästhetischen und ideologischen Ordnung wesentlich für das Paradigma ‘ Little Britain ’ ist. Zum eigenen Selbst gehört wesentlich eine Distanzierung von sich selbst dazu, die den Raum für die Aneignung eines Anderen und durch ein Anderes ermöglicht. Ausgehend von dieser These wollen wir im Folgenden zeigen, wie am Beispiel 2 Die Gemachtheit zeigt sich gerade auch in den Austauschbeziehungen zwischen den Bildteilen im Splitscreen. Hier wird im Bild ein Prinzip verdeutlicht, das sonst in konventionellen a/ v-Formaten verschleiert wird, nämlich die Zusammensetzung des filmischen Syntagmas aus einzelnen bewegten Bildern, die als zusammenmontierte Versatzstücke eine übergeordnete Bedeutung produzieren, die den einzelnen Bildfolgen allein so nicht zukommt. Texte und Aneignungskulturen 11 von Little Britain solche Aneignungsphänomene grundsätzlich zu fassen und zu beschreiben sind. Um die Bezüge in und um Little Britain und seine Aneignungen textwissenschaftlich exakt zu beschreiben, die kulturellen Referenzen zu erklären und auch die Kritik an Little Britain zu reflektieren, wollen wir im Folgenden (i) zunächst Grundlagen kultur- und mediensemiotischer Analyse erläutern, wie sie bei der Skizzierung der beiden Eingangsbeispiele bereits zum Einsatz kamen, (ii) darauf begleitend Little Britain beziehen, (iii) Aneignungsvarianten und relevante Kategorisierungen vorstellen und ein Fallbeispiel skizzieren und schließlich (vi) innerhalb der Kulturwissenschaften eine eigene Bewertung von Little Britain im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs vornehmen und uns hierbei als relevant erscheinende Aspekte ableiten und fokussieren. Das Entfernen 3 der Staffeln von Little Britain von BBC iPlayer, Netflix and BritBox scheint uns als Teil einer kulturkritisch initiierten Protestkultur ‘ Cancel Culture ’ - dies sei vorweggenommen - in wesentlichen Punkten unangemessen und selbst ein Gegenstandsphänomen eines kulturellen Diskurses zu sein, den es analytisch zu betrachten gälte. Unser Beitrag möchte damit insgesamt den Einstieg in semiotische Verfahren, Zugänge und Forschungsinteressen der kulturwissenschaftlichen Medialitätsforschung ermöglichen und durch die Analyse von Little Britain für die Relevanz der Vielfalt medialer Aneignungen in den Kulturen der Gegenwart sensibilisieren. 2 Kulturelle Aneignungspraktiken und Semiotik - Grundlagen Aus einer semiotischen Perspektive im Allgemeinen lässt sich bekanntermaßen jede Kommunikation als epochen- und kulturspezifischer Austausch von Zeichen beschreiben, die eine Ausdrucksseite (Signifikant) und eine Inhaltsseite (Signifikat) mit einem Objekt in der Realität (Referent) kombinieren (triadisches Zeichenmodell) und sich in den Dimensionen Kode (Syntax), Bedeutung (Semantik) und Verwendung (Pragmatik) erklären lassen (cf. Krah 2017a). Ausgangspunkt jeder kultursemiotischen Betrachtung kultureller Phänomene sind darauf aufbauend im Besonderen konkrete Texte. Mit Texten sind im mediensemiotischen Verständnis alle bedeutungstragenden Medienprodukte gemeint, unabhängig von der konkreten medialen Ausprägung. Sie lassen sich in ihren wesentlichen Qualitäten und Parametern basierend auf der Differenz von Signifikat und Signifikant in den Dimensionen Textualität (2.2), Medialität (2.3) und Kulturalität (2.4) beschreiben und hinsichtlich spezifischer Formen ihrer Aneignung (3.1) bestimmen. 2.1 ‘ Text ’ als Grundeinheit Text ist als strukturelles Gebilde zu verstehen, das sich aus der Grundbestimmung des Wortes ‘ Weben ’ , ‘ Gewebe ’ , ‘ Zusammenhang ’ ergibt. Jeder Text ist als konkrete Manifestation zu verstehen, bei der zwei zentrale, grundlegende Operationen durchgeführt werden: Zeichen werden (i) selegiert; aus den möglichen Alternativen werden aus dem jeweiligen Paradigma nur einige ausgewählt. Zeichen werden (ii) kombiniert - Produkt dieser Kombination ist ein Syntagma. Hinsichtlich der syntagmatischen Achse lassen sich 3 Cf. Erklärung der BBC vom 9. Juni 2020 unter https: / / www.bbc.com/ news/ entertainment-arts-52983319. 12 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Texte segmentieren, hinsichtlich der paradigmatischen Achse die Segmente klassifizieren, um so die Ordnung zu erkennen, die seiner Struktur zugrunde liegt. 2.1.1 Oberflächen- und Tiefenstruktur Zunächst sei die Unterscheidung von Discours und Histoire in Erinnerung gerufen. Sie ist die zentrale, da elementare Unterscheidungsdimension bei der Betrachtung von Texten. Die Ebene des Discours bezieht sich auf die medial bedingte Oberflächenebene und meint die konkret materiell vorliegende Abfolge beziehungsweise Anordnung der Signifikanten. Mit dem Begriff Discours wird also die an die Informationskanäle des Mediums gebundene, medienspezifische Präsentation bezeichnet. Der Discours differiert von Medium zu Medium: Jedes Medium bringt aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Informationskanäle Texte hervor, die sich auf der medial bedingten Oberflächenebene des Discours unterscheiden. Die Ebene der Histoire ist ganz generell als die vom Discours abstrahierbare semantische Tiefenstruktur zu verstehen. Der Begriff ‘ abstrahierbar ’ bezieht sich auf den Zeichenstatus der Oberflächenebene, der es erlaubt, diese Oberfläche als Oberfläche, also als komplexen Signifikanten eines Signifikats aufzufassen. Als Tiefenstruktur beschreibt die Histoire, was vermittelt wird. Bei der Analyse von Texten ist der Discours deshalb zunächst entscheidend, da sich nur über ihn als primär und empirisch Vorliegendes Bedeutung konstituiert: Auszugehen ist vom konkreten Zeichenmaterial und der konkreten Anordnung dieses Materials im Discours. Erst auf dieser Basis lässt sich in Abhängigkeit vom Discours die Histoire und damit die Bedeutung eines Textes rekonstruieren. 2.1.2 Textgrenzen Ein Text ist ein ‘ Ganzes ’ im Sinne eines Systems, nicht im Sinne einer (unteilbaren) ‘ Ganzheit ’ . Die Grenze eines Textes kann hinsichtlich verschiedener Dimensionen bestimmt werden: (i) Die pragmatisch-formale Textgrenze bezieht sich darauf, dass bei jedem Text auf der Discours-Ebene Anfang und Ende vorhanden sind oder in der Regel immer gesetzt werden können - unabhängig von der konkreten Textstruktur; auch ein Fragment ist in diesem Sinne ein in sich abgeschlossener Betrachtungsgegenstand ebenso wie einzelne Folgen einer Serie. 4 Während sich die pragmatisch-formale Grenze eher als äußere Textgrenze bestimmt, ergibt sich (ii) die textuell-semantische Grenze textintern aus der Kohärenz und Kohäsion der Textbefunde selbst. Sie bezieht sich also auf die semantische Geschlossenheit eines medialen Textes in genau dem Sinne, dass der Text als System von untereinander kohärent korrelierten Elementen und Strukturen zu verstehen ist, deren Funktion auf das jeweilige semantische System bezogen und für dieses zu bestimmen ist. (iii) Die kulturell-narrative Textgrenze impliziert die kulturellen Vorstellungen und Erwartungen, wie ein Textende (in einer bestimmten Textsorte) auszusehen hat. (iv) Die semantisch-ideologische Textgrenze verweist auf eine Abgeschlossenheit und ideologische Schließung, die durch die Textstrukturen selbst inszeniert ist, sodass der Text als genau diese Einheit erscheint und als ‘ Ganzheit ’ wahrgenommen wird. Werden hier die 4 Wo die Grenzen liegen oder zu setzen sind, wie also Anfang und Ende eines Textes zu bestimmen sind, kann unter Umständen durchaus zu diskutieren sein (Textformen im Internet wären hier etwa zu nennen, cf. Decker 2017a), oder ist eben nur heuristisch, also analytisch gerechtfertigt (cf. im Überblick Krah 2017d). Texte und Aneignungskulturen 13 Kategorien Anfang und Ende als textuelle Konstrukte kaschiert, lässt sich (v) eine metasprachlich-programmatische Textgrenze dann bestimmen, wenn die Kategorien Anfang und/ oder Ende im Text thematisch werden, wenn also selbst ein Diskurs über sie geführt wird. Grenzen können sich zudem im Text spiegeln und in textinternen Grenzen und Segmentierungsprinzipien abbilden. 2.1.3 Textkorpora Ausgangspunkt der semiotischen Beschäftigung mit medialer Kommunikation sind zwar zumeist Einzeltexte (im Sinne von ‘ autorisierten Einheiten ’ ), je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse geht es aber auch darum, Zusammenhänge über Textgrenzen hinweg zu erkennen. Bei der Analyse eines Textes kann es notwendig sein, die Grenzen des Textes zu verlassen und weitere Texte einzubeziehen, etwa wenn diese anderen Texte in einer explizit-markierten Beziehung zu ihm stehen oder wenn Zusammenhänge textuell indiziert sind. Solche transtextuellen Konzepte können vielfältiger Art sein. An der Schnittstelle von Text zu Umgebung sind zunächst seine paratextuellen Beziehungen situiert. 5 Transtextuelle Zusammenhänge können auf der Objektebene pragmatisch-semantisch bestimmt sein, 6 sie können heuristisch auf der Metaebene motiviert sein, wenn es um Textkorpora geht, die für eine bestimmte Fragestellung und ein bestimmtes Erkenntnisinteresse in ihren Grenzen definiert werden, sie können sich aus vielfältigen, auf verschiedenen Ebenen situierten Faktoren ergeben. 7 Für Little Britain umfasst das Textkorpus im Kern die von 2003 bis 2006 produzierten vier TV-Staffeln, deren ersten drei sich jeweils aus sechs bis acht Folgen zusammensetzen, die selbst wieder aus 13 bis 21 einzelnen Sketchen bestehen, und deren letzte als Special Little Britain Abroad aus zwei Folgen besteht. 8 Als Text lässt sich dieses Universum insgesamt sehen, ebenso können aber auch die einzelnen Staffeln, einzelne Folgen oder die sich durch die Figuren konstituierenden einzelnen Sketche innerhalb einer Folge als Einheiten im Sinne von 2.1.2 i) und ii) zugrunde gelegt werden. Zu differenzieren ist generell, ob eine paradigmatische oder eine syntagmatische Vorgehensweise, welche die Abfolge der einzelnen Staffeln, der einzelnen Folgen oder einzelner Sketche berücksichtigt, zugrunde 5 Als solche Paratexte gelten textinterne Teile wie Titel, Untertitel, Motti, Vorworte, Nachworte, Einleitungen und Ähnliches, die den Haupttext in seinem Verhältnis zu seiner kommunikativen und textstrukturierenden Einbettung betreffen, wozu auch die durch die jeweilige mediale Materialität bedingten Möglichkeiten wie Umschlag, Klappentext, Plattencover, DVD-Booklet zu zählen sind. Ebenso sind damit die außerhalb des Textes an “ privilegierten Orten pragmatischer Dimension ” (Genette 1993: 12) situierten Texte gemeint, die in direkter und expliziter Weise Bezug nehmen wie etwa Filmplakate oder Filmtrailer zu Film und als Leseanleitungen bzw. -strukturierungen fungieren. Schließlich kann hierunter auch die Beziehung eines Textes zu Vorstufen, Skizzen, Fassungen subsumiert werden. 6 So etwa im Bereich des Werbespots, wenn ein einzelner Spot Teil einer Kampagne ist und damit in den Kontext eines zusammenhängenden Rahmens gestellt wird, in dem seine Struktur zu situieren ist und aus dem heraus sich (zusätzliche) Bedeutungen erschließen können; so wenn (Werbe-)Texte Medienkonvergenzen bilden, also in andere Medien diffundieren (das Zusammenspiel von Werbespot und Printanzeige ist hier zu nennen oder Interaktionen solcher klassischen Medien mit dem Internet) und dieses Zusammenspiel und die jeweilige Funktion füreinander zu interpretieren sind. 7 So etwa Starimage, transmediales Erzählen, Genres, serielle Formate. 8 Um diesen Kern herum ließe sich das Korpus erweitern; so gibt es etwa bereits 2001 eine Radiosendung bei BBC Radio 4, 2008 wird Little Britain USA geschaltet. 14 Jan-Oliver Decker / Hans Krah gelegt wird. Für Little Britain lässt sich insgesamt konstatieren, dass die paradigmatische Dimension dominiert. Die konkrete Abfolge ist weniger relevant, ist aber dennoch auch partiell funktionalisiert. So etabliert sich in jeder Folge ein Rahmen, werden also Anfang und Ende als Anfang und Ende markiert. 9 So entwickeln sich die Geschichten, die über die einzelnen Staffeln beibehalten werden, wobei allerdings keine Entwicklung der Figuren in ihren personalen Merkmalen zu verzeichnen ist, sondern eine inszenatorische Veränderung im Sinne einer Steigerungs- und Überbietungsdramaturgie. Diese kann sich auch innerhalb einzelner Folgen bei Wiederaufnahmen der Charaktere finden. 10 Für einzelne Charaktere wird eine fortlaufende Geschichte im Sinne eines rekonstruierbaren chronologischen Bezugs der Sketche unterlegt. 11 So ergeben die fünf Sketche, in denen Ting Tong Macadangdang in der dritten Staffel in Folge eins, zwei, drei, vier und sechs erscheint, in dieser Reihenfolge eine fortlaufend zu denkende, die einzelnen Sketche rahmende Geschichte mit einem Endpunkt. 12 Auch da, wo es nicht um eine konkrete Reihenfolge einzelner Sketche geht, funktionalisieren manche Texte/ Sketche eine solche sekundär, indem sie mit dem Vorwissen und den Erwartungshaltungen operieren, die sich aus der Kenntnis der Vorgänger-Sketche kumulativ ergeben. 13 So relevant diese syntagmatisch orientierten Aspekte im Einzelnen sind, gerade auch, wenn es um die dramaturgische und inkorporierende Ebene der Sketche, um deren Modus des Humors, geht, so spielen diese auf ideologisch-semantischer Ebene eine untergeordnete Rolle; diese zentriert sich um eine statische Welt, die paradigmatisch organisiert ist. 2.2 Textualität Textualität meint die Möglichkeit von Texten, eigene Vorstellungen zu konstruieren. Entscheidend ist, was ein konkreter Text macht, und dies kann, abhängig von der jeweiligen Textsorte, durchaus etwas Anderes sein, als vom Sprachsystem oder generell von tradierten 9 In der ersten Staffel ist dieser zusätzlich durch einen jeweils ähnlichen Schlusssketch, auf den sich der Titel der Folge bezieht, besonders markiert. 10 So als Beispiel in Staffel zwei, Folge sechs, mit den drei Sketchen um Rachel und Nicola. Der dritte Sketch überbietet die bisherige Pointe, die darin besteht, dass auf dem Bild, das die eine der Freundinnen der anderen zeigt und das für eine neue Männerbekanntschaft werben soll, statt des zu erwartenden Porträts (angekündigt mit: “ Warte, ich habe ein Foto von ihm ” ) eine Detailaufnahme eines Penis zu sehen ist - der dann ganz im Sinne des zu erwartenden Porträts kommentiert wird. Beim dritten Mal wird die neue Person Tom als Bruder von Simon eingeführt. Das Bild zeigt demgemäß einen Ausschnitt mit zwei Penissen, wobei der Kommentar nun auf die Familienähnlichkeit abzielt ( “ man sieht gleich, dass sie Brüder sind ” ). In Staffel drei, Folge sechs, bilden die fünf Sketche mit Andy eine in sich chronologisch geordnete Reihe (Lou muss verreisen, Mrs. Mead kommt als Ersatz, Mrs. Mead und Andy, Andy sorgt dafür, dass Mrs. Mead verschwindet, Lou kommt zurück). 11 So beim gerontophilen Jason, der zuerst Garys Großmutter und dann sie zusammen mit ihrer älteren Schwester als Lustobjekt imaginiert, aber vor allem bei Ting Tong; in Little Britain Abroad wird dies das generelle Prinzip. 12 Ting Tong kommt als gekaufte Braut zu Mr. Dudley (und ist nicht das, was dieser erwartet hat, eine attraktive Frau), Ting Tong entpuppt sich als “ Ladyboy ” , ist also auch keine Frau, Ting Tong kommt nicht aus Thailand, sondern ist längst heimisch in Great Britain und hat Wissen, das sie sonst nicht haben könnte, wie sich beim Trivial Pursuit-Spielen zeigt. Ting Tong, selbst etabliert, holt ihre Mutter nach. Mr. Dudley findet sein Heim in ein Thairestaurant umgewandelt, das Ting Tong mit ihrer/ seiner Familie führt, und nach den neuen Gepflogenheiten als öffentlicher Raum verlässt Mr. Dudley als Gast sein früheres Zuhause. 13 Etwa “ Computer sagt ja ” , Staffel drei, Folge sechs, Carol Beer; bei Mr. Mann auch diegetisch. Texte und Aneignungskulturen 15 Zeichensystemen präfiguriert. 14 Mediensemiotisch wird dabei keine qualitativ-evaluative Grenze zwischen sogenannten Höhenkammtexten und populären Medien gezogen, insofern die Prinzipien des Bedeutungsaufbaus, also der Textualität, gleichermaßen zum Tragen kommen können (Cf. Krah 2017b); Unterschiede mögen sich dann in den konkreten Textstrukturen und insbesondere bezüglich Dispositiv und Diskursivität (siehe unten) finden. 2.2.1 Wirklichkeitskonstruktion Texte zeichnen sich generell durch ihren Konstruktions- und Modellcharakter aus, sie generieren eigene Welten: Aufgrund der konstitutiven Medialität eines jeden Textes kann kein Text unmittelbare Abbildung von Wirklichkeit sein, sondern nur ein Modell von Wirklichkeit erzeugen (So Jurij Lotman, cf. Krah 2017e). Korreliert ist dies mit dem Aspekt der Grenze eines Textes. Relevant ist, dass für jeden Text eine Grenze nach außen bestimmbar ist (auch wenn dies in einigen Fällen nur pragmatisch und heuristisch motiviert ist). Zur Beschreibung hat sich der Begriff der Diegese bewährt. Über dieses Konzept lässt sich sowohl die Semantik der dargestellten Welt und des vor diesem Hintergrund dargestellten diegetischen Geschehens fassen und beschreiben als auch der Zugang zu dieser Welt und Aspekte ihrer Vermittlung als extradiegetische kommunikative Ein- und Anbindung dieser Welt. In Little Britain artikuliert sich der Konstrukt- und Modellcharakter seiner Diegese ganz explizit, ist die vorgeführte Welt doch ein dezidiert eigenes Universum, das genau als dieses vorgeführt werden soll. Auch wenn die Welt als “ Britain ” benannt wird, so wird schnell deutlich, dass hier ein ganz eigenes Bild gezeichnet und keine referenzielle Beschreibung geliefert wird. Der Text geriert sich durch den Erzählrahmen dennoch und gerade als Dokumentation dieser Welt und ihrer sie bewohnenden Personen. 2.2.2 Textsemantik Die Leistung, eigene Welten zu entwerfen, wird durch Verfahren der textuellen Bedeutungsgenerierung ermöglicht, aufgrund der den Texten zur Verfügung stehenden Prinzipien des Bedeutungsaufbaus (Cf. Krah 2017b: 45ff). Grundlegend für diese Möglichkeiten ist der Systemcharakter von Texten: Die Bedeutung eines Textes regelt sich auch aus den strukturellen Verhältnissen, die sich durch die Bezüge der einzelnen Zeichen innerhalb seiner selbst ergeben. 15 Neben rhetorischen Strategien, derer sich Little Britain bedient (Wiederholungen, Klimax, Hyperbolik), wird vor allem mit Paradigmenbildung operiert. Die einzelnen Sketche sind als Episoden aufzufassen, die nicht nur in sich auf ihre Äquivalenzen und Muster rückverweisen, sondern auch untereinander auf einen vergleichbaren Rahmen fokussieren. Gegensätzliches auf der Oberflächenebene wird in der Tiefenstruktur harmo- 14 Die Produktion solcher zusätzlichen, auf primären Zeichensystemen aufbauenden Bedeutungen liegt augenscheinlich vor allem in den Kommunikationsformen vor, in denen der Text als zentraler Teil und Maßstab der Kommunikation gilt, wie dies etwa in ästhetischer, künstlerischer Kommunikation der Fall ist. 15 Dies schließt ausdrücklich auch die sich aus dem Text ergebenden und durch ihn indizierten kulturellen Propositionen ein, die in die Bedeutung eines Textes einfließen, wie im Konzept des kulturellen Wissens durch Michael Titzmann modelliert (cf. Titzmann 2017a). 16 Jan-Oliver Decker / Hans Krah nisiert. Vorgeführt werden die Bewohnenden einer räumlichen Einheit, die sich bei paradigmatischer Betrachtung über die Abstraktion dessen, was als Gemeinsames extrahiert werden kann, als semantischer Raum ausbildet. 2.2.3 Paradigmenvermittlung Texte transportieren und archivieren Wissen, produzieren solches aber auch, 16 wobei im hier verstandenen weiten Wissensbegriff Wissen nicht nur und nicht ausschließlich in den Textsorten verhandelt wird, die den kulturellen Anspruch und Auftrag haben, Wissen als Wissen zu deklarieren und zu speichern. Gerade populäres Allgemeinwissen findet sich auch in ästhetischen Texten unterschiedlicher Provenienz. Die Produktion von Wissen ist generell als Paradigmenvermittlung zu verstehen: Jeder Text etabliert Ordnungen, jeder Text strukturiert seine Welt durch Grenzziehungen/ Paradigmenbildungen; jedem Text liegt ein Wert- und Normensystem zugrunde. 17 Dies kann mehr oder weniger als textuelle Konstruktion bewusst gemacht sein oder aber in der und durch die textuelle Argumentation verschleiert werden. Was in einem Text als jeweils zugrundeliegende Werte und Normen erscheint, kann als natürlich, als nicht durch den Text konstruiert und damit als gültige Wahrheit ausgewiesen werden. Wenn in diesem Kontext im (kultur-)semiotischen Sinne von Ideologie oder von der ideologischen Schicht eines Textes gesprochen wird, dann ist damit also nicht eine spezifische inhaltliche Auffüllung wie etwa die Ideologie des Kommunismus, Kapitalismus, Nationalsozialismus, Islamismus gemeint. Ideologie wird dagegen mit Lowry (1991) als ein operationaler Prozess verstanden, bei dem Normen und Verhaltensregulationen aufgestellt werden, die verhindern, dass im gegebenen Kontext unliebsame Bedeutungen entstehen und artikuliert werden. Dadurch kann Sinn erzeugt und Konsens geschaffen werden. Ideologie, wie sie hier verstanden wird, ist gerade nicht an die Textoberfläche gebunden. Durch eine spezifische dramaturgische Textoberfläche wird sie nicht unterbunden, sondern nur kaschiert, indem die Wahrnehmbarkeit solcher Strukturen verhindert wird. 16 Cf. hierzu und einer Unterscheidung von epistemologischer Referenz und konfigurativem Wissen Krah 2020. 17 Ein etabliertes narratologisches Instrumentarium, um medienübergreifend solche textinternen Werte- und Normensysteme zu analysieren, ist das von Jurij Lotman begründete und von Michael Titzmann und Hans Krah weiterentwickelte Analysemodell semantischer Räume in der Histoire; (cf. Lotman 1972, Krah 2006 und Titzmann 2017b). Der Grundgedanke ist dabei, dass der textinterne Weltentwurf differenzlogisch strukturierte Merkmalsbündel in der dargestellten Welt etabliert, die sich oftmals in der Topographie niederschlagen, dies aber nicht notwendigerweise müssen. Diesen Merkmalsbündeln lassen sich regelgerecht Figuren(-gruppen) zuordnen, sodass zum Beispiel in einem Text der Ordnungssatz gilt, dass auf dem Land tugendhafte Bauern und Bäuerinnen und in der Stadt lasterhafte Bürger*innen angesiedelt sind. Sobald nun das Verhalten einer Figur im Verlauf der Handlung gegen diese individuelle Raumsemantik im Text verstößt, entsteht im Lotmanschen Sinne ein Ereignis. Die Figur überschreitet - metaphorisch und ggf. auch topographisch - die Grenze zwischen zwei semantischen Räumen, so bspw. wenn sich ein tugendhafter Bauer in den lasterhaften Stadtraum begibt (oder bspw. ein Bauer sich als nicht tugendhaft erweist). Der sujetlose, durch semantische Räume und paradigmatische Ordnungssätze geordnete Weltentwurf (= die Diegese in ihrer semantischen Abstraktion), wird durch die Handlung, also die Grenzüberschreitung einer Figur zwischen zwei semantischen Räumen und damit den Verstoß gegen eine Regel der Diegese, ereignishaft. Die Leistungsfähigkeit der narratologischen Raumanalyse nach Lotman zeigt sich unter anderem darin, die Diegesen und die auf ihr basierenden Handlungen auch komplexer und langer Texte ganz unterschiedlicher Textsorten und medialer Provenienz präzise modellhaft beschreiben und zusammenfassen zu können. Texte und Aneignungskulturen 17 Little Britain konstruiert nun eine Welt, deren Ordnung - gemessen an einem Vergleich mit außertextuellen Referenzpunkten, siehe 2.4.2 - aus einer gewissen Unordnung besteht, insofern Verhalten als sujetlos vorgeführt wird, das ansonsten ereignishaft wäre; die ideologische Schicht kann als textuelle Normalisierung von (kultureller) Devianz zusammengefasst werden. Einerseits finden sich Figuren, die den sozialen und kulturellen Rändern entstammen und bereits dadurch (kulturell) stigmatisiert sind, andererseits Figuren, die scheinbar der (wohlsituierten) Mittelschicht entstammen. Aber nicht diese Zugehörigkeit definiert die Bewohnenden von Little Britain, sondern dies wird überlagert von einem Paradigma, das sich in etwa dadurch definiert, dass mentale Einstellung und soziale Praxis koinzidieren: Die oberflächlich bürgerlichen Figuren integrieren sich in diese Ordnung des Anderen, indem für sie ebenfalls ein Ausleben und Ausstellen dessen, was sonst bürgerlich tabu wäre, konstitutiv ist. 18 Statt eines Gegensatzes von ‘ bürgerlicher Mitte ’ und Außenseitern verschiedenster Provenienz (aufgrund Alter, sexueller Orientierung, Geschlecht, sozialer Schicht, Herkunft, Aussehen, Ability) sind solche Unterschiede nivelliert. Maggie, Linda, Marjorie, Carol, Mr. Mann, Harvey, auch wenn sie sozialen Schichten angehören, die mit Mainstream assoziiert sind, weichen genauso von der (kulturellen) Normalität ab, wie es Daffyd, Sebastian, Emily, Andy, Anne oder Ting Tong aus Sicht dieses Mainstreams tun. Der Text setzt diese Abweichungen (i) gleich und (ii) nicht als Abweichungen; sie bilden die neue, eigene (textuelle) Normalität, die den Raum semantisch definiert. 2.3 Medialität Medien lassen sich hinsichtlich ihrer kommunikativen Leistungen und sozialen Funktionen durch Vermittlung von Bedeutung einerseits, also durch Verbreitung und Reproduktion als distributiver Aspekt, und durch Speicherung und Archivierung als Aspekt der Tradierung andererseits bestimmen. Medialität bezieht sich primär auf die semiotischen Dimensionen 18 So sehr etwa ein alltäglicher Rassismus im Denken verhaftet ist, so wenig darf er sich bürgerlich im Verhalten artikulieren oder dieses Verhalten öffentlich determinieren. Die innere Einstellung darf sich nicht äußerlich artikulieren, wie dies mit Maggies ‘ Magenausgießungen ’ geradezu plastisch konterkariert und vor Augen geführt wird (analog Linda, die als Dekanin am Telefon ihre Studierenden in deren Anwesenheit diskriminiert). Die Figuren, die gesellschaftlich etabliert sind, zeigen oftmals eine soziale Devianz, die sich mit Annahmen darüber, was normal, erwünscht und erlaubt ist, nicht vereinbaren lässt: So etwa die Kundenunfreundlichkeit von Carol, die eigenverantwortlich durch sie zu treffende Entscheidungen an ihren Computer delegiert, um damit die Handlungsmöglichkeit ihrer Kund*innen massiv einzuschränken. Auch die Infantilisierung von Harvey Pincher gehört hierher, der als erwachsener Mann in (halb)öffentlichen Kontexten von seiner Mutter immer noch gestillt wird. Sein Infantilismus wird im syntagmatischen Verlauf der Folgen dann übersteigert, wenn das Muttermilchtrinken nach seiner Heirat in Little Britain USA (HBO 2008) zudem vor dem US-amerikanischen Vater seiner Frau ausgeführt wird und Harveys Mutter seinem Schwiegervater Milch aus ihrer Brust quer über den Tisch für seine Cornflakes in den Teller spritzt. Das Stillen des infantilen erwachsenen Mannes und der Topos der die ganze Familie ernährenden Mutter wird hier so übertrieben, dass dieses Verhalten innerhalb von Harveys Familie nicht nur toleriert, sondern geradezu soziale Bestätigung einfordernd zelebriert wird. Die über diesen Intimitätsbruch geschockten Amerikaner sanktionieren dieses Verhalten nicht. Der komische Effekt liegt dabei darin begründet, dass aus USamerikanischer Perspektive unklar bleibt, ob das Stillen des erwachsenen Mannes vielleicht eine spezifisch britische kulturelle Eigenheit ist, die man aus Höflichkeit nicht kritisiert, ob also nur im eigenen USamerikanischen Kontext der übersteigerte Infantilismus von Harvey als verstörend empfunden wird. Die Zuschauenden lachen hier also eher über die verstörten Amerikaner*innen, die Harveys Verhalten und das seiner Mutter hinnehmen. 18 Jan-Oliver Decker / Hans Krah von Medien, auch wenn diese mit institutionellen und technischen Gegebenheiten zusammenspielen (Cf. Krah 2017c). So sehr die Rolle der jeweiligen Medialität eines Textes je nach Fragestellung changiert, ist Medialität an sich aber bereits dadurch essentiell, dass sie als die materiale Grundlage, anhand der sich Semantik in Semioseprozessen manifestiert, Basis von Texten ist und sie die Möglichkeiten organisiert und reguliert, welche Zeichen überhaupt zur Verfügung stehen. Medialität in diesem semiotischen Sinne beschränkt sich nicht auf Distanzmedien, sondern bezieht Präsenzmedien mit ein. Ihre materialen Grundlagen bilden der Raum als Bedeutungsrahmen und der Körper als Bedeutungsträger; ihre Signifikationsprozesse sind durch Performativität gekennzeichnet (Cf. Großmann 2017). 2.3.1 Zeichenorganisation Medialität regelt die Möglichkeiten der Zeichenorganisation und beeinflusst und rahmt damit Textualität in ihrer semantischen Verfasstheit. Medialität ist die Grundlage, wie sich Zeichen überhaupt konstituieren können. Dies wird zunächst durch die beteiligten Informationskanäle und die sich durch die Informationskanäle konstituierenden Zeichensysteme geleistet. Zu beachten ist, dass das gleiche Material (etwa das Visuelle) unterschiedlich (syntaktisch) organisiert sein kann und sich auch unterschiedliche Zeichensysteme bei gleichem Informationskanal ergeben können. Im Fokus ist hier der Aspekt des Signifikats, wie es sich im Prozess der medialen Semiose ergibt; der Prozess selbst wird dabei zugunsten der Ergebnisse außenvorgelassen. Setzt sich der Text eines Mediums wie beim Hybridmedium Spielfilm aus verschiedenen Zeichensystemen wie bewegtes Bild, Ton, Sprache, Musik zusammen, 19 ist also Multimodalität gegeben, 20 lassen sich als deren Konstituenten die Prinzipien Integration, Interaktion und Kooperation unterscheiden: Integration bezieht sich auf den Aspekt, dass ein mediales Bezugssystem, ein Trägermedium, den Rahmen bildet und damit dessen materiale Bedingungen insgesamt gültig sind. 21 Interaktion und Kooperation beziehen sich 19 Die Bedeutungsproduktion im Spielfilm als dem paradigmatischen audiovisuellen Format des 20. Jahrhunderts prägt auch die Bedeutungsproduktion im Video als dem paradigmatischen audiovisuellen Format des 21. Jahrhunderts, gerade auch in seiner multimodalen Rahmung im Internet. 20 Ein engerer Multimodalitätsbegriff, linguistisch geprägt, bezieht sich primär auf das Verhältnis von Sprache und nonverbalen Informationen (Gesten), (cf. Fricke 2012). 21 Beispielsweise gilt für das Zeichensystem Schrift ein Unterschied, ob diese im Medium Buch oder im Medium Film vorkommt. Im Buch ist die Lesegeschwindigkeit den individuellen Rezipient*innen überlassen. Das Buch erlaubt ein Vor ‐ oder Zurückblättern und damit eine wiederholte Rezeption oder auch Selektivität durch Überspringen. Außerdem ermöglicht es Pausen. Im Film ist Schrift dagegen an die Rahmenbedingungen der Audiovisualität gebunden, insbesondere an die dem Medium inhärente Sukzessivität. Das heißt, dass Schrift eben nur so lange zu lesen ist, wie die jeweilige Einstellung dauert oder, wenn die Schrift selbst bewegt ist, solange die jeweiligen Schriftteile im On visualisiert sind. Die Rezeptionsgeschwindigkeit muss sich hier der textuell ‐ medial vorgegebenen Geschwindigkeit anpassen. Vergleichbar kann Film zwar einen Raumeindruck erzeugen, dieser bleibt aber immer an die Zweidimensionalität des Mediums gebunden und ist damit ein sekundärer Effekt. Dahingegen ist im Medium Theater der Raum selbst eine autonome Dimension des Mediums und unterliegt damit anderen Bedingungen. Während etwa im Theater jede*r Zuschauende dahin schauen kann, wohin er/ sie will, er/ sie dabei aber immer über den Überblick über den Gesamtraum und die Möglichkeit hierzu verfügt, wird der Blick im Film durch die Gestaltung des Films gelenkt. Hier kann zwar ebenso ein Raumüberblick geboten werden, es kann beispielsweise ein Detail fokussiert sein, immer ist dieser Blick aber an den konkreten Discours gebunden und richtet sich nach den Einstellungsgrößen. Texte und Aneignungskulturen 19 dann innerhalb dieses Rahmens darauf, dass die jeweilige Information, die durch ein Zeichensystem gegeben wird, ihre Semantik nicht mehr absolut entfaltet, sondern nun in Relation zu anderen Semantiken. Interaktion fokussiert dabei (in diesem spezifischen Verständnis) darauf, dass bereits die prinzipielle Möglichkeit eines Mediums, verschiedene Kanäle zu realisieren, bedeutungstragend ist. Der Verzicht auf einen möglichen Teil ist semantisch anders zu sehen als die prinzipielle Unmöglichkeit aufgrund des Mediums selbst. 22 Interaktion fokussiert also darauf, innerhalb welchen Spektrums an prinzipiellen Möglichkeiten eine konkrete Kooperation angesiedelt ist. Diese Kooperation formt dann im Speziellen die sich aus der Beziehung mehrerer Informationskanäle ergebende Bedeutung. Sie ergibt sich aus der jeweiligen Semantik und dem Bedeutungspotential der einzelnen Informationskanäle durch die verschiedenen Formen der Kohärenzbildung. 2.3.2 Materialität Auch, wenn die wesentliche Funktion des Discours zumeist ist, funktional auf die Histoire ausgerichtet zu sein, so können auch alle Ebenen des Discours spezifisch zur Semantik beitragen, auch das, was üblicherweise keine Relevanz hat oder zugunsten der Zeichenhaftigkeit als eigenständiges Phänomen ausgeblendet ist. Während es bei 2.3.1 um die materielle Grundlage geht, damit Zeichen überhaupt gegeben sein können und sich Zeichen und Zeichensysteme konstituieren können, kann sich der Fokus (i) auch auf die Materialität der Signifikanten richten. Diese werden dann also weniger als Signifikanten wahrgenommen, sondern zudem auch selbst als Phänomene, Objekte, Gegenstände gesehen (und können hinsichtlich der jeweiligen medial möglichen Parameter beschrieben werden). Die materielle Ebene kann also selbst bedeutungstragend sein. Anteil an der Bedeutungskonstituierung können (ii) darüber hinaus die Parameter haben, die die materialen Gegebenheiten des jeweiligen Mediums (im Sinne des Träger- und Verbreitungsmediums) ausmachen. Solche Parameter sind neben Materialität Größe/ Format, die Umgebung (in einen Kontext eingebunden/ integriert oder isoliert/ disjunkt; innerhalb einer festen oder variablen Umgebung) und die Oberflächentextur. In einem erweiterten Sinne kann sich die Materialität des Mediums (iii) auf die räumliche Verortung beziehen, die vom Medium bedingt und potenziell für eine Bestimmung der Semantik einzubeziehen ist. 23 Schließlich gehören (iv) auch Faktoren der Rezeption zur Medialität, insofern sie durch das Medium selbst bestimmt oder vorgegeben sind (Und sich nicht einer individuellen, konkreten Rezeption verdanken.). Auch sie können für die Generierung spezifischer Semantiken eingesetzt sein. 24 Allgemein lassen sich als Parameter erstens Dauer und Richtung der Rezeption (Ob diese jeweils vorgegeben oder frei bestimmbar sind.), zweitens Standort/ Ort, 22 Für die Gesamtbedeutung ist es etwas anderes, ein Musikstück im Radio zu hören, das nur über den auditiven Kanal verfügt, als das gleiche Stück im Film zu hören, auch wenn visuell vielleicht nichts zu sehen ist und während des Hörens nur ein Schwarzbild erscheint. Auch ein solches Ausblenden ist bedeutungstragend, da es als Fokussierungsstrategie zu deuten ist und der Aufmerksamkeitslenkung, eben auf die Musik, dient. 23 Visuelle Medien etwa können durch ihren Standort in architektonisch organisierten Gesamtstrukturen (Burgen, Schlösser, Kirchen, Kapellen) ein Bildprogramm etablieren oder mit umgebenden Artefakten in semiotischem Kontakt stehen. 24 Traditionell kann hier zwischen Push- oder Pull-Medien unterschieden werden, ob also der Zugang zum Text senderseitig vorbestimmt ist oder ob der Empfänger durch eigene Entscheidungen und Aktionen dazu beitragen kann/ muss, zum kommunizierten Text zu gelangen. 20 Jan-Oliver Decker / Hans Krah drittens Steuerung der Aufmerksamkeitslenkung, viertens Interaktion (Möglich oder nicht, da einseitig gerichtet.) und fünftens Zugangsbeschränkungen bestimmen (Etwa durch soziale Faktoren wie freier Zugang oder ökonomisch oder kulturell begrenzt. Für einen Theaterbesuch dürfte sowohl eine ökonomische Barriere als auch eine des kulturellen Kapitals gegeben sein.). Wie eingangs gezeigt, dient die im Video für The Big Night In vorgeführte Materialität dazu, selbstreferenziell auf den Inszenierungscharakter, die Gemachtheit, des Videos zu verweisen. In diesem Sinne referieren die gemalten und aus Pappe ausgeschnittenen Frisuren, Augenbrauen, Brillen erstens auf die von Matt Lucas und David Walliams verkörperten Figuren in Litte Britain. Die Low-Tech-Verkleidungen weisen damit über ihren materiellen Charakter hinaus auf eine konkrete Figur aus dem Little Britain- Universum. Sie lassen ihre Materialität durch den Verweis sozusagen hinter sich. Zweitens verweisen die Low-Tech-Kostümierungen auf die die Figuren verkörpernden Schauspieler selbst. Die Schauspieler zeigen gerade durch die Low-Tech-Kostümierungen, dass sie mit minimalen Mitteln eine fiktionale Person lebendig werden lassen können. Sie zeigen ihre Wandlungsfähigkeit und ihr Können als Schauspieler, indem sie mit Hilfe erkennbarer Requisiten individuelle Figuren verkörpern. Drittens kann man die selbstreflexive Verwendung des Materials im Video als Hervorhebung eines generellen Mechanismus von Comedy-Formaten wie Little Britain lesen - in diesem Zusammenhang/ Rahmen spielt Materialität bei Little Britain im Sinne der Ausstellung und des Arbeitens mit dem Körper eine wesentliche Rolle: Die Relevanz von Materialität als auf sich selbst verweisendes Zeichen (statt als Zeichenträger) zeigt sich etwa in Little Britain, wenn Roman DeVere seinen Vorzug von Desiree gegenüber Bubbles mit “ There is so much more I can love ” begründet. Dieses “ so much more ” bezieht sich eben nicht auf innere Werte der geliebten Frau, sondern ganz konkret materiell auf die körperliche Fülle von Desiree (und ex negativo auch auf Bubbles, die angeblich abgenommen hat, weswegen Roman sie für Desiree verlassen hat) und erhält erst über diese Konkretheit (s)einen weiteren Zeichencharakter (als Fetisch). 2.3.3 Dispositivstruktur Medialität regelt durch den Dispositivcharakter Wahrnehmungssemantiken und die Stellung von Texten in ihrer Kultur und der Gesellschaft. Ein Dispositiv lässt sich in Anlehnung an Foucault als ein Netz aus mehreren Aspekten verstehen, das der Konstitution von kulturspezifischer Wirklichkeit dient. Das Dispositiv schafft einen Zusammenhang von Wissen, Handeln, Diskursen, Lehrmeinungen, Institutionen, Normen und Regeln. Die dispositive Struktur bestimmt, wie kulturelle Wahrnehmung gelenkt und textuelle Semantiken kulturell bewertet werden. Im Dispositiv geht es um den Zusammenhang und den Status von Medien (auch in ihren apparativen Dimensionen) in ihrer Ursprungskultur und die damit ermöglichten Bedeutungen in ihren historischen Rezeptionskontexten. 25 In der Dispositivstruktur bündeln sich dabei die verschiedenen angeführten Discours-Aspekte und verschmelzen mit technischen und institutionellen Komponenten, die die kulturelle Bedeutungsproduktion beeinflussen. 25 Der Dispositivbegriff wird unterschiedlich gebraucht und ist in verschiedenen Theorien unterschiedlich konzeptioniert (cf. zum Einstieg Decker 2017b). Texte und Aneignungskulturen 21 Insbesondere geht es um die Nobilität eines Mediums und seine kulturelle Sichtbarkeit und die sich daraus ergebenden Implikationen für die Ideologie, die sich in Texten finden lässt. Durch das Konzept einer dispositiven Struktur können insbesondere diejenigen Aspekte bei der Bedeutungsrekonstruktion einbezogen werden, die sich erstens auf den kulturellen Stellenwert beziehen, der einem Text eines bestimmten Mediums aufgrund seiner dispositiven Struktur zukommen kann, und zweitens diejenigen Aspekte funktional eingebunden werden, die die soziale Reichweite der im Medienprodukt verhandelten und propagierten Verhaltensweisen bestimmen. Hier geht es also auch um Textsorten und Medienformate und den Status, der ihnen in einer Gesellschaft zukommt. Ob sie eher im Zentrum oder in der Peripherie zu situieren sind; ob sie insgesamt oder bezüglich ihrer Sphäre Leitmedien sind und welches Verhältnis zur sozialen Praxis und zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ihnen kulturell zugewiesen wird. Für Little Britain ist hier zunächst das Datum anzusiedeln, dass es sich um ein Comedy- Format handelt. Ohne dies hier ausführen zu wollen, 26 sei stellvertretend auf das Video zu The Big Night In eingegangen. Dieses zeigt für Little Britain, dass das dort verkörperte Universum im Zentrum britischen Humors angesiedelt ist: Immerhin wird Little Britain hier neu und als sich selbst inszeniert, um hohe Spendengelder in Corona-Zeiten zu sammeln. Das kulturelle Kapital von Little Britain scheint also in Großbritannien noch hoch zu sein. Interessanterweise geschieht die Neu-Inszenierung dabei nicht in einer großen TV- Spendengala, sondern im Internet, also eigentlich in einem Format der neuen Medien, das sich nicht an das traditionelle Fernsehpublikum und seine Sehgewohnheiten richtet. Die Wahrnehmungsmodi werden also verändert. So werden dann eben auch die vorgeführten Figuren nur reduziert und als selbstreflexiv markiert inszeniert. Diese selbstreflexive Markierung der eigenen medialen Vergangenheit durch die Schauspielenden mag dabei darüber hinaus auch ein Mittel der Distanzierung von Figur und Schauspieler*in im Videobild sein und damit auch ein im Video manifestes Ironiesignal: Vielleicht gehört es ja zum Zentrum des eigenen Selbstverständnisses der Schauspielenden, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen in dem, was man da voller Ernst betreibt und tut. Für uns aus unserer kulturellen Außenperspektive steht das Video damit exemplarisch zugleich an der Peripherie audiovisuell vollkommen entworfener Wirklichkeiten und Sehgewohnheiten einer Comedy-Serie im Fernsehen, auf die das Video verweist, die es aber nicht erfüllt, und gleichzeitig im Zentrum eines ‘ keep calm and carry on ’ , wie man eben in Zeiten des Lockdowns trotzdem gute Comedy weitermachen kann. Für uns markiert das selbstreflexive Video damit auch etwas, was man aus einer deutschen Perspektive als Kennzeichen britischen Humors betrachten könnte. Interessant ist nun mit diesem Blick geworden, wie erstens durch den Wechsel der dispositiven Strukturen vom Fernsehen zum Video die Strukturen von Comedy im Video transparent gemacht werden. Zweitens wird hier bedeutsam, wie die Rezeptionen von Little Britain in anderen Ländern durch die 26 Auch die Frage nach der spezifischen Art des Humors oder den Mitteln, wie Komik evoziert wird, ließe sich hier anschließen und weiter ausführen, wobei dies bereits eine Schnittstelle zur Text-Aneignung ist, da es um textindizierte Wirkfaktoren geht. Dies dürfte ein eigenes Feld darstellen, das wohl noch nicht hinreichend bearbeitet ist und außerdem auch nur interdisziplinär bearbeitet werden kann. 22 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Übersetzungen und aus der jeweiligen Außenperspektive vor sich gehen können, wie also das in Großbritannien erzeugte Selbstbild in Little Britain vom Rand alteritärer Figuren her seinerseits als ein zentrales Fremdbild von Great Britain in anderen Kulturen interpretiert wird. 2.4 Kulturalität Texte sind immer kulturell und historisch situiert: Es braucht Akteure, die sich der je möglichen Artikulationsformen bedienen. Jeder Text existiert als materiell-fixierte Form nicht unabhängig und losgelöst von seinem raumzeitlichen Entstehungskontext und den soziokulturellen Faktoren seiner Kommunikationssituation. Wie genau dabei das jeweils textuell Dargestellte mit der Kultur interagiert, ist im Einzelfall zu bestimmen und hängt von der Textsorte ab. Aber generell gilt, dass jeder Text den Wissenshorizont seiner Kultur transportiert und zumindest diesen als Argumentationsgrundlage implizit einbezieht. Kultur geht in Texte ein und Texte sagen etwas über ihre Kultur aus. Kultursemiotik versucht diesen Vernetzungen nachzugehen. 27 2.4.1 Historizität Jeder Text konstituiert sich im Rahmen der Faktoren einer spezifischen, historischen Kommunikationssituation und ist zunächst Dokument seiner Zeit, also der Entstehungszeit, der er entstammt. Weil Kommunikation immer in einer spezifischen kulturellen Situation historisch stattfindet, ist sie auch unter den Rahmenbedingungen dieser kulturellen Situation zu betrachten. Hierzu gehört auch ihre kulturraumspezifische Abhängigkeit und damit eine etwaige Bindung von Texten an diese. Jeder mediale Text ist Teil einer realen Kommunikationssituation und damit in einen wandelbaren historischen, kulturellen Kontext eingebunden. Die Semantik eines Textes ergibt sich in Abhängigkeit der Faktoren, die zur Zeit der Textproduktion Gültigkeit haben. Etwa welche Zeichensysteme (in welcher Ausprägung), welche Medien und Textsorten, welche Themen überhaupt zur Verfügung stehen und wie diese kulturraumspezifisch ausgeprägt sind (welche Hierarchien von Diskursen es gibt, welche spezifischen Ausformungen - Stichwort ‘ britischer Humor ’ - , welche Tabubereiche und -zonen). Die kulturraumspezifische Abhängigkeit von Little Britain artikuliert sich zunächst durch ihren Produktionsort als ‘ Britcom ’ ; eine genuin britische Rezeptionssituation und ein daraus resultierender Rezeptionsmodus wären dann für bestimmte Fragestellungen zu 27 Cf. allgemein Nies 2017 und zum synchronen und diachronen Wandel von Medien und Kultur Decker 2017b. In der Kulturalität von Medien/ Texten liegt zudem die Schnittstelle für anschlussfähige Fragestellungen kommunikationssoziologischer und handlungspragmatischer Art. Hierher gehören einerseits Fragen nach der Herstellung von Öffentlichkeit durch Medien, nach den Funktionen von Institutionen wie Kino und Fernsehen, nach dem Zuschnitt diverser Publika und ihrem jeweiligen Rezeptionsverhalten, nach der Vermittlung gesellschaftlicher und kultureller Erfahrung, nach der Produktion gesellschaftlicher Ideologie und der Verarbeitung kultureller Diskurse. Andererseits können hier Fragen nach den allgemeinen und historisch-kulturellen Grundlagen von Texten, Fragen nach den Bedingungen und Bedingtheiten von Zeichentypen und Zeichensystemen, Fragen nach Strukturkonventionen in Genres oder bei der Kodierung von Authentizität und Fiktionalität, Fragen nach der Kodierung von Wahrnehmungskonventionen und Erwartungshaltungen und nicht zuletzt Fragen nach Formen und Ausprägungen des Medienwandels angeschlossen werden. Texte und Aneignungskulturen 23 berücksichtigen. 28 Allerdings ist und war Little Britain nicht auf den britischen Raum beschränkt, sondern als Exportschlager auch außerhalb äußerst erfolgreich und populär, wie bereits die Existenz verschiedener Synchronfassungen zeigt. Nicht nur durch die Übersetzung an sich, auch durch die Stimmen können sich dabei textuelle Nuancen ergeben, also Bedeutungen changieren. So verleihen in der deutschen Übersetzung Oliver Kalkofe und Oliver Welke als prominente Medienvertreter den Figuren ihre Stimme. Wiedererkennen wie Charakteristik der Figuren lagert sich an diese prosodische Dimension an. 2.4.2 Referenzialität Kulturalität gibt insbesondere durch die Vorstellungen, die über die Wirklichkeit in einer Kultur vorherrschen, Rahmen für Texte vor, die als gültig erachtet werden. Michael Titzmann (1989) hat dies im Begriff ‘ Denksystem ’ zu subsumieren versucht. Unter dieser gedachten Welt sind alle Vorstellungen zu verstehen, die eine Kultur für wahr und gültig hält. Sie umfasst insbesondere auch die Vorstellung über die Realität selbst, wie diese aussieht, wie sie strukturiert ist, wie und in welche Bereiche sie sich unterteilen lässt, was als wichtig erscheint, was als Grundlage der Welt gilt und welche anthropologischen Annahmen akzeptiert sind. Das Denksystem umfasst nicht nur Wissen über konkrete Sachverhalte, sondern auch Wissen über die jeweils gültigen Denkkategorien, Denkregeln, Argumentationsschemata und Formulierungsmöglichkeiten, wie also und in welchen Formen gedacht und über die Realität etwas gewusst werden kann (beispielsweise aus der Autorität heiliger Bücher oder Schriften, durch den Verstand, Empirie und Erfahrung, Experiment, Demoskopie etc.). Das Denksystem umfasst auch die möglichen Diskurse, also worüber in einer Kultur überhaupt geredet werden kann und wie geredet werden darf, wie man sich über die Realität und die Kultur überhaupt verständigen kann, wie etwas kommuniziert - oder auch nicht - werden kann oder darf (etwa wissenschaftlich, nur auf Latein etc.). Das Denksystem, die gedachte Welt, ist von der sozialen und kulturellen Praxis, von der gelebten Welt zu unterscheiden, davon also, wie es historisch und aktuell empirisch tatsächlich zugeht. Dies ist eine zentrale Unterscheidung, da beide Bereiche nicht kongruent sein müssen. Wissen muss sich nicht zwangsläufig und direkt in Verhalten oder gar Verhaltensänderung niederschlagen. Ebenso ist die gedachte Welt von den in Medienprodukten dargestellten Welten zu unterscheiden, genauso wie diese ihrerseits auch von gelebten Welten zu differenzieren sind. So sehr Medien in ihrer apparativen und institutionell-sozialen Dimension Teil unserer sozialen Wirklichkeit sind, ermöglichen sie in ihrer semiotischen Dimension die Darstellung von Welten, die zunächst einmal nur semiotisch und in ihrer Wahrnehmung durch ein Publikum semantisch in einer Kultur präsent sind. Sosehr textuelle Semantiken eine Referenz auf die außertextuelle Wirklichkeit aufweisen können, so wenig müssen diese in einem kongruenten Verhältnis zueinanderstehen. Texte können in dem, was sie darstellen, sowohl vom Denken als auch von der sozialen Praxis abweichen. Sie bilden nicht notwendig das jeweilige Denken und Wissen oder die normalen Verhaltensweisen 28 Etwa im Kontext von Selbstbild/ Fremdbild, vor der Folie nationaler Diskurse, Stereotype und sich darauf beziehende kulturelle Argumentationen (etwa bezüglich Chav, siehe noch unten), hinsichtlich der Situierung im Spektrum britischer Comedy. 24 Jan-Oliver Decker / Hans Krah einer Kultur ab. Ob dies durch Textformate und Genres gerahmt ist - und damit plausibilisiert oder relativiert ist - oder nicht: Immer können Textformate und Genres in ihrer Bedeutung abgeglichen und in Relation zur gedachten Welt und zum kulturellen Wissen gesehen werden. Sie werden auch direkt in Diskursen über sie in einer Kultur daran gemessen, was eben auch Relationen von Subversion oder Provokation und sich daran anschließende soziale Reaktionen einschließt, Stichwort Skandal. 29 Little Britain erhält seine Bedeutung ganz wesentlich durch diesen Parameter, insofern das Format ganz zentral die Referenz auf Great Britain installiert. 30 Das textinterne Universum soll England sein; es wird geradezu dazu aufgerufen, die textuellen Semantiken damit abzugleichen. Der eigenen Realität wird also ein Spiegel vorgehalten. Bereits der Name indiziert dies, wobei im evozierten Unterschied von ‘ Little ’ vs. ‘ Great ’ auch ideologische Komponenten (Stichwort Nationalstolz und das Klischee eines solchen) mitschwingen, die verhandelt werden. Auch das eingangs besprochene Video aus The Big Night In ist ein schöner Beleg für dieses sich In-Beziehung-Setzen von Medien zur Welt: Etwa ein Drittel der Sketche greift den Lockdown auf und integriert ihn in die bekannte Welt der Figuren von Little Britain. Marjorie Dawes (Matt Lucas) empfiehlt direkt durch die Kamera hindurch den/ die im Lockdown dicker gewordene/ n, direkt adressierte/ n Zuschauende/ n bei Hungergefühlen “ Why not try a little bit of dust ” , was eine typische Empfehlung für die Figur ist. Sebastian Love (David Walliams) sagt per Videoschalte zum Premierminister (Anthony Head): “ I missed you so much during lockdown Prime Minister. I got through hundred of boxes of tissues! ” und impliziert damit Tränen und sexuelle Handlungen an sich selbst. Beide Figuren setzen sich hier in ihrem So-Sein als bekannte Figur aus dem Little Britain-Universum damit in Bezug zur videoexternen Wirklichkeit. Sie referieren im Video auf soziale und kulturelle Realität, eignen sie sich aber fiktionsspezifisch gemäß der in der Serie Little Britain medial vorgestellten Welt an. Ähnlich gilt das auch für den Sketch mit Daffyd (Matt Lucas) und Myfanwy (Ruth Jones). Während Daffyd mit seiner initialen Catch-Phrase eine Bacardi Cola (eine Variante des Cuba Libre) bestellt, erinnert ihn Myfanwy selbstreferenziell daran, dass sie gerade telefonieren, sie ihm also nichts servieren könne. Die Pointe ist dann schließlich, dass Myfanwy Daffyds Klage, während des Lockdowns keinen Mann geliebt zu haben, mit den Worten “ No change then ” quittiert. Zunächst wird als selbstreflexiv eine Ebene zur 29 So ist etwa in der Serie Popetown der Raum als Vatikan zu identifizieren und die raummächtige Figur mit dem Papst, dennoch ergibt sich im Abgleich mit dieser Realität gerade die Spezifik der textuellen Semantik. Diese konstituiert sich zum einen daraus, dass Einblick in einen Raum gewährt wird, der ein eigentlich kulturell abgeschlossener, für Außenstehende unzugänglicher Raum ist: Der Text zeigt also etwas, was man sonst nicht sieht; Rezipienten wird gewissermaßen die Rolle eines Voyeurs zugewiesen. Zum anderen ergibt sich, dass dieser Raum, trotz des Wiedererkennens, textuell ‘ etwas ’ andere Strukturen und Merkmale aufweist als die, die man dem Vatikan kulturell im Allgemeinwissen zusprechen würde. Das betrifft etwa die Semantisierung der Kardinäle; das betrifft zentral die Figur des Papstes: Als nicht erwachsen, sondern kindlich, geradezu infantil, der eine Art Nanny braucht, und der nicht als sakrale Figur, sondern ganz dezidiert profaniert erscheint (wenn das Kreuz sich als Pogo Hüpfstange erweist). 30 Diese Referenz findet sich räumlich, wenn etwa Downing Street 10 oder das britische Unterhaus visualisiert sind. Auch die Ortsnamen, obgleich fiktiv, sind in ihrer Komposition an englische Namen angelehnt und verweisen darauf. So konnotiert das fiktive walisische Bergarbeiterdorf Llanfairbrewy das reale walisische Dorf mit dem längsten Dorfnamen Europas Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch, abgekürzt Llanfair. Texte und Aneignungskulturen 25 eigenen medialen Verfasstheit zusammen mit der ersten, für Daffyd typischen Catch- Phrase installiert. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass die zweite, eigentlich für Daffyd wichtigere, Catch-Phrase “ I ’ m the only gay in the village ” hier fehlt. 31 Das Video setzt einen Diskurs über die Serie Little Britain in der kulturellen Realität voraus, der direkt Auswirkungen auf die Gestaltung des Videos hat. 2.4.3 Diskursivität Texte entwerfen Weltmodelle, die als Vorstellungen eines Wünschenswerten gelten können, ohne dass dies weiter zu begründen wäre. Sie etablieren als wünschenswert ausgegebene Werte- und Normensysteme, die zur Verhaltensorientierung angeboten werden. In dem Sinne sind sie Medien der kulturellen Selbstverständigung. Sie leisten für ihre Kultur, dass Ideologeme eingeübt und bestätigt, aber auch in Frage gestellt, kritisiert und verworfen werden. Solche Wirklichkeitskonstruktionen haben also eine wichtige Funktion für die Gesellschaft. Sie machen Realität erst sozial wahrnehmbar und kommunizierbar. Sie prägen das Bild der Gesellschaft und das Bild des Individuums von sich selbst und von der Welt und kommunizieren und archivieren das für wahr gehaltene Wissen hierüber. Textkonstruktionen können als kulturelles Wissen ins Denksystem und damit als für wahr gehaltene Vorstellungen beispielsweise über das Konzept der Person und ihrer Psyche in die gedachte Welt eingehen. Auf diese Weise können in Medien entwickelte und ins Denksystem übernommene Vorstellungen Einstellungen und Haltungen provozieren oder stabilisieren. Medien können also Mentalitäten als einfach mögliche und anerkannte kulturelle Wirklichkeit setzen. Damit können Medien umgekehrt auch Denkmuster, Wissensbausteine und Diskurse als Bestandteile der gedachten Welt einüben, die dann wiederum Grundlage von realem Handeln und sozialen Verhaltensweisen oder auch von Argumentationsmustern und einer spezifischen Rhetorik sein können. Solche in Medien manifesten Rhetoriken erweisen sich bezüglich der sozialen Praxis und der konkret gelebten Welt als die Schnittstelle zu Mentalitäten und Einstellungen. Sie können in Narrative eingehen, die zu Stereotypen verdichtet werden können und so etwa rassistische und diskriminierende Vorstellungen prägen. 32 Da sich solche Narrative nicht auf spezifische Textformate reduzieren, sondern viele Textsorten übergreifen, sind Texte nicht harmlos oder gesellschaftlich irrelevant, egal, welcher Provenienz sie entstammen (Ob sie also der Comedy oder der Hochkultur zugeordnet werden.). Textuelle Konstruktionen, Repräsentationen und Konfigurationen können also als Wissen gehandelt werden und durchaus Auswirkungen auf kulturelle Vorstellungen haben und Kulturalität beeinflussen. Hier sind 31 Als These ließe sich formulieren, dass die fehlende identifizierende Catch-Phrase, gerade in Verbindung mit dem Verweis auf die mediale Gemachtheit, als Distanzierungsmittel implizit auf die Vorwürfe Bezug nimmt, mit der Figur Daffyd würden schwule Männer homophob karikiert (Cf. Abschnitt 3.2). 32 Zu denken wäre hier beispielsweise an das nationalsozialistische Stereotyp des Juden, der nicht verachtenswert ist, weil er die jüdische Religion ausübt, sondern für dessen Stereotyp ein Narrativ entworfen wird, in dem er unrechtmäßig Ressourcen verbraucht, die die deutsche Volksgemeinschaft schädigen (wie die arische Frau, das Kapital etc.), er also im nationalsozialistischen Denken ein zu erkennender und zu vernichtender Parasit ist. 26 Jan-Oliver Decker / Hans Krah dann zumeist nicht mehr der Einzeltext, sondern Textkorpora und/ oder paratextuelle Vernetzungen und Verflechtungen relevant. So provozierte Little Britain Aufmerksamkeit und diskursive Auseinandersetzungen bereits aufgrund des Textformats Comedy und der allein dadurch resultierenden Nähe zu Grenzen und Grenzüberschreitungen bezüglich kulturell tabuisierter Themen (etwa im Feld von Körperlichkeit). Neben der eingangs erwähnten, etwa 2020 virulenten Debatte um diskriminierende Inhalte im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung gab es bereits 2008 mit der Arbeit von Finding den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit, Homophobie und des Rassismus, der sich vor allem an der Little Britain unterstellten Verbreitung von Stereotypen ausrichtet (siehe hierzu 3.2 und 3.3). 3 Aneignungskulturen - Überblick und Fallbeispiel Da Texte in Kommunikationskontexte eingebunden sind, können die in ihnen vermittelten Semantiken auf vielfältige Weise selbst wieder Rückkoppelungseffekte evozieren und an weiteren Vorstellungen beteiligt sein. Dies gilt paratextuell an der Schnittstelle zum Text an der einen Grenze, dies gilt metasprachlich für den wissenschaftlich-epistemologischen Umgang an der anderen Grenze. 33 Dazwischen dürfte ein breites Feld liegen (Cf. Krah 2017d). Ausgehend von den obigen Ausführungen wollen wir zunächst einige systematische Überlegungen voranstellen, um dann an einem Beispiel aus dem Little Britain-Umfeld diese zu illustrieren und davon ausgehend einige Folgerungen zu resümieren. 3.1 Zeicheninteraktion und Aneignungspraxen Textkorpora sind nicht notwendig homogen, insbesondere nicht hinsichtlich des Status einzelner Texte und ihres kulturellen Kapitals. Abhängig etwa von Leitmedien oder anderen Faktoren können sie eine unterschiedliche Agency aufweisen und sich am Rande oder im Zentrum eines Diskurses und je nach Diskurs im Zentrum oder am Rande kultureller Reflexion/ Selbstvergewisserung befinden und damit unterschiedlich quantitative wie qualitative Aneignungspraktiken evozieren. Hierbei liegt kein statisches System zugrunde, sondern dies ist durch Dynamiken sowohl innerhalb als auch durch Interaktionen nach außen bestimmt. 3.1.1 Semiosphärenmodell Um solche Austauschprozesse für größere Textkorpora zu modellieren, hat Lotman das Konzept der Semiosphäre eingeführt (Cf. grundlegend Lotman 1990 und zur Relevanz des Konzepts in der gegenwärtigen Mediensemiotik Decker 2017c.). Eine Semiosphäre grenzt sich durch ihre spezifischen Kodes von anderen Semiosphären mit anderen Kodes ab. Dabei ist die Semiosphäre in sich nicht homogen strukturiert. Sie bildet durch fortlaufende 33 Textkorpora sind damit auch Material für kultursemiotische Fragestellungen, (cf. Nies 2017): Mediale Texte dienen ebenso der Archivierung wie Generierung von kulturellem Wissen und haben damit kulturelle Relevanz bei der Produktion von Werten und Normen, Einstellungen, Haltungen und Mentalitäten und Ideologien. Texte und Aneignungskulturen 27 Integration ein semantisches Zentrum aus. In diesem etablieren sich stabile Kodes, für alle Teilnehmenden verständliche Texte, etablierte mediale Formate mit spezifischen Wahrnehmungskonventionen und Leitsemantiken sowie paradigmatische Werte und Normen. Diese Prozesse der fortlaufenden Integration gehen mit kontinuierlichen Prozessen der Desintegration und der Entsemiotisierung einher. Einige Texte werden aus dem semantischen Zentrum an ihre Peripherie gedrängt. Kodes werden nicht mehr dominant angewendet und Werte und Normen nur noch von Randgruppen geteilt. An der Peripherie kann es zu Kontaktphänomenen mit anderen Semiosphären kommen. Durch den Kontakt zweier Semiosphären kann durch Übersetzung von einem Kode in einen anderen zum einen ein Austausch, ein wechselseitiger In- und Output, zwischen den Semantiken eigentlich einander fremder Semiosphären stattfinden. Zum anderen kann es, weil die Semiosphären einander fremd sind und sich in Bezug auf ihr semantisches Zentrum und ihre Eigendynamik voneinander stabil und dauerhaft abgrenzen, auch zu einer fundamentalen Ab- und Ausgrenzung von anderen Semiosphären, Werten und Normen, Kodes und medialen Formaten kommen. In Bezug auf Little Britain stellt das Universum, das die Serie entwirft, unzweifelhaft den Kern der Semiosphäre dar. Der Auftritt von Walliams und Lucas bei The Big Night In und auch das Video I ’ m With Stupid der Pet Shop Boys sind dagegen Adaptionen dieser Welt, die an der Peripherie des Universums von Little Britain Merkmale, Kodes und Semantiken der Diegese der Serie verarbeiten und in andere mediale Formate und Zusammenhänge übersetzen. Während das Musikvideo noch eine Aneignung der Welt der Pet Shop Boys durch Little Britain zeigt, unterwerfen sich Walliams und Lucas als Schauspieler bei The Big Night In dem Universum, das sie selbst mit Little Britain verkörpert und mitgeschaffen haben. Sie unterwerfen sich aber auch dem Wandel der zunehmend kritischen Wahrnehmung der Serienwelt und damit in The Big Night In einem komplexen Spiel aus Selbst- und Fremdreferenzen. 3.1.2 Selbst-/ Fremdreferenz Ausgehend von der Klassifikation von Lotman, dass fiktionale Texte einen eigenen Weltentwurf konstruieren und in diesem Sinne sekundäre modellbildende semiotische Systeme sind, die zunächst nur für sie gültige Wirklichkeiten konstruieren, lassen sich Fremd- und Selbstreferenz differenzieren. Insofern sekundäre modellbildende semiotische Systeme sich auf Wissensmengen außerhalb ihrer selbst beziehen können, sind in ihnen fremdreferenzielle Bezüge, nämlich primär vor den Medienprodukten existierende Kodes und Zeichensysteme, erkennbar. So verweisen beispielsweise in Little Britain Downing Street Nr. 10, die Existenz eines Premierministers, Linksverkehr und rote Telefonzellen mit Krönchen auf Großbritannien als real existierenden topographischen und kulturellen Raum. Auch auf subkulturelle Wissensmengen referiert Little Britain, wenn Daffyd den Kleidungsstil und die Frisur einer schwulen Club Culture trägt, die im Londoner Club Heaven so unter anderem auch getragen werden können, in Myfanwys Pub allerdings als semiotische Merkmale der eigenen Identitätsbildung als “ only gay in the village ” dienen. Die Kleidung dient Daffyd hierbei der bewussten und markierten Selbstexklusion aus der Normalität. Er möchte gerade einzigartig sein und nicht wie alle anderen. Wenn dann im 28 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Dorf Llanfairbrewy niemand ein Problem mit seiner und überhaupt mit Homosexualität zu haben scheint, wird sein Kleidungsstil als subkulturelles Brauchtum markiert, das auch in die dörfliche Mainstreamkultur integriert ist. Little Britain verschmilzt sogar Mainstream- und subkulturelle Fremdreferenzen, wenn die Transvestiten Emily und Florence viktorianische Ladys verkörpern. Einerseits wird ihr Transvestismus als individueller Ausdruck der eigenen Persönlichkeit in der modernen Gesellschaft akzeptiert und integriert. Andererseits ist ihr Ziel gar nicht, als Frauen, sondern als viktorianische Ladys, also in einem Stil und einer Frauenrolle einer vergangenen Zeit wahrgenommen und integriert zu werden. Mit Bezug auf Lotman lassen sich nicht nur die fremdreferenziellen, sondern auch selbstreferenzielle Bezüge semiotisch kategorisieren. Als sekundäre modellbildende semiotische Systeme weisen alle medialen Weltentwürfe eine typologische Selbstreferenz auf: Da es sich erkennbar um mediale Wirklichkeiten und nicht um die Realität handelt, ist die Gemachtheit und Artifizialität der dargestellten Welt strukturell jedem Medienprodukt zu eigen. Diese strukturelle Selbstreferenz kann in Little Britain bspw. durch den paratextuellen Laugh Track bewusst gemacht und verstärkt werden, der das Gelächter eines imaginären Publikums einspielt und damit die Gattung des Sketches als Text der Textsorte Comedy markiert. Neben der obligatorischen strukturellen Selbstreferenz, die jedem Medienprodukt zu eigen ist, kann es noch fakultativ eine sekundäre, im Medienprodukt inszenierte Selbstreferenz geben (Cf. allgemein Krah 2005, Krah 2021, Decker/ Blödorn/ Zimmermann 2018 und Decker 2018). Dies ist bspw. in Little Britain dann der Fall, wenn Matt Lucas in The Big Night In als Emily auf die Catchphrase “ I ’ m a lady ” von Florence antwortet “ I ’ m also a lady and I ’ m not sure we should be doing this sketch anymore ” . Hier liegt erstens eine Selbstreferenz vor, da sich der Erzählvorgang, dass Schauspielende fiktionale Rollen verkörpern, hier im Erzählten widerspiegelt. Darüber hinaus wird zweitens selbstreflexiv auf eine eigene Erzähltradition verwiesen, die mit Little Britain verknüpft wird. Drittens wird auf die Rezeption und die Kritik an der Serie verwiesen, indem Lucas aus seiner Rolle heraustritt und der Sketch abgebrochen wird. Hier zeigt sich also ein Wandel der Schauspieler in der Einstellung zu ihrer eigenen fiktional verkörperten und medial manifesten Vergangenheit. Die Spiegelung des Erzählvorganges im Erzählen selbst lässt sich mit Harald Fricke (2003) als gestufte Iteration begreifen. Semiotisch gesprochen ist unter einer gestuften Iteration nach Harald Fricke die Reproduktion von textuell manifesten Zeichen einer Textebene auf einer anderen Ebene des Textes durch Ableitung oder Variation zu verstehen. Das heißt: Wenn sich die Erzählsituation im Erzählvorgang selbst und damit als Gegenstand des Erzählens im Erzählten spiegelt, dann wird ein Aspekt der Präsentation einer Geschichte durch Selbstreferenz selbst zum Inhalt und Thema der Geschichte. Selbstreflexives Erzählen bedeutet also, dass die Sprechsituation eines Textes von ihm selbst zu seiner besprochenen Situation gemacht wird. Dies ist in den Künsten immer wieder auch ein Mittel, das der Reflexion über die Strategien der eigenen Vertextung und damit einer innertextuellen Reflexion über Textstrategien, also einer textimmanenten Poetologie dient. In The Big Night In dient dies auch dazu, innerhalb der Semiosphäre Little Britain Deutungshoheit über das eigene Selbst zu beanspruchen. Texte und Aneignungskulturen 29 3.1.3 Materiale Aneignung Unter dem Begriff ‘ materiale Aneignung ’ kann zusammengefasst werden, wenn Texte selbst wieder Texte bedingen, denen der Status einer eigenständigen Fortschreibung zugesprochen werden kann; das ganze Spektrum von Referenzbeziehungen, Adaptionen, Intermedialität, Transmedialität und Medienbezügen ist hier also zu subsumieren. 34 So unterschiedlich dies sein kann, ist dabei bestimmend, dass der gegebene Text als Zeichenmaterial dient, das für die eigene Textualität funktionalisiert wird. Materiale Aneignung ist also immer im Bedeutungskontext eines neuen Textes zu sehen, der sich als dieser neue Text nicht paratextuell auf den alten bezieht, sondern trotz Referenz einen eigenständigen Zeichenraum, eine eigene Semiosphäre, ausbildet. Die beiden eingangs skizzierten Medienprodukte sind Beispiele einer solchen Aneignungskultur von Little Britain. Gleichwohl sie sich hinsichtlich eines Aspekts von Fremd- oder Selbstreferenz unterscheiden, einmal Bezug auf die eigene Vergangenheit, einmal selbst einbezogen in einem fremden Text, sind sie beide auf einer höheren Ebene jeweils als Selbstreferenz anzusehen (der neue Bezug geht von Little Britain aus / Little Britain partizipiert daran). Selbstreferenzielle wie fremdreferenzielle Strukturen sind bei dieser Aneignung immer auf den neuen Text als Zentrum bezogen, wie dies das Video aus The Big Night In paradigmatisch zeigt. Indem eben die Inszenierung ‘ do it yourself ’ und die Trennung der Personen durch Splitscreen zunächst den Umständen des Lockdowns geschuldet zu sein scheinen, werden diese ästhetisch in einem Konzept genutzt, um einerseits Distanzierung durch Transparenz der Inszenierung und andererseits Aneignung und Überwindung der durch den Lockdown gegebenen Einschränkungen zu vermitteln. Damit ergibt sich ein Wechselspiel von Selbst- und Fremdreferenz, das mittels einer im verwendeten Material erkennbaren Aneignung der verkörperten Figuren durch sich selbst und gleichzeitig einer Aneignung der kulturellen Realität auch eine Aneignung der gedachten, diskursiven Realität ermöglicht. Wenn im Sketch mit den Ladys Florence und Emily am Ende Emily aus der Rolle fällt und als Matt Lucas sagt: “ I ’ m not sure we should be doing this sketch anymore ” , dann verweist diese Selbstreferenz eben auch als Fremdreferenz auf die Wahrnehmung der Serie Little Britain außerhalb des Videos. 3.1.4 Mentale Aneignung Die materiale Aneignung ist von einer mentalen Aneignung zu unterscheiden, die zunächst als herkömmliche, paratextuelle Anschlusskommunikation - Textwirkung - zu sehen ist und sich in der hier gewählten Modellierung dadurch auszeichnet, dass die neuen, folgenden Texte auf den vorhergehenden, älteren Text als Zentrum ausgerichtet sind (gleichwohl sie sich dann verselbständigen können). Als mental lässt sich diese Form der Aneignung insofern benennen, als durch sie weniger eine materiell-textuelle Fortschreibung forciert wird, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Vorhergehenden, die dazu beiträgt, Wissen und Denken (im oben skizzierten Sinne) zu generieren und die damit Vorstellungen, Einstellungen und Mentalitäten prägen kann. 34 Hier greifen Aspekte transmedialen Erzählens, die Narrative und ein erzähltes Universum über einzelne Medienprodukte und Textsorten hinaus umfassen (cf. Decker 2016). 30 Jan-Oliver Decker / Hans Krah Während die materiale Aneignung die Faktoren der Textualität neu justiert und von hier aus ausgeht, setzen die Formen mentaler Aneignung beim Referieren und Diskutieren der ursprünglichen Textualität an und kommentieren und bewerten sie im Rahmen ihrer kulturellen Wirksamkeit. Dementsprechend lassen sich die Formen mentaler Aneignung bezüglich zweier Facetten ausdifferenzieren: Zum einen (i) die Rezeption und Deutung auf der Ebene des Verstehens und zum anderen (ii) die Verarbeitung und Rückbindung der erkannten Propositionen an kulturelle Diskurse. Für die rezeptive Aneignung eines Textes spielen insbesondere die Dispositivstruktur und Kulturalität in all ihren Aspekten eine Rolle. Inwieweit Textsemantik und Paradigmenvermittlung, also Textualität, hierfür die Basis bilden, ist durchaus variabel. Grundsätzlich gilt es dabei festzuhalten, dass aus semiotischer Perspektive Textsemantiken von ihren Rezeptionen zu unterscheiden sind. Semantik und Rezeption sind zwar aufeinander bezogene Phänomene, aber nicht miteinander identisch und deshalb zunächst getrennt zu betrachtende Untersuchungsbereiche (Textpropositionen vs. erkannte Propositionen). Nur durch die Textstruktur kann ermittelt werden, ob eine spezifische Wirkung oder Reaktion im kulturellen Gefüge als plausibel oder gerechtfertigt zu bewerten ist oder welche textuellen Wirkfaktoren Anlass zu einer bestimmten Art der Aneignung geben könnten. Hier sind zudem Faktoren zu berücksichtigen, die nicht von der konkreten Semantik abhängen, sondern vom Agens der Rezeption: Status, Bildung, Wissensstand, Geschlecht, Alter, Beruf, momentane emotionale und kognitive, psychische Verfasstheit sind zu berücksichtigen. Die Textbedeutung in ihrer diachron synchronen Kulturalität als Dokument historischer Zeit ist dabei analytisch von Textdeutungen in späteren kulturellen Kontexten zu unterscheiden (cf. hierzu Krah (2006: 66-67) zum geradezu dogmatisch gewordenen Status der einen Textbedeutung und Krah (2010) zur Form der Bedeutungsprojektion). 35 Zu beachten ist bei der mentalen Aneignung also, ob beispielsweise ein Text wissenschaftlich als Dokument seiner Zeit betrachtet wird (üblicherweise die Perspektive in der Mediengeschichte) oder ob seine Aneignung in anderen Zeiten und aus Perspektive ihrer Kulturalität stattfindet. 3.2 Ein Beispiel: Aneignung als Vorwurf Im Folgenden soll diese zuletzt skizzierte Form von Aneignung an einem Beispiel bezüglich Little Britain illustriert und reflektiert werden. Im klassischen Sinne handelt es sich um eine Diskussion eines Forschungsbeitrags, wobei dies in unserem Kontext relevant ist, da dieser Beitrag nicht im wissenschaftlichen Diskurs verhaftet bleibt, sondern gerade durch die dort vertretenen Thesen kulturell ausstrahlt. Auch die Rekonstruktion solcher textevozierten Wissensbausteine stellt ein zentrales Anliegen eines kultursemiotischen Zugangs dar. Im Folgenden soll die Argumentation nachgezeichnet und unter Anwendung oben eingeführter Dimensionen hinsichtlich ihrer Validität überprüft werden. Gegenstand ist der Beitrag Findings 2008, der oben schon erwähnt wurde. Ob dieser Beitrag selbst im Zentrum oder in der Peripherie der Forschungslage zu situieren ist, welchen Status er also einnimmt (und ob 35 Für die Diskussion um Little Britain ist zu konstatieren, dass den von 2003-6 produzierten Texten ‘ neue ’ Erkenntnisse und andere Brennpunkte oktroyiert werden, die aber eher dem Denken und den Diskursen von 2020 entstammen. Wie und in welchen Kontexten dies legitim sein kann, ist nicht pauschal zu klären, sondern im Einzelfall zu reflektieren. Texte und Aneignungskulturen 31 und inwieweit sein Status rein historisch zu werten ist oder er aktuell referenzialisiert und wiederverwertet wird), sei dabei zunächst hintangestellt. 36 Zumindest ist Findings Arbeit im Netz zugänglich und verfügbar, auf sie wird verwiesen und sie wird in populären Kontexten als Referenz aufgegriffen. 37 Zudem werden die dort artikulierten Positionen in folgender Sekundärliteratur nicht notwendig diskutiert oder ad acta gelegt, sondern eher konsensual übernommen (etwa Lindner 2016). 38 3.2.1 Grundthese Ironie-Verdikt Findings Auseinandersetzung mit Little Britain basiert zunächst auf der Erkenntnis, dass durch das Label ‘ Ironie ’ gerne eine substanzielle Auseinandersetzung mit der ideologischen Schicht eines Textes von vornherein verhindert wird: “ irony has become the ‘ get out of jail free ʼ card that acts to close down the possibility of critique. ” (Finding 2008: 11) Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Nur das Deklarieren eines Sachverhalts als “ ironisch gemeint ” macht die Textstruktur nicht ironisch. Dass dies eine beliebte Argumentationsstrategie ist, wenn es um das Kaschieren zugrundeliegender Ideologeme geht, ist ebenso richtig und selbstverständlich kritisch zu hinterfragen. Allerdings scheint Finding daraus abzuleiten, dass Ironie per se nicht existent sein kann - und dies geht an der Realität vorbei, wie bereits die antike Rhetorik lehrt. Dass Ironie ein textuelles Verfahren ist (das sich insbesondere durch den Bruch von Erwartungshaltungen ergibt, die entweder textuell konstruiert sind oder sich auf kulturelle Wissensbestände beziehen), das sich dann als solches in den Textstrukturen spiegeln und darüber belegen lassen muss, wird ignoriert. 3.2.2 Beschreibungsgenauigkeit Zu konstatieren ist, dass der Text Little Britain wenig solide beschrieben wird und damit die Ergebnisse auf einer wenig validen Grundlage stehen. Eine einigermaßen fundierte semantische Analyse fehlt, die Arbeit enthält Fehler: So wird behauptet, dass Maggie und Judy rassistisch konzipiert wären (Finding 2008: 23 - 24), was für die Figur der Judy nicht stimmt. Auch wird auf eine Abfolge und entsprechende Bezugnahmen nicht geachtet und von falschen Reihenfolgen ausgegangen. So wird bei Ting Tong die entsprechende Sketchfolge aus Little Britain Abroad einbezogen, die aber zunächst als eigener Text zu betrachten ist, zumal sie eine eigene Geschichte aufweist. Sie konstruiert mit dem Raum des belgischen Campingplatzes nicht nur die für diese Staffel an sich relevante Differenz von eigen und fremd (und damit die Verhandlung, wie relevant diese Differenz ist), sondern 36 Worauf im Folgenden nicht eingegangen wird, ist Findings Kapitel 7: “ MATT LUCAS AND DAVID WALLIAMS AS FIGURES ” (2008: 22-23). Mit “ as figures ” ist nicht gemeint, dass die beiden als Ikonen untersucht werden würden, deren Starimage den Bedeutungsprozess beeinflusst, sondern in diesem Kapitel werden die Künstler biografistisch einer trivialpsychoanalytischen Ferndiagnose unterzogen. Dies lässt Zweifel am Wissenschaftsverständnis aufkommen und entzieht sich einer seriösen Diskussion. 37 So in einem Beitrag vom 10. Juni 2020 auf https: / / www.queer.de/ detail.php? article_id=36307, der im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung unter Rekurs auf Finding vor allem das Blackfacing von Desiree DeVere (Walliams) als Grund dafür anführt, dass die Serie von der BBC aus den Streaming-Diensten entfernt worden ist. Am 30. August 2008 titelte https: / / www.queer.de/ detail.php? article_id=9555 zu Finding: “ Forscherin: Little Britain erzeugt HomoHass ” . 38 Inwieweit Finding in ihrer Argumentationslogik ein Einzelfall ist oder eher repräsentativ für Vorgehensweisen der Cultural Studies steht, wollen wir hier offenlassen. 32 Jan-Oliver Decker / Hans Krah etabliert mit den Paaren Ting Tong und Mr. Dudley sowie Dudleys Bruder und Ivanka eine neue Figurenkonstellation, die gerade bezüglich eines Stereotyps ‘ Braut aus dem Katalog ’ neue Aspekte eröffnet: Ivanka fungiert als ehemalige russische Pornodarstellerin (Snow White Does the Seven Dwarfs) als Gegenmodell zu Ting Tong, die mittels einer List Mr. Dudleys Interesse von Ivanka zu sich zurückholen und ihn dominieren kann, während Dudleys Bruder Ivanka verlässt. Wird diese Differenz zwischen Ting Tong und Ivanka aber nicht einbezogen, ist bereits die Grundlage der Argumentation ungenau. Wie können dann aber solide Thesen gebildet werden? 3.2.3 Selektive Additivität Insgesamt wird an sich wenig Augenmerk auf den Text, das Little Britain-Universum, gelegt. Wenn auf den Text Bezug genommen wird, wird dies nicht im Sinne von Textualität (siehe oben) getan. Der Text als Gesamtsystem bleibt unberücksichtigt. Nur einzelne, ausgewählte Figuren werden betrachtet, ohne aber deren Stellung und Beziehungen im Gesamtgefüge einzubeziehen. Nun ist es durchaus legitim, sich auf einzelne Figuren zu konzentrieren, doch dann können diese Befunde nur valide sein, wenn sie zumindest vor der Folie des jeweiligen Gesamtsystems gesehen und mit diesem abgeglichen werden (wie oben bei 2.2 kurz skizziert), allein schon um zu erkennen, ob der Befund als Einzelfall oder Standard zu werten, als Abweichung oder als Normalität gesetzt ist. Dies ist bei Little Britain entscheidend, da es gerade um Paradigmenbildung geht und diese zudem an die nationale Identität rückgebunden ist, wie durch den Titel markiert ist und durch den Erzähler expliziert wird. Auch bleibt bei Finding unberücksichtigt, dass einzelne Sketche häufig in einer seriellen Beziehung zu nachfolgenden stehen und damit eine gewisse Geschichte mit Ergebnissen oder zumindest Fortsetzungen präsentiert wird, wodurch sich ein narrativer Rahmen für die Figuren ergibt. 3.2.4 Theorie-Überlagerung Statt von Textbeobachtungen auszugehen, werden Frames von außen auf den Text und vor allem auf die Figuren gestülpt - “ The chav mum ” , “ the gay man ” , “ the mail order bride ” (ibid.: 13). Diese Frames sind als Modelle an sich eher etwas undifferenziert, unspezifisch und allgemein - und dienen vor allem als Prokrustes-Bett, für das der Text und die Figuren passend gemacht werden (cf. Krah 2006: 70). Man findet im Text, was man finden will - und man kann gar nichts anderes finden, da dies der Zugang einer Projektion von außertextuellen Stereotypen auch nicht zulässt. Diese Stereotypenframes, derer sich Finding bedient, wären (i) an sich hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit zu hinterfragen. Zudem werden sie (ii) nicht weiter interpretiert, es wird also nicht gefragt, welche Funktion sie im Text und für diesen eigentlich haben. Ihre Setzung als gegeben ist Selbstzweck. Ob damit die eigenen Thesen belegt sind, wird nicht weiter reflektiert. 3.2.5 Rezeptionsaffinität Finding argumentiert zumeist über die Rezeption, nicht über den Text - dennoch werden die sich aus (perfiden, einfach nur dummen oder autoritär gesetzten) Nutzungen (und nicht Aneignungen, siehe unten) ergebenden ideologischen Implikationen am Ende dem Text selbst angelastet. Dem Sketch wird in der Nutzung eine homophobe Struktur unterstellt und Texte und Aneignungskulturen 33 diesem wird die Verantwortung für eine solche Nutzung zugewiesen. So zitiert auch Lindner (2016: 337) Finding, ohne deren Grundlagen zu explizieren, geschweige denn, zu reflektieren oder zu diskutieren. Hier heißt es: “ Moreover, what sticks with the viewer is primary the humour-generating stereotype and not its more subtle subversion within the sketch or any comments outside the filmic text. ” (Lindner 2016: 338) So sehr dem letzten Teil zuzustimmen ist, denn Kommentare über den Text, von wem auch immer, können nicht die Textbedeutung bestimmen, so wenig ist der Exkludierung des Textes an sich zuzustimmen. 3.3 Little Britains Umgang mit Stereotypen - kultursemiotische Lektüre Der Text Little Britain stützt eine solche Nutzung weder, noch lässt er sie zu. In Little Britain liegt keine subtile Subversion vor, sondern durch die textuellen Mittel wird selbst durchaus deutlich und markiert bewusst gemacht, dass hier gerade keine gängigen, textextern vorgefertigten Stereotypen gezeichnet und transportiert werden. Die folgenden Argumente, die sich auf die Befunde einer analytischen Betrachtung des Textes beziehen und auf den skizzierten Grundlagen aufbauen, sind dem entgegenzuhalten. 3.3.1 Funktionalität und Bedeutungsautonomie Dass mit kulturellem Wissen und populären Vorstellungen über ‘ Außenseiter ’ in Little Britain operiert wird, ist unbestritten. Doch entscheidend ist, wie im Text damit umgegangen wird, wie er solche Wissensmengen funktional für seine eigene Bedeutungsgenerierung einsetzt, welches textuelle Bild darauf aufbauend also konstruiert wird (cf. 2.2). Wenn Sebastian etwa das Merkmal des effeminierten, hochemotionalen Mannes hat, dann mag das auf Vorurteile gegenüber Schwulen verweisen und solche Wissensmengen aufrufen. Aber die Sketche zeigen, dass die Figur darin gerade nicht aufgeht und diese Merkmale nicht in konkomitante Negativzusammenhängen verortet sind (Cf. zu solchen Zusammenhängen grundlegend Krah 1997). 3.3.2 Paradigmenbildung Zudem und entscheidend ist es nicht eine Figur, an der eine solche Stereotypisierung vorgeführt und verbreitet werden würde. Es geht in Little Britain dezidiert um Paradigmenbildung. Einzelne Stereotype, so sie zu finden sind, nivellieren sich damit gegenseitig. Ein Stereotyp funktioniert nur durch seine Selbstverständlichkeit, die ihm in einem Text zukommt. Werden Stereotype zur Reihe, wird das einzelne Stereotyp durch diese Relationierung thematisch. Wenn zudem nur noch Stereotype vorhanden sind, wird der Diskurs selbstreferenziell auf Stereotype an sich gelenkt. In der Gesamtschau erhält dann jedes Stereotyp ‘ sein Recht ’ , da diese aber paradigmatisch ein breites Spektrum abbilden, relativiert sich das einzelne. Indem eine nationale Identität konzipiert wird, die sich aus einem breiten Fundus an devianten Erscheinungsformen zusammensetzt und diese Identität sich gerade daraus ergibt (cf. oben), stellt sich weder die Frage nach normal oder nicht normal, noch die von Abweichung überhaupt: Denn jede dieser Abweichungen wird letztlich toleriert - auch wenn sie registriert wird: Jeder hat seinen ‘ Spleen ’ , gerade das zeichnet das dargestellte Universum aus. 34 Jan-Oliver Decker / Hans Krah 3.3.3 Aktantenstruktur Die dargestellten Figuren sind die Protagonist*innen der vorgeführten Geschichten und werden bereits dadurch narrativ in die Rolle von Sympathieträger*innen gedrängt. 39 Sie dominieren den Discours, sie dominieren zumeist auch ihren narrativen Kontext. Sie werden durch die Sketche und in den jeweiligen Geschichten weder diegetisch abgewertet oder in ihrem Verhalten sanktioniert oder aufgrund eines Stereotyps lächerlich gemacht. Dies wird deutlich bei der xenophoben, sich bei allem ‘ Fremden ’ übergebenden Maggie, die diegetisch nie zur Verantwortung gezogen wird - und sich erst in Little Britain Abroad selbst sanktioniert, indem sie ihre Phobie gegenüber dem Fremden konsequent rekursiv auf sich selbst anwendet. Wenn Sebastian Love äußerlich einem Klischee entspricht, geht er, wie die Narration zeigt, in diesem Klischee gerade nicht auf - und ist immer wieder im Geschehenszusammenhang auch erfolgreich. 40 Für Daffyd sei der Umgang mit dem Klischee und die textuell zugrundeliegende Argumentation nachgezeichnet: Wenn Daffyd Objekt des Humors ist, es also ein Lachen über ihn gibt, dann kann dies nicht getrennt sein von der Aussage, über die er sich definiert, also “ the only gay in the village ” zu sein. Diese Aussage im Kontext ihres inszenierten Umfeldes ist es (wozu seine Camp-Performance und die ostentative Körperlichkeit dazugehören), die ihn lächerlich macht. Wenn aber diese Aussage als Zuschauer*in ebenfalls nicht akzeptiert wird, dann teilt er/ sie damit die Einstellung aller anderen der Diegese. Und diese ist: Jede/ r toleriert Schwulsein oder hat keine Probleme mit irgendeiner Form von Sexualität oder sexuellen Orientierungen oder ist, ohne dass dies auf den ersten Blick zu erkennen wäre, selbst schwul oder lesbisch. Wer Daffyd auslacht, muss diese Einstellung der Toleranz als ihre/ seine eigene erkennen oder zumindest als mit ihrer/ seiner eigenen konform gehend akzeptieren. Daffyd auszulachen heißt, seine eigene restriktive Sicht als das zu verstehen, was sie ist: reaktionär. Wem aber diese durch die Diegese vermittelte Einstellung - und damit Normalität - als inakzeptabel erscheint, wer also homophob ist, die/ der sieht sich mit Daffyd vereint, der sich ja regelmäßig über diese liberale Sicht der Gesellschaft mokiert und ihr diskriminierend ablehnend gegenübersteht. Das Publikum ist dann wie Daffyd, müsste also sich selbst auslachen. Lacht es ihn nicht aus, dann ist aber Daffyd in seiner ganzen schwulen Eigenart ernst zu nehmen und ist diese zu reflektieren. Die Textstruktur erzwingt also solche Rückbindungen des Sich-selbst-den-Spiegel-Vorhaltens, wobei dies, auch durch die Wiederholungen, so subtil nun gerade nicht ist. 39 Das gilt zunächst durchaus auch für Maggie oder Majorie, also Figuren mit rassistischen Merkmalen. Denn auch diese werden einem als Figuren nahegebracht. Zur Relativierung wird hier mit Gegenpolen operiert, die die jeweiligen rassistischen Exzesse rahmen und deutlich machen, dass die jeweilige Reaktion nicht von jedem so gesehen wird und gesehen werden muss (etwa wenn Judy zumeist peinlich berührt erscheint; die Fatfighter-Gruppe etabliert geradezu ein kollektives Gegengewicht zu ihrer Gruppenleiterin). 40 Etwa in Staffel drei, Folge zwei, wenn Sebastian im Unterhaus mit einer gesanglichen Einlage ( “ You are beautiful. Words don ’ t bring you down ” ) den Premierminister unterstützt, dem vorgeworfen wird, dass er schlecht aussehe; eine Aktion, die auch die Bewunderung der Opposition erhält ( “ Warum arbeitet der Mann nicht für uns? ” ). Texte und Aneignungskulturen 35 3.3.4 Figurenzeichnung Die Protagonist*innen sind durch ihre Geschichten, insbesondere aber durch die konkrete, materiale Figurenzeichnung, Charaktere. Dies indizieren schon ihre Namen, aber auch ansonsten sind die Figuren - auch gerade in ihren Überzeichnungen und durch diese - individuell: Spleen macht einzigartig. Daffyd ist kein Exempel, er vertritt nicht exemplarisch das Stereotyp des Gay Man und geht darin auf, sondern er ist eine Singularität, 41 die in ihrer Borniertheit der Welt gegenüber tragikomische Züge aufweist, dabei aber liebenswert bleibt. Vicky steht nicht stellvertretend für die Chav Mum, sondern maximal für eine ganz eigene Ausprägung. 42 Ting Tong ist bereits rein körperlich keine Thai-Braut aus dem Katalog, sondern, wie in dieser Sketchfolge gerade Thema ist, ein ganz eigener Geselle. 43 3.3.5 Verkörperungen Dass die Figuren individuelle Charaktere sind und in sich eine stringente, stimmige, einzigartige Konzeption der Person aufweisen und nicht als Karikatur erscheinen, resultiert auch daraus, dass Lucas und Walliams ihnen durch ihr Spiel Individualität verleihen. Dabei bleibt die Figur aber immer als verkörperte Rolle markiert und nie wird die Grenze überschritten, die Figuren tatsächlich als irgendwie authentisch zu begreifen. Es sind in der Performanz erschaffene Kunstfiguren. Dass performt wird, ist ein entscheidendes Merkmal und Kennzeichen. Die Figuren von Little Britain sind Verkörperungen, was auch dadurch 41 Diese Singularität wird gerade dann deutlich, wenn er oberflächlich über die Kleidung anderen angenähert scheint. Diese Äquivalentsetzung dient aber nur einer Kontrastierung, die seine Besonderheit und Andersartigkeit hervorhebt. 42 Finding referiert hier auf Imogen Tyler und deren Aufsatz “ Chav Mum, Chav Scum ” (2008), ohne allerdings zu reflektieren, inwieweit dieser Beitrag als Grundlage einer analytischen Auseinandersetzung mit Little Britain dienen kann. Bei Tyler geht es aus einer soziologischen Perspektive um das konstatierte Phänomen, dass sich etwa ab den 2000er Jahren in den öffentlichen Medien in Großbritannien eine klassenspezifische Ab- und Ausgrenzungsrhetorik artikuliert und dort transportiert wird. Chav ist die (von der weißen, männlichen Mittelschicht getragene und von dort positionierte) Konstruktion einer Vorstellung über die (vor allem weiblichen) Angehörigen der Unterschicht, die in ihrem Merkmalsbündel dazu dient, Abscheu hervorzurufen. Artikulation wie Verbreitung dieses Abscheus werden dann gerade in den neuen Medien/ Internetforen zelebriert (eine frühe Form des Hasskommentars). Tyler zeigt, dass zur Beglaubigung und Autorisierung dieser Konstruktion auch auf die Figur Vicky Pollard aus Little Britain zurückgegriffen, diese in der Nutzung also hierfür funktionalisiert wird. Diese Beobachtungen sind sicher richtig, und auch die Stoßrichtung des Beitrags, der solche Positionen reflektiert und kritisiert, ist begrüßenswert. Nur bedeutet dieser soziale Befund noch nicht, dass er sich tatsächlich durch den Charakter Vicky Pollard und Little Britain an sich stützen ließe. Wenn sich Tyler auf den Artikel von James Delingpole in The Times vom 13. April 2006 bezieht, in dem Vicky als solches Exempel instrumentalisiert wird, dann ist damit noch nichts darüber ausgesagt, ob Delingpoles Argumentation/ Rhetorik auf textuell gestützten Grundlagen basiert (wenn etwa für die Chav Schwangerschaft als Karriereoption behauptet wird, trifft dieses Merkmal auf Vicky eindeutig nicht zu). Tyler muss es als Soziologin auch nicht um diese Zusammenhänge gehen, ihr Gegenstand ist die Bilanzierung eines kulturellen Phänomens, das mit einem gesellschaftlichen Wandel zu korrelieren scheint, und dessen soziale Auswirkungen Virulenz in der britischen Gesellschaft, im Sinne von 2.4.1 und 2.4.2 haben. Nur kann die Textfigur auch unabhängig davon gesehen werden und sollte und müsste dies auch, wenn wie nun bei Finding der Text selbst Gegenstand ist. Dass dann das zentrale Merkmal, dass die “ figure ” Chav Abscheu evoziert, textuell mit der Semantisierung von Vicky gerade nicht gegeben ist, übersieht auch bereits Tyler. 43 Wo diese individuelle Konzeption bei Little Britain nicht greift, so in den beiden kurzen Auftritten der Blackface-Minstrels (Staffel 1, Folge 1 und 3), wäre dann tatsächlich der Ausgangspunkt einer kritischen Diskussion gegeben. 36 Jan-Oliver Decker / Hans Krah deutlich wird, dass beide in viele und unterschiedliche Rollen schlüpfen. Gerade das hyperbolische Ausstellen des Körpers in seiner Materialität macht ihn zum Zeichen, das eben nicht als Eigentliches, sondern als Ergebnis einer künstlerischen Leistung zu sehen ist. 3.3.6 Selbstreferenzialität Die Figuren verweisen letztlich primär auf sich selbst. Auch wenn Vicky in der kulturellen Nutzung und der (darauf bezugnehmenden) Sekundärliteratur als Repräsentation der nicht arbeitenden Unterschicht gesetzt wird, ist sie in der Diegese (also bei Betrachtung des Textzusammenhangs) doch nur ein Teil davon. Die anderen aus diesem Milieu sind aber deutlich anders gezeichnet, wie ihre Gang zeigt. Vicky steht diegetisch nicht exemplarisch für ihre Schicht, sie stellt dort selbst eher die Ausnahme dar; eine Ausnahme, die akzeptiert, gefürchtet, aber für normal genommen wird. Ebenso wenig ist Daffyd “ the representation of a gay sexual identity ” (Lindner 2016: 335). So sehr bei der Figurenzeichnung mit Zeichen operiert wird, die aus dem Fundus des ‘ Populärwissens ’ stammen: Die Figuren Vicky und Daffyd werden stereotype Repräsentationen erst durch eine entsprechende Festlegung und Reduzierung in der kulturellen Aneignung/ Nutzung, so eben auch von zumindest Teilen der Sekundärliteratur, die sich dabei zum einen auf eher wenig differenzierte Frames bezieht (so dass die Frage aufkommt, welchen Erkenntniswert eine Zuordnung überhaupt noch hat), zum anderen die textuellen Spezifika ausblendet. Mit Emily Howard wird weniger Transvestismus, sondern Fetischismus vorgeführt, und er/ sie ist keinesfalls im Kontext von Transsexualität zu sehen. Primär geht es darum, eine in der Gegenwart anachronistische, elitäre viktorianische Lady zu sein (wie Kleidung, Settings und Gebaren indizieren), jedenfalls nicht eine in der Gegenwart sozial und kulturell integrierte transsexuelle Frau. In Little Britain geht es generell darum, den Körper herauszustellen und mit dem Körper semiotisch zu spielen. Dies zeigt sich beispielhaft am Umgang mit abweichenden Körpermaßen und abweichenden Körperfunktionen. Abweichende Körpermaße werden eher seltener als ein ‘ Zuwenig ’ (der sehr kleine Dennis Waterman, der seinen Agenten aufsucht), sondern dominant eher als ein ‘ Zuviel ’ an Masse in Little Britain inszeniert: Die selbst übergewichtige Marjorie Dawes und ihre Fat Fighters ( “ Hello Fatties! ” ), Daffyd, Ting Tong Macadangdang, Bubbles und Desiree DeVere in ihren Fat Suits. Marjorie verhält sich rassistisch gegenüber Meera und beleidigt ihre Klient*innen wiederholt als extrem fett und übergewichtig. Ihre eigene Körperlichkeit zeigt dabei ihre verlogene Doppelmoral und ihre eigene Willensschwäche an ( “ Oh man, I love the cake! ” ). Ihr Übergewicht wird aber nicht an sich lächerlich gemacht oder problematisiert. Daffyds Körperlichkeit wird durch seine engen Lackkostüme und Netzeinsätze betont, die mit schwuler Clubkultur konnotiert sind. Sein Übergewicht wird zwar in Szene gesetzt, nicht aber thematisiert, sondern ignoriert und als selbstverständlich gesetzt. Auch mögliche Sexualpartner stören sich nicht an seiner Körperlichkeit. Ting Tong weicht nicht nur durch ihr Übergewicht von der Fotovorlage ab, nach der sich Mr. Dudley seine Frau bestellt hat, sondern sie uriniert im Stehen und outet sich als “ Ladyboy ” namens Tong Ting. Trotzdem ist sie in der Lage, wie am Ende jeden Sketches deutlich wird, durch inszenierte Devotheit Mr. Dudley erotisch an sich zu binden und so zu dominieren, dass sie ihn am Ende aus seinem Haus vertreibt, das sie mit Hilfe ihrer Verwandten in ein Thai-Restaurant Texte und Aneignungskulturen 37 verwandelt hat. Diese latente Fetischisierung des weiblichen Übergewichts in der Serie wird durch Bubbles und Desiree DeVere auf die Spitze getrieben, die sich zu allen Gelegenheiten entblößen, miteinander nackt ringen, was Bubbles Ex-Mann und Desirees aktuellen Ehemann Roman ergötzt. Bubbles selbst hält sich für eine schöne und attraktive Frau, die versucht Mr. Hutton, den Chef des Spas, in dem sie lebt, durch körperliche Gefälligkeiten davon abzuhalten, eine finanzielle Gegenleistung von ihr für ihren Aufenthalt zu fordern. Andys männliches Übergewicht wird durch sein Unterhemd ebenfalls inszeniert, in den Sketchen mit Lou dient aber vor allem seine nur vorgebliche Behinderung, seine scheinbare körperliche Einschränkung, als Basis der Sketche. Lou versucht immer, Andy einen Wunsch zu erfüllen, den dieser dann am Ende immer ins Gegenteil verkehrt. Insbesondere durch Andys situationsmächtigen Körpereinsatz hinter Lous Rücken entsteht dann die Komik, weil Andy eigentlich Lous fast zärtliche Fürsorge körperlich gar nicht, wohl aber essenziell emotional benötigt. Insbesondere die enge Bindung von Lou und Andy zeigt eine für Comedy-Formate so ungewöhnlich enge Männerfreundschaft und ein wechselseitiges aufeinander-angewiesen-Sein an, die beide durch nichts zu erschüttern sind. Im Bereich der Körperfunktionen werden dominant aber in Little Britain, anders als bei Andy und seiner besonderen Körperkontrolle (vergleichbar wäre Anne, die als Behinderte künstlerisch Performen, Singen und Tanzen oder in eine Bibliothek Teilzeitarbeiten kann), eher die sozial unangemessenen Körperfunktionen inszeniert. Dies zeigt sich schon im halböffentlichen Stillen des erwachsenen Harvey Pincher, insbesondere aber in Maggies xenophobem Erbrechen und in Mrs. Emerys Inkontinenz als Comedy-spezifischem Fäkalhumor. Gerade hier zeigt sich, dass einzelne kulturelle Grenzen dabei in Little Britain kaum eine Rolle spielen. Es geht weniger um die konkreten Grenzüberschreitungen, sondern vielmehr um eine Transgression von kulturellen Grenzen als solchen und an sich. 44 Dies zeigt sich sehr deutlich anhand von Sebastian Love. Die jeweils kulturell zu erwartenden Reaktionen auf ein offensives homoerotisches Begehren treten diegetisch nicht auf. Eher spielt die Serie mit solchen Erwartungen der Zuschauenden, zeigt aber keine Strafe für Sebastians homoerotisches Verlangen. Vielmehr zeigt Little Britain anhand der homosexuellen Handlungen des Prime Minister, dass ein homoerotisches Begehren durchaus auch bei ihm vorkommen kann. Der Witz entsteht dadurch, dass Sebastians Begehren nicht erfolgreich ist, nicht, dass es ein an sich lächerliches homoerotisches Begehren ist. Diese Bewertung von Homoerotik ist im Vergleich mit der serienextern kulturellen Realität sicher ein utopisches Moment. Aber seit wann darf Kunst nicht mehr utopisch sein (zumal, wenn sie sich in einem Textformat wie der Comedy konkretisiert)? 4 Text und Text-Nutzung - einige Folgerungen Abschließend möchten wir unsere Ergebnisse in einem Plädoyer für eine semiotische Medienanalyse in den Kulturwissenschaften zusammenfassen, das sich auf die hier erhobenen Befunde und die Methoden der Befunderhebung stützt. 44 Dies zeigt auch das Video zu The Big Night In permanent durch die Überwindung des Splitscreens an, das sich so auch als selbstreflexives Selbstbild der Schauspieler verstehen lässt (s. o.). 38 Jan-Oliver Decker / Hans Krah 4.1 Text-Nutzung Eine wesentliche Leistung der Cultural Studies ist in dem Umstand zu sehen, dass sie durch eine Öffnung des Untersuchungsrahmens den Blick für kulturelle Reproduktionsprozesse symbolischer Ordnungen gerade innerhalb der Populärkultur geschärft und diese entlang zentraler identitätsrelevanter Kategorien - Ethnie, soziale Klasse, Gender etc. - ausdifferenziert haben (cf. Hennig & Krah 2017: 459 f.). Wenn in dieser Folge aber Beobachtungen in ihrer Generalität zum Teil die Rückbindung an die Untersuchungsbeispiele vermissen lassen wie bei Finding, ist dies kritisch zu beurteilen. In der Regel bleibt hier gerade der Zusammenhang zwischen dem Text als solchem und seinen möglichen Rezeptionsmodi ungeklärt. Rainer Leschke verweist in diesem Zusammenhang mit Umberto Eco auf einen zentralen Unterschied zwischen der Interpretation und dem Benutzen von Texten: Während sich die Nutzung nur sehr bedingt durch die Textstruktur vorhersagen lässt, kann die Interpretationsbandbreite des Materials sehr wohl durch eine Analyse seiner Tiefenstruktur bestimmt werden (cf. Leschke 2003: 205). Auch die an kultureller Bedeutungsbildung interessierte Untersuchung bleibt damit auf die Textanalyse als ihr zentrales Handwerkszeug angewiesen. 4.2 Methodenproblematik Textgestützte Befunde und Argumente werden dann irrelevant und marginal, wenn die textuelle Ebene per se nicht zählt, sondern nur das Nutzer*innenverhalten interessiert. Auch dies ist ein legitimes Forschungsinteresse, doch stellt sich die Frage, ob es dann hierfür nicht eigene und geeignete Forschungsdesigns bräuchte und der Fokus dann nicht auf der Nutzung als Gegenstand selbst liegen müsste. Wenn mit Rezeption und Zuschauer*in argumentiert wird, so ist dies qualitativ und quantitativ empirisch methodisch sauber nachzuweisen. Häufig bleibt es aber bei aus einzelnen Aussagen extrahierten Beobachtungen und Behauptungen, die dann als Beweismittel fungieren. Wie bei Finding zu sehen ist, bleibt die Argumentation an der Oberfläche von Texten verhaftet und es werden nur (mehr oder weniger beliebige, maximal heuristisch relevante) Einzeläußerungen herangezogen, so dass fundierte und systematische Aussagen über solche Nutzungen nicht gezogen werden (können). 4.3 Referenz-Problematik Wenn es bei Finding (2008) um die Rezeption geht und argumentiert wird, dass dort der Textkontext zugunsten der verabsolutierten, in Erinnerung gebliebenen Figur zu vernachlässigen ist, es also um Vicky, Ting Tong oder Daffyd an sich geht, die bei den Rezipienten*innen hängen bleiben (so auch Lindner 2016), dann bleibt die Frage offen oder wird gar nicht gestellt, auf was sie dann als Repräsentationen eigentlich verweisen? Wird Vicky tatsächlich als Index für das Stereotyp der Chav Mum wahrgenommen und Daffyd als der Schwule und Ting Tong als Braut als dem Katalog? 45 Werden Stereotype exzerpiert - und wird damit eine Referenz auf die Realität erstellt? 45 Bei Ting Tong ist durch die Körperlichkeit offensichtlich, dass diese keine Thai-Braut aus dem Katalog ist. Diesbezügliche Einstellungen werden ja gerade mit Mr. Dudley in den Sketchen persifliert (und in Little Britain Abroad mit dessen Bruder und Ivanka explizit auf die Spitze getrieben). Aber auch gegen solche Offensichtlichkeiten immunisiert sich Finding (2008: 18), indem sie dies einfach als Bestätigung des nächsten Texte und Aneignungskulturen 39 Dies wird bei Finding und ihren unkritischen Wiederaufnahmen unterstellt, belegt wird dies nicht. Aus den obigen Ausführungen könnte deutlich sein, dass der Zeichenstatus doch eher selbstreferenziell auf sich selbst als individuelle Kunstfiguren zurückverweist und auf Little Britain als dem Medienformat, dem sie entstammen. Wer die Figuren aufgreift, argumentiert nicht mit der Repräsentation eines Vorurteils, sondern der Repräsentation einer Comedyserie - dies ernst zu nehmen und sich nicht selbst lächerlich zu machen, kann erst in Zeiten ernsthaft in Erwägung gezogen werden, in denen (wie in und durch Trump- Zeiten) die Negierung diesbezüglicher Unterschiede (bezüglich der Grundlage von Informationen) systematisch und institutionell hoffähig geworden ist. Zu Zeiten von Little Britain, Anfang der 2000er, dürften derartige Grenzziehungen im Denken durchaus noch manifest gewesen sein. 4.4 Medienkompetenz Dass Little Britain und seine Ikonen für diskriminierende Diskurse instrumentalisiert werden, wird stimmen. Solche Nutzungspraktiken können aber nicht notwendigerweise einem Text angelastet werden. Jeder Text kann in der Nutzung durch Selektion und Attribuierung so angeeignet und ausgelegt werden, dass er zur eigenen Einstellung passt. Nicht Vorhandenes kann ihm zugesprochen oder unliebsam Vorhandenes abgesprochen werden (cf. zu solchen Verteidigungen von Texten und den diesbezüglichen argumentativen Strategien Krah (2009: 69 - 73) und (2020: 141 - 149)). 46 Nutzungen ersetzen allerdings nicht die Textsemantiken, sondern sie können maximal im Vergleich mit solchen gesehen und interpretiert werden - etwa, bezüglich dessen, was bei der jeweiligen Wahrnehmung stattfindet. Die jeweiligen (textuellen) Mechanismen und Prozeduren solcher Aneignungen zu rekonstruieren und offen zu legen ist es, was text-, medien- und kulturwissenschaftlich interessieren sollte. Textbezogene Wissenschaften sollten, gerade in Zeiten von Fake-News, einem aufklärerischen Impetus folgen und für Medienkompetenz sorgen. Medienkompetenz meint hier zu erläutern, wie welche manifesten medialen Bedeutungen in welcher kulturellen und historischen Polyvalenz in welchen Kontexten zusätzliche Bedeutungspotenziale entfalten. 4.5 Text-Hoheit Die Irrelevantsetzung des Textes, die bei Finding und anderen praktiziert und sogar hofiert wird, impliziert, die Diskurshoheit über kulturelle Phänomene an (irgend)eine beliebige Nutzung abzugeben. So sehr der Unterschied von Höhenkamm und populärkulturellen Texten aufgegeben worden ist, so sehr scheint er dann doch unterschwellig wieder hereinzukommen, wenn gerade bei populären Texten deren textuelles Bedeutungspotential nivelliert und als irrelevant gesetzt wird und hier die Nutzung zur Dominante wird. Dies ist Vorurteils perpetuiert: Die Angst des weißen (Unterschichts-)Mannes davor, dass ausländische Frauen Macht über ihn ausüben und ihn aus seinem angestammten Heim Vertreiben könnten. Wer sich aber wirklich dergestalt mit Mr. Dudley identifiziert, wenn er in der letzten Folge ohne Murren sein Haus verlässt, müsste dann aber auch sowohl den ‘ Kauf ’ der Braut Ting Tong als auch die daran gekoppelten sexuellen Vorlieben Mr. Dudleys als für sich angemessen akzeptieren. 46 Zu solchen Verteidigungen von Texten und den diesbezüglichen argumentativen Strategien siehe Krah (2009: 69 - 73) und (2020: 141 - 149). 40 Jan-Oliver Decker / Hans Krah gerade nicht kultursemiotischer Usus. Alle Texte haben das gleiche Recht, als Texte ernst genommen zu werden - zumal sich Grenzen diesbezüglich semantisch nicht bestimmen lassen. Sieht man sich zum Schluss vor diesem Hintergrund noch mal das Video zu The Big Night In an, dann erstaunt der Höhepunkt, auf den das Video am Ende zusteuert: Im letzten Sketch sehen wir Judy Pike (Matt Lucas) links im Splitscreen und Maggie Blackmoor (David Walliams) rechts. Nach dem Sketch kommt zunächst ein Bild im Splitscreen, in dem David Walliams links und Matt Lucas rechts Schilder mit den Aufschriften “ End ” und “ The ” halten und diese scheinbar austauschen, so dass man von links nach rechts über die mittige Splitscreengrenze hinweg richtig “ The End ” in der Kombination beider Bilder lesen kann. Danach wird der letzte Sketch mit Judy und Maggie im zentralen Effekt noch einmal aufgegriffen, der Sketch als Höhepunkt sozusagen reloaded. Diese Wiederaufnahme am Ende des selbstreflexiven Videos deutet daraufhin, hier noch einmal genauer hinzuschauen: Wird hier nur der Höhepunkt noch mal wiederholt, um einen nachhaltigen Effekt beim Publikum und damit Spenden zu erzeugen? Vorgeführt wird, wie Maggie rechts im Splitscreen einen für sie leckeren Kuchen probiert, von dem Judy links im Splitscreen sagt, dass er von einer Mrs. Gupta gebacken sei, woraufhin Maggie würgen muss, sich nach links wendet und den Mund aufreißt. Im linken Bild des Splitscreens ist zu sehen, wie von rechts außerhalb des Bildes eine Karotten- oder Kürbissuppe auf Judy geschüttet wird. Es wird also das Erbrechen auf Judy simuliert und dieser Effekt wird nach dem Endtitel noch einmal wiederholt. Erkennbar wird also, dass das Erbrechen nur ein Inszenierungseffekt ist, der nicht einmal in der Diegese real ist. Matt Lucas wird mit Suppe überschüttet, aber nicht Judy von Maggies Erbrochenem. Der Effekt durch die Simulation wird aber als so stark bewertet, dass er als letzter Lacher und Schockeffekt, der im Gedächtnis bleiben soll, wiederholt wird. Dieser Sketch lässt sich damit auch als Rezeptionslenkung lesen, der (i) in seiner selbstreflexiven, die Inszenierung durch die Schauspielenden transparent machenden, Lesart und (ii) in seiner diegetischen, auf Little Britain fremdreferierenden, Lesart die Inszenierung von Maggies Xenophobie, aber gerade nicht ihre Xenophobie als solche zum Herzstück des ästhetischen Konzepts des Videos stilisiert. In der Wiederholung des Effektes liegt darüber hinaus auch die Möglichkeit beim zweiten Mal genauer hinzuschauen und die Machart des Effekts zu erkennen. Die Dispositivstruktur des YouTube-Videos ermöglicht es darüber hinaus, ähnlich wie bei einem Buch die Rezeptionsrichtung umzukehren, die Bilderfolge beliebig zu wiederholen, Standbilder zu machen und insgesamt genau hinzuschauen. Die Wiederaufnahme des Effektes im Video kann dann als selbstreflexives Selbstbild zu Little Britain auch implizieren, sich die Inszenierungen der Serie Little Britain noch einmal genauer analytisch anzuschauen. Aus unserer Perspektive verdient es Little Britain jedenfalls nicht, einer ‘ Cancel Culture ’ zum Opfer zu fallen und die Originale aus dem kulturellen Gedächtnis durch ihre Nicht- Verfügbarkeit zu streichen. Dies bedeutet dann wirklich, all denen das Feld in der Deutung zu überlassen, die sich die Charaktere der Serie für ihre Zwecke aneignen, seien dies nun die zahlreichen Fandoms im Netz oder auch die diskriminierenden Kommentare, die den Figuren fremde Stereotype oktroyieren. Diese Stereotype lassen sich gerade nicht mehr relativieren, wenn die Serie nicht mehr verfügbar ist. Texte und Aneignungskulturen 41
