Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
421
Subkultur in Schöneberg
516
2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Das Kapitel ist den Queer Spaces der Gay Community im Norden des Bezirks Schöneberg gewidmet, den Zeichen, die das Quartier ‘markieren’ und es zu ‘kartieren’ erlauben. Nach einem kurzen Streifzug durch die Geschichte des Viertels wird der mühsame Weg von der Verfolgung zur rechtlichen Gleichstellung homosexueller Mitbürger nachgezeichnet und auf die Mahnmale verwiesen, die an ihre Ermordung und Unterdrückung erinnern, aber auch auf solche, die ihre späte Rehabilitation und Emanzipation symbolisieren. Ein Berliner Szeneviertel der etwas anderen Art, dessen entspannte Liberalität es gegen ihre erneute Bedrohung zu verteidigen gilt.
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6 Subkultur in Schöneberg Ein Stadtviertel im Zeichen des Regenbogens Abstract: The chapter is dedicated to the Queer Spaces of the Gay Community in the north of the district of Schöneberg, the signs that ‘ mark ’ the quarter and allow it to be semiotically ‘ mapped ’ . After a brief foray through the history of the quarter, the laborious path from persecution to legal equality of homosexual fellow citizens is traced and reference is made to the memorials that commemorate their murder and oppression, but also to those that symbolize their late rehabilitation and emancipation. A Berlin scene quarter of a somewhat different kind, the relaxed liberality of which must be defended against their renewed threat. Zusammenfassung: Das Kapitel ist den Queer Spaces der Gay Community im Norden des Bezirks Schöneberg gewidmet, den Zeichen, die das Quartier ‘ markieren ’ und es semiotisch zu ‘ kartieren ’ erlauben. Nach einem kurzen Streifzug durch die Geschichte des Viertels wird der mühsame Weg von der Verfolgung zur rechtlichen Gleichstellung homosexueller Mitbürger nachgezeichnet und auf die Mahnmale verwiesen, die an ihre Ermordung und Unterdrückung erinnern, aber auch auf solche, die ihre späte Rehabilitation und Emanzipation symbolisieren. Ein Berliner Szeneviertel der etwas anderen Art, dessen entspannte Liberalität es gegen ihre erneute Bedrohung zu verteidigen gilt. Keywords: Rainbow quarter, rainbow flag, gay liberation, queer spaces, gay community, homosexuality, LGBT, culture of remembrance, memorials, pink triangle Schlüsselbegriffe: Regenbogenquartier, Regenbogenfahne, gay liberation, queer spaces, gay community, Homosexualität, LGBT, Erinnerungskultur, Mahnmale, Rosa Winkel 6.1 Hundert Jahre Schöneberger Regenbogenviertel An das Bayerische Viertel, von dem im vorangegangenen Kapitel die Rede ist, schließt sich in fließendem Übergang östlich ein ebenfalls berühmtes Quartier an, das dem unbefangenen Besucher Zeichenensembles bietet, die ihm wie in Neukölln oder Prenzlauer Berg Aufschluss geben können über manche gemeinsamen Merkmale seiner Bewohner. Hier wohnen traditionellerweise überdurchschnittlich viele homosexuelle Männer, die ihre Identität nicht mehr verstecken mögen. Die neue Sichtbarkeit der Gay Community weckt die Neugier des urbanen Semiotikers. Wie zeigt sie sich? Mittels welcher Zeichen gibt sie sich selbstbewusst zu erkennen? Wie verhalten sich die Menschen in ihr? Wie weisen sie sich aus als ihrer Subkultur zugehörig? Gibt es eine ‘ Sprache der Schwulen ’ (zu ‘ gay talk ’ cf. Hess-Lüttich & Vlassenko 2012; Hess-Lüttich 2018)? Welches sind die Zeichen, an denen schwule Besucher sich in der Stadt orientieren, um ihresgleichen zu finden? Wie wird ein städtisches Viertel durch Zeichen offen als Ort der schwulen Subkultur definiert und ‘ markiert ’ ? Lässt es sich durch bestimmte Signalements sozusagen semiotisch ‘ kartieren ’ ? Diesen Fragen wollen wir - geleitet durch die im ersten Kapitel zusammengetragenen theoretischen und methodologischen Überlegungen - am Beispiel jenes Berliner Quartiers nachgehen, das seit über 100 Jahren als ‘ schwul-lesbischer Traditionskiez ’ gilt und schwule Besucher aus aller Welt anzieht: das Schöneberger Regenbogenviertel. Der amerikanische Historiker Robert Beachy stellte in seinem Buch Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity (Beachy 2014), das in deutscher Übersetzung unter dem Titel Das andere Berlin 2015 bei Siedler erschien, die prima facie etwas überraschende These auf, Homosexualität sei “ eine deutsche Erfindung ” . Sie ist der, zugegeben, etwas feuilletonistisch beschriebene Ausgangspunkt einer dennoch historisch soliden und quellensatt dokumentierten Spurensuche nach dem Ursprung und Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem gesamten Spektrum der Ausprägungen menschlicher Sexualität im Berlin des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. An seinen bestens informierten Blick auf die Periode von 1867 bis 1933 können die folgenden Beobachtungen im Norden von Schöneberg anknüpfen. Das vor den Toren Berlins gelegene Bauerndorf Schöneberg wurde 1861 in die schnell wachsende Metropole eingemeindet und wuchs innerhalb kürzester Zeit von 4 ’ 500 Einwohnern so rasant auf 175 ’ 000 an, dass es bereits 1898 eigene Stadtrechte erhielt und damit wieder von Berlin unabhängig und für Berliner eine begehrte Wohnlage wurde. In der Gründerzeit blühte die Stadt auf und wurde zum Anziehungspunkt wohlhabender Bürger, aber auch erfolgreicher Künstler und Schriftsteller. Sie konnte sich eine moderne Infrastruktur leisten und baute die erste Untergrundbahn des Großberliner Raums (die heutige Linie U4). Im Zuge der Ausdehnung Berlins wurde Schöneberg dann 1920 wieder eingemeindet und mit Friedenau zu einem Berliner Verwaltungsbezirk zusammengelegt. Hier wurden nun Intellektuelle aktiv, die sich für eine Liberalisierung des Strafrechts einsetzten, die ersten Clubs und Vereine wurden gegründet, das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee versuchte, die Öffentlichkeit über das “ Wesen der mann-männlichen Liebe ” aufzuklären. Im Viertel um den Nollendorfplatz entwickelte sich nach dem 1. Weltkrieg und besonders seit Beginn der 20er Jahre ein vergleichsweise freizügiges Vergnügungsviertel mit zahlreichen Lokalen, Tanzpalästen, Kabaretts, Cafés, aber auch einer florierenden Prostitution. Um 1922 soll es in Berlin (je nach Quelle) zwischen 100 und 150 homosexuelle Lokale gegeben haben, in denen ein durchaus gemischtes Publikum verkehrte (cf. Morek 1931). Kurt Hiller, ein bekannter Schriftsteller und Publizist aus jüdischer Familie, veröffentlichte einen Sammelband mit dem mutigen Titel § 175: Die Schmach des Jahrhunderts! (Hiller 1922). Die Gay History Map des Berliner Szeneblatts Siegessäule verzeichnet allein in dem kleinen Geviert zwischen Motz- und Fuggerstraße etliche Lokale der gehobeneren Variante wie das Eldorado der Drag-Shows und, nur in Schrittweite entfernt, das Dédé oder Mali & Igel, das Dorian Gray oder das Kleist Casino, die Verona Diele oder das Monbijou. Das von dem Gastwirt Ludwig Konecny 1928 eröffnete Transvestitenlokal Eldorado (in der Lutherstraße, ab 1931 in der Motz-/ Ecke Kalckreuthstraße) gilt als das älteste Schwulenlokal Berlins und war ein populärer “ Treffpunkt der internationalen mondänen Welt ” (Pretzel 2012: 114), aber bereits 1932 wurden die Räume von der SA übernommen, und heute 58 Subkultur in Schöneberg erinnert nur noch der Name des dortigen Bio-Supermarktes “ Speisekammer im Eldorado ” an die Vergangenheit des Hauses (Abb. 30). 5 Abb. 30 + 31: Eingang zum Eldorado Motz-/ Kalkreuthstraße 1931 und Isherwood-Gedenktafel Motzstraße 17 Marlene Dietrich, Claire Waldorf, die Tänzerin Anita Berber, der Schriftsteller Erich Kästner wurden hier gesehen, die in Künstlerkreisen gut vernetzte Else Lasker-Schüler logierte im Hotel Koschel, an sie erinnert eine Gedenktafel am heutigen Hotel Sachsenhof in der Motzstraße, Otto Dix verewigte das bunte Treiben in seinem Großstadt-Tryptichon (1927/ 28), Christian Schad fertigte (u. a. für Morecks Führer durch das ‘ lasterhafte ’ Berlin) Zeichnungen vom Eldorado an (cf. Röske 1996), in dem auch W. H. [Wystan Hugh] Auden, Christopher Isherwood und ihre Clique Oxforder Kommilitonen verkehrten. In seiner Autobiographie (Christopher and His Kind) und seinen Berliner Romanen (Mr. Norris Changes Trains, Sally Bowles, Goodbye to Berlin) setzte Isherwood der Zeit und der ‘ Szene ’ ein Denkmal, worauf eine Gedenktafel am Haus Motzstraße 17 hinweist, wo er logierte (Abb. 31, ähnliche Gedenktafeln erinnern auch an Gertrude Sandmann, Erich Kästner oder Billy Wilder, die in der Nähe wohnten). Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich die Lage schlagartig. Die offen schwulen Lokale wurden (wie das Eldorado, s. o.) geschlossen, die verbleibenden wurden zur Bespitzelung ihrer Besucher genutzt; “ Rosa Listen ” wurden angelegt, homosexuelle Bürger denunziert, erpresst, später verhaftet und nach dem verschärften § 175 RStGB wegen “ widernatürlicher Unzucht ” zu Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Die Kleidung der Opfer wurde mit einem Zeichen aus Stoff analog zum ‘ Judenstern ’ markiert: viele der mit einem ‘ Rosa Winkel ’ Gezeichneten wurden in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert, wo die meisten qualvoll umkamen (cf. Pretzel & Roßbach eds. 2000; Jellonnek & Lautmann eds. 2002). An sie erinnern Mahnmale wie die Gedenktafel für die homosexuellen Opfer des Faschismus am U-Bahnhof Nollendorfplatz oder das Denkmal für die von den Nazis ermordeten Homosexuellen im nahen Tiergarten (Abb. 32 + 33), aber auch zahlreiche ‘ Stolpersteine ’ (des Demnig-Projekts) vor den Häusern, aus denen 5 Abb. 30 (Quelle: Bundesarchiv_Bild_183-1983-0121-500,_Berlin,_Bar_"Eldorado".jpg). Hundert Jahre Schöneberger Regenbogenviertel 59 nicht nur die zahlreichen Juden des hier angrenzenden ‘ Jüdischen Viertels ’ vertrieben worden waren, sondern auch ihre schwulen Nachbarn (Kap. 5). 6 Abb. 32 + 33: Gedenktafel U-Bahnhof Nollendorplatz, Denkmal für die ermordeten Homosexuellen im Tiergarten 6.2 Der lange Weg zur neuen Freiheit Es dauerte lange, bis das zerstörte Viertel einigermaßen wieder aufgebaut war. Die ‘ Szene ’ war verschwunden. Zaghaft eröffneten hier und da nach dem Krieg wieder ein paar Kneipen, in denen Schwule zu verkehren wagten, aber sie blieben unsichtbar. Die Rechtslage war weiterhin so repressiv wie im Kaiserreich und im Nationalsozialismus. Erst die sozialliberale Koalition verbesserte in den 70erJahren die rechtliche Situation der Homosexuellen, die sich nun auch politisch zaghaft zu artikulieren wagten. Im Schatten der Studentenbewegung wurde nach amerikanischem und britischem Vorbild (zunächst in Bonn und Köln) die Gay Liberation Front (glf) gegründet, aus der später eine breite ‘ Schwulenbewegung ’ erwuchs. Das alles ist vielfach beschrieben und umfassend dokumentiert worden, sodass ihre Geschichte hier nicht noch einmal erzählt werden muss (cf. 6 Unter http: / / www.raunitz.de/ sh_tote_opfer/ findet man im Internet eine (nach gegenwärtigem Stand der Forschung zusammengestellte) Liste von homosexuellen Opfern der Naziverfolgung, die zugleich ein dringendes Forschungsdesiderat markiert; cf. auch die Dauerausstellung im Schöneberger Rathaus mit dem Titel “ Wir waren Nachbarn ” (http: / / www.wirwarennachbarn.de/ ) [28.09.2021]. 60 Subkultur in Schöneberg z. B. Lautmann ed. 1977; Kraushaar ed. 1997; Ausstellungen und Kataloge des Schwulen Museums: http: / / www.schwulesmuseum.de/ [28.09.2021]). Aber der konservative Widerstand gegen die Rechte der Minderheit war zäh und massiv. “ Es sollte rund 50 Jahre dauern, bis der Kahlschlag der Nationalsozialisten überwunden war ” (Hoffmann 2001: 152). Einer der Protagonisten der Bewegung, der spätere Verleger des von ihm 1975 gegründeten Verlags Rosa Winkel (Europas erster ‘ Schwulbuchverlag ’ ), Egmont Fassbinder (ein Vetter des schwulen Filmemachers Rainer Werner Fassbinder), erinnert sich in seinem sehr persönlich gehaltenen Bericht über “ Mein schönes ‘ schwules ’ Schöneberg ” (Fassbinder 2001: 153 - 160), dass Homosexuelle “ weit und breit nicht wahrnehmbar ” waren und dass er nicht wusste, wie und wo er “ Gleichgesinnte ” finden könnte (ibid. 153), bis er endlich wagte, ins Trocadero am Winterfeldtplatz (das später in die nahe Courbièrestraße umzog) oder das wiedereröffnete Kleist Casino (KC) an der Ecke Kleist-/ Eisenacherstraße zu gehen. Rosa von Praunheims provokativer Film ( “ Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt ” ) sorgte für heftige Debatten und wurde zum Initialimpuls für die Gründung studentischer Emanzipationsgruppen in allen größeren Universitätsstädten (die erwähnte Gay Liberation Front in Köln, die ihren Namen dem Londoner Vorbild verdankt, gibt es heute immer noch), einschlägige Zeitschriften kamen heraus (Du&Ich, Him, Schwuchtel, magnus), Transvestitenlokale öffneten ihre Pforten (Chez Nous, Chez Romy Haag), in der Bülowstraße machte der erste schwule Buchladen in Deutschland auf (Prinz Eisenherz, heute in der Motzstraße) und, unweit des (heutigen) Kurt-Hiller-Parks, das Café Anderes Ufer, das schnell zum “ Salon der Berliner Homosexuellen ” avancierte (Hoffmann 2001: 151): Hier frühstückten die Künstler Salomé und der Rocksänger Rio Reiser. Hier tranken Autoren wie Detlev Meyer, MarioWirz und Michael Roes Kaffee; der Satiriker Max Goldt war ebenso Stammgast wie die Entertainer Ades Zabel und Biggy van Blond. Nina Hagen, Iggy Pop und Ulrike Folkerts kamen genauso gern ins Ufer wie Michael [sic] Foucault und David Bowie. Und wenn man Glück hatte, konnte man sich hier von den Filmemachern Rosa von Praunheim, Wieland Speck, Lothar Lambert oder Ulrike Ottinger entdecken lassen. Anfang der 80er Jahre hatte sich das Viertel soweit erholt, dass der junge Bruno Gmünder in bescheidenen Räumen in der Nollendorfstraße seinen ersten schwulen ‘ Szeneführer ’ herausbringen konnte: Berlin von hinten. Von der Erfolgsgeschichte des späteren Verlagskonzerns Bruno Gmünder ahnte damals noch niemand etwas. Man vergnügte sich in den inzwischen zum Teil mit ersten ‘ Darkrooms ’ ausgestatteten neuen Kneipen wie Knolle, Tom ’ s Bar oder Knast, aber die hedonistische Sorglosigkeit sollte nicht lange währen. Autoren wie Detlev Meyer (Heute Nacht im Dschungel) und Napoleon Seyfarth (Schweine müssen nackt sein) wurden zu sensiblen Chronisten der herannahenden Bedrohung durch eine neue, in der ‘ Szene ’ grassierende ‘ Schwulenseuche ’ , der sie selbst zum Opfer fallen sollten: A IDS . Schnell lichten sich die Reihen. Die Berliner A IDS -Hilfe wird gegründet, Lokale für HIV-Positive werden eröffnet (wie das Café PositHiv). Nun kommen neue Mahnmale zu den alten hinzu. Das Zeichen des ‘ Rosa Winkels ’ wird ergänzt durch das der ‘ roten Schleife ’ als Zeichen der Solidarität mit den zahllosen Opfern der tödlichen (und bis heute nicht heilbaren) Krankheit und den damit Infizierten (Abb. 34 + 35). 1990 eröffnet die damalige Berliner Senatorin für Justiz, die spätere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes Jutta Limbach, im Rathaus Schöneberg, damals noch Amtssitz Der lange Weg zur neuen Freiheit 61 des Berliner Bürgermeisters, eine Ausstellung des Schwulen Museums zur “ Geschichte des § 175: Strafrecht gegen Homosexuelle ” und verspricht, sich für die Streichung des Paragraphen einzusetzen. Am 10. März 1994 ist es soweit: der Bundestag fasst einen entsprechenden Beschluss, ohne dass das Abendland wie von Konservativen befürchtet untergeht. Nach dem Vorbild der Rainbow Coalition, einer amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, wird die Regenbogenfahne als drittes Zeichen der schwulen Subkultur adoptiert und seit 1996 am Rathaus aufgezogen. Schnell avanciert sie zum im Herzen des Kiezes allgegenwärtigen ‘ Ausweis ’ der einschlägigen Lokale und derer, die als ‘ gay friendly ’ wahrgenommen werden wollen. Die Szene-Wirte tun sich zusammen, gründen einen ‘ Regenbogenfonds ’ veranstalten gemeinsam das ‘ schwul-lesbischen Straßenfest ’ , das sich zur größten und wichtigsten Veranstaltung seiner Art in Europa entwickelt und heute alljährlich bis zu einer halben Million Besucher anzieht. Am 16. Juni 2000 weiht die Bezirksbürgermeisterin Elisabeth Ziemer die von dem Berliner Künstler Salomé entworfene Regenbogen-Stele ein, die vor dem U-Bahnhof Nollendorfplatz den Eingang zum Regenbogen-Quartier markiert und semiotisch die Brücke schlägt vom Rosa Winkel (der Gedenktafel an der Wand gegenüber der Stele) zur 1978 von Gilbert Baker entworfenen Rainbow-Flag. Wer im Dezember 2013 am U-Bahnhof ankommt, traut seinen Augen nicht: im Rahmen einer (eigentlich zeitlich begrenzten) Kunstaktion erstrahlt dessen Kuppel in den leuchtenden Farben des Regenbogenkiezes. Als weithin sichtbares “ Zeichen für Toleranz und Vielfalt ” an dessen Eingang (oder Ausgang) soll es bleiben: die zeitliche Begrenzung wird aufgehoben. Nun gilt das kleine Quartier im Norden Schönebergs endgültig als The Rainbow Village, das aus eigenem Recht an dessen bunte Zeit in den 1920 Jahren anzuknüpfen vermag (Abb. 36 + 37). Abb. 34 + 35: Schöneberger Mahnmale für die Aids-Opfer und HIV-Infizierten 62 Subkultur in Schöneberg Abb. 36 + 37: Regenbogen-Stele und Kuppel des U-Bahnhofs Nollendorfplatz 6.3 Die Gay Community setzt Zeichen Damit sind die drei zentralen Zeichen der Selbstidentifikation eines ganzen Stadtviertels etabliert (Abb. 38): der Rosa Winkel als Stigma, das die so Gekennzeichneten im Wortsinne ‘ zeichnete ’ als abartig, entartet, aus der Art geschlagen, als letztlich ‘ unwertes Leben ’ , bis es von der Gay Community aufgegriffen und umgewertet wurde zum stolz getragenen Abzeichen ihrer Selbstbehauptung gegen den Versuch ihrer Negation und Vernichtung; die Regenbogenfahne, deren Farben zugleich das Leben (rot) symbolisieren sollen, die Gesundheit (orange), die Sonne (gelb), die Natur (grün), die Kunst (blau) und den Geist (violett) und in ihren farbenfroh-bunten Komposition für die selbstbewusste ‘ Fröhlichkeit ’ der Gay Community stehen, ihr ‘ Coming-out ’ , ihre Vielfalt, ihren Mut, ihren Kampf um die gleichen Bürgerrechte, die alle anderen auch für sich beanspruchen; und schließlich, drittens, die Rote Schleife als Zeichen der Solidarität mit der stigmatisierten Gruppe der mit dem HI-Virus Infizierten, jener Infektion, die nach ihrem ersten Auftreten zuerst als ‘ Schwulenseuche ’ diffamiert wurde, die klerikal-konservative Politiker nach Quarantäne und Isolation in Lagern rufen ließ, als sichtbare Thematisierung eines gesellschaftlichen Tabus (awareness ribbon). Abb. 38: Drei Zeichen für die Gay Community Die Gay Community setzt Zeichen 63 Heute gibt es wohl nirgends sonst auf der Welt eine solche Dichte und Auswahl einschlägiger Bars, Clubs, Restaurants, Cafés, Hotels, Buch- und Fetischläden auf so engem Raum. Für Berlin insgesamt listet das Szenemagazin Siegessäule nicht weniger 260 von Schwulen frequentierte Adressen auf und verzeichnet sie auf Karten der drei wichtigsten Zentren (neben Schöneberg noch Friedrichshain und Mitte), aber selbst im Zoom-Ausschnitt wird die Dichte der markierten Orte fast unübersichtlich (Abb. 39). Abb. 39: Schöneberger Gay Map der Siegessäule Abb. 40: Rainbow Flag an einem Reisebüro Das Zeichen der Rainbow-Flag sticht dem Flaneur hier überall ins Auge, nicht nur Fenster der Wohnungen sind damit geschmückt, nicht nur die einschlägigen Läden und Lokale weisen sich damit aus, auch an eher unvermuteten Orten wie Fahrradständern, Fahrschulen, Tierarztpraxen, Obstständen, Geldautomaten usw. klebt das Zeichen, gelegentlich ergänzt um solche, die sich an spezielle Untergruppen der Subkultur wenden (wie die Leder-, Fetisch- oder Bären-Szene), denn kaum ein Gewerbetreibender will es sich mit der hier dominanten Clientèle verscherzen. Für einmal nicht Minderheit sein: für viele der Besucher eine willkommene Entlastung vom Druck ihres heteronormativ geprägten Alltags. Können sie sich also endlich sicher wähnen und ihre Identität offen leben? Die Gefahren lauern selbst hier im Kiez, wie ein Besuch bei Maneo in der Bülowstr. 106 bestätigt. Die Zahl homophober Übergriffe sei massiv gestiegen, die der Straftaten gegen Homosexuelle habe sich innerhalb nur einer Dekade vervierfacht, allein im Jahr 2016 habe man 659 Hinweise auf Gewalttaten bekommen (cf. Maneo-Report 2016 v. 17.05.2017). 7 Und die Zahl der homophoben Gewalttaten steigt immer weiter: die Berliner Zeitung (v. 15.05.2020) meldet auf der Grundlage der von Maneo publizierten Jahresberichte, dass 2020 in Berlin 32 % mehr Übergriffe gegen Schwule und Lesben registriert worden seien als im Vergleich zum Vorjahr, 7 Im Internet unter: http: / / www.maneo.de/ uploads/ media/ MANEO-PM-170516-MANEO_Report_2016.pdf; Report: http: / / www.maneo.de/ infopool/ dokumentationen.html? eID=dam_frontend_push&docID=1337 [28.9.2021]. 64 Subkultur in Schöneberg wobei die Dunkelziffer noch erheblich höher liege. 8 Der für den Kiez zuständige Abschnitt 41 der Berliner Polizei bestätigt die Verschärfung der Sicherheitslage (vor allem durch die Zuwanderung muslimischer und osteuropäischer Jugendlicher) und beschreibt den Ort als für Schwule nicht mehr ungefährlich (cf. auch aktuelle Berichte in der lokalen Presse und im Sender RBB). Mut und Wachsamkeit bleiben geboten. 150 Jahre Gay Liberation konnten Homophobie demnach noch immer nicht zum Schweigen bringen. Im Gegenteil: eine unheilige Koalition von religiösen Fundamentalisten und rechtspopulistischen Eiferern wittert schon wieder Morgenluft für ihren Kampf gegen gleiche Rechte für die LGBT-Community. Für die aber ist, wie ein Blick in andere Länder lehrt, die hierzulande mühsam erreichte Rechtssicherheit überlebenswichtig. Daran erinnert auch der Rechtsphilosoph Christoph Möllers von der Humboldt-Universität anlässlich der späten Gleichstellung des Rechtsinstituts der Ehe in seiner juristischen Stellungnahme, die er ( “ unjuristisch ” ) mit den Worten schließt: Manche sich liberal wähnende Menschen behaupten, nichts gegen Homosexuelle zu haben, es nur nicht gut zu finden, wenn diese heiraten wollen. Der Sprechakt lautet: Du bist in Ordnung, wie du bist. Du sollst nur nicht dieselben Rechte haben wie ich. Auf diese Art des Zuspruchs können die Angesprochenen vermutlich leichter verzichten als auf den verwehrten Rechtsstatus (Möllers 2017). Abb. 41 + 42: Zeichen der schwulen Subkultur(en) 8 https: / / www.berliner-zeitung.de/ mensch-metropole/ berlin-homophobie-so-viele-uebergriffe-gegen-schwuleregistriert-wie-noch-nieund-lesben - li.83640 [28.09.2021]. Die Gay Community setzt Zeichen 65
