eJournals Kodikas/Code 43/1-2

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
92
2024
431-2

Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen. Bilder (aus) der DDR in Instagramposts

92
2024
Dennis Gräf
The paper deals with Instagram posts that (i) originate from the past of analog photography as well as (ii) from the GDR and, using these examples, (iii) proposes a heuristic procedure for the analysis of Instagram posts that is fundamentally oriented towards a semiotic approach. On this basis, (iv) the function of old GDR images within discourses of memory is examined, and (v) the resulting conclusions regarding the relationship of analog media products to digital networks and of signs of the past to media channels of the present are clarified.
kod431-20100
Genette, Gérard 2014: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Jost, Roland & Axel Krommer (eds.) 2011: Comics und Computerspiele im Deutschunterricht, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Klimek, Sonja 2010: Paradoxes Erzählen: Die Metalepse in der phantastischen Literatur, Paderborn: mentis Krah, Hans & Michael Titzmann (eds.) 2017: Medien und Kommunikation. Eine Einführung aus semiotischer Perspektive. Passau: Ralf Schuster Krah, Hans 2017: “ Mediale Grundlagen ” in: Krah& Titzmann (eds.) 2017: 57 - 80 Krammer, Stefan, Matthias Leichtfried & Pissarek, Markus & (eds.) 2021: Deutschunterricht im Zeichen der Digitalisierung, Innsbruck: Studienverlag Krichel, Anne 2020: Textlose Bilderbücher. Visuelle Narrationsstrukturen und erzähldidaktische Konzeptionen für die Grundschule, Münster: Waxmann Kümmerling-Meibauer, Bettina (ed.) 2011: Emergent literacy: children ’ s books from 0 to 3, Amsterdam: John Benjamins Publishing Kümmerling-Meibauer, Bettina 2012: “ Bilder intermedial. Visuelle Codes erfassen ” , in: Pompe (ed.) 2012: 58 - 72 Kümmerling-Meibauer, Bettina (ed.) 2014: Picturebooks: Representation and Narration, New York: Routledge Kurwinkel, Tobias 2017: Bilderbuchanalyse. Narrativik, Ästhetik, Didaktik, Tübingen: UTB Lieber, Gabriele & Birgit Flügel 2009: “ Kindgemäß oder kindgerecht? - Über den (Un-) Sinn ” kindgemäßer “ Auswahl und Gestaltung von Bildern und bildgestützten Medien ” , in: Lieber, Jahn und Danner (eds.) 2009: 28 - 38 Lieber, Gabriele, Ina F. Jahn & Antje Danner (eds.) 2009: Durch Bilder bilden. Empirische Studien zur didaktischen Verwendung von Bildern im Vor- und Grundschulalter, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Lieber, Gabriele & Bettina Uhlig (eds.) 2016: Narration. Transdisziplinäre Wege zur Kunstdidaktik (= Kontext Kunstpädagogik 45), München: kopaed Lötscher, Christine 2014: Das Zauberbuch als Denkfigur: Lektüre, Medien und Wissen in der zeitgenössischen Fantasy für Jugendliche, Chronos: Zürich Niklas, Annemarie 2012: “ (Trick)Filme und (Bilder)Bücher. Lesewelten öffnen ” , in: Pompe, (ed.) 2012: 192 - 204 Packard, Stephan (ed.) 2019: Comicanalyse: Eine Einführung, Stuttgart: Metzler Verlag Pompe, Anja (ed.) 2012: Literarisches Lernen im Anfangsunterricht. Theoretische Reflexionen. Empirische Befunde. Unterrichtspraktische Entwürfe, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Rajewsky, Irina O. 2002: Intermedialität, Tübingen: Francke Verlag Scherf, Daniel (ed.) 2017: Inszenierungen literalen Lernens: kulturelle Anforderungen und individueller Kompetenzerwerb, Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren Siefkes, Martin 2015: “ How semiotic modes work together in multimodal texts: Defining and representing intermodal relations ” , in: 10plus1 - Living Linguistics 1 (2015): 113 - 131 Staiger, Michael 2016: “ Das Bilderbuch als multimodales Erzählmedium. Analytische Zugänge am Beispiel von Jon Klassens Das ist nicht mein Hut ” . In: Lieber & Uhlig (eds.) 2016: 135 - 147 Staiger, Michael 2020: “ Von der ‘ Wende zum Bild ’ zum ‘ multimodalen Turn ’ . Perspektiven und Potenziale für eine Deutschdidaktik als Medienkulturdidaktik ” , in: Der Deutschunterricht, LXXII.5 (2020): 65 - 74 Thiele, Jens 2 2003: Das Bilderbuch. Ästhetik. Theorie. Analyse. Didaktik. Rezeption, Oldenburg: Isensee Verlag IV Vach, Karin 2017: “ Typografie - Ressource und Herausforderung für multiliterales Lernen ” , in: Scherf (ed.) 2017: 180 - 191 98 Maren Conrad Weinkauff, Gina & Gabriele Glasenapp 2014: Kinder- und Jugendliteratur, Paderborn / Stuttgart: Schöningh Wildfeuer, Janina 2019: “ Multimodale Comicanalyse ” , in: Packard (ed.) 2019: 49 - 69 Wolf, Werner 2006: “ Defamiliarized Initial Framings in Fiction ” , in: Wolf, Werner & Walter Bernhard (eds.) 2006: Framing Borders in Literature and Other Media. Amsterdam/ New York: Brill, 295 - 328 Potenziale multimodaler kinderliterarischer Genretransformationen 99 K O D I K A S / C O D E Volume 43 (2020) · No. 1 - 2 Gunter Narr Verlag Tübingen Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen. Bilder (aus) der DDR in Instagramposts Dennis Gräf (Passau) Abstract: The paper deals with Instagram posts that (i) originate from the past of analog photography as well as (ii) from the GDR and, using these examples, (iii) proposes a heuristic procedure for the analysis of Instagram posts that is fundamentally oriented towards a semiotic approach. On this basis, (iv) the function of old GDR images within discourses of memory is examined, and (v) the resulting conclusions regarding the relationship of analog media products to digital networks and of signs of the past to media channels of the present are clarified. Keywords: Instagram, Text-Bild-Relationen, Fotographie, DDR-Historiographie, Erinnerungsdiskurse 1 Instagram, die DDR und die Erinnerung Das soziale Netzwerk Instagram, das im Jahr 2010 von Kevin Systrom und Mike Krieger programmiert und von Apple auf den Markt gebracht und 2012 von der Facebook- Unternehmensgruppe gekauft wurde, ermöglicht den Usern Bilder zu posten, diese mit einem Kommentar (Caption) und Hashtags zu versehen und darüber in soziale und kommunikative Interaktionen zu treten. Häufig wird in diesem Zusammenhang das eigene Selbst im Sinne des self impression managements 1 einer globalen Öffentlichkeit präsentiert. Die auf Instagram geposteten Bilder stehen demnach in der Regel nahezu konstitutiv in einem Bezug zur Gegenwart, weil die Aktualität des Bildes als ein Authentizitätsmarker fungiert und die Followergemeinde über räumliche Grenzen hinweg vermeintlich in Echtzeit am Leben der postenden Person teilhaben kann. In meinem Beitrag interessiere ich mich, entgegen dieser ‘ eigentlichen ’ phänotypischen Verwendung des digitalen Dienstes, für gepostete Bilder, die (i) aus der Vergangenheit der analogen Fotografie sowie (ii) aus der DDR stammen. Es existieren zahlreiche Profile auf Instagram, die Bilder aus der Zeit der DDR posten und damit das soziale Netzwerk bzw. seine spezifischen dispositiven Möglichkeiten im Sinne der Kombination von Bild(-netzwerken), Text und Kommentarmöglichkeit als Raum öffentlicher Erinnerungspraktiken funktionalisieren. In diesem Zusammenhang möchte ich (iii) ein heuristisches Vorgehen für 1 Cf. hierzu den Sammelband von Cunningham 2014. die Analyse von Instagramposts vorschlagen, das sich grundlegend an einer semiotischen Herangehensweise orientiert. Auf dieser Grundlage interessiere ich mich darüber hinaus (iv) für die Funktion der alten DDR-Bilder innerhalb von Erinnerungsdiskursen sowie (v) für die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses von analogen medialen Produkten zu digitalen Netzwerken sowie von Zeichen der Vergangenheit zu medialen Kanälen der Gegenwart. Wenn am 26. September 2021, dem Tag der Bundestagswahl, ein Bild 2 von einer DDR- Wahl aus dem Jahr 1988 3 gepostet wird, dann ist augenfällig, dass sowohl das Bild als auch der gesamte Post in ein Verhältnis zu der an diesem Tag stattfindenden Bundestagswahl gestellt werden, die (Erinnerung an die) DDR mithin als ein Vergleichsparameter verstanden wird, der die Gegenwart der BRD, zumindest partiell, ausdeuten kann. Die Analyse der textuellen Strategien der entsprechenden Instagram-Posts ermöglicht demnach auf unterschiedlichen Ebenen Aussagen über Leistung und Funktion dieser Posts: Auf einer institutionell-sozialen Ebene lassen sich die (digitalen) Erinnerungspraktiken in Bezug auf die DDR sowie gesellschaftlich-kulturelle Selbstverständnisse rekonstruieren; auf einer semiotisch-textuellen Ebene lassen sich die medialen Modalitäten und Grundlagen ebendieser Erinnerungspraktiken rekonstruieren. 2 Methodische Annäherung an Instagramposts Die Beschäftigung mit Instagram macht zunächst die Auseinandersetzung mit dem Bild als Medium notwendig. Angesichts der Fülle methodischer und theoretischer Zugänge zum Bild aus den unterschiedlichsten Disziplinen konzentriere ich mich auf die für meine Fragestellung relevanten Zugänge zum Bild. Dabei möchte ich einerseits theoretische und methodische Zugänge für das Verständnis und die Analyse von Bildern aus einer semiotischen Perspektive fruchtbar machen, dabei andererseits die Differenz(en) sprachlicher und bildlicher Zeichen hinsichtlich ihrer (Nicht-)Diskretheit hervorheben. In diesem Zusammenhang geht es mir vor allem um eine praktikable Möglichkeit der semiotischen Bildanalyse, die in vielen eher theoriedominierten Publikationen der Bildwissenschaften 4 meines Erachtens ins Hintertreffen gerät. Die Omnipräsenz und Allgegenwart von Bildern in jeglichen digitalen Kommunikationskontexten macht eben nicht nur eine Theorie des Bildes, sondern darüber hinaus eine praxis- und alltagsbezogene und auf eine allgemeine Medienkompetenz abzielende, reflektierende Bildkompetenz notwendig. Gerade der Instagram-Kontext verdeutlicht die Relevanz einer solchen Kompetenz: Wenn dort Bilder und Posts abgesetzt werden, die gesellschaftspolitische Diskurse öffentlich bedienen, dann müssen - in Anlehnung an Stuart Halls Modell 5 von encoding und decoding - die Produzenten die Implikationen ihrer Äußerungen hinsichtlich Syntax, Semantik und Pragmatik reflektieren können, genauso wie die Rezipienten über Decodierungs- und 2 Cf. den Post unter https: / / www.instagram.com/ p/ CUSclLOozix/ . 3 Nähere Angaben zur Wahl und zur konkreten abgebildeten Stimmenauszählung macht der Post nicht. Sollte die Jahresangabe 1988 stimmen, kann es sich allerdings nicht um eine Volkskammer-Wahl (als Äquivalenz zur Bundestagswahl) handeln, da diese 1986 und 1990 stattgefunden hat. Cf. Benz und Scholz 2009: 540 - 544. 4 Beispielhaft sei hier Sachs-Hombach 2021 genannt. 5 Siehe dazu Hall 1999. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 101 Interpretationsstrategien verfügen müssen, um die Botschaften kontextualisieren und einordnen zu können. Grundsätzlich fasst die Semiotik Bilder generell als (ikonische) Zeichen auf, da “ alle Bilder [ … ] Zeichen [sind], die in Zeichenprozessen auftreten und darin bestimmte Funktionen haben ” (Posner 2003: 18); die Zeichenhaftigkeit entsteht nicht erst durch den Akt des Betrachtens und Interpretierens. Die theoretische Frage nach einem eher phänomenologischen Status des Bildes im Sinne von “ Präsenz und Wirkung des Bildkörpers ” (Frank & Lange 2010: 65) und einem eher semiotischen Status im Sinne von Zuordnungsrelationen soll hier nur insofern am Rande mitreflektiert werden, als ich meine semiotischen Instrumente mit bildwissenschaftlichen Zugangsweisen kombiniere, weil das, was Panofsky als Ikonographie und Ikonologie bezeichnet (cf. Panofsky 1978), gut mit dem in der Medien- und Kultursemiotik existenten Analyseinstrumentarium (Ikonographie) sowie der Praxis der Interpretation (Ikonologie) - zumindest latent - korrespondiert. 6 Es bestehen durchaus Differenzen, da die Medien- und Kultursemiotik die Rekonstruktion von Bedeutung im Zusammenhang mit einem konkreten medialen Produkt (hier: dem Bild) betreibt, während die (Kunstgeschichte und die - oftmals als konkurrierend wahrgenommenen 7 - ) Bildwissenschaften an Wahrnehmung als Bildakte (cf. Belting 2005: 16) interessiert sind. Gleichwohl können sich Medien- und Kultursemiotik und Bildwissenschaften wieder dort kulturwissenschaftlich treffen, wo sie über die Verortung von (konkreten) Bildern und Bildkorpora sowie ihre Funktion und Leistung in gesellschaftlichen Diskursen reflektieren. Michael Titzmann fasst das Bild als semiotische Äußerung folgendermaßen: ‘ Bild ’ soll hier jede Äußerung heißen, die (dominant) aus einer Menge visuell wahrnehmbarer, nonverbaler, räumlich geordneter Elemente besteht, (i) die durch einen selbst visuell wahrnehmbaren ‘ Rahmen ’ (Gemälderahmen, Bildrand bei Foto, Film etc.) begrenzt wird, und (ii) die in dem Sinne zeichenhaft sind, dass sie (iii) etwas im logisch-mathematischen Sinn ‘ abzubilden ’ , und/ oder (iv) etwas im semiotischen Sinn zu ‘ bedeuten ’ scheinen, und (v) die dem Betrachter simultan gegeben sind; und (vi) die invariant sind, das heißt weder sich noch ihren Ort in der räumlichen Anordnung ändern. (Titzmann 2017: 178, Hervorhebungen im Original) Titzmann unterscheidet das Bild von sprachlichen Äußerungen hinsichtlich der Kategorie der Diskretheit: Gemeint sind zum einen “ eindeutig abgrenzbar[e] Zeichen ” (Titzmann 2017: 179) als diskrete Einheiten, also beispielsweise die Wörter einer natürlichen Sprache im Zusammenhang mit sprachlichen Äußerungen. Zum anderen sind “ durch Linien, Umrisse usw. begrenzte oder nicht begrenzte Helligkeits- und Farbunterschiede ” (ibid.) als nicht-diskrete Einheiten gemeint. Für die Bildanalyse gegenüber der Textanalyse bedeutet das: Wo also im Falle des Textes von vornherein die primären Signifikanten gegeben sind, denen Signifikate zugeordnet werden können, sind im Falle des Bildes zunächst - aufgrund wahrnehmungspsychologisch-neurobiologischer Strukturen und aufgrund des sprachlich artikulier- 6 In diesem Zusammenhang sei auf Belting 2001 verwiesen, der ausführt, dass der Begriff der Ikonologie “ noch immer darauf [wartet], in einem zeitgemäßen Sinne eingelöst zu werden ” (Belting 2001: 15), was auch über zwanzig Jahre nach Beltings Aussage noch gültig ist. Siehe dazu auch Belting 2005. 7 Zu einseitigen Fixierungen der jeweiligen Disziplinen in Bezug auf den Bildbegriff siehe Posner 2003: 18. 102 Dennis Gräf baren kulturellen Wissens über die Welt - die Signifikate gegeben, denen Bildelemente als Signifikanten zugeordnet werden. (Titzmann 2017: 181) 8 Das Bild kann im mediensemiotischen Verständnis als Weltmodell gelten: Ein Bild als Weltmodell zu verstehen heißt, sämtliche Elemente des Bildes als Teil einer eigenen, konstruierten Welt zu lesen. Äquivalent zu audiovisuellen Formaten lassen sich Bilder als Kompositionen verstehen, deren Bedeutung sich über das Verhältnis von Dargestelltem und Darstellung ergibt: Welche Elemente sind wie und wo angeordnet und stehen in welchem Verhältnis zu welchen anderen Elementen? Jurij M. Lotman hat in seinem Buch Die Struktur literarischer Texte von Kunstwerken als von einem Rahmen begrenzten Systemen gesprochen: Der Rahmen eines Gemäldes, die Rampe der Bühne, die Grenze der Filmleinwand bilden die Grenzen der künstlerischen Welt, die in ihrer Universalität in sich abgeschlossen ist. Damit hängen bestimmte theoretische Aspekte der Kunst als eines modellbildenden Systems zusammen. Das Kunstwerk, das selbst begrenzt ist, stellt ein Modell der unbegrenzten Welt dar. [ … ] Es ist die Abbildung einer Realität auf eine andere, das heißt immer eine Übersetzung. (Lotman 1993: 301, Hervorhebungen im Original) Der Rahmen sorgt dafür, dass das innerhalb des Rahmens Dargestellte Abbild eines Weltentwurfs wird, der größer als das auf dem Bild Dargestellte ist; er stellt eine eigene Wirklichkeit dar. 9 Der Weltentwurf ergibt sich aus dem semiotischen Verständnis eines abgeschlossenen Systems, dessen Bedeutung auf der Grundlage des Prinzips von Selektion und Kombination von Daten zunächst innerhalb seiner selbst liegt. Wenn Lotman sich vor allem auf literarische Texte bezieht, so sind es doch alle über die Literatur hinausgehenden ‘ gerahmten ’ Kunstwerke, deren semiotischer Status sie zu Repräsentanten eigener Weltmodelle macht. Zwar ist das Phänomen Instagram bereits seit 2010 existent, bislang hat sich in der medienwissenschaftlichen Forschung aber noch kein spezifischer methodischer Zugang entwickelt, der die typische Form des Verhältnisses von Bild, Caption, Hashtags und Kommentaren und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für einen möglichen heuristischen Umgang mit Instagramposts im Sinne der Rekonstruktion eines Bedeutungskonstrukts in den Blick nimmt. 10 Ich möchte im Folgenden fünf analytische Komponenten vorschlagen, die eine Annäherung an die Bedeutungskonstitution eines Instagramposts ermöglichen und prinzipiell auf unterschiedliche Fragestellungen im Zusammenhang mit Instagram angewendet werden können. 11 Die erste Komponente bezieht sich auf das Bild als Weltmodell. Heuristisch steht zu Beginn die Analyse des Bildes als Weltmodell; man fragt (i) danach, was abgebildet ist (Motiv), (ii) wie die einzelnen Motivbestandteile zusammenhängen (semantische Relatio- 8 Zu einer weitergehenderen Ausdifferenzierung von Bild und Text siehe Weingart 2001. 9 Siehe dazu auch Posner 2003, der ausführt: “ Hier spielt in der abendländischen Tradition der Bilderrahmen eine Rolle, denn er ist es, der ein Bild charakterisiert als mit der Absicht erzeugt, dass der Betrachter glaubt, dass es als Abbild intendiert ist ” (Posner 2003: 20). 10 Hier liegen lediglich Untersuchungen vor, die sich auf die technischen Aspekte wie verwendete Software, Filtereffekte und Interfacedesigns beziehen. Siehe dazu beispielsweise Gunkel 2018, die ihre Studie selbst den “ Software Studies ” (cf. Gunkel 2018: 43) rubriziert. 11 Diese Komponenten wurden erstmals vorgestellt in Gräf und Steinbrink 2021. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 103 nen im Bild) und (iii) nach der Darstellungsweise, also den Bildstrukturen (Farbe, räumliche Relationen) und dem Bildausschnitt. Dies ist der Bereich der grundlegenden Instrumente der Mediensemiotik 12 , wozu auch rhetorische Strategien gehören. Die zweite Komponente bezieht sich auf die Relationen von semantischer Caption und Hashtag-Bild. Über die Caption (Bildunterschrift) und die Hashtags lassen sich interpretationsbedürftige Text-Bild-Relationen 13 erkennen. Für die mediensemiotische Analyse von Bildern im Kontext der Instagram-Kommunikation ist deshalb eine intermediale Betrachtung fruchtbar, die sich auf das semantische Verhältnis zwischen Foto (bildlicher Text) und Bildunterschrift sowie Hashtags (schriftsprachliche Texte) bezieht. Dabei sind grundsätzlich zwei Richtungen denkbar: Erstens kann der Text, indem er die Dekodierung des Bildes steuert, die Bedeutung vorstrukturieren; zweitens kann auch andersherum das Bild die Lesart des Textes beeinflussen. Die dritte Komponente bezieht sich auf die semantischen Hashtag-Netzwerke: Da das Einzelbild auf Instagram über die Setzung von Hashtags zudem mit einer Vielzahl weiterer Bilder in vielfältige Kontexte gebracht wird, kann das Verhältnis von analysiertem Bild und den über die Hashtags verknüpften Bildkorpora untersucht werden. Hierbei kann nach paradigmatischen Ordnungen im Sinne kultureller Selbstverständnisse gesucht werden: Welche Bilder werden unter welchen Hashtags als zusammengehörig gesetzt und was sagt das über kulturelle Selbstdeutungen aus? Die semantischen Felder der Hashtag-Lexik können Aussagen darüber machen, in welche diskursiven Kontexte die Fotografien eingebettet werden. Die vierte Komponente bezieht sich auf das kulturelle Wissen 14 : Es ist danach zu fragen, inwiefern die Markierung kulturellen Wissens die Bedeutungskonstituierung des Instagram-Posts steuert. Sind beispielsweise abgebildete Räume kulturell-referentialisierend oder rufen Bilder ikonographische Traditionen ab? Die fünfte Komponente bezieht sich auf das User-Profil als Kontext des einzelnen Posts: Bilder und Texte sind auf Instagram in User-Profilen organisiert. Dabei können sämtliche Posts (inklusive des Profilbildes) sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit als Botschaften vor dem Hintergrund des Impression Managements im soziologischen Sinne von Profilierung und Selbstdarstellung interpretiert werden. Dieser dem Post übergeordnete Kontext und seine - im Einzelfall zu rekonstruierenden - Interaktion mit den geposteten Bildern kann bei der Analyse instruktiv sein. Die vorgeschlagenen Komponenten verstehen sich als mögliche Beschreibungsdimensionen von Instagramposts, die nicht vollständig oder in einer bestimmten Reihenfolge anzuwenden sind. In Bezug auf das Lotmansche Verständnis von Kunstwerken als Weltmodellen wäre im Falle der Instagramkommunikation auch zu fragen, ob nicht nur das gepostete Bild, sondern vielmehr (i) ein gesamter Post oder sogar (ii) eine vollständige sich innerhalb eines Posts ergebende Anschlusskommunikation heuristisch als Weltmodell aufzufassen sind. 12 Zu den grundlegenden analytischen Instrumenten der Mediensemiotik siehe Gräf 2019. 13 Zu Text-Bild-Relationen siehe ausführlich Titzmann 2017. 14 Zum Konzept des kulturellen Wissens siehe ausführlich Titzmann 1989. 104 Dennis Gräf 3 Fallbeispiel: #ddr_geschichte Als Fallbeispiel dient ein Post aus dem Jahr 2019 mit der Caption “ DDR-Alltag aus dem Jahr 1979. Hier zu sehen in Berlin der Strausberger Platz ” des Profils #ddr_geschichte. Abb. 1 Das Bild zeigt den Ein- und Ausstieg der Berliner U-Bahn-Haltestelle Strausberger Platz, der sich auf der Karl-Marx-Allee befindet. Die Blickrichtung geht, das lässt sich anhand des Turmes in der Bildmitte erkennen, in Richtung Frankfurter Tor und damit nach Osten. Das Bild wird im Mittelgrund und auf der linken Seite von einer Plakatwand dominiert, die etwa viermal so hoch wie der davor gehende Mann ist, und im Vordergrund und auf der rechten Seite von einem fahrenden Trabanten und dem U-Bahn-Schild. Das Bild weist eine gewisse Ambivalenz hinsichtlich der vorhandenen Linien auf: Der Trabi sowie das Plakat sorgen aufgrund ihrer Horizontalität und Vertikalität für Struktur und Ordnung, während die Fluchtlinien der Laternen und der Häuserreihe diagonal angelegt sind und der Ordnung entgegenstehen. Das Plakat mit der Aufschrift “ Unser Staat - DDR ” und einer stilisiert wehenden Fahne der DDR ist als Bild im Bild zu sehen. Dieses Bild im Bild weist auf der Ebene der internen Sprechsituation durch das “ unser ” eine kollektive Sprechinstanz auf, die identisch mit dem Adressaten ist. Auf rhetorischer Ebene ist der Staat metonymisch durch die Flagge der DDR repräsentiert und damit durch ein offizielles, politisches Symbol. Die Flagge, da ihre Bewegung stilisierend angedeutet wird, ist ihrerseits ein Bild im Bild, so dass eine dreifache interne Strukturierung vorliegt: die Flagge als Bild innerhalb des Plakats und dieses wiederum als Bild innerhalb des gesamten Bildes. Damit wird hier auch der Aspekt der medialen Übertragung des Staates relevant. Es lässt sich ein homologes Verhältnis rekonstruieren. Denn genauso, wie in der Gegenwart des Aufnahmemoments der Staat bildlich-medial durch Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 105 den Staat selbst als Sender im öffentlichen Raum präsentiert wird, so zeigt das gesamte Bild diese mediale Übertragung und ist dabei selbst eine mediale Übertragung. Durch die Flagge auf dem Plakat wird der sprachlich präsente Ausdruck “ Staat ” im Sinne einer politischen Ordnung konkretisiert. Diese politische Ordnung ist, wie das stilisierte Wehen der Flagge zeigt, in Bewegung. Was die Gestaltung dieser politischen Ordnung betrifft, lassen sich, indem sie durch das kollektive “ unser ” attribuiert wird, zwei mögliche Lesarten ableiten: Erstens obliegt die Gestaltung der politischen Ordnung nicht nur einem politischen Führungsinventar, sondern, - und das wird durch den Kontext des Bildes, nämlich seine Positionierung im öffentlichen Raum, indiziert, - der gesamten Staatsbevölkerung. Zweitens lässt sich die Text-Bild-Relation auch dahingehend deuten, dass sich das Possessivpronomen “ unser ” eben nur auf die durch das Wappen-Symbol metonymisch repräsentierte politische Macht bezieht, der Staat gehörte dann den Politikern des Staates. Die zweite Repräsentation des Staates neben der Plakatwand ist die am Laternenpfahl wehende DDR-Flagge, die einen anderen medialen Status hat, da sie im öffentlichen Raum nicht noch einmal medial übertragen werden muss wie die Flagge auf dem Plakat. Beide Repräsentationen etablieren eine Kadrierung, indem sie den Raum dazwischen eingrenzen und relevant setzen. Es existiert nur wenig Bildraum, der nicht von dieser Kadrierung eingeschlossen ist. Im Hinblick auf das Bild als Weltmodell ist der Bildraum dadurch von Repräsentationen des Staates quasi eingerahmt. Auffällig ist nun die Größe der beiden Menschen. Sie sind durch den gewählten Bildausschnitt klein und nahezu marginal, wenngleich der gehende Mann, da er der einzige Fußgänger ist und der Autofahrer in seinem Auto etwas verschwindet, doch auch markant ist. Dem Begriff des Staates ist bei allen unterschiedlichen Staatskonzeptionen inhärent, dass er sich aus Subjekten, aus Menschen zusammensetzt. Das Verhältnis von bildlicher Repräsentation des Staates und Mensch ist in diesem Sinne signifikant. Der Mensch ist rein größentechnisch dem Staat untergeordnet, was prinzipiell nicht verwundern mag, weil der Staat realiter stets eine überindividuelle Organisationsform ist. Was aber, da es sich um ein Bild und damit ein interpretierbares Weltmodell handelt, eben doch signifikant ist: Der politische Staat ist dann übergroß, der Mensch verschwindet vor dem Hintergrund des Staates, der Staat ist eine überdimensionale, nicht-lebendige Repräsentation, der Mensch ein lebendes, aber eben auch vorbeigehendes Subjekt. Das Bild entfaltet auf unterschiedlichen Ebenen einen Widerspruch von Bewegung und Statik. Zeichen der Bewegung installiert das Bild (i) durch den gehenden Mann, (ii) durch das fahrende Auto und (iii) durch die durch das U-Bahn-Zeichen indizierte U-Bahn. Selbst der ausgewählte Ort, der Strausberger Platz, ist über kulturelles Wissen auf einer zentralen Bewegungsachse Berlins und der DDR gelegen, der Karl-Marx-Alle als Teilabschnitt der die DDR durchquerenden B1. Es lassen sich im Grunde genommen auch die beiden Staatsrepräsentationen unter den Bewegungsaspekt rubrizieren, denn auch die beiden Flaggen bewegen sich, die eine real, die andere stilisiert. Der zentrale Unterschied liegt allerdings darin, dass die Verkehrsbewegung eine tatsächliche Bewegung von einem Ort zum anderen ist, die Bewegung der realen Flagge ist auf eine Flatterbewegung begrenzt, die stilisierte Flagge auf dem Plakat ist lediglich fiktiv. Statik entsteht dagegen (i) durch die Kadrierung durch die Repräsentationen des Staates sowie (ii) durch die Bewegungslosigkeit des Abgebildeten. Die Zeichen der Bewegung 106 Dennis Gräf lassen keinen Eindruck von Bewegung entstehen. Das Weltmodell ist trotz des gehenden Mannes und des zwar fahrenden, aber stehend wirkenden Autos nahezu statisch, so dass sich aus diesem Spannungsverhältnis ein interpretationsbedürftiges Modell von Welt ergibt. Die Koexistenz von Statik und Bewegung lässt eine Kontingenz entstehen, die als solche dann das Weltmodell charakterisiert. Für die beiden männlichen Figuren lässt sich in diesem Zusammenhang eine Auffälligkeit diagnostizieren. Sie bewegen sich an den Repräsentationen des Staates vorbei. Dies markiert nun ein signifikantes Verhältnis von Figur und Welt. Im Prinzip kommt es auch hier zu einer Koexistenz, allerdings mit dem Unterschied, dass die Zeichen des Staates ignoriert werden. Figur und Staat existieren nebeneinander her, beide bewegen sich, allerdings jeder für sich. Dieses Verhältnis ließe sich über kulturelles Wissen nun durchaus symbolisch lesen, indem hier lediglich ‘ am Staat vorbei ’ gelebt werden kann. Das Bild befindet sich in einem spezifischen Verhältnis zur Caption. Diese lautet: “ DDR- Alltag aus dem Jahr 1979. Hier zu sehen in Berlin der Strausberger Platz ” . Die Caption ist bezogen auf das Bild insofern nicht ganz richtig, als eben nicht der Strausberger Platz zu sehen ist, sondern der U-Bahn-Einstieg, der sich etwas östlich vom Strausberger Platz befindet; zumal die Blickrichtung des Bildes ebenfalls vom Strausberger Platz weggeht. Sprachlich fokussiert wird hier der Alltag und dies etabliert auch ein interpretationsbedürftiges Verhältnis der Caption zum Bild. Gebäude und Architektur lassen sich nur schwerlich unter die Rubrik des Alltags fassen und so lassen sich gerade einmal der gehende und der fahrende Mann sowie der Kleinlaster im Mittelgrund des Bildes dem Alltag rubrizieren. Durch die geringe Anzahl an Menschen an einer an sich recht belebten Gegend Berlins erzeugt das Bild eher den gegenteiligen Eindruck des Nicht-Alltags. Weil Caption und Bild als integrative Bestandteile der für Instagram typischen Text-Bild- Relation fungieren, bleibt die Frage nach der kohärenten Ordnung und Sinnstiftung von Text und Bild. Alltag ist dann eben genau das zuvor rekonstruierte Weltmodell und damit der rahmende Staat, der im Verhältnis zum Staat kleine (untergeordnete) Bürger hat, die sich im Staat oder an ihm vorbei bewegen. Die Ergebnisse der Bild-Analyse lassen sich nun mit den sprachlichen Bestandteilen des Posts verknüpfen, wobei es mir in meinem Beitrag nicht um die exakte Rekonstruktion der den Kommentaren inhärenten ideologischen Positionen geht, sondern um die strukturelle Bezogenheit der Kommentare auf das Bild. Dabei ist zunächst zu diagnostizieren, dass sich kein einziger Kommentar auf das Bild in seiner Gesamtheit bezieht. Der Einstiegskommentar des Users 1100*** 15 bezieht sich konkret auf den im Bild befindlichen Schriftzug “ Unser Staat - DDR ” und lautet folgendermaßen: 16 Doch, doch, ich erinnere mich - die DDR, das war tatsächlich unser Staat! Dieser Staat gehörte nicht nur ein paar Finanzkapitalisten und Multimilliardären. Nein, dieser Staat gehörte wirklich uns, dem Volk. Wenn man die heutigen Eigentumsverhältnisse anschaut, dann glaubt man das kaum. Das gab es wirklich mal, klingt bissl wie im Märchen. In unserem Betrieb klebten auf den 15 Die Usernamen werden aus Datenschutzgründen nicht vollständig angegeben und unter Verwendung von drei Asterisken abgekürzt. Sie sind aber auf Instagram in den entsprechenden Posts im Original verfügbar. 16 Die Rechtschreibung inklusive aller Interpunktions-, Rechtschreib- und Grammatikfehler wird bei allen Kommentaren ohne weitere Kennzeichnung übernommen. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 107 Maschinen und Werkzeugen so kleine Schildchen, darauf stand “ Volkseigentum ” . So auf Anhieb fällt mir heutzutage gar nichts ein, was dem Volk gehört. Komisch! ? Der Kommentar stellt zunächst einen affirmativen Bezug zur Plakat-Aufschrift des Bildes her, indem er auf die staatliche Rhetorik des Kollektivismus rekurriert und dieser einen Wirklichkeitsbezug attestiert. Im Anschluss daran wird ein Bezug zur Gegenwart hergestellt, der sich auf die “ heutigen Eigentumsverhältnisse ” bezieht und die DDR rückblickend in Hinblick auf eben die Eigentumsverhältnisse als “ [m]ärchen ” -haften Zustand rubriziert. Die kleinen Repliken von wern*** und ubahn*** lauten folgendermaßen: “ An Dein Denken muss och mich erst m[a]l dran gewöhnen, lieber 1100*** ” (wern***) und “ @wern*** und ich ebenfalls - sorry - ich kann dem nichts abgewinnen, besonders wenn es um Verfolgung und Meinungsfreiheit geht - wer anderer (System-)Meinung war, wurde weggesperrt oder gar getötet - besonders an dieser “ Mauer ” - nicht so mein Ding! ” (ubahn***). Die affirmative Haltung von 1100*** wird in beiden Repliken abgelehnt. Während wern*** keine Gründe für seine ablehnende Haltung anführt, argumentiert ubahn*** mit dem repressiven und antifreiheitlichen Charakter des DDR-Staates. Nach nur wenigen Zeilen Kommentartext von drei Usern lässt sich ein Erinnerungsdiskurs erkennen, der um die Frage kreist, wie die DDR rückblickend zu bewerten ist und in welchem Verhältnis sie sich zur Gegenwart der BRD befindet. Es ist der Streit zwischen Legitimation und Delegitimation der DDR erkennbar, der sich insgesamt in auf die DDR bezogenen Erinnerungsdiskursen wiederfinden lässt und der hier auf individueller Ebene geführt wird. 1100*** antwortet wiederum auf die Antworten zu seinem Kommentar: Das ist euer gutes Recht, nicht meiner Meinung zu sein. Ihr favorisiert halt unsere heutige ungerechte Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der sich Kinderarmut, Altersarmut, Mietwucher, Beschäftigung in prekären Arbeitsverhältnissen, Niedriglo[h]nsektor, [sic! ] usw. immer mehr ausbreiten. Heute muss man nicht unbedingt eine andere politische Meinung vertreten, um aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Es reicht, seine Arbeit zu verlieren und in Hartz4 zu rutschen. Das kann man natürlich gut finden, man muss es aber nicht. Kein Mensch hat es in der DDR nötig gehabt, sich aus welchen Gründen auch immer wegsperren zu lassen. Jeder hatte jede Menge Möglichkeiten, an der Gestaltung einer sozial gerechten Gesellschaft mitzuwirken. [ … ] Klar, wenn man sein Leben aus niederen Beweggründen organisieren möchte, dann ist man in der heutigen Gesellschaft natürlich besser aufgehoben, keine Frage. Darauf antwortet wiederum ubahn*** mit der folgenden Äußerung: “ @1100*** Entschuldigung, aber ein Unrechtsstaat bleibt für mich ein Unrechtsstaat - egal mit wie viel anderen Dingen versucht wird diesen “ alternativ ” zu glorifizieren! Da gibt es kein [W]enn und [A]ber! ” Auch wenn es hier nicht darum geht, die Aussagen inhaltlich zu bewerten, so ist dem Kommentar von 1100*** doch eine relative Unkenntnis der historischen Sachlage inhärent. 17 Auch die Formulierung “ ein Unrechtsstaat bleibt ein Unrechtsstaat ” ist zwar sachlich richtig, im Rahmen eines solchen Diskurses aber eben doch auch komplexitätsreduzierend, 17 Um nur einen (an sich unverdächtigen und dem kulturellen Leben zu subsumierenden) Aspekt herauszugreifen, sei auf Rauhut 2002 verwiesen, der rekonstruiert, wie Rockmusiker und Anhänger von Rockmusik in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit - unter anderem wegen des Vorwurfs der staatsgefährdenden Hetze - beobachtet, mit Zersetzungsmaßnahmen gegängelt und auch inhaftiert wurden. 108 Dennis Gräf wenngleich ubahn*** immerhin beim Thema des Staates, das ja eigentlich der aus dem Bild hervorgegangene Sprechanlass war, bleibt. Die Unterhaltung zeigt, dass das Bild für 1100*** zu einem Anlass wird, sich über einen konkreten Aspekt der DDR-Geschichte zu äußern. Die Repliken beziehen sich dabei im Prinzip gar nicht mehr auf das Bild und reagieren eher auf den ersten Kommentar von 1100***. Signifikanter Weise stützt sich auch dieser erste Kommentar ausschließlich auf die Schrift innerhalb des Bildes und nicht auf das Bild an sich: weder auf seine restlichen Bestandteile, noch auf seine ästhetischen Aspekte. Der Anlasscharakter, den das Bild hier bekommt, ist repräsentativ für den Umgang mit Bildern der DDR in diesem Instagram-Profil. Einzelne Aspekte der Bilder werden selegiert und quasi aus dem Bild herausgelöst, sodass das Bild nicht als Gesamtkonzept, schon gar nicht als künstlerisches Gesamtkonzept, sondern als Angebotstisch eines Kommunikationsangebots verstanden wird. Einzelne Bestandteile können Erinnerungen triggern. Es muss aber auch konzediert werden, dass es sehr wohl immer wieder Kommentare gibt, die sich auf die Ästhetik des Bildes beziehen. Dabei handelt es sich in der Regel um englischsprachige Kommentare, die den weltanschaulich-ideologischen Trigger, den die Bilder anscheinend zeichenhaft senden, nicht erkennen, weil sie das Bild eben nicht zeichenhaft, sondern primär ästhetisch lesen und eher in dem für Instagram üblichen Verwendungskontext stehen: Ein Bild zu loben, weil es schön oder interessant ist. Die Relationen von Bild und gesetzten Hashtags und Hashtagausdrücken lassen sich folgendermaßen beschreiben: Das Bild ist insgesamt mit 16 Hashtags versehen, die das Bild in kontextuelle Bezüge setzen. 14 Hashtag-Ausdrücke befinden sich in einem definiten Bezug zum Bild, indem der Ort des Motivs in einem engen oder weiten Sinn im Hashtag präsent ist. Eng wäre etwa #berlin; weit wären #ddr, #ostdeutschland. Nicht mehr unbedingt definit sind #platz und #alltag, weil sie sich vom Ort lösen und eher abstrakt und nicht mehr wirklich semantisch auf einzelne Objekte des Dargestellten im Bild beziehen. Völlig offen wird es, wenn das Bildkorpus des Hashtags #platz eben nicht nur aus Plätzen besteht, sondern auch zeigt, wie Hunde ‘ Platz ’ machen oder wie Menschen den ersten Platz in einem Wettbewerb belegen und die Hashtags in diesem Sinne Homonyme darstellen. Je allgemeiner der Hashtag, umso weniger haben das konkrete Bild und seine Semantik noch ein Eigenleben. Die Verortung des Bildes in Hashtags und damit einhergehenden Bildnetzwerken führt, obwohl es sich bei einem Hashtag im Prinzip um so etwas wie ein übergeordnetes Paradigma handelt, zum einen zu einer Kontextualisierung des Bildes, die aber einer De-Semantisierung äquivalent ist. Das Bild wird reduziert auf eine vom Bild selbst unabhängige Rasterfunktion im Sinne der Einpassung in ein Netzwerk. Das Instagram-Profil als instruktiver Aspekt der Untersuchung zeigt in diesem konkreten Fall, dass dem Posten der Bilder nicht nur ein genuin historisches Interesse inhärent ist, sondern dieses darüber hinaus eine ökonomische Funktion hat: Die Profilinhaber betreiben einen Webshop (cf. https: / / michaelczechan.wixsite.com/ ddrgeschichte), der DDR-Fan-Artikel verkauft, so dass die Bilder u. a. als Trigger verstanden werden können, über die durch die Bildbetrachtung evozierten Erinnerungen Kaufreize zu generieren, welche die mentalen Erinnerungen objektifizieren und damit auch (haptisch, visuell etc.) verstetigen können. 18 18 Zur auch ökonomisch funktionalisierten Ostalgie-Welle der 1990er Jahre cf. Ahbe (2005: 54), der von einem “ Geschäft mit der Erinnerung ” spricht. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 109 Darüber hinaus wird die Tatsache, dass die Betreiber ihr Profil mit dem Ausdruck “ unpolitisch ” attribuieren, dann interessant, wenn - und dabei handelt es sich auf diesem Profil um eine Ausnahme - das kanonisierte Bild des Mauertoten Peter Fechter (1944 - 1962) unter all den anderen Bildern zu sehen ist. Dieses Bild kann nicht anders als in einem politischen Kontext verstanden werden. Auch wenn die Betreiber betonen, es gehe um den historischen Aspekt, ist auch dieser nicht von seinem politischen zu lösen. 4 Korpusstrukturen: Bilder aus der DDR in Instagramposts Um das in Bezug auf meine Fragestellung relevante Bildmaterial auf Instagram heuristisch nachvollziehbar systematisieren zu können, muss ich mich beispielhaft auf ein User-Profil beschränken. Mit 788 Beiträgen (Stand 29.06.2022) ist das Profil ddr_geschichte umfangreich, bietet dadurch aber die Möglichkeit, eine grundlegende Systematik bilden zu können, die - das wäre Gegenstand weiterer Forschungen - auf eine mögliche Repräsentativität für alle auf Instagram geposteten DDR-Bilder hin überprüfbar sind. Vorauszuschicken ist noch, dass bis auf sehr wenige Ausnahmen keine genauen Quellenangaben gegeben werden. Eine Reihe von Bildern macht den Eindruck, als handele es sich um offizielle Fotografien der DDR - einige sind durch (abgeschnittene) Schriftzüge als Postkarten erkennbar - , da aber mangels Quellen hier keine exakte Systematisierung möglich ist - was und wie bilden die eher privaten, was und wie die eher öffentlichen Bilder ab? - müssen zunächst alle Bilder gleich, eben als auf Instagram hochgeladene Bilder, behandelt werden. Der Funktionskontext schafft hier die nötige Klammer, unter der eine Systematisierung möglich ist. In diesem Sinne lassen sich die Bilder der DDR des Instagram-Profils ddr_geschichte nach paradigmatischen Aspekten des Abgebildeten und seinen ästhetischen Modalitäten (Darstellungsweise, Ausschnitt etc.) systematisieren. Dabei lassen sich nicht alle Bilder des Korpus abdecken, vielmehr geht es mir um eine prinzipielle Heuristik, die in der vertiefenden Einzelanalyse sicherlich zu differenzierteren Systematisierungen gelangen kann. 4.1 Paradigmatische Systematik (i) Ein zentraler Aspekt ist die Arbeit: Arbeitsvorgänge und Herstellungsprozesse stehen häufig im Mittelpunkt der Bilder, wobei industrielles 19 und landwirtschaftliches 20 Arbeiten sowie dienstleistende Berufe 21 ungefähr zu gleichen Teilen vertreten sind. Bei den Bildern der Industriearbeit dominiert die massenhafte Herstellung von Konsumgütern wie Autos, Fernsehgeräten oder Kleidung. Diese Bilder zeigen dann die Existenz einer Masse des gleichen Artikels und betonen in diesem Zusammenhang ein ‘ Funktionieren ’ der Industrie, was in der Regel durch einen symmetrischen, harmonischen oder fluchtpunktartigen Bildaufbau geleistet wird. Alle Tätigkeiten sind dabei häufig mit dem Aspekt des Sozialen 19 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CYx3WoFIU2C/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CRLShuypI_e/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CKBDInAprDA/ . 20 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CRX15bBJTBp/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CDp6eMSpSb3/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CCkgjubpsdD/ . 21 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CX2g9aRImGG/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CMhxySypXcX/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CIza2ZmJtdN/ . 110 Dennis Gräf korreliert, indem sie entweder als industrielle oder landwirtschaftliche Zusammenarbeit dargestellt werden oder als soziale Verkaufssituation in dienstleistenden Berufen. Das gleichzeitige Arbeiten mehrerer Menschen in einer Montagestraße installiert dann einen Gemeinschaftsaspekt, der auch für die Bilder landwirtschaftlicher Arbeit gilt. (ii) Ein zweiter Aspekt ist die Freizeit 22 , die in unterschiedlichen Bereichen vorgeführt wird: öffentlich oder privat, (selten) singulär oder (vermehrt) gemeinschaftlich, aktiv oder passiv. Dabei kommt es häufig insofern zu einer Verbindung mit dem Aspekt der Arbeit, als das Einkaufen als Freizeitbeschäftigung vorgeführt wird und somit der Dienstleistungssektor hier ebenfalls präsent ist. Der Freizeitbereich kann auch mit technischer Innovation verbunden sein, wenn etwa der Zeltaufbau für den Trabanten (im Volksmund gerne als “ Pension Sachsenruh ” bezeichnet, cf. https: / / www.instagram.com/ p/ CAbzQBgJ-Kp/ ) gezeigt wird. Freizeit äußert sich darüber hinaus in Cafébesuchen, dem Flanieren durch Abb. 2 Abb. 3 Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 111 Innenstädte oder dem Freizeitextrem, dem Urlaub, der auf den Bildern in der Regel ein Camping-Urlaub ist. (iii) Als politisches Leben 23 sollen hier all jene Darstellungen bezeichnet werden, die entweder in personaler Form (Politiker, Militär) den Staat zeigen, die Staatshandlungen vollführen (können) (Paraden, Wahlkampf etc.) oder den Staat in seinen zeichenhaften, symbolischen Repräsentationen in einem sozialen Funktionskontext zeigen. Diese Bilder zeigen in der Regel dominant den militärischen Aspekt des Staates, etwa durch Paraden oder sonstige Militäraufmärsche, häufig in Gegenwart des jeweiligen Staatsratsvorsitzenden. Die Bilder sind in der Regel gekennzeichnet von einer (meist vertikalen) Symmetrie (v. a. bei Paraden) und einer damit einhergehenden Ordnung. Abb. 4 (iv) Als Stillleben 24 sollen hier jegliche Darstellungen von belebter oder unbelebter Natur und Kultur verstanden werden: figurenlose Landschaften, Straßen(-züge) sowie Wohnungseinrichtungen. Die Stillleben-Bilder haben einen dokumentarischen Gestus. Mitunter befinden sich unter diesen Bildern auch Katalogbilder von Hotelzimmern (https: / / www. instagram.com/ p/ CaT1YC6sM1j/ ) oder Möbelhäusern (https: / / www.instagram.com/ p/ BvzXYJB1Gt/ ), die dann aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive Vorstellungen standardisierter Einrichtungskulturen erkennen lassen. Mithin lässt sich aus diesen Bildern eine “ Rekonstruktion der materiellen Kultur der Vergangenheit ” und eine “ Rekonstruktion der Alltagskultur ” (Burke 2019: 91) leisten, sowohl bezogen auf Einrichtungen als auch auf Stadt- und Landschaftsansichten (die in der Kunstgeschichte mit dem italienischen Begriff 23 Siehe beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ Cekq2NzDdQt/ , https: / / www.instagram. com/ p/ COmWLO4p0uP/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CJSgGrWpW7 g/ . 24 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CR-rN2uCNgn/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CA9iVLNpNEr/ , https: / / www.instagram.com/ p/ B_5L4_2pUN5/ . 112 Dennis Gräf der Vedute versehen sind). 25 In Bezug auf die Konsumkultur geht es dabei vor allem um “ verschwundene Elemente der materiellen Kultur ” (Burke 2019: 105), also beispielsweise Lebensmittelprodukte. Abb. 5 4.2 Abstraktion: Alltags- und Kulturgeschichte Die einzelnen soeben rekonstruierten paradigmatischen Aspekte lassen sich insgesamt zu einer Abbildung von Alltagskultur abstrahieren oder dem, was rückblickend als repräsentativ für die DDR-Alltagskultur verstanden wird. Dazu gehören u. a. auch die Haufen von Kohlebriketts auf den Gehsteigen, 26 die Arbeit (an Maschinen und in einem VEB), 27 das Einkaufen (insbesondere mit Warteschlange) 28 sowie allgemein öffentliches Leben auf Plätzen oder in Innenstädten, aber eben auch das politische Leben. Die Kommentare verweisen bei diesen Bildern häufig auf die Modalitäten des Referenzrahmens. Bilder mit dem Einkaufsparadigma werden in der Regel hinsichtlich des Themas Mangelwirtschaft kommentiert, genauso wie Bilder mit vollen Regalen als “ Propagandafoto[s] ” (https: / / www. instagram.com/ p/ CK8RIFdJBZ5/ ) bezeichnet werden. Dabei zeigen die geposteten Bilder nicht nur Aspekte des sozialistischen Staates, sie bilden auch in ihrer Selektion in erstaunlicher Weise die für den Staatssozialismus geltenden Werte ab. Die Arbeit als zentrale Tugend des sozialistischen Staates lässt sich als Grundlage der Bildselektion rekonstruieren, so dass ein in ideologischer Hinsicht grundsätzlich affirmativer Zugriff auf das Bildarchiv und damit ein affirmativer (und eben nicht historisch-kritischer) Blick auf die DDR vorliegt. 25 Cf. hierzu die beiden folgenden Bilder von Badezimmern: https: / / www.instagram.com/ p/ BsPhWNNBYKS/ sowie https: / / www.instagram.com/ p/ B_5L4_2pUN5/ . 26 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CQc2OYPJPgZ/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CMyioZ5JUTv/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CL_MoCcpcW2/ . 27 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CYx3WoFIU2C/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CBcjdGzJS62/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CBPcE51JVb4/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CKBDInAprDA/ . 28 Cf. beispielsweise folgende Posts: https: / / www.instagram.com/ p/ CcuLw17IUyV/ , https: / / www.instagram. com/ p/ CMhxySypXcX/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CK8RIFdJBZ5/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CKsvCjyJIf8/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CJk0d6Yp4VT/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CJAlbTyJt4k/ , https: / / www.instagram.com/ p/ CFmqBvmp503/ . Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 113 Ein rekurrentes Muster der geposteten Bilder ist das Größenverhältnis von Zeichen des Staates (Flaggen, Schrift- und Spruchbanner an Plakat- oder Hauswänden) und den abgebildeten Menschen. Äquivalent zum Fallbeispiel sind die Repräsentationen des Staates im Verhältnis zu den Menschen deutlich überdimensioniert - und zwar sowohl real hinsichtlich des tatsächlichen Größenverhältnisses als auch durch Kameraperspektiven und/ oder proxemische Verhältnisse - , so dass die implizite Anthropologie des untergeordneten Menschen durchaus für das gesamte Korpus gilt. Die Zeichen des Staates können wahlweise Staatswappen, Inschriften auf Hochhäusern, Plakatwände o. ä. sein. In dieser Kategorie lassen sich wiederum Unterkategorien bilden: Bilder, in denen der Staat dominant über einen militärischen Aspekt präsent ist, neigen ebenfalls dazu, den Menschen als klein gegenüber den Repräsentationen des Staates (Flaggen, Panzer etc.) zu installieren. Abb. 6 Zu dieser Gruppe gehören des Weiteren diejenigen Bilder, auf denen einzelne menschliche Figuren selbst zum Zeichen des Staates werden. Beispielsweise zeigen Sportveranstaltungen in größeren Stadien häufig Zeichen des Staates, die sich aus den Menschen selbst oder von diesen hochgehaltenen Transparenten ergeben (cf. Abb. 6, die das Leipziger Turnfest aus dem Jahr 1983 zeigt). Hier lassen sich zwei koexistente Tropen erkennen: Indem die Menschen durch die von ihnen hochgehaltenen Transparente Teil des DDR-Wappens werden, sind sie (i) Synekdochen (der Repräsentation) des Staates. Darüber hinaus lassen sie sich (ii) als Metonymien verstehen, indem die Bürger den Staat darzustellen vermögen. Diese Art von Ikonographie ließe sich - ohne grundsätzlich eine semantische Äquivalenz herstellen zu wollen - mit dem Frontispiz von Thomas Hobbes ’ Leviathan (1651) in Verbindung bringen. Tatsächlich aber entspricht dieser sozialistische Leviathan zumindest dem sozialistischen Prinzip des Kollektivismus, der Grundlage des Staates ist. Signifikant ist auch in diesen Bildern die Beibehaltung des Größenverhältnisses. Die Menschen werden 114 Dennis Gräf angesichts des übergroßen Zeichens des Staates zu kleinen Bestandteilen seiner medialen Repräsentation. Auch beinhalten diese Bilder wiederum eine mediale Übertragung zweiter Ordnung. Die Transparente sind ihrerseits Medien, die durch das Bild medial übertragen werden. An diese kurze Systematisierung lässt sich die Frage anschließen, inwiefern die ausgewählten Bilder etwaigen impliziten Kategorien der Darstellbarkeit auf Instagram gehorchen, welche Kategorien dies sein könnten und aus welchen (Bild-)Aspekten heraus diese rekonstruierbar wären. Insgesamt lassen sich viele Bilder - wie bereits angedeutet - vor dem Hintergrund kulturellen Wissens als eher affirmative Bilder lesen, die das politische und ideologische Programm des SED-Staats semantisch stützen. Das Einkaufen als Freizeitbeschäftigung und die auf den Bildern stets vollen Regale sind aufgrund der Mangelwirtschaft eben nicht automatisch als Alltag lesbar, eher als Symbole wünschenswerten Lebens. In der Tat heben die Kommentare solcher Bilder dann auch die Innovationskraft der DDR-Technik hervor und bringen diese in ein vergleichendes Verhältnis zu technischen Produkten der Gegenwart, deren Innovation ranggemindert wird, weil es das entsprechende Produkt in der DDR bereits gegeben habe. In den Kommentaren prallen dann in der Regel insofern zwei konkurrierende Sichtweisen aufeinander, als dem ‘ normalen ’ , von der Politik unberührten Alltag der eben auch in den Alltag eingreifende SED- Unrechtsstaat entgegengehalten wird. Dabei kommt es in den Kommentaren eher selten zu diskursiven Syntheseleistungen, eher bleiben die Unterhaltungen konfrontativ. Insgesamt ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die offizielle Fotografie der DDR instruktiv, wie sie beispielsweise in der Illustrierten Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik von Heitzer und Schmerbach aus dem Jahr 1984 zu sehen ist. Der Bildband zeichnet das Bild einer funktionierenden, alltäglichen DDR und stellt für die sukzessiven historischen Phasen (1945 - 1949, 1949 - 1961, 1961 - 1970, 1971 - 1983) Bilder aus den Bereichen Politik, Kunst/ Kultur, Arbeit, Freizeit und Stillleben vor. Interessanterweise lassen nun viele der in diesem Bildband vertretenen Bilder und die auf Instagram gezeigten Bilder stilistisch-ästhetische Ähnlichkeiten in Bezug auf das Alltagsparadigma erkennen, zumindest ließen sich viele der Instagram-Bilder problemlos in den Fotoband integrieren. Das wirft die Frage auf, ob der Auswahl der Bilder auf dem Profil ddr_geschichte nicht eine implizite Strategie zugrunde liegt, was wiederum eng an die spezifischen Erinnerungspraktiken auf Instagram gekoppelt ist, die im folgenden Kapitel rekonstruiert werden sollen. 5 Erinnerungsdiskurse der DDR auf Instagram Analoge Bilder aus der Vergangenheit, die auf einem gegenwartsbezogenen digitalen Medium wie Instagram gepostet werden, berühren grundsätzlich Aspekte von Erinnerungskultur(en), 29 wobei es sich hier nicht um eine staatlich organisierte Erinnerungspolitik handelt. Dabei geht es hier weniger um das sich auf überzeitliche und kulturell komplexe 29 Zu ostdeutschen Erinnerungsdiskursen nach 1989 in Literatur, Musik, Film und bildender Kunst cf. den Sammelband von Goudin-Steinmann & Hähnel-Mesnard 2013. Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 115 Zusammenhänge beziehende Konzept des kulturellen Gedächtnisses, 30 eher um das kommunikative Gedächtnis, das sich vor dem Hintergrund nur weniger Generationensprünge dem Alltäglichen (Ißler 2017: 911) widmet. Die geposteten Bilder rufen, und das lässt sich aus den Kommentaren destillieren, hauptsächlich ostdeutsche Erinnerungen ab. Bilder von öffentlichen Einrichtungen oder der Gastronomie führen zu Kommentaren, die das damalige Speisenangebot kommentieren und häufig auch mit wertenden Attributen versehen. Die (nur vermutbaren) nicht-ostdeutschen Kommentare und jene in englischer Sprache zeigen in der Regel Interesse am Abgebildeten und dem entsprechenden historischen Wissen und werden hin und wieder (von ehemaligen DDR-Bewohnern, so lässt es sich herauslesen) aufgeklärt. Abb. 7 Schon die Kommentare und der Chat des Fallbeispiels (vgl. Kap. 3) haben gezeigt, dass ein DDR-Bild Erinnerungen triggert, die in einen sozialen Raum diffundiert werden. Die Kommentare zur Abb. 7 benutzen ebenfalls in auffälliger Häufigkeit die Lexeme “ erinnern ” / “ Erinnerung ” und repräsentieren damit dergestalt einen grundsätzlichen Tenor der Bildkommentare, dass die Bilder einen Anlass darstellen, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Dieser Anlasscharakter der Bilder ist dann - neben der zweiten, ästhetischen Funktion - auch als eine der beiden zentralen Funktionen der DDR-Bilder auf Instagram zu benennen, die sich dezidiert an ehemalige DDR-Bürger richtet, weil Nicht-DDR-Bürger keine Erinnerung - oder nicht in diesem Maße in Bezug auf die Alltagskultur - an die DDR haben können. Es handelt sich bei den Bildposts auf Instagram demnach dominant um einen ostdeutschen Diskurs, indem die Bilder Anlass zur Erinnerung geben. Dabei werden einzelne 30 Cf. hierzu Assmann 1988. 116 Dennis Gräf Aspekte der Bilder - hier sei noch einmal an das Fallbeispiel erinnert, bei dem sich alle Kommentare ausschließlich auf das Transparent beziehen - ausgesucht und quasi aus dem Bild herausgelöst, sodass das Bild nicht als Gesamtkonzept, schon gar nicht als künstlerischästhetisches Gesamtkonzept, sondern als Angebotstisch eines Kommunikationsangebots verstanden wird. Dies wird vor allem dann amplifiziert, wenn die Profilbetreiber von ddr_geschichte einen Onlineshop betreiben, in dem Erinnerung symbolisch erworben werden kann. Aleida Assmann führt grundlegend zu gegenwärtigen Erinnerungskulturen aus: Da die ontologische Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was war, nicht unterlaufen werden kann, ist die Möglichkeit einer einfachen Rückholoperation von Vergangenem in die Gegenwart grundsätzlich ausgeschlossen. Statt Rückholoperationen [ … ] haben wir es in der Erinnerungskultur nie mit der Vergangenheit an sich, sondern immer schon mit Repräsentationen von ihr und den damit verbundenen medialen Transformationen zu tun. [ … ] Als Repräsentationen sind ‘ Erinnerungen ’ vererbbar und vermarktbar. Für das gestiegene Interesse an Erinnerungen gibt es inzwischen einen wachsenden Markt. [ … ] Stets wird dabei die fehlende, unsichtbare und entzogene Vergangenheit durch etwas anderes ersetzt, mithilfe dessen wir uns sinnlich auf sie beziehen können. (Assmann 2020: 235) Die Instagram-Bilder werden durch ihre Funktion als Werbemittel für den Onlineshop nicht nur ökonomisch funktionalisiert, sie verlieren dadurch ihren ästhetischen Stellenwert. Das gesamte Korpus der geposteten Bilder wird Gegenstand einer Depravierung von Erinnerung. Vor dem Hintergrund semiotischer Bedeutungskonstituierung und damit des Prinzips von Selektion und Kombination werden in diesem Zusammenhang auch diejenigen (öffentlichen) Bildkorpora relevant, die eben gerade nicht Teil des Instagram-Universums werden: Es handelt sich um Bilder, die vor allem Diktatur und Unrechtstaat zeigen. Im Zusammenhang mit fotografischen Archiven und Formen medialer Erinnerung führt Götz Großklaus Folgendes aus: Mit der Erfindung der Photographie erfahren alle Formen der Erinnerung und der Gedächtnisbildung eine entscheidende Veränderung. In dem Maße, wie der individuellen und kollektiven Erinnerung ein umfangreiches und unhintergehbares, äußeres-mediales Bild-Gedächtnis zur Verfügung steht, verschiebt sich der Schwerpunkt von der vormals lediglich sprach- und schriftgestützten Erinnerung auf eine zunehmend bild-gestützte Erinnerung. Indem die Photographie uns immer das zeigt, was schon nicht mehr ist, wird sie notwendig zum Anlaß [sic! ] für weitere Wahrnehmungen, Überlegungen und Assoziationen, mit denen Erinnerungs-Elaboration einsetzt. Mit der Masse der uns umgebenden Bilder wachsen die Räume der Erinnerung, aber auch die Räume des Vergessens und Verdrängens. Bestimmte Bilder werden von der Zirkulation ausgeschlossen. (Großklaus 2004: 73 f., Hervorhebungen im Original) Die Tatsache, dass die meisten Bilder sich insgesamt dem Bereich der Alltags- und Kulturgeschichte subsumieren lassen, spielt dem grundlegenden Prinzip von Selektion und Kombination Bedeutung zu. Offensichtlich können nicht alle Bilder sämtlicher Bereiche des Lebens in der DDR auf Instagram gepostet werden, was mit dem Selbstverständnis des digitalen Dienstes zusammenhängen mag. Es geht dann doch eher um Unterhaltung als um Aufarbeitung von Geschichte. Das lässt sich beispielsweise an der Absenz von Bildern im Zusammenhang mit Aspekten des Überwachungsstaates diagnostizieren. Martin Sabrow hat im Zusammenhang der Erinnerung an die DDR drei “ Erinnerungslandschaften ” rekonstruiert: “ Diktaturgedächtnis ” , “ Arrangementgedächtnis ” und “ Fort- Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 117 schrittsgedächtnis ” (Sabrow 2009: 18 f.). Diese drei Gedächtnistypen sollen den jeweils dominanten Kern unterschiedlicher Argumentationen hinsichtlich der DDR-Erinnerung benennen: Das Diktaturgedächtnis bezieht sich “ auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft ” , das Arrangementgedächtnis auf das “ richtig[e] Leben im falschen ” und damit auf die Konditionen der DDR-Normalität, das Fortschrittsgedächtnis auf die “ vermeintlich moralisch[e] und politisch[e] Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten, die zu friedlicher Koexistenz und gegenseitiger Anerkennung geführt hätten ” (ibid.). Signifikant ist nun, dass sich die geposteten Bilder nicht auf alle drei Gedächtnistypen gleichermaßen verteilen, sondern hauptsächlich das Arrangementgedächtnis bedienen, wie auch schon die Äquivalenz(en) von Instagram-Bildern und der Illustrierten Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik gezeigt haben. Ausnahmefall ist in diesem Zusammenhang das bereits erwähnte Bild von Peter Fechter, der im Jahr 1962 von Grenzsoldaten an der Berliner Mauer erschossen wird (https: / / www.instagram.com/ p/ Bt5o_49BDVT/ ). Hier legen die Profil-Betreiber in der Caption zusätzlich zum Eingangsstatement auf der Startseite noch einmal Wert auf den unpolitischen Charakter des Posts. Schlussendlich muss die implizite Bildauswahl als Strategie verstanden werden, eben genau Alltagserinnerungen anzusprechen, die dann im Onlineshop auch dinglich-symbolisch gekauft werden können und als Ding verstetigbar sind. Der spezifische Umgang mit den Instagram-Bildern in Bezug auf den Aspekt der Erinnerung erinnert - zumindest latent - an Aby Warburgs Schlangenritual-Vortrag, den er im Jahr 1923 in der Heilanstalt Bellevue in Kreuzlingen in der Schweiz gehalten hat. Thematisch behandelt der Dia-Vortrag aus einer ethnologischen Perspektive das Leben der Pueblo-Indianer Neu-Mexicos. Interessanter aber sei, so Claudia Wedepohl, die das Nachwort zur Neuausgabe 2011 verfasst hat, dass Warburg hier einen Vortrag über eine Reise hält, die zum Zeitpunkt des Vortrags 27 Jahre zurückliegt. Warburg erinnert sich anhand der Bilder der damaligen Reise an die Vergangenheit und verknüpft seine Erinnerungen mit kunsthistorischen und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen zur “ moderne[n] Kultur ” (Warburg 2011: 73). Wedepohl meint, dass “ der Text mehr über ihn selbst und sein Lebenswerk als über sein Sujet ” aussage, indem Warburg “ das Material der ‘ indianischen Reise ’ mit den Erkenntnissen der Selbstbetrachtung zu verknüpfen ” versuche (Wedepohl 2011: 131). Im Prinzip funktioniert der Anlasscharakter der Instagram-Bilder ähnlich: Die Bilder nehmen eine Funktion als Erinnerungstrigger ein und führen häufig - nicht immer - zu Deutungen der Gegenwart und offenbaren dadurch, freilich anders als der Warburg-Vortrag, persönlich-subjektive Mentalitäten und Weltbilder, die ihrerseits in der Gesamtheit des Korpus ein - durchaus heterogenes - Werteset und im Prinzip Weltanschauungen rekonstruieren lassen. 6 Das Analoge im Digitalen/ das Vergangene im Gegenwärtigen Jenseits der inhaltlichen Befunde in Bezug auf die auf Instagram geführten Erinnerungsdiskurse zur DDR ist der strukturelle Aspekt der Integration analoger Fotografien in ein digitales Medium untersuchenswert. Die genuine Verwendung des Dienstes sieht so aus, dass die auf dem Handy geschossenen Fotografien direkt aus der Galerie in den Dienst integriert werden. Die Integration ursprünglich analoger Bilder (aus einer nicht-digitalen 118 Dennis Gräf Zeit) setzt zunächst einmal den analogen fotografischen Akt mit einer analogen Kamera voraus. Dieses Bild muss dann digitalisiert werden und kann erst anschließend hochgeladen werden. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Praxis somit um eine mediale Übertragung zweiten Grades, mithin ließe sich von einer Kopie sprechen. In diesem Sinne liegt, zumindest theoretisch und potenziell, ein (medialer) Verlust von Originalität vor, der für den Einzelfall allerdings weder in seiner Semantik noch in seiner interpretatorischen Tragweite erfasst werden kann, da das analoge Ursprungsbild im Rezeptionsakt nicht bekannt ist. Der Verlust kann sich dann auf Veränderungen in der Farbgebung, den Bildausschnitt etc. in Bezug auf das Original beziehen. Dabei ist auf der medialen Oberfläche der Plattform zunächst überhaupt nicht zu erkennen, ob das ursprüngliche, analoge Bild in irgendeiner Weise - beispielsweise durch Zuschneiden, Farbveränderungen etc. - bearbeitet wurde. Das Instagram-Bild ist damit lediglich eine gemutmaßte Version eines analogen Bildes. Zwar werden auch die auf dem Handy geschossenen Bilder vor dem Hochladen mithilfe von Effekten bearbeitet, allerdings spielt hier der pragmatische Aspekt eine Rolle: Während die digitalen Bilder vor ihrer ersten Präsentation bereits für die auf Instagram implizit geltenden Erwartungshaltungen bearbeitet werden, hatten die analogen Bilder bereits vor dem digitalen Hochladen eine ‘ Karriere ’ als (analoges) Medium, sie werden also nun zum zweiten Mal - zumindest potenziell - in einen öffentlichen Kontext integriert. Auch diese Tatsache verbleibt eher auf der theoretischen Ebene, da die erste Karriere in der Regel nicht bekannt ist. Handelt es sich nicht um Bilder, die bereits öffentlich zugänglich oder per se als öffentlich zugängliche Bilder konzipiert waren (beispielsweise in einem künstlerischen Kontext), handelt es sich um eine Verschiebung von einem privaten in einen öffentlichen Kontext. In diesem Fall verschiebt sich das Erkenntnispotenzial von einem eher allgemeinen kulturhistorischen Kontext zu einem alltagskulturellen Kontext. Die nun öffentlich zugänglich gemachten Bilder fungieren als Zeugen alltäglicher und privater Blicke und erlauben vielleicht sogar die Möglichkeit, Blickmuster des Alltäglichen und des Privaten zu rekonstruieren. Privaten Bildern sind spezifische Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge (Reißmann 2015: 129) inhärent, die für per se als öffentlich konzipierte Bilder nicht gelten, wie beispielsweise “ sich selbst und die eigene sozial [sic! ] und sozialräumliche Umgebung bildlich zu beobachten, zu dokumentieren, und zu konservieren ” (ibid.). Äquivalent zur Digitalisierung des Analogen steht der Transfer des Vergangenen in die Gegenwart. Dies haben die digitalisierten Instagram-Bilder zunächst mit allen digitalisierten Kulturgütern (mittelalterlichen Handschriften, Erstdrucken, Urkunden etc.) gemeinsam. Darüber hinaus ist es auch hier der pragmatische Aspekt, der die analogen Bilder durch die Digitalisierung in einen anderen (diskursiven) Kontext transferiert. Die Bilder aus der Zeit der DDR - und hier sind nun genau jene Bilder gemeint, die auch auf Instagram hochgeladen werden (vgl. Kap. 4), nicht eine mögliche Gesamtheit aller in der DDR gemachten Fotografien - waren zum Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht in einen Erinnerungsdiskurs eingespeist, sondern haben einen ästhetischen, archivarischen, sozialen oder emotionalen Zweck erfüllt. Archivieren und Erinnern befinden sich zwar in einem gemeinsamen semantischen Feld des Temporalisierens, aber mit prospektiven (Archivierung) und retrospektiven (Erinnerung) Ausrichtungen. Insofern ist die Differenz zwischen Archivieren und Erinnern, da diese hier als sukzessive Zustände auftreten, Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 119 einer Verwendungs- und Funktionsverschiebung äquivalent. Der Status der medialen Kopie der Bilder macht sie zu Zeitreisenden, die sich beispielsweise von alten Filmen, die nach langer Zeit wiedergesehen werden, darin unterscheiden, dass sie nicht mehr nur als die Bilder, die sie einmal waren, firmieren, sondern eine neue mediale Botschaft mit Gegenwartsbezug darstellen. Sie sind also Zeitreisende, welche die Wahrnehmung von Gegenwart verändern und somit in diese eingreifen können. Außerdem ist die Frage zu stellen, ob in unserer “ sich zunehmend visuell präsentierenden Gegenwart ” (Maasen et al. 2006: 9) 31 nicht bereits ausreichend Bilder zirkulieren, die unsere Erinnerungsdiskurse befeuern. Jörg Scheller hat in seinem Band Body-Bilder in der Reihe Digitale Bildkulturen festgestellt, dass es nicht darum geht, die Sozialen Netzwerke wie traditionelle Museen [zu betrachten], in denen herausragende Objekte präsentiert und auf eher passive Weise rezipiert werden. Doch heutige Museen entwickeln sich, im Takt eines überaus kommunikativen, vernetzten, user-generated-content-orientierten Kapitalismus, von Rezeptionszu Produktions- und Kommunikationsorten. Aus Medien der Ewigkeit werden Medien der Vorläufigkeit. (Scheller 2021: 23) Dem ist entgegenzuhalten, dass die Erinnerung an die DDR eben kein Diskurs ist, der mehr vorläufig als kontinuierlich auf der Grundlage eines user-generated Kapitalismus zu führen ist: 32 Die im Zusammenhang mit den DDR-Bildern geführten Diskurse auf Instagram zeigen in diesem Zusammenhang, dass die - vor allem entkontextualisierten - Bilder lediglich einen Anlass darstellen, entweder über die Vergangenheit oder über die Gegenwart zu sprechen, und dass der Status der produktiven Zeitreisenden dadurch im Prinzip ausgehebelt wird. Die Bilder haben dann eben doch nicht die Kraft, diskursive Muster aufzubrechen, eher dienen sie als Trigger zur Postulierung manifester ideologischer Überzeugungen. Ihre ästhetische Spezifik und textuelle Einzigartigkeit bleiben dabei unerkannt, vor allem aber auch ihre historische Kontextualisierung. Gerhard Paul führt Folgendes aus: Für unsere Vorstellung von Geschichte kommt dem Bilderkanon des kulturellen Gedächtnisses insofern eine herausragende Bedeutung zu, als er sich wie ein Passepartout selbst wiederum über die Geschichte legt und dieser eine Ordnungsstruktur verleiht, die sie selbst nicht besitzt. Der fragmentierte Körper der Geschichte, von dem Benjamin gesprochen hat, erhält daher erst im Spiegel dieser Bilder Geformtheit, Geschlossenheit, Identität und eine Vorstellung von sich selbst. (Paul 2008: 33) 31 Zur differenzierten Betrachtung des inflationären Ausrufs einer ‘ Zeitenwende ’ in Hinblick auf digital verfügbare Bildermengen cf. Schade & Wenk 2011: 35 - 40. 32 Cf. in diesem Zusammenhang auch die Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‘ Aufarbeitung der SED-Diktatur ’ des Jahres 2006 inklusive des Sondervotums des Expertenkommissionsmitglieds Freya Klier und die kontroversen Diskussionen über diese Empfehlungen. Zu finden in Sabrow 2007. Sicherlich mochten die damaligen Empfehlungen für den (staatlichen) Umgang mit der Vergangenheit der DDR kritikwürdig gewesen sein, die Diskussionen rund um die Expertenkommission und ihre Empfehlungen zeigen aber an, dass die Aufarbeitung der DDR-Geschichte eben nicht frei flottierend bewältigt werden, sondern nur in einem strukturierten, aber offenen Diskurs stattfinden kann. Dabei war die Erinnerung an den DDR-Alltag ein wesentlicher Bestandteil der von den Kritikern der Empfehlungen ausgesprochenen Desiderate. Die Empfehlungen konzentrierten sich auf die politischen Implikationen der SED-Diktatur, vernachlässigten aber die DDR als ‘ gelebten ’ Staat. 120 Dennis Gräf Die Entstehung von Geschichtsbildern hängt demnach massiv vom vorhandenen Bildmaterial ab. Wenn lediglich das Instagram-Korpus von Bildern der DDR zugrunde gelegt würde, entstünde demnach ein höchst fragmentarisches Bild der DDR. Ein Korpus von DDR-Instagram-Bildern ist - um Schellers Museumsbegriff noch einmal aufzunehmen - eben keine (neue Form der) Kunstkammer, wie Horst Bredekamp sie beschrieben hat, also keine Sammlungsform, die eine paradigmatische Klammer um eine Reihe von als zusammengehörig verstandenen Artefakten schließt, die Artefakte in den Mittelpunkt der Sammlung stellt und versucht, menschliche und kulturelle Entwicklung in der Zeit sichtbar zu machen (cf. Bredekamp 2012). Die DDR-Instagram-Bilder fingieren lediglich museale Kohärenz: Konzeptlosigkeit und Ungeordnetheit lassen eben keinen produktiven Kommunikationsort entstehen, sondern einen Ort, der lediglich das Bedürfnis zum phatischen Austausch über Vergangenheit (und Gegenwart) der DDR befriedigt und dabei auch kontroverse Urteile über die DDR nebeneinanderstellt. References Ahbe, Thomas 2005: Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen Andriopoulos, Stefan et al. (eds.) 2001: Die Adresse des Mediums, Köln: DuMont Assman, Jan 1988: “ Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität ” , in: Kultur und Gedächtnis (1988): 9 - 19 Benthien, Claudia & Brigitte Weingart (eds.) 2014: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, Berlin/ Boston: de Gruyter Belting, Hans 2001: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Fink Belting, Hans 2005: “ Die Herausforderung der Bilder. Ein Plädoyer und eine Einführung ” , in: Belting (ed.) 2005: 11 - 23 Belting, Hans 2005 (ed.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München: Fink Benz, Wolfgang & Michael F. Scholz 2009: Deutschland unter alliierter Besatzung 1945 - 1949/ Die DDR 1949 - 1990, Stuttgart: Klett-Cotta Bredekamp, Horst 2012: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin: Wagenbach Bromley, Roger et al. (eds.) 1999: Cultural Studies: Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: zu Klampen Burke, Peter 2019: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin: Wagenbach Burkhardt, Hannes 2021: Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Cunningham, Carolyn (ed.) 2014: Social networking and impression management: Self-representation in the digital age, Lanham: Lexington Dick, Miriam et al. (eds.) 2019: “ Spuren - Netze - Horizonte. Potenziale der Semiotik in der Lehrer*innenbildung ” , in: Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik 07/ 2019, im Internet unter http: / / www.kultursemiotik.com/ wpcontent/ uploads/ 2020/ 01/ SKMS_2019_7_Spuren_Netze_Horizonte.pdf [19.08.2022] Goudin-Steinmann, Elisa & Carola Hähnel-Mesnard (eds.) 2013: Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität, Berlin: Frank & Timme Das Analoge im Digitalen / Das Vergangene im Gegenwärtigen 121