Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
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“The Big open” -
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2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Nachhaltige Stadtplanung ist als kommunikativer Prozess aufzufassen, in dem Städtebau, Technologie, Quartiermanagement und die Sozial- bzw. Milieustruktur einer Stadt miteinander vernetzt werden. Im Blick auf Nachhaltigkeit wird dabei die Frage aufgeworfen, unter welchen Diskurs-Bedingungen Architekten und Stadtplaner mit urbanen Akteuren, Bürgern und (kommunal-)politischen Entscheidungsträgern ins Gespräch kommen können und welches kulturelle Erbe gegebenenfalls erhalten werden soll. Unter Rückgriff auf die in Kap. 1 vorgestellten Ansätze semiotischer, urbanologischer, ökologischer, linguistischer Provenienz untersucht das folgende Kapitel am Beispiel der anhaltenden Kontroverse um die Zukunft des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof (eins geplant als weltgrößter Flughafen, später lange Zeit Brache, dann Flüchtlingsunterkunft und nach Zwischennutzungen für Kulturprojekte vor der Sanierung stehend) die Frage, wie urbane Diskurse gelingen oder misslingen können und welche folgen das zeitigt für die Vermittlung, Moderation, Integration erfolgreicher Stadtplanung.
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2 “ The Big open ” in Berlin - oder: “ Die Tempelhofer Freiheit ” Abstract: Sustainable Urban Planning is to be understood as a communicative process, which interlinks city architecture, technology, city district management and social infrastructure of neighbourhoods. The focus on sustainability brings up the question, under which discourse conditions architects, city planners interact with other urban actors, citizens, local administrators and politicians in order to successfully implement urban renewal and take into account which cultural heritage should be preserved. Using the semiotic, urbanological, ecological, and linguistic approaches presented in chapter 1 as a starting point, the following chapter examines the ongoing controversy over the future of Berlin ‘ s former Tempelhof Airport (once planned as the world ’ s largest airport, later for a long time a wasteland, then refugee accommodation, and now facing redevelopment after cultural interim uses), the question of how urban discourses can succeed or fail, and what consequences this has for the mediation, moderation, and integration of successful urban planning. Zusammenfassung: Nachhaltige Stadtplanung ist als kommunikativer Prozess aufzufassen, in dem Städtebau, Technologie, Quartiermanagement und die Sozialbzw. Milieustruktur einer Stadt miteinander vernetzt werden. Im Blick auf Nachhaltigkeit wird dabei die Frage aufgeworfen, unter welchen Diskurs-Bedingungen Architekten und Stadtplaner mit urbanen Akteuren, Bürgern und (kommunal-)politischen Entscheidungsträgern ins Gespräch kommen können und welches kulturelle Erbe gegebenenfalls erhalten werden soll. Unter Rückgriff auf die in Kap. 1 vorgestellten Ansätze semiotischer, urbanologischer, ökologischer, linguistischer Provenienz untersucht das folgende Kapitel am Beispiel der anhaltenden Kontroverse um die Zukunft des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof (einst geplant als weltgrößter Flughafen, später lange Zeit Brache, dann Flüchtlingsunterkunft und nach Zwischennutzungen für Kulturprojekte vor der Sanierung stehend) die Frage, wie urbane Diskurse gelingen oder misslingen können und welche Folgen das zeitigt für die Vermittlung, Moderation, Integration erfolgreicher Stadtplanung. Keywords: architecture communication, energy turn, renewable energy, sustainable urban planning, urban ecology, Berlin airport Schlüsselbegriffe: Architekturkommunikation, Energiewende, erneuerbare Energie, nachhaltige Stadtplanung, Stadtökologie, Berliner Flughafen 2.1 ‘ The Big Open ’ - vom Ordensfeld zum Weltflughafen Das erste Beispiel sind in Deutschland die jahrzehntelangen öffentlichen Debatten über den neuen Berliner Großflughafen Willy-Brandt (BER), der bereits kurz nach der Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre für eine Eröffnung zu den Olympischen Spielen 2000 geplant, aber erst ab 2006 zu bauen begonnen wurde. Die schließlich für 2011 angekündigte Eröffnung musste dann aufgrund zahlloser technischer Probleme - 2013 listete eine Prüfung 120 ’ 000 Baumängel auf - und (in deren Folge) gravierende kommunikativer Verwerfungen innerhalb des Trägerunternehmens und zwischen diesem und den beteiligten politischen Stellen zwischen Berlin und Brandenburg immer wieder verschoben werden. Mit 20-jähriger Verspätung wird nun der neue Flughafen, für dessen Bau die Bauherren einst 630 Mio Euro veranschlagt hatten und der die bisherigen Flughäfen Tempelhof, Tegel und Schönefeld ersetzt, gegen Ende 2020 zum exorbitant gestiegenen Preis von drei Flughäfen (über 6 Mrd Euro) eröffnet und mit den ersten beiden Terminals in mehreren Schritten in Betrieb genommen - rechtzeitig zum Shutdown infolge der Corona- Pandemie und zur drohenden Insolvenz der Flughafengesellschaft: “ Die Großmutter aller Bauskandale ” (Fichtner 2020). In dieser langen Phase wurde stets auch über die Zukunft der drei ‘ alten ’ Flughäfen debattiert. Wie kann das monströse Gebäude des Flughafens Tempelhof überhaupt anders sinnvoll genutzt werden? Was geschieht mit und auf der endlosen Weite des ‘ Tempelhofer Feldes ’ inmitten des Stadtgebiets? Warum muss der (wegen seiner Architektur der kurzen Wege und praktischen Sicherheitskonzepte) allseits beliebte Flughafen Tegel Ende 2020 schließen, während der marode Flughafen Schönefeld als Terminal 5 dem neuen BER zugeschlagen und vorläufig weitermachen darf ? Aus diesem vielschichtigen Debattengeflecht greifen wir hier nur ein Segment heraus, nämlich die (sogar in ein Referendum mündende) streitig ausgetragene Kontroverse um die Nutzung des Tempelhofer Areals des am 30. Oktober 2008 geschlossenen Flughafens Tempelhof. Denn hier stehen sich die “ Disponibilität des Raumes ” und die “ historische Physiognomie des Ortes ” (Assmann 2009) in exemplarischer Weise gegenüber. Der stillgelegte Flughafen mit dem ‘ Tempelhofer Feld ’ hat sich mittlerweile historisch mit so viel Bedeutung aufgeladen, dass man von einem Palimpsest der Erinnerungsschichten sprechen kann, das die unbefangene Umnutzung durch Stadtplanung nicht unbeeinflusst lässt. Das Schichtengefüge kann hier nur mit wenigen Stichworten freigelegt werden. Die Geschichte des Ortes beginnt nämlich lange bevor der Flughafen von dem Architekten Ernst Sagebiel entworfen wurde. Im 13. Jahrhundert erhält das Feld, auf dem ein Ordenshaus des Templerordens stand, seinen Namen ( ‘ tempelhove ’ ). Im 18. Jahrhundert wurde das Gelände vom ‘ Soldatenkönig ’ Friedrich Wilhelm I. von Preußen als Exerzierplatz genutzt und erlangte hundert Jahre später internationale Aufmerksamkeit durch die berühmte “‘ Dreikaiserparade ’” im Jahre 1882 vor Kaiser Wilhelm I., Zar Alexander II. von Russland und Kaiser Franz Joseph von Österreich “ (Trunz 2008: 11). Die aufsehenerregenden Flugshows der Wright-Brüder im September 1907 weisen gleichsam kataphorisch voraus auf die spätere Bestimmung des Ortes: 1925 wird das Feld zum (noch sehr bescheidenen) Berliner ‘ Zentralflughafen ’ (Abb. 1), den Adolf Hitler zehn Jahre später dann zu einem repräsentativen ‘ Weltflughafen ’ auszubauen anordnete, den Albert Speer für ihn als ein bauliches Zeichen für dessen 20 “ The Big open ” in Berlin wahnhafte Vorstellung von der politischen Bedeutung des ‘ Dritten Reiches ’ entwirft (Abb. 2). Dessen wahres Gesicht freilich wird aber wohl eher durch das am Rande des Feldes errichtete Konzentrationslager ‘ Columbia ’ symbolisiert, dem einzigen KZ auf Berliner Boden, in dem bis zu seiner Auflösung 1936 prominente Gefangene wie der Rabbiner Leo Baeck, der Kabarettist Werner Finck oder der Kommunist Erich Honecker einsaßen. Abb. 1: Terminal des Flughafens 1923 Abb. 2: Albert Speers Tempelhof-Modell 1935 Nachdem ‘ das tausendjährige Reich ’ nach zwölf Jahren in Trümmern lag, wurde der unvollendet gebliebene Flughafen von den Alliierten für ihre legendäre Luftbrücke genutzt, die den Menschen im von den Sowjets blockierten Westen Berlins das Überleben sicherte und an die das Mahnmal Eduard Ludwigs auf dem ‘ Platz der Luftbrücke ’ bis heute erinnert (cf. Trotnow & v. Kostka 2010: 15 ff.). Erst im Sommer 1962 wurde der in Anlehnung an die ursprünglichen Entwürfe von Ernst Sagebiel wieder aufgebaute Zivilflughafen für die eingeschlossenen Berliner schließlich zum ‘ Tor zur Welt ’ und für die Besucher von überall her zum in den Medien omnipräsenten Entree (cf. Trunz 2008: 114). Nachdem alle Bürgerinitiativen für dessen Erhalt gescheitert waren, sollte der neue Berliner Flughafen Willy Brandt (das für ihn vorgesehene Kürzel BBI musste durch BER ersetzt werden, weil man übersehen hatte, dass ‘ BBI ’ bereits durch den indischen Flughafen Bhubaneswar besetzt war) seine Funktionen übernehmen (und gleich auch die des ebenfalls zu schließenden Flughafens Tegel, für dessen Erhalt sich ebenfalls eine Bürgerinitiative gebildet hatte), ein Großprojekt, das zu einem beispiellosen Bau- und Planungsdesaster geriet und dessen Eröffnungstermin (nach der soundsovielten Verschiebung) zwar für Ende Oktober, Anfang November 2020 annonciert wurde, der aber (aufgrund der Corona-Pandemie) erst mit dem Sommerflugplan 2021 seinen Betrieb aufnehmen wird. Bis dahin soll auch die endgültige Schließung des aufgrund seiner kurzen Wege beliebten Flughafens Tegel abgeschlossen und der Widerstand einer Reihe von Bürgerinitiativen dagegen überwunden sein. Aber das ist eine andere Geschichte. 2.2 Ein Flughafen-Terminal als Palimpsest In Tempelhof steht nun die geradezu einschüchternd imposante Abfertigungshalle leer und liegt das weitläufige Gelände brach. Die historischen Schichten werden allmählich von neuen Funktionen überlagert. Schon seit Mitte der 1990er Jahre wird geplant, zunächst nur in engeren Zirkeln von Planungsbüros und Expertengremien, später unter Beteiligung der Bevölkerung in Internet-Foren und Bürgerbefragungen. 2010 wurde ein Wettbewerb zur Ein Flughafen-Terminal als Palimpsest 21 Landschaftsplanung ausgerufen, in dem die ursprünglichen Ideen zu einer Parkanlage zur Geltung kommen sollen (cf. Seidel 2012: 32). Während ‘ das Volk ’ den Ort als ‘ Tempelhofer Freiheit ’ längst für seine Zwecke nutzte, plante die Senatsverwaltung unter Erhaltung zentraler Parkflächen die behutsame Bebauung von den Rändern her, um zwischen den angrenzenden Quartieren und ‘ dem Feld ’ eine Verbindung zu schaffen (Abb. 3). Gegner und Befürworter der Pläne lieferten sich in Gremien, Medien und Foren seit der Veröffentlichung des Masterplans im Mai 2013 erbitterte Gefechte. Abb. 3: ‘ The Big Open ’ oder ‘ Tempelhofer Freiheit ’ (2017) Die Schichten des Palimpsestes spielen dabei eine wesentliche Rolle. Die Architektur erhielt durch den Einfluss von Albert Speer auf Sagebiels Pläne ihre semiotische Prägung: die Gebäude des Flughafens repräsentieren zugleich die monumentalistische Staatsarchitektur als steinernem Ausdruck des Machtwillens des Nazi-Regimes und die moderne Industriearchitektur als dem Aushängeschild deutscher Ingenieurskunst im Stile der ‘ Neuen Sachlichkeit ’ (cf. Reichhardt & Schäche 2008: 23 ff. et passim). Die Zeichenensembles für beide Funktionen (die Raumdimensionen, die Reichsadler-Reliefs, die Baumaterialien, die Stahlbetonskelett-Konstruktion) sind bis heute wirksam. Eingebettet in die gigantomane Germania-Planung mit ihrer axialen Ausrichtung auf Karl Friedrich Schinkels Kreuzberg-Denkmal als dem Ort der nationalsozialistischen Sonnenwendfeiern verweist der Bau auf das Architektur-Konzept der NS-Ideologie (cf. ibid.: 100; Raichle 2010) und wird durch das KZ ‘ Columbia ’ und die Kampfbomberproduktion der Weser-Flugzeugwerke zum Ort ihrer Vollstreckung, zum ‘ Akteur des Krieges ’ . 22 “ The Big open ” in Berlin Nach dessen Ende kommen neue Funktionen und Bedeutungsschichten hinzu. ‘ Tempelhof ’ stand für ‘ Luftbrücke ’ , für Überleben und Freiheitswillen, später für die Verbindung der von einer sozialistischen Diktatur eingeschlossenen Insel zum ‘ freien Westen ’ , zum Symbol auch für den Imagewandel der Westmächte: “ Aus Besatzern wurden Beschützer ” (Geppert 2010: 137). Nach der historischen Wende von 1989 verlor auch diese Funktion ihre Bedeutung. Wieder müssen neue Bedeutungen gesucht und gefunden werden für das ‘ leere Gebäude ’ und das ‘ freie Feld ’ . ‘ Tempelhof ’ als ‘ historischer Ort ’ hat Zeichen hinterlassen (cf. Assmann 2009: 16 f.), ihm ist Geschichte ‘ eingeschrieben ’ , er ist semantisch mannigfach ‘ aufgeladen ’ : das erklärt das Engagement in der Debatte zum Übergang vom historischen Ort zum öffentlichen Raum. Aber ob man “ eine gegebene geographische Fläche eher als Ort oder als Raum ansieht, ist nicht eine Frage ihrer inhärenten Qualität, sondern eine Frage des Blicks, der Perspektive, des aktuellen Handlungs-Interesses ” (Assmann 2009: 22). Der historische, funktionale und semantische Wandel muss schichtweise rekonstruiert werden, die semiotischen Veränderungen, die aufgrund der Funktionswechsel und Funktionsverluste entstanden sind, müssen definiert werden, wenn die Debatte Früchte tragen soll. ‘ Tempelhof ’ als Zeichen zu interpretieren heißt, die in den jüngsten Palimpsest- Schichten historisch ‘ geladene ’ Semantik der Zeichenträger ‘ Flughafengebäude ’ und ‘ Flugfeld ’ angesichts ihres Funktionsverlusts mit neuer, zusätzlicher Bedeutung zu füllen (cf. Eco 2002). Dafür stehen die Pläne zu seiner Entwicklung zum Modellprojekt künftiger Stadtplanung. Die im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erarbeiteten Strategien zur energetischen Entwicklung des Tempelhofer Feldes könnten dafür die Blaupause liefern - so zumindest die Idee der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt noch bis 2015. Denn der Energiebedarf des denkmalgeschützten Gebäudes sei enorm (nämlich 150 kWh/ m 2 a), das Gelände energetisch aber vollkommen ungenutzt, was dem Steuerzahler erhebliche Kosten aufbürde. Deshalb sei der potentielle Beitrag aller denkbaren (alternativen) Energieträger zu prüfen (cf. Genske et al. 2014). Verschiedene Vorschläge von Experten zur energieneutralen Umnutzung des Flughafens Tempelhof zielten auf eine Deckung des Bedarfs durch die Integration mehrerer Quellen (Blockheizkraftwerk, Solar- und Tiefengeothermie, Biogasanlagen) und eine gemäß neuesten Energie-Standards zu errichtende moderate Randbebauung als Brücke zu den angrenzenden Quartieren, die eine nachhaltige Versorgung im Sommer und im Winter zu gewährleisten versprach. Durch die Diskussion solcher oder ähnlicher Pläne, so die seinerzeitige Hoffnung, könne dem Tempelhof-Palimpsest eine neue Schicht aufgelagert werden, ohne die darunterliegenden Schichten dem Vergessen anheimzugeben: aus der Erinnerung an totalitären Ausdruckswillen die demokratisch verhandelte Nutzung künftiger urbaner Räume ökologisch, finanzierbar, menschenwürdig zu gestalten. 2.3 Vom Bürgerpark zum Flüchtlingslager - und zurück? Es sollte alles anders kommen. Gegen die Vorschläge der Senatsverwaltung zur Umwandlung des Tempelhofer Feldes zu einem 230 ha großen Bürgerpark mit energetisch neutralen Sozialwohnungen für über 5000 Einwohner am Rande des “ big open ” ( “ eine behutsame Randentwicklung für Wohnen, Wirtschaft, Wohlfühlen, unter Nutzung der Vom Bürgerpark zum Flüchtlingslager - und zurück? 23 Möglichkeiten energetischer Stadterneuerung ” ) erhob sich erbitterter Widerstand. Der Vorschlag des seinerzeitigen Senators für Stadtentwicklung (und späteren Berliner Regierenden Bürgermeisters) Michael Müller sah vor, von dem 355 ha großen Areal, auf dem allein das denkmalgeschützte Flughafengebäude ca. 55 ha einnimmt, insgesamt nur ca. 70 ha an drei Randstreifen mit 4700 Wohnungen von städtischen Wohnbaugesellschaften (also nicht von privaten Investoren) zu bebauen und die verbleibenden 230 ha nach dem Vorbild des Großen Tiergartens (210 ha) als ökologisch entwickelte ‘ Grüne Lunge ’ zu gestalten. Man hätte erwartet, dass das Konzept den Wählern der Grünen (Parklandschaft) ebenso einleuchten würde wie denen der Konservativen (Investitionen) und der Linken (Sozialwohnungen mit bezahlbaren Mietpreisen um damals sechs bis acht Euro pro Quadratmeter). Die öffentliche Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt, als eine eigens zu diesem Zwecke gegründete Bürgerinitiative namens “ 100 % Tempelhofer Feld ” die Durchführung eines Volksentscheids erzwang, über den schließlich am 25. Mai 2014 abgestimmt wurde. Der Vorlage des Berliner Abgeordnetenhauses wurde ein Gesetzesentwurf entgegengesetzt, der den Erhalt des Tempelhofer Felds in seiner gegenwärtigen Form als Wiese und ohne jede bauliche Veränderung festschrieb, womit außer den Wohnungen auch der geplante Neubau für die Berliner Zentral- und Landesbibliothek sowie die zugleich als Lärmschutz dienende Gewerbebebauung entlang derAutobahn A 100 vom Tisch war (s. Abb. 4 + 5 aus Michaelis-Merzbach ed. 2014: 14, 28). Abb. 4: Westteil des Tempelhofer Feldes als Wiese gemäß Entwurf der Bürgerinitiative “ 100 % Tempelhofer Feld ” . Abb. 5: Westteil des Tempelhofer Feldes als randbebaute und naturgeschützte Freifläche gemäß Entwurf des Berliner Abgeordnetenhauses. 24 “ The Big open ” in Berlin Der Streit darüber tobte wochenlang in den Gazetten der Stadt und entzweite ihre Bürgerschaft. Dabei standen anfangs die Wetten für die Entwürfe des Senats nicht schlecht. Angesichts eines Nettozuwachses von ca. 50 ’ 000 Einwohnern per annum bei steigenden Miet- und Immobilienpreisen war eine satte Mehrheit für die Senatsvorlage erwartet worden, zumal die Grünfläche ja im Wesentlichen erhalten bleiben sollte. Am Ende gab es jedoch eine überraschend klare Mehrheit der Teilnehmer an der Abstimmung für den Alternativentwurf der Bürgerinitiative (65: 35 % bzw. 30: 19 % der Stimmberechtigten), der mit dem angeblichen Verlust einer ‘ Kaltluftentstehungszone ’ argumentierte (was ökologische Gutachten verneinten, die einen Park mit Bäumen und Wasserbecken dem sommerlichen Stadtklima für zuträglicher erachteten als eine karge Steppe, über die ungebremst der Wind pfeift). Die Kampagne ist ein eindringliches Beispiel für das Misslingen der öffentlichen Kommunikation zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft und damit ein starkes Argument für eine rechtzeitige Beteiligung der Bürger an der Stadtentwicklungsplanung, die bei Projekten dieser Größenordnung nur gelingen kann, wenn die jeweiligen Interessenlagen und Entscheidungsprämissen für alle Beteiligten transparent werden. Dazu bedarf es eines in sich komplex gestaffelten und in verschiedenen Foren und Medien organisierten Diskussionsprozesses, der dann wieder Gegenstand kritischer Diskursanalyse sein kann. Im Sommer 2015 wurde die Freifläche von den Anwohnern und Besuchern als eine Art multikultureller Freizeitpark aktiv angenommen. Nach dem Vorbild des heute so beliebten Gleisdreieck-Parks (seit 2014 auf den sich über fast 32 ha erstreckenden ehemaligen Brachen des Bahngeländes am Anhalter und Potsdamer Güterbahnhof in Kreuzberg und Schöneberg) wird die Wiese seither vielfältig genutzt zur Erholung, für Fußball und Spiele im Freien; türkische Familien lassen Drachen steigen und lagern um Picknickkörbe, Jugendliche nutzen die riesigen Landebahnen als Skaterpark und für Rollschuhrennen. Die Initiatoren des Volksbegehrens hatten dafür ca. 40 ’ 000 Euro aus eigener Tasche aufgebracht, um gegen die Regierungskampagne zu bestehen, und sie hatten damit durchschlagenden Erfolg. Ein neues Gesetz garantierte ihnen den status quo: eine unendlich weite Freifläche aus Beton und Steppe mitten in der Stadt. Ihre Argumentation hatte geschickt das nach zahlreichen Bauskandalen in der Stadt gewachsene Misstrauen gegenüber Bauinvestoren, Immobilienspekulanten, überforderten Stadtplanern, abgehobenen Politikern genutzt und ein Zeichen gesetzt für eine bürgernahe Hauptstadt, für Freiheit und Humanität. Die Freude derAbstimmungsgewinner über ihren Sieg währte freilich nur einen Sommer. Schon im Herbst desselben Jahres wurde Berlin mit dem konfrontiert, was alsbald die europäische Flüchtlingskrise genannt wurde. Innerhalb eines Jahres strömten fast eine Million Menschen aus den Balkan-Ländern, aus Syrien, Irak, Afghanistan, aus den nordafrikanischen Ländern des Maghreb, aus Eritrea und Somalia, aus Nigeria und dem Sub-Sahel nach Deutschland. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention und im Namen der Humanität musste die Stadt Berlin allein in kürzester Zeit über 80 ’ 000 Flüchtlinge aus Kriegsgebieten und Migranten aus von Armut und Klimawandel betroffenen Regionen aufnehmen und unterbringen. Mit dem hereinbrechenden Winter waren sie bei klirrender Kälte aus eilig errichteten Zeltlagern in heizbare Notunterkünfte umzuleiten. Die Berliner Behörden waren mit solchen Aufgaben zunächst unübersehbar überfordert (Stichwort ‘ LaGeSo-Skandal ’ 2015). Vom Bürgerpark zum Flüchtlingslager - und zurück? 25 Für die Teilnehmer an der Bürgerinitiative für die Erhaltung der Tempelhofer Wiese und gegen jede bauliche Veränderung ergab sich damit nun ein moralisches und argumentatives Dilemma. Sie verstanden sich den Umfragen zufolge mehrheitlich als ökologisch motiviert, politisch eher grün-alternativ bis links orientiert, multikulturell engagiert und tendenziell eher für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen als für deren Abschiebung oder Ausweisung. Ihr Engagement gegen Investoren im Namen der Humanität und Bürgernähe geriet in Widerstreit zu ihrem Engagement für die Migranten im Namen derselben Humanität und Mitmenschlichkeit, die Zustimmung heischt zu den neuen Plänen für Tempelhof, dort (im Widerspruch zu dem zuvor verabschiedeten Gesetz) nun doch eine Art ‘ Randbebauung ’ mit Flüchtlingsunterkünften ins Auge zu fassen. Welchen Ausweg gab es aus diesem Dilemma? Das war die für den zeithistorisch aufmerksamen Diskursforscher interessante Frage, denn hier kündigte sich bereits an, was später die Debatte über ‘ Flüchtlingskrise ’ genannt werden sollte. Angesichts der Flüchtlingszahlen musste der Berliner Senat schnell Entscheidungen fällen. Am 28. Januar 2016 verabschiedet die Mehrheit des Abgeordnetenhauses ein neues “ Gesetz zur Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen ” , das die provisorische und befristete Errichtung von Flüchtlingsunterkünften auf dem bebauten bzw. versiegelten Gelände des Flughafens zulässt. Vor der vom Bausenator zunächst ins Auge gefassten Aufhebung des vorherigen Tempelhof-Gesetzes vom Mai des Vorjahres und der ‘ Randbebauung ’ nach den ursprünglichen Plänen, nur jetzt statt mit Sozialwohnungen mit Flüchtlingsheimen, schreckte das Parlament angesichts des eindeutigen Wählervotums indes zurück. Das neue Gesetz erlaubt nur die Nutzung der Hangars und des unmittelbar davorliegenden Rollfeldes, nicht aber die des eigentlichen Feldes. Die Hangars waren z.T. dafür bereits in Beschlag genommen worden, nun sollen zusätzlich auf einem Raum von fast 122 ’ 000 m 2 mobile Unterkünfte errichtet werden, ohne die Grünflächen zu tangieren. Damit würden nur 3.5 % des Feldes für diesen Zweck gebraucht, argumentiert der Senat, aber Platz für ca. 7 ’ 500 Menschen geschaffen, die Schutz suchen. Außerdem sollten die Unterkünfte auf drei Jahre befristet sein und könnten bei Entspannung der Lage zur Wiederherstellung des status quo ante leicht rückgebaut werden. Außer den Notunterkünften (baurechtlich “ fliegende Bauten ” genannt) sahen die Pläne eine Halle für Sprachunterricht und Kinderbetreuung vor ( ‘ Schule ’ 4 ’ 000 m 2 ), zwei Sporthallen (4 ’ 800 m 2 plus Nebenräume), ein Fußballfeld sowie weitere Sportplätze, eine Mehrzweckfläche ( ‘ Marktplatz ’ ), drei Hallen (zu je 1 ’ 600 m 2 ) für die medizinische Versorgung, für Werkstätten (zur berufsvorbereitenden Ausbildung) und eine Agentur für Arbeitsvermittlung ( ‘ Job-Center ’ ), eine Großküche (2 ’ 000 m 2 ), die den Flüchtlingen auch erlaubt, selbst eigene Gerichte zuzubereiten, sowie Lagerflächen (3 ’ 600 m 2 ), kurz, ein multikulturelles (und multikonfessionelles) Dorf für ca. 7 ’ 500 Einwohner, die vor Krieg, Hunger und Not aus ihrer Heimat fliehen mussten und hier vorübergehend ein menschenwürdiges Zuhause finden sollen, nicht jedoch ein islamisches Ghetto, wie Senat und Stadtverwaltung zu versichern sich beeilten (Abb. 6; cf. Czienskowski 2016; Schönball 2016). Trotz der wiederholten Versicherungen seitens der Behörden, dass die Grünflächen von diesen baulichen Maßnahmen überhaupt nicht betroffen seien, riefen die Initiatoren der Bürgerinitiative “ 100 % Tempelhofer Feld ” sofort wieder zum Widerstand auf gegen die Pläne zum Ausbau des Flughafens Tempelhof zu Deutschlands größtem Flüchtlingscamp. 26 “ The Big open ” in Berlin Auch die Opposition im Parlament meldete Bedenken an. Sie argumentierte, dass die Integration der Flüchtlinge aus islamischen Ländern in die deutsche Gesellschaft durch ein Lager dieser Größe behindert werde, dass die geschätzten Kosten von ca. 1 ’ 200 € pro Kopf und Monat zu hoch seien, dass der den Menschen je zur Verfügung stehende private Raum viel zu klein sei, dass die Gefahr der Entstehung von Konflikten zwischen Einwohnern verschiedener religiöser Orientierung entsprechend groß sei, dass fehlende Arbeit und unsichere Bleibeaussichten zu Frustration, Depression, schließlich Aggression führen werde. Dieselben Berliner Bürger, die zuvor im Namen von Menschlichkeit und Basisdemokratie, von Umwelt und politischer Emanzipation die Pläne für den sozialen Wohnungsbau zu Fall gebracht hatten, suchten nun den Bau der Notunterkünfte für Flüchtlinge zu verhindern, weil sie eine Keimzelle für künftige Wohnbauten seien. Den Verdacht oder gar Vorwurf latenter Xenophobie würden diese Bürger zugleich vehement zurückweisen. Mitglieder der Partei Bündnis 90/ Die Grünen unterstellten der Koalition aus Sozialdemokraten und Konservativen, ihren Sieg bei dem Tempelhof-Referendum nachträglich zunichte machen zu wollen und die Option auf die Randbebauung nach den ursprünglichen Plänen insgeheim weiterzuverfolgen. Die Linke sah bereits potentielle Investoren Morgenluft wittern und Immobilienhaie in den Startlöchern. Beide teilten mit der Bürgerinitiative den Zweifel, dass so viele Menschen auf so engem Raum eine Chance Abb. 6: Plan für das Flüchtlingscamp Flughafen Tempelhof 2016 Vom Bürgerpark zum Flüchtlingslager - und zurück? 27 zur Integration hätten. Vielmehr sollten sie anderswo und möglichst dezentral in der Stadt untergebracht werden. “ Eine Form der Menschlichkeit tritt gegen die andere an ” , kommentiert die Berliner Morgenpost (v. 29.01.2016; s. Czienskowski 2016), ja es scheine, als würden sich der Einsatz für die Flüchtlinge und der Einsatz für das Tempelhofer Feld gegenseitig ausspielen (ibid.). Abb. 7: Raum über der Eingangshalle ( ‘ Hitlers Büro ’ ) Abb. 8: Notunterkünfte für Flüchtlinge im Hangar Die Debatte mutet im Rückblick fast idyllisch an, wenn man fünf Jahre später die erschreckenden Bilder aus den Flüchtlingslagern an den europäischen Außengrenzen vor Augen hat (Stichwort: Moria) und gleichzeitig die der wütenden Proteste fremdenfeindlicher Aktivisten. Längst wurde das ethische Dilemma der Berliner Bevölkerung überlagert durch das der europäischen Migrationspolitik, die vergeblich eine Balance zwischen Humanität und Egoismus, Weltoffenheit und Abschottung sucht. Das Dorf für die Geflüchteten ist längst zurückgebaut, aber nun ist weiterhin unklar, was mit dem unendlich weiten Raum des Tempelhofer Feldes geschehen soll. Zahlreiche Nutzungskonzepte wurden ausprobiert und wieder verworfen. Es gab Rockkonzerte und Kunstausstellungen, Modemessen und Pop-Festivals, zwischendurch versuchte der kurzzeitige Intendant der Berliner Volksbühne, der belgische Kunsthistoriker Chris Dercon, die riesigen Hangar-Hallen mit allerlei Performance-Projekten zu ‘ bespielen ’ , bevor er wegen ausbleibender Erfolge wieder vom Hof gejagt wurde (Schaper 2016). Der vielstimmige Chor der Planer offenbart, wie es scheint, eher die Ratlosigkeit der Stadt- und Senatsverwaltung im Umgang mit öffentlichem Raum. Die Visionen für die Zukunft des Tempelhofer Flughafens (z. B. im Zusammenhang mit den Planungen für die dann doch wieder abgesagte Bundesgartenschau 2020: Abb. 9 + 10) standen jedenfalls lange in krassem Gegensatz zu seiner tristen Gegenwart erst als Schutzraum notleidender Menschen aus fremden Kulturen, dann als Proberaum für die Selbstverwirklichung (coronabedingt) arbeitsloser Künstler und Performer (Abb. 11 + 12). Gibt es eine Zukunft für das einzigartige und denkmalgeschützte Bauwerk? Das vom Berliner Senat 2021 verabschiedete Konzept mit dem schönen Titel “ Vision 2030+ ” rechnet aufgrund der jahrzehntelangen Vernachlässigung des Bauwerks mit einer absehbar sehr kostspieligen Sanierung, die u. a. auch eine energetische Defossilisierung vorsieht und lt. 28 “ The Big open ” in Berlin Planung der Tempelhof Projekt GmbH wiederum zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird, während der aufgrund der entstandenen Baumängel nicht einmal die derzeitigen Zwischennutzungen durch Kindergärten, Fundbüro, Polizei fortgeführt werden können. Und was die Wiese davor betrifft, so werden im Wahlkampf 2021 schon wieder Stimmen laut, auf die ursprüngliche Senatsvorlage zurückzukommen und die Pläne für einen großen innerstädtischen Park mit einer moderaten Randbebauung wieder hervorzuholen, gegen die sich gleichzeitig trotz der inzwischen immer krasseren Wohnungsnot und Abb. 9 + 10: Tempelhofer Visionen (Planung zur Parklandschaft IGA 2017) Vom Bürgerpark zum Flüchtlingslager - und zurück? 29 weiter rasant gestiegenen Mietpreise der Widerstand der Unbeirrbaren formiert. Die Debatte über das ‘ Generationenprojekt ’ wird also wohl weitergehen, ganz im Sinne der berühmten letzten Zeilen in dem zuerst 1910 publizierten und von Florian Illies wiederentdeckten und neu ediertem Buch Berlin - ein Stadtschicksal von Karl Scheffler, denn “ Berlin ist eine Stadt, verdammt dazu, ewig zu werden, niemals zu sein ” (Scheffler 2015: 7; cf. Bisky 2019: 16, 410). Abb. 11 + 12: Tempelhofer Hangar 2016 von außen und von innen 30 “ The Big open ” in Berlin