Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
421
Sprachlandschaften
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2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Der Beitrag plädiert dafür, städtische Räume als ‘Texte’ zu ‘lesen’, indem das Insgesamt der in ihnen gebrauchten Zeichen einer semiotischen Analyse unterzogen wird. Mit dem ‘Wie’ urbaner Kommunikation rückt ihre (sozio)kulturelle Fassung in den Blick. Im Schnittfeld von Urban Studies, Raumwissenschaften, Ökosemiotik, Stadtsprachenforschung werden Ansätze zur Erforschung städtischer Sprachlandschaften exemplarisch auf eine Straße im Berliner Szeneviertel um den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg des Berliner Bezirks Pankow angewandt. Im Zeichen der anhaltend kontroversen Debatte über Gentrifizierung, Luxussanierung, Multikulturalität, Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Berlin (der auch 2021 bereits wieder Gegenstand eines von der Partei Die Linke unterstützten Volksentscheids über die Enteignung von Immobilienkonzernen ist), gewinnt das Forschungsdesiderat zunehmend an politischer Brisanz.
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3 Sprachlandschaften Indizien der Gentrifizierung im Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg Abstract: The paper suggests ‘ reading cities as ‘ texts ’ by analysing the semiotic structure of urban space and focussing on the socio-cultural implications of urban communication. At the intersection of urban studies, space studies, eco-semiotics, and urban language research, the new approach of investigating linguistic landscapes is applied to a street of a gentrified quarter in the (East-)Berlin district of Pankow for the development of a didactics of empirical field research with a special focus on multilingualism and multiculturalism in urban communication as an indicator of socio-cultural change in urban districts. In view of the ongoing controversial debate on gentrification, luxury redevelopment, multiculturalism, lack of affordable housing in Berlin (which is once again the subject of another referendum on the expropriation of real estate corporations in 2021, supported by the party Die Linke), the research desideratum is becoming increasingly politically explosive. Zusammenfassung: Der Beitrag plädiert dafür, städtische Räume als ‘ Texte ’ zu ‘ lesen ’ , indem das Insgesamt der in ihnen gebrauchten Zeichen einer semiotischen Analyse unterzogen wird. Mit dem ‘ Wie ’ urbaner Kommunikation rückt ihre (sozio)kulturelle Fassung in den Blick. Im Schnittfeld von Urban Studies, Raumwissenschaften, Ökosemiotik, Stadtsprachenforschung werden Ansätze zur Erforschung städtischer Sprachlandschaften exemplarisch auf eine Straße im Berliner Szeneviertel um den Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg des Berliner Bezirks Pankow angewandt. Im Zeichen der anhaltend kontroversen Debatte über Gentrifizierung, Luxussanierung, Multikulturalität, Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Berlin (der auch 2021 bereits wieder Gegenstand eines von der Partei Die Linke unterstützten Volksentscheids über die Enteignung von Immobilienkonzernen ist), gewinnt das Forschungsdesiderat zunehmend an politischer Brisanz. Keywords: Linguistic landscapes, multilingualism, heterogeneity, migration, multiculturalism, marginalization, gentrification, ghettoization Schlüsselbegriffe: Sprachlandschaften, Mehrsprachigkeit, Heterogenität, Migration, Multikulturalität, Marginalisierung, Gentrifizierung, Ghettobildung 3.1 Metropolenzeichen Wer in Berlin heute durch manche ‘ Kieze ’ (Quartiere) streift, kann an manchen Ecken unsicher werden, in welchem Lande er oder sie sich befindet. Im Gewirr der Sprachen bieten die Menschen, Schilder und Reklametafeln in und an den Straßen keineswegs mehr immer genauere Orientierung. Man sieht Passanten aller Hautfarben vorbeiziehen, die oft den Bekleidungskonventionen (oder -vorschriften) ihrer heimischen Kulturen und Religionen folgen, der Blick fällt auf arabische, kyrillische, hebräische, chinesische und allerlei südostasiatische Schriften, und man weiß, man bewegt sich auf multikulturellem Grund. Auch andere deutsche Großstädte sind heute durch die Vielfalt solcher semiotischkommunikativen Strukturen geprägt. Kein Tag vergeht, an dem in den Medien nicht das internationale ‘ Flair ’ der Metropolen emphatisch besungen wird und gleichzeitig die ethnischen Minderheiten als fremde ‘ Fluten ’ und ihre Quartiere als ‘ Problemzonen ’ bedrohlich ins Bild rücken. In den Talkshows geben sich unverdrossene Multikulti- Optimisten und xenophobe Überfremdungskassandras die Klinke in die Hand und streiten mit immer wieder frischem Eifer über die alte Frage, ob ‘ die Fremden ’ eine Gefahr oder eine Bereicherung seien. Der Streit ist m. E. müßig. Die Fremden sind da, und es werden vielleicht noch mehr werden, weil das nicht nur die Genfer Konvention, das europäische Asylrecht und das moralische Minimum erfordern, sondern auch die demographische Entwicklung, der ökonomische Bedarf und die Sicherung der Sozialsysteme. Von den weltweiten Urbanisierungsprozessen wird auch der deutsche Sprachraum nicht unberührt bleiben. Höchste Zeit also, die Entwicklung kommunikativer Infrastrukturen urbaner Räume genauer in den Blick zu nehmen und Anschluss zu gewinnen an eine wissenschaftliche Diskussion, die schon seit einiger Zeit unter dem Rubrum Urban Studies interdisziplinär geführt wird und auch die Cultural Studies, die Soziolinguistik und die Mehrsprachigkeitsforschung nicht unberührt gelassen hat. Dies ist auch das Anliegen eines interdisziplinären Forschungsprojektverbunds im Rahmen des Profilschwerpunktes Urbane Systeme der Universität Essen. Darin geht es um die Stile, Themen, Verhältnisse, Bedingungen und Funktionen jener Kommunikationspraktiken, die innerhalb eines solchen Aushandlungsprozesses zur Artikulation und Konstitution des jeweiligen Urbanitätsverständnisses eingesetzt werden (cf. Gurr et al 2012: 4). Urbanität als Resultat kulturhistorisch spezifischer Kommunikationsprozesse wird hier als “ Distinktionskategorie im Sinne der habitualisierten Form sozialer Abgrenzung ” verstanden (ibid.). Die in solchen Kommunikationsprozessen produzierten Sinnstrukturen sind wiederum an die Medien ihrer Artikulation gebunden, also an semiotische Ressourcen wie Sprache, Bilder, Plakate, Klänge, Gerüche, Graphiken, Karten usw., kurz: “ Metropolenzeichen ” (Ziegler et al. 2016): Das Projekt “ Metropolenzeichen ” greift einen innovativen Zugang zum Thema “ Mehrsprachigkeit ” auf und behandelt die Präsenz sichtbarer (= visueller) Mehrsprachigkeit im öffentlichen Raum der Metropole Ruhr als bundesweit wichtigster Metropole für Arbeitsmigration. - Visuelle Mehrsprachigkeit zeigt sich auf Informations-, Hinweis-, Geschäfts- und Straßenschildern. Sie steht in engem Zusammenhang mit Migration, Kultur- und Konsumtourismus sowie auch mit Regionalisierungstendenzen, d. h. der Inanspruchnahme kleinräumigerer kultureller Identifikationssymbole wie etwa regionalen Varietäten. In einem interdisziplinären und multiperspektivischen Zugriff werden stadtsoziologische, sprachwissenschaftliche und integrationstheoretische Aspekte behandelt, d. h. die städteräumliche Verteilung, formale Ausgestaltung, funktionale Bedeutung und gesellschaftliche Bewertung visueller Mehrsprachigkeit untersucht. 32 Sprachlandschaften 3.2 Die Stadt als ‘ Text ’ Solche Aufgaben werden heute in einem interdisziplinären Forschungsfeld in Angriff genommen, das innerhalb der semiotisch informierten Diskursforschung in jüngerer Zeit erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen hat: nämlich die Erkundung ‘ sprachlicher Landschaften ’ (linguistic landscapes, language mapping). Anknüpfend an frühe Vorläuferstudien (cf. Spolsky & Cooper 1991) ist der Ausdruck seit 2006 auch im sozio- und geolinguistischen Fachdiskurs populär geworden und hat zu einer Reihe von Leitstudien über unterschiedliche Städte geführt wie z. B. Jerusalem (cf. Ben-Rafael 2006), Bangkok (cf. Huebner 2006) oder Tokyo (cf. Backhaus 2007). Städte sind nicht zuletzt auch Zentren von Sprachbegegnungen. Nicht nur die von den Einwohnern gesprochenen Sprachen sind dabei von Interesse, sondern auch, welche sich im schriftlichen Bereich manifestieren und wie sie das tun. Wie ist eine ‘ Stadt als Text ’ zu ‘ lesen ’ ? Wie konstituiert sich zum Beispiel die (schrift-)sprachliche Oberfläche einer Stadt, ihr urban face, und was kann man daraus schließen? Rodrigue Landry und Richard Y. Bourhis haben linguistic landscapes beschrieben als “ the language of public road signs, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomeration ” (Landry & Bourhis 1997: 25). Die Dokumentation der linguistic landscapes von Städten ist eine Aufgabe, der sich Diskursforscher in der Linguistik, Semiotik, Soziologie, Kulturgeographie, Stadtentwicklungsplanung gemeinsam stellen. Bislang standen dabei Ansätze der Mehrsprachigkeitsforschung im Zentrum, mit Hilfe derer untersucht wurde, in welchen Sprachen das öffentliche Leben einer multikulturellen Metropole stattfindet und welche Sprachen zusätzliche Präsenz markieren in allen denkbaren Formen und Medien semiotischer Repräsentation: “ language texts that are present in public space ” (Gorter 2006: 1), wobei der Textbegriff hier weit zu fassen wäre und auch nicht verbale Texte einschlösse (Fotos, Schilder, Werbetafeln, Haltestellen, Hinweise, Straßennamen und -markierungen bis hin zu nicht unbedingt autorisierten Texten wie Graffiti, Transparenten, Gruppenabzeichen und dergleichen). Durch die Materialität der Trägermedien gewinnen die Zeichen eine gewisse Autonomie von ihren Produzenten und Rezipienten (Adressaten, Konsumenten) und funktionieren ihrerseits in dynamischen Kontexten (cf. Backhaus 2007: 8). Damit rückt erneut die Räumlichkeit von Sprache in den Blick (cf. Kap. 1), die in der Geolinguistik seit längerem thematisiert wird als “ an integrative view of these multiple semiotic systems which together form the meaning which we call place ” (Scollon & Scollon 2003: 12). Bislang wird die Vielfalt der Zeichenkomplexe noch mit einfachen Einteilungen zu sortieren versucht (cf. Gorter 2006: 28; Androutsopoulos 2008/ 2020), meist nach dem Schema (i) top down: von staatlichen Behörden oder kirchlichen Institutionen angeordnete ‘ amtliche ’ Zeichen (öffentliche Informationen, touristische Informationen, Ordnungshinweise, Gebots- und Verbotsschilder, Aushänge, Gemeindekästen etc.); (ii) bottom up: von privaten Unternehmen angebrachte ‘ kommerzielle ’ Zeichen (Angebote von Dienstleistungen, Inserate von Geschäften, Tafeln von Restaurants, Werbeplakate, Schaufenster etc.); sowie (iii) non authorized: von Die Stadt als ‘ Text ’ 33 meist anonymen Urhebern installierte ‘ unerlaubte ’ Zeichen (Graffiti, Wand- und Straßenmalerei, Protesttransparente, Markierungen von Territorialansprüchen etc.). 2 Sprachgebrauch im öffentlichen Raum kann handlungsrelevante, ästhetische, indexikalische und symbolische Funktionen übernehmen, als Zeichen für Verhaltensaufforderungen (Verbote, Gebote, Anweisungen), für den künstlerischen Selbstausdruck der Zeichenproduzenten (und Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen mit je eigenen ästhetischen Konventionen und Traditionen), für autopoietische Verweise auf sich selbst als Code (Indexzeichen für die fremde Kultur oder Sprachgemeinschaft, die sich an die Residenzgesellschaft wendet). Solche Zeichenkomplexe werden makrolinguistisch auf ihre spezifische soziokommunikative Funktion in den ethnographischen Kontexten untersucht, in denen sie figurieren, oder mikrolinguistisch im Hinblick auf ihre jeweilige innere Struktur hin (Lexeme, Kompositabildungen, Neologismen, Code-Kontaminationen, Varietäten, signifikante Deviationen: Barni & Bagna 2009: 135 - 137). Die Grenzen zwischen symbolisch-verbalen und ikonisch-nonverbalen Zeichen ist nicht immer scharf zu ziehen, weil es sich bei den Texten oft um multimodale Code-Komplexe handelt, in denen Schrift und Bild und Farbe kommunikative Funktionseinheiten bilden (cf. Malinowski 2009: 119). 3.3 Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in einem Berliner Szeneviertel Im Rahmen eines an der Universität Bern gemeinsam durchgeführten Exkursionsseminars zum Thema ‘ Berlin als Text ’ haben Ingo Warnke und ich die Teilnehmer ermuntert, das methodische Instrumentarium des Ansatzes einmal selbst anzuwenden und für ihre Erkundungen der ihnen fremden Stadt fruchtbar zu machen. Eine Studentin (namens Maria Hofmann) hat sich im Bezirk Prenzlauer Berg umgesehen und dort beispielhaft nur eine kurze Straße, die nach der Bildhauerin benannte Kollwitzstraße zwischen Senefelder Platz und Danziger Straße, mit dem Jüdischen Friedhof und dem Kollwitzplatz, genauer unter die Lupe genommen. Sie führt zentral durch das Mitte des 19. Jahrhunderts erbaute (und zu DDR-Zeiten ziemlich heruntergekommene) Arbeiterviertel, das sich nach ‘ der Wende ’ rasch zu einem attraktiven Quartier mit zahlreichen Cafés, Kneipen, Bars, Galerien entwickelt hat und Stadtsoziologen als Paradebeispiel für Gentrifizierung dient (cf. Häussermann 2000: 57 - 66). Die zugezogenen ‘ Besserverdienenden ’ aus dem Westen und dem Süden Deutschlands, aber auch aus Polen, Italien, Frankreich, Großbritannien, Russland, Vietnam, den USA oder der Schweiz, haben die Miet- und Immobilienpreise steil ansteigen lassen und den Charakter des Bezirks nachhaltig verändert. Die Studentin hat alle Fassaden der Häuser fotografiert und die Bilder in ein vorzugsweise für Textanalysen genutztes Programm namens MAXqda zur Qualitativen Datenanalyse (cf.: www.maxqda.de) eingegeben. Es erlaubt, die digitalen Fotos mit ‘ Codings ’ zu versehen und sowohl quantitativ als auch qualitativ auszuwerten. Die Daten können in dem je nach Fragestellung angepassten Code-System im Hinblick auf verschiedene Aspekte markiert werden, die dann auch in Relation zueinander gesetzt werden können. Hier wurden z. B. 2 Jannis Androutsopoulos (o. J. [2008]): “ Linguistic landscapes: Visuelle Mehrsprachigkeitsforschung als Impuls an die Sprachpolitik ” , im Internet unter: http: / / jannisandroutsopoulos.files.wordpress.com/ 2011/ 05/ j-a-2008linguistic-landscapes.pdf [30.10.2020]; zahlreiche Abbildungen dazu im Internet unter: jannisandroutsopoulos.files.wordpress.com/ 2011/ 05/ j-a-2008-linguistic-landscapes_fotobeispiele-ppt.pdf [30.10.2020]. 34 Sprachlandschaften Codes für die Sprachen Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Latein, Russisch, Portugiesisch, Griechisch und Finnisch vergeben, wobei großzügig zum Deutschen gerechnet wurde, was auch in neuere Ausgaben des Duden aufgenommen wurde (z. B. premium, Latte Macchiato, Happy Hour, Cocktail, Bike, City Toilette, Charité, Location oder Security, aber nicht Wörter wie Brownie, Muffin oder Friend, obwohl die auch von den Deutschen verstanden werden dürften). Als Text wurde gezählt, was sich auf einem abgrenzbaren Zeichenträger befand (Tafel, Plakat, Sticker, Wand etc.: 1033 Texte = 100 %). Die Ergebnisse der Recherchen zu dieser kleinen Fallstudie seien hier zur exemplarischen Veranschaulichung kurz zusammengefasst. 3 Manchmal hilft einfach nur zählen, wenn die Alteingesessenen sich von allzu vielen fremden Zungen umzüngelt wähnen. Die blanken Zahlen signalisieren eher Entwarnung: Zumindest in der Kollwitzstraße wird noch Deutsch gesprochen. Drei Viertel der gezählten 1033 Texte wurden in Deutsch geschrieben, einige in Englisch (18 %), nur wenige in Französisch und Italienisch (je 3 %) und noch weniger in anderen Sprachen (2 %) (Abb. 13). Abb. 13: Sprachverteilung Kollwitzstraße in Prozent und als Kreisdiagramm Beim ersten Blick auf die zahlenmäßige Verteilung vielleicht unerwartet sind die fast 200 englischen Texte auf nur einem kurzen Straßenstück. Der zweite Blick aufs Detail relativiert freilich den Befund. Die englischen Versatzstücke in der Sprache der Werbung und des Tourismus sowie die ins Deutsche integrierten Anglizismen entsprechen schlicht dem überwiegenden Sprachgebrauch im Alltag. Allenfalls kann ihr Anteil als Sozialindikator dafür dienen, inwieweit den Adressaten (Konsumenten, Touristen) Kenntnisse fremder Sprachen - und welcher fremden Sprachen - zugetraut wird. Hier vermutet man Bildungsbürgertum mit Englischkenntnissen, die gerne auch mal französisch essen und die mediterrane Küche schätzen. In der Neuköllner Sonnenallee (zum Beispiel) ist die Sprachenverteilung mit zahlreichen türkischen und arabischen (und z. T. russischen) Texten eine völlig andere (Abb. 14). Deshalb wäre es stadtsoziologisch und migrationspolitisch aufschlussreich, solche Straßenzüge mit solchen in anderen Quartieren textsemiotisch zu untersuchen, um frühzeitig Indikatoren von Veränderungen der sozialen Struktur der Bevölkerung auszumachen und ggfs. kommunalpolitisch proaktiv darauf zu reagieren. 3 Ich danke Maria Hofmann für die Aufbereitung und Auswertung der Daten, die sie als Teilnehmerin des Seminars und als Studentische Hilfskraft zur Sprachlandschaft der Kollwitzstraße zusammengetragen hat. Ihrer Mitwirkung verdanke ich die folgenden Tabellen und die (neu gezeichneten) Abbildungen 16 - 19. Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in einem Berliner Szeneviertel 35 Abb. 14: Geschäfte in der Neuköllner Sonnenallee Die (vergleichsweise wenigen) anderen Sprachen entstammen überwiegend der Gastronomie. Die spanischen, griechischen, portugiesischen Texte enthalten Namen von Gerichten, die den Hungrigen anlocken sollen, den es nach kulinarischer Abwechslung gelüstet. Fast 85 % der Ausdrücke in anderen Sprachen entfallen auf solche Funktionen: Speisen und Restaurantnamen (Abb. 15 + 16). Prestigefunktionen haben die lateinischen Ausdrücke: ein Geschäft für Badeutensilien nennt sich “ Aqua cultura ” , ein Modegeschäft “ Mutabilis ” , eine physiotherapeutische Praxis “ Corpus Libra ” . Ein Schmuckladen hofft offenbar auf betuchtere Kundschaft aus der russischen Oligarchie oder Putinokratie und übersetzt das Schild ‘ geschlossen ’ vorsorglich ins Russische (Abb. 17). Gegen solche Clientèle, die oft als junge Investoren ihr in der Heimat schnell verdientes Geld im sicheren Ausland investieren und mit ihren Immobilienspekulationen den Kiez nachhaltig verändern, protestieren Anwohner mit ohnmächtigen Stickern an den Regenrinnen, die vor der endgültigen Yuppiesierung (yuppification) warnen (Abb. 18). Abb. 15: Andere Sprachen in Prozent Abb. 16: Restaurantnamen Nicht in allen Fällen konnten die Textcodierungen problemlos bestimmten Sprachen zugeordnet werden, zumal wenn die Urheber künstliche Produktnamen zitierten (Tschibo, Häagen Dasz) oder selbst einige Phantasie darauf wendeten, ihre Ladenschilder als wohlklingende Neologismen oder individuelle Sprachmischformen zu inszenieren (Cuffaro, 36 Sprachlandschaften Soledor, Xampaneria, Lafil, Mokambo, Tukadu, Mokum, Mathia, Duy Thai, Akelius). Fremde Schriftsysteme (oder Anklänge daran) werden den Hinweisen zuweilen auch hinzugefügt, um einen Hauch Exotik zu erzeugen (Abb. 19). Abb. 17: Mehrsprachigkeit Abb. 18: Politische/ r Werbung/ Protest Abb. 19: Andere Schriftsysteme Solche Texte zeugen nicht etwa von einem höheren Anteil von Ausländern im Bezirk sondern allenfalls von Versuchen der Inszenierung einer gewissen Weltläufigkeit, soweit sie nicht ohnehin von der Funktion her definiert sind (85 % der französischen und italienischen Texte haben eine gastronomische Bedeutung). Nicht immer hat also die Wahl der Sprache in solchen Texten mit dem Ort ihres Vorkommens zu tun (cf. Shohamy & Gorter 2009: 110). Aber wenn sie (wozu hier jetzt nicht der Raum ist) systematisch und empirisch in Bezug gesetzt werden zu Kontrastcorpora mit größeren Datenmengen aus anderen Bezirken (besonders aus den Migrantenvierteln), dann lassen sich aus solchen Befunden durchaus soziosemiotische Schlüsse ziehen im Hinblick auf die Veränderungen von Milieus und die Zusammensetzung ihrer Bewohner. Die hier nur an einem kleinen Beispiel aus methodischdidaktischem Interesse demonstrierten Ansätze zur Erkundung interkulturell vernetzter Sprachlandschaften in Großstädten können sich damit als fruchtbares zusätzliches Untersuchungsinstrument der Diskursforschung und der Stadtplanung erweisen (cf. Domke 2014). Schließlich wäre auch ein transnationaler Vergleich solcher Ergebnisse Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in einem Berliner Szeneviertel 37 aus deutschen Städten mit solchen aus wirklichen Metropolen (mit ihren Chinatowns, Little Italy Districts, Jewish Quarters usw.) aufschlussreich. Im günstigsten Falle könnten Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik in Deutschland die Fehler der sich abschottenden Ghettoisierung vermeiden, im wahrscheinlicheren muss man - frei nach Winston Churchill - darauf hoffen, dass sie eine akzeptable Lösung finden, nachdem sie alles andere ausprobiert haben. 38 Sprachlandschaften
