eJournals Kodikas/Code 42/1

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
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Vorwort

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2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Urban Semiotics ist ein relativ junges Forschungsgebiet, in dem Fragestellungen der diskurs- und der Urbanitätsforschung zusammengeführt werden. Dabei profitiert ihre Untersuchung methodisch von einer Reihe aktueller und traditioneller Forschungsrichtungen wie Raumwissenschaften, Stadtökologie, Stadtsoziologie, Stadtsprachenforschung u. a., die einen interdisziplinären Zugang eröffnen zur ‘Lektüre’ der ‘Zeichen der Stadt’. Anhand von sieben in der deutschen Hauptstadt kontrovers geführten Debatten wird dieser Ansatz veranschaulicht: über die Zukunft des Tempelhofer Feldes, die Gentrifizierung von Teilen des Arbeiterbezirks und späteren Künstlerquartiers Prenzlauer Berg, die Gestalt von Moscheen zunehmende Sichtbarkeit muslimischer Minoritäten, die ‘Stolpersteine’ als Zeichen urbaner Memorialkultur, während der Antisemitismus gleichzeitig zunimmt, die Bedrohung der homosexuellen Community in Schöneberg durch homophobe Migranten, den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und die Zukunft des von ihm beherbergten Humboldt-Forums, die Spannung zwischen dem restaurierten Stadtkern um die Nicolaikirche und der Planungen für die moderne Umgestaltung des benachbarten Verkehrsknotenpunktes Alexanderplatz. Statt eines Schlusswortes wird am Ende die Berliner Mauer als Zeichen der Ost-West-Spaltung im Erinnerungsraum zeitgenössischer Literatur exponiert.
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0 Vorwort Der hier vorgelegte Essay soll den Leser, die Leserin, dafür sensibilisieren, die ‘ Zeichen der Stadt ’ wahrzunehmen, sie zu ‘ lesen ’ . Am Beispiel ausgewählter Quartiere in Berlin möchte er Antworten suchen auf die Frage: Was sind urbane Diskurse? Diese Frage nach dem ‘ Wie ’ urbaner Kommunikation zielt auf deren (sozio)kulturelle Verfasstheit im Schnittfeld von Diskursforschung und Semiotik, Stadtökologie und Stadtsoziologie. Welche Ansätze können in einem interdisziplinären Forschungsdesign zur Anwendung kommen, um die Diskursbedingungen urbanen Wandels zu verbessern? Die einleitend vorgestellten Ansätze semiotischer, urbanologischer, ökologischer, linguistischer Provenienz mögen einen inter- und multidisziplinären Zugang für die ‘ Lektüre ’ urbaner Räume als ‘ Texte ’ bieten. In sieben Skizzen werden solche ‘ Lektüren ’ angeboten, zu denen mich kontroverse Debatten der letzten Jahre motivierten: die Debatte über die Berliner Flughäfen und die Frage, was aus dem ‘ Tempelhofer Feld ’ werden soll; die Debatte über die Gentrifizierung traditioneller Quartiere (wie Prenzlauer Berg) und die Frage, aus welchen Indizien sich ihr Wandel ablesen lässt; die Debatte über unser Verhältnis zu den muslimischen Nachbarn und die Frage, welchen Einfluss sie auf den Wandel bestimmter Bezirke nehmen, indem sie etwa ihrem Glauben durch Moscheen baulich Ausdruck verleihen, über deren Zahl und Standort wiederum diskutiert wird; die Debatte über die angemessene Form der Aufarbeitung unserer politischen Vergangenheit zum Zwecke der mahnenden Erinnerung und die Frage, ob (und wenn ja, wie) Stolpersteine dem wachsenden Antisemitismus entgegenwirken können; die Debatte über die Sichtbarkeit homosexueller Minderheiten im öffentlichen Raum und die Frage, ob und inwieweit ein Traditionsviertel wie der Schöneberger ‘ Regenbogenkiez ’ als solcher erhalten und gegen die zunehmende Gefährdung durch religiös inspirierte Homophobie und damit legitimierte Kriminalität geschützt werden soll; die Debatte über die ‘ leere Mitte ’ im Stadtzentrum und die Frage, wie die Lücke, die durch den Abriss des Palastes der Republik entstand, architektonisch am besten gefüllt werden könne, ob der Wiederaufbau des Schlosses der Hohenzollern dafür der zeitgemäße Ausdruck sei, und wie es nach dessen Fertigstellung kulturell angemessen ‘ bespielt ’ werden könne; die Debatte über die umstrittene Musealisierung des historischen Stadtkerns oder die urbane Zukunftsfähigkeit einer stadtplanerischen Ödnis auf dem angrenzenden Areal des Alexanderplatzes und die Frage, wie Ansprüchen des Tourismus (das Nicolaiviertel als Disneyland? ), des Gewerbes, der Immobilienwirtschaft und des bezahlbaren Wohnraums für breitere Bevölkerungsgruppen zugleich Rechnung getragen werden kann. Die Berliner Mauer schließlich als bauliches Zeichen der europäischen Teilung und der ideologischen Systemkonkurrenz zwischen Ost und West im 20. Jahrhundert wirft die Frage angemessenen Gedenkens auf, wenn jedes Jahr an ihre Errichtung, an ihre Überwindung, an die Opfer, die sie kostete, erinnert wird. Welch kontroverse Debatten sie immer noch auslöst, lehrt ein Blick in zeitgenössische Nach-Wende-Romane, in denen der Fall der Mauer ausgerechnet in einer politisch ‘ links ’ verorteten Literaturszene merkwürdige Phantomschmerzen zu verursachen scheint. - Anlässe genug, genauer hinzuschauen und auf die Details zu achten, um im Glücksfalle den Streit ins diskursiv Produktive münden zu sehen. Berlin / Kapstadt, im Winter 2021 Ernest W. B. Hess-Lüttich Danksagung Zahlreiche Hinweise auf die verschiedensten Quellen verdanke ich Teilnehmerinnen und Teilnehmern thematisch einschlägiger Seminare an der Universität Bern, an der TU Berlin und an der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane sowie Hörerinnen und Hörern meiner Vorträge an der Stellenbosch University und der University of Cape Town. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt für ihr Interesse und ihre aktive Mitwirkung. Ernest W. B. Hess-Lüttich 6 Vorwort