Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
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Fremde in der Stadt?
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2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Die Migrationsdebatte wird in den deutschen Medien nicht erst seit der sogenannten ‘Flüchtlingskrise’ mit einer Islamdebatte verknüpft. Der umstrittene Satz eines früheren Bundespräsidenten, wonach der “Islam zu Deutschland” gehöre, ist nach wie vor Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Typischerweise entzünden sie sich an konkreten Themen (Kopftuch, Burka, Schwimmunterricht, Minarette), die jeweils symbolisch aufgeladen werden und in verschiedenen Ländern zu heftigen Auseinandersetzungen führen. Am Beispiel der Diskussion über Moscheen versucht das folgende Kapitel die beiden für den kontroversen Migrationsdiskurs exemplarischen Mediendebatten textsemiotisch und diskurshistorisch zu rekonstruieren.
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4 Fremde in der Stadt? Anmerkungen zur Berliner Moschee-Debatte Abstract: The migration debate has been linked to the Islam debate in the German media not only since the so-called ‘ refugee crisis ’ . The controversial statement of a former German president that “ Islam belongs to Germany ” is still the subject of public controversy. Typically, they are ignited by concrete topics (headscarf, burqa, swimming lessons, minarets), each of which is symbolically charged and leads to fierce controversies in different countries. Taking the discussion about mosques as an example, the following chapter attempts to reconstruct the two media debates (that are exemplary for the controversial discourse on migration) in terms of text semiotics and discourse history. Zusammenfassung: Die Migrationsdebatte wird in den deutschen Medien nicht erst seit der sogenannten ‘ Flüchtlingskrise ’ mit einer Islamdebatte verknüpft. Der umstrittene Satz eines früheren Bundespräsidenten, wonach der “ Islam zu Deutschland ” gehöre, ist nach wie vor Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Typischerweise entzünden sie sich an konkreten Themen (Kopftuch, Burka, Schwimmunterricht, Minarette), die jeweils symbolisch aufgeladen werden und in verschiedenen Ländern zu heftigen Auseinandersetzungen führen. Am Beispiel der Diskussion über Moscheen versucht das folgende Kapitel die beiden für den kontroversen Migrationsdiskurs exemplarischen Mediendebatten textsemiotisch und diskurshistorisch zu rekonstruieren. Keywords: Migration, Islam debate, minaret, mosque, call to prayer of the muezzin Schlüsselbegriffe: Migration, Islamdebatte, Minarett, Moschee, Ruf des Muezzins 4.1 Islam, Islamismus und die Berliner Muslime Das Gegenstück zum ‘ schwäbisch unterwanderten ’ Kollwitz-Kiez (wie der seinerzeitige Bundestagspräsident und Anwohner Wolfgang Thierse fürchtete) liefert das (in Kap. 3) erwähnte Quartier zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße in Neukölln, in dem manche Alt-Berliner Ureinwohner sich längst in den Nahen Osten versetzt wähnen. Als Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 2006 die erste Islamkonferenz eröffnete, konstatierte er lakonisch: “ Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas. ” Aber erst seit der damalige Bundespräsident Christian Wulff in seiner Rede am 03.10.2010 zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit diesen Satz wieder aufgriff, ist die Aussage Gegenstand anhaltender öffentlicher Debatte. Dabei ist die Frage, ob der Islam nun zu Deutschland gehöre oder nicht, eigentlich falsch gestellt, weil sie immer wieder zu Missverständnissen darüber führt, was ‘ der Islam ’ überhaupt sei, ob die Religion, ihre Riten und Rituale gemeint seien oder die Mitbürger, die ihren muslimischen Glauben praktizieren möchten, wie sie ihn jeweils verstehen. Angesichts der anhaltenden Zuwanderung von Menschen muslimischen Glaubens aus nahöstlichen und afrikanischen Kriegs- und Krisengebieten in den letzten Jahren heischt sie jedoch eine Antwort, weil sie sich im Zuge zunehmender Pluralisierung (und womöglich Polarisierung) der Gesellschaft nicht ohne weiteres von selbst erledigen wird, sofern und soweit muslimische, christliche und säkulare Rechts- und Werteordnungen auseinanderklaffen. In ihrem Vorwort zu dem 2019 erschienenen Band Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland plädieren die Herausgeber Carsten Linnemann und Winfried Bausback für die Differenzierung zwischen den verschiedenen Strömungen und Ausprägungen islamischer Glaubenspraxis einerseits und zwischen Islam, politischem Islam (Islamismus) und islamischem Fundamentalismus andererseits. Sie verweisen auf den jüngsten Bericht des deutschen Verfassungsschutzes, demzufolge sich hierzulande die Zahl der potentiell gewaltbereiten Salafisten zwischen 2012 und 2017 mehr als verdoppelt habe (> 11 ’ 000), und auf Studien der Universität Münster überTürkischstämmige in Deutschland, viele davon hier geboren und aufgewachsen, von denen “ jeder zweite Befragte den Koran über unsere Rechtsordnung ” stelle und jeder Dritte meine, “ Muslime sollten eine Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten Mohammeds anstreben ” (Linnemann & Bausback 2019: 9). Die Frage, ob und inwieweit man hier von einer erfolgreichen Integration von muslimischen Immigranten sprechen kann, besonders bei solchen der zweiten und dritten Generation, stellen sich inzwischen auch viele andere Untersuchungen (cf. Abdel-Samad 2018; Mansour 2019). Auch der Berliner Soziologe und Migrationsforscher Ruud Koopmans hält die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, für falsch gestellt, weil sie eine Prämisse enthalte, die Kritiker wie Befürworter implizit unterstellen, nämlich dass es ‘ den Islam ’ gebe. Wenn die Kritiker die Frage verneinen und dies unter Hinweis auf Gewalt, Homophobie, Antisemitismus, Fundamentalismus begründen, verweisen die sie bejahenden Befürworter reflexartig auf die innere Heterogenität des Islams, von ‘ dem Islam ’ könne man deshalb gar nicht reden. Woraus wohl folgt, dass ‘ der Islam ’ dann auch nicht zu Deutschland gehören kann, es sei denn inklusive seiner salafistischen, fundamentalistischen, dschihadistischen Spielarten (Koopmans 2019: 11). Deshalb sei die Frage dahingehend zu präzisieren, welcher Islam zu uns gehören solle - und welcher nicht. Dies aber hieße, nach dem real existierenden Islam zu fragen, nicht nach dem theoretisch möglichen. Das sei also keine theologische Aufgabe, sondern eine empirische. Diese gelte es auf mindestens drei Ebenen zu verfolgen, nämlich durch die Untersuchung (i) der realen Lage in islamischen Ländern, (ii) der Politik islamischer Verbände und Moscheevereine in Deutschland, (iii) der individuellen Auffassungen der in Deutschland lebenden Muslime, die in soziologischen Befragungen repräsentativ ermittelt werden sollten. Knapp zusammengefasst: Von den derzeit 47 islamischen Ländern können zwei (4 %) als leidlich demokratisch verfasst gelten (Senegal, Tunesien; gegenüber 57 % der nicht-islamischen Länder); in 71 % gibt es keine Pressefreiheit (gegenüber 36 % der nicht-islamischen Länder); in 72 % gibt es keine Trennung von Staat und Religion (gegenüber 19 % der nichtislamischen); von 24 Ländern, in denen Apostasie strafbar ist, sind 23 islamisch (in 13 davon steht darauf die Todesstrafe, in keinem nicht-islamischen); in 67 % der islamischen Länder werden Frauen im Familienrecht diskriminiert (gegenüber 14 % der nicht-islamischen 40 Fremde in der Stadt? Länder); auf der Rangliste ‘ Frauenrechte ’ des World Economic Forum belegen islamische Länder 17 der letzten 20 Plätze; alle 12 Länder, in denen Homosexuellen die Todesstrafe droht, sind islamisch, auch in den meisten anderen islamischen Ländern ist Homosexualität illegal; bei den meisten bewaffneten Konflikten sind islamische Länder involviert (von 30 Bürgerkriegen 2015 gab es nur vier ohne muslimische Beteiligung: Burundi, Kolumbien, Südsudan, Ukraine). Der in islamischen Ländern ‘ real existierende ’ Wertekanon unterscheidet sich demnach von dem in Deutschland und Europa heute geltenden diametral. Dies gilt leider auch für die in Deutschland operierenden Organisationen, wie Koopmans anhand von kriegsverherrlichenden Predigten und fundamentalistischen Freitagsgebeten in den Moscheen nachweist, deren Wortlaut z. B. vom mitgliederstärksten Islamverband D İ T İ B zentral festgelegt wird, dessen Imame Türken und die Türkei meinen, wenn sie von ‘ Landsleuten ’ und ‘ Heimatliebe ’ sprechen. Der nach Mitgliederzahlen zweitgrößte Verband İ slâm Toplumu Millî Görü ş gilt als “ Erdo ğ ans politische Schule ” und wird dem islamistischen Spektrum zugeordnet, weshalb er unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht (Hür 2018). Der in den Predigten und Schriften (wie Millî Gazete) offen propagierte Antisemitismus des Verbands wird im Bericht des Verfassungsschutzes belegt, der auch eine Reihe der im Zentralrat der Muslime in Deutschland organisierten Verbände unter Beobachtung gestellt hat, weil sie (wie die Islamische Gemeinschaft in Deutschland) Ableger der radikalislamischen Muslimbrüderschaft oder (wie das Islamische Zentrum Hamburg) Sprachrohr iranischer Fundamentalisten sind oder (wie die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa, türk. Avrupa Türk- İ slam Birli ğ i, kurz AT İ B) dem rechtsradikalen Nationalismus der türkischen Grauen Wölfe zugerechnet wird. Einer im Rahmen des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB) 2016 durchgeführten Untersuchung zufolge vertreten 69 % der muslimischen Deutschtürken die Auffassung, der Islam sei allen anderen Religionen überlegen, 67 % meinten, Bücher sollten verboten werden, wenn sie ihre religiösen Gefühle verletzen und für 62 % gibt es nur eine ‘ wahre ’ und für alle Gläubigen bindende Auslegung des Korans, 60 % haben eine negative Meinung überAndersbzw. Ungläubige, 76 % sind überzeugt, dass Israel oder die USA selber hinter den von islamistischen Terroristen verübten Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 steckten. Die Zahlen seien nahezu identisch mit den zeitgleich in der Türkei dazu erhobenen Daten. Bei Christen (auch solchen mit Migrationshintergrund) sei es demgegenüber heute nur noch eine Minderheit, die intolerante Glaubensauffassungen vertritt. Wenn dagegen der Liberal-Islamische Bund zu einer Demonstration gegen islamistische Gewalt aufruft, dann kommen nur wenige, weil D İ T İ B und AT İ B ihre Unterstützung versagen. Wenn die Anwältin und Imamin Seyran Ate ş in der von ihr gegründeten Ibn- Rushd-Goethe-Moschee (s. u.) für einen pluralistisch-toleranten Islam wirbt, wird sie (z. B. durch das ägyptische Fatwa-Amt Dar Al-Ifta) der Häresie geziehen und erhält Morddrohungen (worauf in Abs. 4.3 zurückzukommen sein wird). Die kritische Wahrnehmung - auch die kritische Selbstwahrnehmung - des ‘ real existierenden ’ Islams in Deutschland ist also weder Islamophobie noch Häresie, sondern die Voraussetzung für dessen Reform und Integration. Die Moschee-Debatte ist mithin eingebettet in die Islam-Debatte, die den diskursiven Rahmen für den anhaltenden Streit bietet, der sich an den Minaretten im Stadtbild (nicht nur Berlins) entzündet. Islam, Islamismus und die Berliner Muslime 41 4.2 Das Minarett als Zeichen. Vom Funktionswandel eines religiösen Symbols Seit der sog. Flüchtlingskrise 2015/ 16, nach zahlreichen islamistisch motivierten Terroranschlägen und erst recht nach dem vom ‘ Westen ’ verlorenen Afghanistan-Krieg, nach dem ab 2021/ 2022 auch in Europa eine weitere Flüchtlingswelle erwartet wird, ist die Moschee- und Minarett-Frage in manchen Ländern der Europäischen Union wieder aktuell, weil sich in ihr die Frage nach dem Verhältnis von Europa und ‘ dem Islam ’ , zwischen ‘ Einheimischen ’ und muslimischen Migranten exemplarisch kondensiert und ihren symbolischen Ausdruck findet. Während die Moschee mit ihrem Minarett für diese das in der Fremde “ Angekommensein ” repräsentiert als Zeichen ihrer religiösen Identität (Schmitt 2003: 359 ff.), gilt es für jene oft als Symbol der Macht und Ausdruck einer subversiven “ Eroberungsstrategie ” der Einwanderer (Köppel 2009). Der Konflikt entzündet sich meist schon an vermeintlich trivialen Fragen der Raumordnung und des Baurechts, wenn lokale Moscheevereine bei den zuständigen Behörden einen entsprechenden Bauantrag stellen. Obwohl in Deutschland die Glaubensfreiheit grundgesetzlich geschützt und die freie Religionsausübung gewährleistet ist (Art. 4 Abs. 1 + 2 GG), lösen solche Anträge schnell öffentliche Diskussionen aus, weil mit dem Bau das Fremde selbst sichtbar wird, näher rückt, eindringt ins heimisch Vertraute. Die heutige Sensibilität gegenüber im säkularen Deutschland errichteten Moscheen als islamischen Sakralbauten, zu denen das Minarett gehört wie der Kirchturm zur christlichen Kirche, hat sich historisch innerhalb der letzten hundert Jahre entwickelt. Noch im 19. Jahrhundert erfreute man sich an einer Moschee als architektur-ästhetischem Zitat, wenn etwa ein Pumpwerk im Park Sanssouci als eine solche inszeniert wurde oder wenn sie den Schwetzinger Schlossgarten schmückte (Abb. 20 + 21; cf. Beinhauer-Köhler & Leggewie 2009: 16 f.). Abb. 20: Pumpwerk in Potsdam Abb. 21: Schwetzinger Schlossgarten Zu Gebetszwecken wurde in Deutschland eine Moschee erst 1915 errichtet, im Ersten Weltkrieg für muslimische Kriegsgefangene aus der alliierten Armee im Halbmondlager Wünsdorf bei Zossen in Brandenburg. Aber schon sieben Jahre später wurde der erste muslimische Verein gegründet, die Islamische Gemeinde zu Berlin e.V.; 1924 baute die aus 42 Fremde in der Stadt? Indien stammende Glaubensgemeinschaft Lahore Ahmadiyya Bewegung dann die erste richtige Moschee, die bis heute in Wilmersdorf steht (Abb. 22 + 23). Abb. 22: Moschee in Wünsdorf Abb. 23: Ahmadiyya-Moschee in Berlin Wilmersdorf Weitere Moscheen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg (Fazle-Omar- und Imam-Ali-Moschee) und in Aachen (Bilal-Moschee) errichtet (Beinhauer-Köhler & Leggewie 2009: 30 f.). Erst mit der Zunahme der Arbeitsmigration in den 70er und 80er Jahren wuchs auch der Bedarf an Gebetsräumen und es kam im Zuge der Selbstorganisation muslimischer Gemeinden zu der Gründung von Dachverbänden wie dem Verein Diyanet İş leri Türk İ slam Birli ğ i (D İ T İ B) unter der Aufsicht der türkischen Religionsbehörde (1984), dem Islamrat (1986) oder dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (1994), die sich gemeinsam mit dem Verband der islamischen Kulturzentren (ViKz) 2007 zum Koordinationsrat der Muslime zusammenschlossen und damit wesentlich zur Institutionalisierung des Islams in Deutschland und damit zu dessen öffentlicher Sichtbarkeit beitrugen (cf. Bernhardt & Fürlinger 1015; Schareike 2016). Mit der zunehmenden optischen Präsenz der islamischen Religion in der deutschen Öffentlichkeit stieg zugleich die Skepsis der Nicht-Muslime und ihre Angst vor der Bildung von Parallelgesellschaften, eine Skepsis, die sich in den Konflikten um den Neubau immer weiterer Moscheen ein Ventil suchte und prominenten Autoren wie Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab) oder Ralph Giordano (Erinnerungen eines Davongekommenen) auch in den Feuilletons der bürgerlich-liberalen Medien öffentliche Resonanz verschaffte. Es gehört zu den vermeintlichen Paradoxien dieser Debatte, dass sich die islamophoben Pamphlete und Programme der AfD ( “ Der Islam gehört nicht zu Deutschland ” ) oder der sog. Pegida-Bewegung auf Autoren berufen, die sich früher einmal auf der anderen Seite des politischen Spektrums engagiert haben, Sarrazin als Sozialdemokrat, Giordano als kritischer Journalist, der vor dem Hintergrund seiner biographischen Das Minarett als Zeichen. Vom Funktionswandel eines religiösen Symbols 43 Erfahrung des Holocaust nicht müde wurde, sich in Wort und Schrift glaubhaft gegen jede Form des Rechtsextremismus einzusetzen. In zahlreichen Artikeln und Interviews nahm Giordano gegen den geplanten Bau einer zentralen D İ T İ B-Moschee in Köln-Ehrenfeld Stellung, rief sogar zum Baustopp auf (Giordano 2008: 37): Stoppen Sie diesen Bau, der kein Ausdruck muslimischen Integrationswillens ist, sondern ein Zentrum integrationsfeindlicher Identitätsbewahrung, das Symbol eines Angriffs auf unsere demokratischen Lebensformen, ein Anspruch auf Macht und Einfluss. Verhindern konnte er ihn nicht. Mit seinem wortgewaltigen Engagement riskierte er Beifall von der falschen Seite (etwa von der rechtsradikalen Partei Pro Köln), was wiederum scharfe Kritik von der Gegenseite auslöste, durch die der ausgewiesen antifaschistische und sozialliberale Autor sich unversehens in eine politisch ‘ rechte Ecke ’ gestellt sah, aber auch Zustimmung erntete von bekannten Publizisten (wie Lea Rosh), Sozialwissenschaftlern (wie Hartmut Krauss) und kritischen Muslimen (wie der Soziologin Necla Kelek). Die als “ Moscheestreit ” (Sommerfeld ed. 2008) berühmt gewordene Diskussion zog sich in den Medien über die gesamte Planungsphase, Bauverzögerungen und gerichtlichen Auseinandersetzungen bis zur Eröffnung der Moschee im September 2018 hin. Architektonisch gilt der Entwurf von Gottfried und Paul Böhm durchaus als gelungen, eine hohe durchbrochene Kuppel (als Symbol für Weltoffenheit) wird von schlanken 55 Meter hohen Minaretten überragt (Abb. 24). Abb. 24: Die Zentral-Moschee in Köln-Ehrenfeld Der Schaukampf um das Minarett (und in der Schweiz um dessen Verbot, das nach erfolgreichem Referendum mittlerweile in der Verfassung verankert ist: cf. Hess-Lüttich 2017; zur Kontroverse in Österreich s. Fürlinger 2015) wird zu einem weiteren Symbol der 44 Fremde in der Stadt? Auseinandersetzung auf einem ganz anderen Spielfeld: nämlich der Verteidigung der emanzipatorischen Werte der europäischen Aufklärung mit ihren umfassenden Rechtsfolgen sowohl gegen die religiös motivierten Gläubigen (gleich welcher Branche), die sich im Besitze ihrer unteilbaren Wahrheit wähnen, als auch gegen die politisch motivierten Aktivisten des populistischen und erst recht des “ radikalen ” Konservativismus (Strobl 2021), die sich auf ihre unwiderlegbare Erfahrung und den tabubewehrten Anspruch der Tradition berufen. Vier Hauptargumente stehen einander dabei unversöhnlich gegenüber: (i) Minarette seien Machtsymbole der Muslime, die in Deutschland (ähnlich argumentiert die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei SVP) die Scharia gegen die bestehende Rechtsordnung durchsetzen wollten; (ii) beide Rechtsordnungen könnten nicht nebeneinander bestehen; (iii) Minarette würden von fundamentalistischen Gruppen im Ausland finanziert und unterminierten den Religionsfrieden; (iv) muslimische Länder ließen Religionsfreiheit vermissen. Diesen Argumenten wird von liberalen Juristen entgegengehalten, dass (i) unsere Rechtsordnung durch ein paar Minarette nicht ernsthaft bedroht werde; dass (ii) Minarette geltendes Recht nicht außer Kraft setzten, das den Primat des säkularen Staates gegenüber allen Religionsgemeinschaften garantiere, aber eben auch die Religionsfreiheit; dass (iii) die Finanzierung von Minaretten keine Rolle spiele, sofern und soweit sie rechtmäßig und transparent sei; dass (iv) die Verletzung des Grundsatzes der Religionsfreiheit anderswo nicht dessen Suspension im eigenen Lande rechtfertige. Fundamentalisten und Populisten, ergänzt der marxistische slowenische Kulturphilosoph Slavoj Ž i ž ek in der Hamburger Wochenzeitschrift Die Zeit (16 v. 07.04.16: 45), spielten im Grunde auf derselben Seite des Feldes. Mögen sie beide nicht gewinnen, aber auch nicht unberechtigt scheint die verbreitete Sorge, dass die Werte westlicher Demokratien zur Disposition stehen können, wenn rechten oder linken Ideologien, religiösen Fundamentalismen oder abstrusen Verschwörungsmythen unter Berufung auf die Freiheit der Meinung immer mehr Raum gegeben wird, bis sich eben diese Meinungsfreiheit unversehens verflüchtigt hat. In der Schweiz jedenfalls stieß die Initiative der SVP mit ihren xenophoben Plakatkampagnen gegen den weiteren Bau von Moscheen aufgrund dieser Sorge auf fruchtbaren Boden. Abb. 25: Plakate der SVP-Initiative für ein Verbot der Minarette in der Schweiz Das Minarett als Zeichen. Vom Funktionswandel eines religiösen Symbols 45 4.3 Die Moschee-Debatte hält an Auch in Deutschland wird die Minarett-Debatte in dem Maße mit anhaltender, ja zunehmender Heftigkeit geführt, in dem die Zahl der Moscheen zunimmt. Diese Zahl ist übrigens bislang immer noch nicht exakt zu ermitteln, sie variiert von Quelle zu Quelle. Einer Umfrage der Zeit zufolge waren es schon 2016 ca. 2 ’ 750 (Die Zeit 30 v. 14.07.2016), inzwischen wird die Zahl auf etwa 3000 geschätzt, aber eine valide Statistik wird darüber nicht geführt. Genauere Hinweise mit zahlreichen Belegen liefern jedoch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (Bundestag 2020), die allein für Berlin 72 Moscheen aufführen (von denen zwölf dem D İ T İ B und sieben dem ViKz zuzuordnen seien; andere Quellen zählen über 80 Berliner Moscheen). Aber während sich die Zahl der Moscheen immerhin grob schätzen lässt, wissen wir leider immer noch zu wenig über die in den Moscheen verkündeten Botschaften. Laut Berichten des Verfassungsschutzes sind die kriegsverherrlichenden Predigten und fundamentalistischen Freitagsgebete in den Moscheen nicht etwa Einzelfälle, sondern entsprechen den vom D İ T İ B vorgegebenen Richtlinien, denen die türkischen Imame auch dann wortgetreu folgen, wenn sie in ihren Predigten offen zu Antisemitismus und Abgrenzung zur säkularen Residenzgesellschaft aufrufen (Schreiber 2017; Wagner 2018). Hier und da wurden auch christliche Gotteshäuser islamisch umgewidmet. Dass Kirchen heute als Moscheen genutzt werden, ist eigentlich nicht neu; die Entwicklung entspricht dem sinkenden Bedarf auf der einen Seite und dem steigenden auf der anderen (den 2016 in Deutschland geschätzten 2750 Moscheen stehen über 45000 christliche Kirchen, aber nur 130 Synagogen gegenüber). Aber als im Sommer 2020 die Nachricht von der Umwidmung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee durch die Medien geht, spaltet sie (wie schon die türkische Präsidentenwahl) den muslimischen Teil der deutschen Bevölkerung erneut: Die einen bejubeln sie als Symbol islamischer Stärke, die anderen fürchten sie als Ausdruck wachsender Intoleranz gegenüber Andersgläubigen; die einen feiern Erdo ğ an als furchtlosen Kämpfer für die Freiheit ihrer Religion im Lande der Ungläubigen, für die anderen belebt er einen schon überwunden geglaubten Religionskonflikt, mit dem er lediglich von seinem Versagen in der Außen- und Wirtschaftspolitik ablenken wolle. Immerhin hält die Mehrheit der deutschen Muslime den Schritt schlicht für unnötig, weil er keines der bestehenden Probleme löse und die multiplen Konflikte in Krisen-Zeiten von Corona, Klima, Kriegen und Migration nur verschärfe. Auch deshalb hält in den deutschen Metropolen und im Spiegel der Presse die Moschee- Debatte unvermindert an, und es steht nach den periodisch wiederkehrenden religiös motivierten Anschlägen durch radikale Muslime kaum zu erwarten, dass die öffentliche Diskussion um die wachsenden Moscheegemeinden in Deutschland so schnell zum Erliegen kommen wird. Die Streitpunkte sind dabei immer dieselben: die Gegner der Moscheebauten monieren die Höhe der Minarette, die Verfremdung des Stadtbildes, die zu große Nähe zu christlichen Sakralorten (Kirchen, Friedhöfe), die nächtliche Ruhestörung durch Muezzin- Rufe, die Angst vor Überfremdung des vertrauten Kiezes, die Wertminderung der eigenen Immobilie durch die neue Nachbarschaft. Die Argumente (oder Pseudoargumente) ließen sich konflikttypologisch danach sortieren, ob sie raumbezogen die Lage betreffen (Baurecht, Verkehr, Parkplätze, Mietpreisniveau usw.), ethnisch-kulturell das Verhältnis 46 Fremde in der Stadt? von Mehrheit und Minderheit ( ‘ schleichende Orientalisierung ’ , Xenophobie, mangelnde Integration, Kriminalität), oder religiös-weltanschaulich das Verhältnis der Glaubensgemeinschaften (Christen vs. Muslime, Mission, Fundamentalismus vs. liberale Säkularität). Die oft kaum verhohlene Skepsis wird von rechten Parteien und rechtsextremen Gruppierungen nur zu gern für eigene Zwecke instrumentalisiert und in offene Proteste gegen die Errichtung weiterer Moscheebauten eingespeist (Umfragen in Berlin ergeben je nach Fragestellung meist satte Mehrheiten gegen neue Moscheen, was aber je nach Integrationsniveau variiert; cf. Brunn 2006). Repräsentanten eines moderaten Islams wie Tarek Mohamad und Lamya Kaddor hatten unter dem Motto “ Nicht mit uns! ” z. B. am 17.06.2017 zu einer Demonstration in Köln aufgerufen, um ein Zeichen gegen den täglichen Terror in islamischem Namen zu setzen. Die Veranstalter rechneten mit ca. 10 ’ 000 Demonstranten - es kamen einige hundert, also weniger als 0,003 % der in Deutschland lebenden fünf Millionen Muslime. Das war dann auch ein Zeichen, freilich nicht ganz im Sinne der Veranstalter. Alle großen deutschen Islamverbände hatten hier ebenso zum Boykott aufgerufen wie kurz darauf bei einem weiteren Versuch in Berlin. An der dortigen Demonstration gegen islamistischen Terror, nicht weit vom Ort des letzten Anschlags von Anis Amri auf den Berliner Weihnachtsmarkt, nahmen kaum 100 Leute teil - in bemerkenswertem Kontrast zum alljährlichen Al-Quds- Marsch mit seinen antisemitischen Parolen und israelfeindlichen Transparenten, der locker zehnmal mehr Teilnehmer aufbietet. Die Kommentare in den Medien waren entsprechend, zumal die Erinnerung an die massive Propaganda der Islamverbände und Moscheegemeinden für die Abstimmung über die sog. Verfassungsreform in der Türkei noch frisch war, bei der die Mehrheit der die demokratischen Freiheiten genießenden Türken in Deutschland für deren Abschaffung in ihrem Herkunftsland votierte. Fast gleichzeitig mit der fehlgeschlagenen Kölner Demonstration eröffnete (im Juni 2017) die nach eigenem Bekunden gläubige Muslimin und bekannte Rechtsanwältin Seyran Ate ş in Berlin (im Bezirk Moabit) die oben erwähnte von ihr initiierte und gemeinsam mit dem Freiburger Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi begründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in der nicht nur alle Konfessionen des Islams, sondern auch Nicht-Muslime und sogar Agnostiker oder Atheisten willkommen sind, in der Männer und Frauen gemeinsam beten können, in der Homosexuelle nicht bedroht und diffamiert werden, in der Frauen auch Gebete leiten dürfen - ganz im Geiste der Sure 2, Vers 256 des Korans: “ In der Religion gibt es keinen Zwang ” (cf. Ate ş in Die Zeit 25 v. 14.06.2017: 54). Die Reaktion folgt auf dem Fuße. Die Kairoer Al-Azhar Universität verhängt sofort eine Fatwa gegen diese und alle etwaigen weiteren ‘ liberalen Moscheen ’ . Der türkische Präsident und seine gleichgeschalteten Medien vermuten wie immer die Gülen-Bewegung dahinter und etikettieren damit die liberalen Muslime als Terroristen. Die türkische Religionsbehörde Diyanet wütet gegen die “ unislamische ” Moschee und gibt deren Initiatoren damit zum Abschuss frei. Die bekommen seither täglich Morddrohungen und stehen unter Polizeischutz. Die Hasskommentare in den Netzwerken kommen nicht etwa nur von radikalen Salafisten, sondern aus der Mitte der Moscheegemeinden, die zugleich ihr Mantra zu wiederholen nicht müde werden, Islam bedeute ‘ Frieden ’ und habe mit dem in seinem Namen wütenden Terror nichts zu tun (cf. Evelyn Finger in Die Zeit 26. v. 22.06.17: 56). Der mühsame Weg zu einem gemäßigten Euro-Islam ist offensichtlich noch lang. Und so lange Die Moschee-Debatte hält an 47 wird die europäische Moschee-Debatte weiterhin kontrovers geführt werden. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller weiß, wovon sie (im Interview mit der Welt v. 05.03.2015) spricht, wenn sie beim Dialog mit Fundamentalisten wie bei dem mit Diktatoren dafür plädiert, ihn ohne Illusionen zu führen: Als ich nach Deutschland kam, hörte ich hier immer wieder die gut gemeinte Überzeugung, man müsse nur lange genug miteinander reden und sich immer wieder zusammensetzen, und dann werde alles gut. Und es gibt hierzulande auch noch die Auffassung: “ Solange gesprochen wird, wird nicht geschossen. ” Als würde das eine das andere ausschließen (Müller 2015). 48 Fremde in der Stadt?