eJournals Kodikas/Code 42/1

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
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Diskursformen des Erinnerns

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Ernest W. B. Hess-Lüttich
Angesichts des wachsenden Antisemitismus in Deutschland gilt das Interesse des folgenden Kapitels einem Mahnmal, das sich von der Routine der ‘offiziellen’ Erinnerungskultur im urbanen Raum auf einzigartige Weise abhebt: Gunter Demnigs Stolpersteine, das als das größte dezentrale Kunstwerk der Welt an ehemalige (jüdische, aber auch schwarze, schwule und andere) Nachbarn und Mitbürger in der Stadt erinnert, die in die Konzentrationslager der Nazis deportiert und dort Opfer des Holocaust wurden. Vor dem Hintergrund des geschichtsvergessenen Vormarschs populistisch-rechtsnationaler Strömungen in Europa und den USA scheint es gebotener denn je, sich der Zeichensprache des Gedenkens kritisch zu vergewissern.
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5 Diskursformen des Erinnerns Demnigs ‘ Stolpersteine ’ als Zeichen urbaner Memorialkultur Abstract: In view of the growing anti-Semitism in Germany, the interest of the following chapter focuses on a memorial that stands out from the routine of the ‘ official ’ culture of remembrance in urban space in a unique way: Gunter Demnig ’ s Stumbling Stones, the largest decentralized work of art in the world, which commemorates former ( Jewish, but also black, gay and other) neighbours and fellow citizens in the city who were deported to Nazi concentration camps and became victims of the Holocaust. Against the background of the advance of populist-right-wing nationalist currents in Europe and the USA, it seems more necessary than ever to critically reassure oneself of the semiotics of remembrance. Zusammenfassung: Angesichts des wachsenden Antisemitismus in Deutschland gilt das Interesse des folgenden Kapitels einem Mahnmal, das sich von der Routine der ‘ offiziellen ’ Erinnerungskultur im urbanen Raum auf einzigartige Weise abhebt: Gunter Demnigs Stolpersteine, das als das größte dezentrale Kunstwerk der Welt an ehemalige (jüdische, aber auch schwarze, schwule und andere) Nachbarn und Mitbürger in der Stadt erinnert, die in die Konzentrationslager der Nazis deportiert und dort Opfer des Holocaust wurden. Vor dem Hintergrund des geschichtsvergessenen Vormarschs populistisch-rechtsnationaler Strömungen in Europa und den USA scheint es gebotener denn je, sich der Zeichensprache des Gedenkens kritisch zu vergewissern. Keywords: Anti-Semitism, memorial, monument, stumbling stone, memorial culture Schlüsselbegriffe: Antisemitismus, Mahnmal, Denkmal, Stolperstein, Memorialkultur Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung (Talmud) 5.1 Das Demnig-Projekt Im Norden des Berliner Bezirks Schöneberg grenzt das Quartier, in dem ich lebe, an das einst von Salomon Haberland errichtete Bayerische Viertel, dessen Eleganz wohlhabende jüdische Bürger anzog und das bald die “ Jüdische Schweiz ” genannt wurde. An vielen Häusern erinnern Gedenktafeln an einstige Bewohner wie Albert Einstein, Alfred Kerr, Arno Holz, Eduard Bernstein, Erich Fromm, Gottfried Benn, Emanuel Lasker, Kurt Pinthus, Rudolf Breitscheid, Erwin Piscator und Inge Deutschkron, Marcel Reich-Ranicki, Gisèle Freund, Billy Wilder (damals Samuel Wilder). Auch in dem Hause, in dem ich wohne, lebten, wie ich in einer gemeinsam mit Nachbarn durchgeführten Recherche herausfand, einige Frauen jüdischen Glaubens, die zwischen 1942 und 1944 nach Theresienstadt und nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden. An sie wollten wir mit Stolpersteinen erinnern. Die Recherche motivierte mich zu einer genaueren Auseinandersetzung mit diesem bis heute kontrovers diskutierten Kunstprojekt, über das ich hier kurz berichten will. Vor 30 Jahren entwickelt der 1947 in Berlin geborene Bildhauer und politisch engagierte Aktionskünstler Gunter Demnig gemeinsam mit dem Verein Rom, der die Interessen von Sinti und Roma in Deutschland vertritt, die Idee zu einer Kunstaktion, die an die Opfer des Holocaust erinnern soll. Das Projekt “ Mai 1940 - 1000 Roma und Sinti ” markiert 1990 den Weg, den genau 50 Jahre zuvor die deportierten Opfer durch Köln nahmen. Am 16. Dezember 1992 verlegt Demnig vor dem Historischen Rathaus zu Köln einen Pflasterstein, auf dem der Deportationsbefehl Himmlers eingraviert ist. Wiederum zwei Jahre später fertigt er 230 Steine, die auch an andere Nazi-Opfer erinnern: Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Kranke und Behinderte. Sie werden später - ohne amtliche Genehmigung und nahezu ohne öffentliche Resonanz - im Kölner Griechenmarktviertel, in Köln-Ehrenfeld und in Berlin verlegt. Die Aktion wird von den zuständigen Behörden (es handelt sich bei den Orten um öffentlichen Grund, daher ist die Verlegung in jedem einzelnen Falle amtlich genehmigungspflichtig) erst im Nachhinein legalisiert und markiert den Auftakt zu der beispiellosen Erfolgsgeschichte eines politischen Kunst- Projekts im öffentlichen Raum, das als “ work in progress ” bis heute nicht abgeschlossen ist (Endlich 2002: 31), sondern immer noch “ wächst und wächst ” (Leimstoll 2008: 12). Heute [2021] ist es mit über 80 ’ 000 Stolpersteinen in ca. 1600 Städten und in über 27 Ländern (www. stolpersteine-münchen.de) das größte dezentrale Mahnmal der Welt - und wird bis heute kontrovers diskutiert. Immer wieder und neuerdings wieder zunehmend kommt es zu Beschädigungen der Steine durch rechtsextreme Täter, in Berlin und anderswo werden sie zuweilen aus dem Boden gerissen und gestohlen (Langowski 2017). Es sind freilich nicht die Unbelehrbaren und Stumpfsinnigen allein, die gegen diese Form des Gedenkens protestieren, nicht nur die Nazis und Holocaust-Leugner der NPD oder die Dumpfbacken der AfD und deren zahlreiche Satelliten-Organisationen, die gegen die Verlegung der Steine hetzen. Der Streit entzweit manchmal auch die Verbände der Betroffenen selbst. Die innerhalb der jüdischen community umstrittene Entscheidung der Münchner Stadtverwaltung gegen die Verlegung, mit der sie sich über die von engagierten Juden der Stadt (wie dem Journalisten und Publizisten Terry Swartzberg) gesammelten 100 ’ 000 Unterschriften hinwegsetzte, zollte der prominentesten Repräsentantin der örtlichen Jüdischen Gemeinde Respekt: Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland (2006 - 2010), Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses EJC (2003 - 2010), Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses WJC (2005 - 2013), Trägerin des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, hatte gegen die Steine Stellung bezogen. Ihr war (und ist) die Vorstellung unerträglich, dass da “ die Namen von Holocaustopfern zu Füßen der Menschen angebracht werden ” , das Judentum verbiete es, über die Toten zu laufen (cf. Benyahia-Kouider 2005: “ [. . .] la religion juive interdit que l ’ on marche sur les morts ” ), “ die Steine werden [. . .] mit Füßen getreten, beschmiert, mit Exkrementen von Hunden beschmutzt, geklaut, beschädigt ” (zit. n. Jessen 2014: 2). 50 Diskursformen des Erinnerns Salomon Korn, der damalige Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, widersprach: Die Steine seien einzigartige Zeichen individualisierten Gedenkens am einstigen Wohnort der Opfer: “ Hier wohnte . . . ” . Nicht zentral, monumental, anonym, zum Ritual erstarrt, sondern überall, mitten unter uns, “ Hier wohnte ” ein Nachbar, Mitbürger, Freund, Verwandter vielleicht, Zeichen an authentischem Ort, bezeugt durch Quellen und Recherche, “ Hinweise auf die verlorene, mutwillig zerstörte ‘ Normalität ’ einstigen Zusammenlebens jüdischer und nicht jüdischer Deutscher ” (Korn 2014: 4). Die Metapher von den Steinen, die man “ mit Füßen trete ” nimmt er auf und ergänzt das Bild: Er hat den Vorübergehenden vor Augen, der, des blinkenden Zeichens gewahr werdend, kurz stutzt, sich herabbeugt, um die Schrift zu entziffern, “ Hier wohnte . . . ” , sich verbeugt gleichsam vor dem Namen, den er dort eingraviert findet (cf. Reinhardt 2009). Die ‘ Verbeugung ’ mitten auf dem Gehweg macht andere Passanten aufmerksam, einige treten hinzu, neugierig, was es da zu sehen gebe, und tun es dem ersten Betrachter gleich (cf. Endlich 2002: 32). Die Metapher sei also doppelt wirksam, denn jedes Mal, wenn Stolpersteine buchstäblich ‘ mit Füßen getreten ’ werden, verweisen sie auf jene, die einst als rechtlose ‘ Untermenschen ’ von selbst ernannten ‘ Herrenmenschen ’ mit Füßen getreten wurden und sie rufen eben dies zurück ins hic et nunc unseres Alltags. Deshalb gehörten sie, meint der Berliner Rechtsanwalt und Publizist Sergey Lagodinsky, nicht nur in die Ghettos der Gedenkstätten, sondern überall hin: “ Wenn wir nicht auf jüdische Opfer [also die Steine als ihr Zeichen] treten dürften, müssten wir alle fliegen: Der deutsche Boden ist mit jüdischen Namen übersät ” (Lagodinsky 2015). 5.2 Steine als Zeichen Das Rathaus Schöneberg beherbergt eine Ausstellung, die den Titel trägt “ Wir waren Nachbarn ” . Der Besucher nimmt Platz an langen Tischen, wie in einem alten Lesesaal, beugt sich unter Leselampen über die dort ausgelegten Alben mit Namen, auf kleinen Karteikarten handschriftlich vermerkt, er trifft auf ihm geläufige wie die oben genannten und ihm gänzlich unbekannte, mehr als 6000, die in der kurzen Zeit, die 1000 Jahre währen sollte, allein aus diesem Bezirk deportiert, vertrieben, ermordet wurden (von 66 ’ 000 Juden, die 1941 noch in Berlin lebten, haben nur 7 ’ 000 überlebt). Ihrer gedenken die polierten Steine im Pflaster vor ihren ehemaligen Wohnhäusern, über die man im Vorübergehen ‘ stolpern ’ soll, Gedenk-Steine als Denk-Impulse, in ihrer anti-monumentalen Summe ein ‘ Gegen-Denkmal ’ (Endlich 2002: 29), ein “ Denkmal von unten ” (Reinhardt 2009), Denk-Male als Wund- Male einer in ihrer kulturellen Gedächtnisgeschichte zutiefst verletzten Nation, zu deren Staatsraison der kategorische Imperativ des ‘ Nie wieder! ’ gehört und die Pflicht, das Wissen über die Schuld und Verantwortung der Deutschen zu mehren, wachzuhalten, weiterzugeben an die Jungen, die “ kein erkennbares kollektives Interesse mehr haben an konfrontativer Identitätspolitik im Medium der Nationalsozialismus ” (cf. Schmid 2009: 31; id. 2010: 8). Dieses bescheidene, dezentrale Denkmal ergänzt die großen Stätten des Gedenkens, die in Berlin errichtet wurden, das 2005 eröffnete monumentale Denkmal für die ermordeten Juden Europas am Brandenburger Tor (Abb. 26), das Martin Walser einen “ fußballfeldgroßen Alptraum ” nannte, das 2008 errichtete für die ermordeten Homosexuellen im Tiergarten (Abb. 33), das den 1989 am Eingang zum Schöneberger Regen- Steine als Zeichen 51 bogenquartier am U-Bahnhof Nollendorfplatz angebrachten Gedenkstein in Form des Rosa Winkels ergänzt (Abb. 32), das erst 2012 eingeweihte für die ermordeten Sinti und Roma südlich des Reichstags (Abb. 27) und weitere drei Dutzend Gedenkstätten allein in Berlin, darunter auch solche für Trümmerfrauen und Zahnärzte, aber keines für die ermordeten Afrikaner. Abb. 26: Denkmal für die von den Nazis ermordeten Juden Europas (am Brandenburger Tor 2005) Abb. 27: Denkmal für die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma (im Tiergarten 2012) Zu ihnen gehört Mahjub Bin Adam Mohamed, der, 1904 in der damaligen Kaiserstraße zu Daressalam geboren, von 1929 bis zu seiner Verhaftung wegen ‘ Rassenschande ’ 1941 unter dem Namen Bayume Mohamed Husen (eingedeutscht für Hussein) in Berlin lebte und dort unter anderem am Seminar für orientalische Sprachen seine Muttersprache Swahili unterrichtete und als Schauspieler in mindestens 23 Spielfilmen mitwirkte (cf. Breiter 2002). An seinem Schicksal bestand im Nachkriegsdeutschland kein Interesse, er wurde wie so viele namenlose Opfer des Rassenwahns der Nazis vergessen. Erst 2007 wurde sein Name 52 Diskursformen des Erinnerns einer breiteren Öffentlichkeit wieder bekannt, als Marianne Bechhaus-Gerst in ihrem Buch Treu bis in den Tod seine Lebensgeschichte nachzeichnete. Noch im selben Jahr verlegte Gunter Demnig vor seinem ehemaligen Wohnhaus in der Brunnenstraße, in der auch die Synagoge Beth-Zion liegt, den kleinen Stein im Standardformat von 10x10x10 cm zu seinem Gedenken (Abb. 28). Abb. 28: Stolperstein für Mahjub Bin Adam Mohamed Abb. 29: Micha Ullmans ‘ Bibliothek ’ : Mahnmal zur Bücherverbrennung (Bebelpatz) Solche Kunstwerke, die den herkömmlichen Denkmalbegriff gleichsam unterlaufen, nennt James E. Young (1993: 39) ‘ Antidenkmale ’ . Wenn authentische Orte auf diese Weise ‘ zum Sprechen gebracht ’ werden, können daraus räumlich-ästhetische Rekonstruktionskonzepte entstehen. Die ‘ Bibliothek ’ auf dem Berliner Bebelplatz wäre dafür ein anderes Beispiel: der über den Platz eilende Fußgänger tritt unversehens auf eine in das Pflaster eingelassene Glasplatte, stutzt, hält inne, sieht unter sich in einen kahlen asch-weiß getünchten Raum hinein, dessen Wände von leeren Bücherregalen gesäumt werden (Abb. 29). Die Leere erinnert an das Verschwinden von Kultur. 20 ’ 000 Bücher der kritischen, jüdischen, linken oder den neuen Machthabern sonst irgendwie missliebigen Autoren (wie Heine, Feuchtwanger, die Manns, Kästner, Hirschfeld) wurden gleich zum Auftakt der Nazidiktatur von den Braunhemden verbrannt - und das war bekanntlich “ ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen ” (Heinrich Heine, Almansor, Vers 243 f.). So wird moderne Denkmalkunst in den öffentlich-urbanen Raum und damit den alltäglichen Bewegungsraum der Menschen eingebettet. Der Platz oder der Bürgersteig wird zum Text. Er liefert dem Flaneur, den Passanten nicht die fertige Lösung, sondern den Impuls zur eigenen Interpretation (cf. Schlusche 2006: 123). Gegen die Anonymisierung und Heroisierung des Todes setzen die Zeichen des Ortes und die Namen der Opfer dessen Individualisierung und Personalisierung - oder, wie Demnig selbst über seine Arbeit sagt: Für mich ist es immer noch eine große Erschütterung, jedes Mal, wenn ich Buchstabe für Buchstabe einzeln einschlage. Das gehört aber für mich mit zu dem Projekt, weil ich mir so immer wieder darüber bewusst werde, dass es sich um einen Menschen, einen einzigartigen Menschen handelt, Steine als Zeichen 53 um den es geht. Das waren Kinder, das waren Männer, Frauen, Nachbarn, Schulkameraden, Freundinnen, Kollegen . . . Und bei jedem Namen entsteht so eine Vorstellung in mir. Und dann gehe ich auch an den Ort, in die Straße, vor das Haus. Da rückt es noch einmal näher an einen heran. Es ist schmerzhaft, den Stolperstein zu legen, aber es ist auch gut, weil da etwas zurückkehrt . . . wenigstens die Erinnerung (Stolpersteine 2007: 37; Hervorh. im Orig. als Majuskel). Die Widerstände gegen die Verlegung sind nicht selten erheblich. Hausbesitzer wollen oft nichts davon wissen, Anwohner mögen nicht sich erinnern oder daran erinnert werden, wie jüdische, schwarze, schwule und andere Nachbarn leise aus ihrer Straße verschwanden. Manche fürchten Anschläge von Neo-Nazis (cf. Leimstoll 2008), andere eine vermeintliche Stigmatisierung ihres Hauses und seiner Bewohner (Stolpersteine 2007: 55). Der kollektiven Amnesie setzen die Steine historische Fakten entgegen, aber eben nicht in der offiziellen Form des rituellen Gedenkens, die Martin Walser (in seiner berühmt-berüchtigten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in der Paulskirche) als das Schwingen der “ Moralkeule Auschwitz ” empfand und dabei (was er später nicht ohne Scham bekannte) auf klammheimliches Einverständnis hoffen oder gar mit beifälliger Zustimmung rechnen durfte, sondern durch gleichsam zufällige Wahrnehmung, die Aufmerksamkeit heischt. Man kann aber auch aktiv wegschauen, wenn man nicht sehen will. Die heftige Mediendebatte, die Martin Walsers Rede seinerzeit auslöste (dokumentiert in Schirrmacher ed. 1999, Klotz ed. 1999, Brumlik et al. eds. 2000), gewinnt angesichts der antisemitischen Hate Speech in den Social Media neue Aktualität (Schwarz-Friesel 2019): Sie setzt die Frage nach einer angemessenen ‘ Sprache der Erinnerung ’ immer wieder auf die Agenda. Walser gehört keineswegs zu denen, die die Verbrechen der Nazi-Täter leugnen, verdrängen, relativieren, historisieren wollen, aber, sagt er in der zentralen Passage seiner Paulskirchenrede, “ [. . .] wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt ” (Walser 1998: 11): Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Dagegen will das Projekt Stolpersteine “ Zeichen setzen ” (Franke 2002: 14), “ Zeichen wider das Vergessen ” (Körner 2007), die Steine sind “ Mahn-Zeichen ” (Goebel 2003), “ Zeichen der Erinnerungskultur ” (Demnig: http: / / www.stolpersteine.com/ aktuell.html), sie machen das Verborgene sichtbar, sie holen für die Jüngeren wieder ans Licht, was manche derÄlteren im Dunkeln lassen wollen, sie sind Wegweiser durch die Geschichte ehemaliger jüdischer Stadtquartiere wie das Bayerische Viertel in Schöneberg. Für überlebende Angehörige sind sie zugleich Symbole des Widerstands gegen den Versuch der Nazis, mit der physischen Vernichtung der Opfer zugleich auch jede Erinnerung an jene auszulöschen, denen man ihren Namen nahm und sie mit Nummern im Wortsinne ‘ brandmarkte ’ , sie figurieren als Ersatz der verweigerten Grabsteine, jeder einzelne Stein steht symbolisch sowohl für das namentlich bezeichnete Individuum als auch für die Gesamtheit der Opfer, sagt der Künstler 54 Diskursformen des Erinnerns im Gespräch (Franke 2002: 14), “ denn alle eigentlich nötigen Steine kann man nicht verlegen. ” Will man auch nicht, denn Demnig will sie nicht am Fließband produzieren im Respekt vor der Einzigartigkeit eines jeden Schicksals, jeder Stein soll einzeln sorgsam in Handarbeit gefertigt, behauen, mit Messing bezogen, beschriftet werden (cf. Avidan 2008). Ihre Beschriftung mit Namen, Jahreszahl (Geburts- und Todesjahr) und Todesort ist die Metonymie einer Biographie, Symbol der Biographien von Millionen. Gemeinsam bilden sie ein Netz von Verweisungen, ihrerseits verflochten wiederum mit all den anderen Zeichen des Erinnerns an das NS-Verbrechen, und bei aller Bescheidenheit und Schwäche des einzelnen Zeichenträgers werden sie in ihrer Gesamtheit Teil der Kollektivpsyche und entfalten ihre eigentümliche Kraft (cf. Endlich 2002: 31; Stolpersteine 2007: 57). Sie wirken subversiv gegen den allzu lange verteidigten Topos des Nicht-Wissens - “ davon hat man ja nichts gewusst ” - durch die Prägung des alltäglichen Ortes, der Straße vor dem eigenen Hause. Buchenwald, Theresienstadt, Dachau, Auschwitz und all die anderen Lager waren weit weg, die nächtlichen Transporte der Güterwaggons zu den Stätten industriell betriebener Menschenvernichtung konnte man verdrängen, obwohl sie wohl kaum zu übersehen waren: Allein aus Berlin brachten 61 ‘ Osttransporte ’ 35 ’ 000 Juden in die Vernichtungslager, 123 ‘ Alterstransporte ’ brachten weitere 15122 Juden nach Theresienstadt, wo nur 11 % von ihnen überlebten, Homosexuelle wurden meist nach Sachsenhausen verfrachtet usw. (Dobler 2002; das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf verzeichnet auf seiner Homepage eine Liste der Deportationszüge von 1941 - 1945). 4 Die Lager sind heute bedrückende Gedenkstätten, aber da muss man nicht hinreisen, wenn man partout vergessen will. Der mitten unter uns, im eigenen Kiez, zu den eigenen Füßen eingeschriebenen ‘ Topographie der Vernichtung ’ indes ist kaum zu entrinnen. Sie beschreibt den Ausgangs- und den Endpunkt des Verbrechens. 5.3 Stolpersteine als Gegenstand der Diskursforschung Für diejenigen, die fragen, was das alles mit Diskursforschung und Urban Semiotics zu tun habe und für die das nach allem, was über den Zeichencharakter dieses Kunstwerks gesagt wurde, nicht unmittelbar auf der Hand liegt, hier zusammenfassend nur einige weitere Stichworte. (i) Diskurs: “ Das Beste, was einem Denkmal widerfahren kann, ist eine lebendige Auseinandersetzung ” (Endlich 2002: 36). Für die Stolpersteine trifft das in exemplarischer Weise zu. Sie sind ein Impuls zur (kontroversen) Kommunikation, sei es unter den Passanten, einander fremden Gegnern und Befürwortern, sei es im Gespräch mit Jugendlichen zu didaktischen Zwecken, sei es vermittelt in der anhaltenden Mediendebatte, sei es im Prozess des Kunstwerks selbst, das ein Ergebnis komplexer Verständigungshandlungen des Urhebers mit Archiven, Historikern, Behörden, Schulen, Bürgern ist. Jeder dieser Kommunikationsprozesse kann zum Gegenstand empirischer Diskursanalyse gemacht werden. 4 https: / / www.berlin.de/ ba-charlottenburg-wilmersdorf/ ueber-den-bezirk/ geschichte/ artikel.240430.php [28.09.2021]. Stolpersteine als Gegenstand der Diskursforschung 55 (ii) Stadt-Zeichen: “ In vielen Städten [. . .] sind die Stolpersteine zu Wegweisern durch die Geschichte ehemaliger jüdischer Stadtviertel geworden ” (Körner 2007). Für mich waren die Steine in meiner Straße ein Impuls zur Auseinandersetzung mit der Geschichte ‘ meines Viertels ’ in Schöneberg. Abstraktes Geschichtswissen wird unmittelbar anschaulich, wenn man Zeichen im urbanen Raum als ‘ Text ’ zu lesen weiß. Jungen Forschungszweigen wie Urban Semiotics, Spatial Discourse Studies oder Linguistic Landscapes Research eröffnet sich hier ein neues weites Feld empirischer Untersuchungen. Das “ Hier wohnte ” der standardisierten Beschriftung eines jeden Stolpersteins etwa verweist deiktisch, also wie eine Suchanweisung im hic et nunc seiner Wahrnehmung, auf das Haus, vor dem er verlegt wurde, den Ort, an dem die Opfer zuletzt gelebt haben, den Ausgangspunkt des Verbrechens ihrer Deportation. Deportiert an den ebenfalls vermerkten Ort ihrer Ermordung, den Endpunkt des Verbrechens. Beide Lokaldeiktika zusammen sind Teil des Verweisungsnetzwerks, das die ‘ Topographie des Terrors ’ dem Alltagsgedächtnis des Passanten ‘ einschreibt ’ ( τόπος / tópos / Ort, γράφειν / graphein / schreiben). (iii) Rhetorik: Die Kontroverse innerhalb des Zentralrats der Juden in Deutschland hat gezeigt, wie metaphorische Redeweise ( “ mit Füßen treten ” ) als topisches Argument genutzt wird: ‘ man ’ (im Sinne von ‘ Jeder weiß doch, dass . . . ’ oder ‘ alle teilen doch die Auffassung, dass . . . ’ ) dürfe ‘ doch ’ - eine Partikel, die geteiltes Wissen behauptet, von dem erst bewiesen werden müsste, dass es geteilt sei - nicht diejenigen noch einmal ‘ mit Füßen treten ’ , die einst ‘ mit Füßen getreten ’ wurden. Für sie stehen die Steine zugleich als metonymisches Zeichen, indem die auf ihnen eingravierten lakonischen Informationen (Name, Lebensdaten, Todesort) sie als Individuen und, in deren Summe, sie als Kollektiv repräsentieren (cf. Avidan 2008). Sage also niemand, Germanisten, die sich auch als semiotisch informierte Kulturwissenschaftler verstehen, dürften sich jenseits von Sprachstruktur und Literaturkanon nicht auch ihrer Geschichte, ihrem Alltag, ihrem Raum, den Medien ihres Ausdrucks mit textwissenschaftlicher Neugier zuwenden (und dabei manchmal auch etwas lernen über die Geschichte der eigenen Familie). Die vielerorts propagierte Re-Philologisierung unseres Faches würde es m. E. gerade um jene Dimensionen beschneiden, die es überhaupt erst interessant machen für Menschen, die andernorts und in der Ferne etwas lernen wollen über unser Land, seine Kultur und Geschichte. 56 Diskursformen des Erinnerns