eJournals Kodikas/Code 42/1

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
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Ansichten, Einsichten, Aussichten

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2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Zum Abschluss des Bandes werden die in den vorangegangenen Kapiteln genannten Kontroversen und darin verhandelten Ansichten resümiert, die daraus gewonnenen Einsichten und gezogenen Konsequenzen gewürdigt, die damit eröffneten Aussichten zum Anlass genommen, Perspektiven auf weitere potentielle Projekte zu werfen, die hier aufgrund der Umfangsbegrenzung nur in Form von einigen exemplarischen Streiflichtern angedeutet werden können: das Nicolai-Viertel, der Alexanderplatz, die Spuren der Hugenotten.
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8 Ansichten, Einsichten, Aussichten Probleme, Projekte, Perspektiven Abstract: At the end of the volume, the controversies mentioned in the previous chapters and the views negotiated therein are briefly summarized, the insights gained and consequences drawn from them are acknowledged, and the prospects thus opened up are used as an opportunity to throw light on some more perspectives for further potential projects which, due to the limited scope of this volume, can only be hinted at here in the form of a few exemplary highlights such as the Nicolai Quarter, Alexander Square, the Huguenots tradition. Zusammenfassung: Zum Abschluss des Bandes werden die in den vorangegangenen Kapiteln genannten Kontroversen und darin verhandelten Ansichten resümiert, die daraus gewonnenen Einsichten und gezogenen Konsequenzen gewürdigt, die damit eröffneten Aussichten zum Anlass genommen, Perspektiven auf weitere potentielle Projekte zu werfen, die hier aufgrund der Umfangsbegrenzung nur in Form von einigen exemplarischen Streiflichtern angedeutet werden können: das Nicolai-Viertel, der Alexanderplatz, die Spuren der Hugenotten. Keywords: Urban debates, subcultures, Nicolai Quarter, Alexander Square, the Huguenots tradition Schlüsselbegriffe: Urbane Kontroversen, Subkulturen, Nicolai-Viertel, Alexanderplatz, Hugenotten-Tradition 8.1 Kontroversen, Kompromisse, Konsequenzen Die Ansichten der Teilnehmer zu den Standpunkten in den Kontroversen, von denen in den vorangegangenen Kapiteln die Rede war, gehen nach wie vor weit auseinander, manche dauern an. Die Debatten zu den Flughäfen (Tempelhofer Feld, Tegel-Schließung, BER- Eröffnung) oder zu Multikulturalität, Parallelgesellschaft oder Gentrifizierung (Brennpunkt Neukölln, Prenzlauer Berg), die zu den Grenzen der Religionsfreiheit (Moscheebauten) oder angemessenen Formen des Gedenkens (Memorialkultur, Stolpersteine), die zum Schutz von Minderheiten bestimmter Subkulturen und deren Bedrohung durch Kriminalität oder Religionen (Regenbogenkiez) oder die zu Schloss und Humboldt-Forum sind nach wie vor aktuell, obwohl sie teilweise seit Jahrzehnten streitig geführt werden. Bei manchen zeichnet sich ab, dass die gesellschaftliche Realität oder die Schaffung von Fakten auch zu neuen Einsichten führt. Die Frage der Randbebauung des Tempelhofer Feldes ist wieder offen, seit sich das Problem der Wohnungsnot bis zu Grünen und Linken herumgesprochen hat, die freilich eher für die Enteignung bestehender Wohnungen plädieren, was in der Konsequenz vermutlich eher zu einem Baustopp führen dürfte als dass sich Investoren dadurch sonderlich beflügeln ließen. Dass die sozialen Brennpunkte in Neukölln, Kreuzberg, Friedrichshain sich nicht von selbst auflösen, haben mittlerweile auch alle Parteien verstanden; die Einhegung organisierter Clan-Kriminalität ist ebenfalls kein Tabuthema mehr (wenn auch bislang wenig erfolgreich); Milieuschutzmaßnahmen sollen die wüstesten Auswüchse der Immobilienspekulation einhegen. Die gefährliche Zunahme von Antisemitismus, Rechtsextremismus, Homophobie wird politisch ebenfalls endlich wahrgenommen, seit sie unübersehbar geworden ist. Und selbst “ Egons Lampenladen ” trauern nur die Verbissensten der SED-Altkader hinterher, während die meisten das Schloss, seit es in voller Pracht vor ihnen steht, eigentlich doch ganz schön finden, wie es sich nun harmonisch einfügt in das Ensemble der benachbarten Bauwerke der Museumsinsel, der Staatsoper, der Humboldt-Universität, des Lustgartens, des Berliner Doms, des Roten Rathauses, des Nicolaiviertels. Die Aussichten sind also eigentlich nicht so düster, wie die Tonlage mancher Debatten vermuten lassen könnte. Natürlich wünscht man sich oft ein beherzteres Vorgehen zur Lösung drängender und offenkundiger Probleme, die jedoch über 40 ’ 000 Menschen, die jährlich neu nach Berlin ziehen wollen, nicht abzuschrecken scheinen. Aber auch diejenigen, die ihr Leben seit je in der Stadt verbracht haben, finden immer wieder Neues zu entdecken. Zum Abschluss hier exemplarisch nur ein paar Streiflichter als Impuls zu weiteren Projekten. 8.2 Spurensuche im ältesten Berlin: Das Nicolai-Viertel Schräg gegenüber vom Berliner Schloss, am östlichen Ufer der Spree, erstreckt sich um die Nicolai-Kirche herum das nach ihr benannte Viertel, dessen Ursprung auf das 12. Jahrhundert zurückgeht. Die ersten Häuser der Kaufmannsiedlungen Berlin und Cölln entstanden hier und wurden, verbunden durch den Mühlendamm über die Spree, 1237 erstmals urkundlich belegt, zum Kern der gemeinsamen Doppelstadt. Ausgrabungen deuten auf eine noch frühere Entstehung hin, aber erst mit der Errichtung des kurfürstlichen Schlosses nebenan (s. Kap. 7) gewann die schnell wachsende Gemeinde an Bedeutung. Die Nazi-Pläne zur Umstrukturierung des Viertels wurden glücklicherweise nicht umgesetzt, was freilich auch nicht gegen dessen Zerstörung im Bombenhagel des Weltkriegs half. Erst in den 1970 Jahren sollte die klaffende Lücke zwischen Spree und Alexanderplatz endlich geschlossen werden. Ob die historische Nicolaikirche abgerissen werden solle oder nicht, wurde engagiert debattiert. Schließlich entschloss sich das beauftragte Planungskollektiv zu einer an den ursprünglichen Strukturen orientierten Wohnbebauung, die pünktlich zum 750-jährigen Stadtjubiläum 1987 fertiggestellt wurde (cf. Goebel 2003). Aber auch diese Lösung geriet in die Kritik, Grund genug zu einer Spurensuche vor Ort. Wie ‘ lesen ’ wir heute den erneuerten historischen Stadtkern? Welche Zeichen deuten auf die verschiedenen Schichten des Palimpsests, das im Laufe der Zeit in diesem eng gezirkelten Geviert entstanden ist? Die urban-semiotische Exkursion wird sinnvollerweise bei der Nikolaikirche ihren Ausgang nehmen, die so alt ist wie die Stadt (Kieling & Althoff 2001). Zwischen 1220 und Spurensuche im ältesten Berlin: Das Nicolai-Viertel 75 1244 wurde ein schlichter Vorläufer-Holzbau ersetzt durch eine dreischiffig-kreuzförmige Basilika, deren Grundriss auf dem Boden des heutigen Backsteinbaus noch zu erkennen ist, der zwischen 1460 - 1480 auf dem ursprünglichen Feldsteinsockel errichtet wurde. Die Kirche wurde freilich im Weltkrieg fast vollständig zerstört. Erst nach 1980 wurde ihr Wiederaufbau angestrebt, aber die Nutzung war wiederum strittig. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden: die Kirche wurde zu einer Konzerthalle umgewidmet und beherbergte zudem eine Zweigstelle des Märkischen Museums. Außerdem wurde auch der Kapellentrakt wiederhergestellt und die Gruft zugänglich gemacht, in der bedeutende Berliner (wie u. a. die kurfürstlichen Kanzler Lampert und Christian Diestelmeyer oder der Philosoph und Jurist Samuel Frh. v. Pufendorf ) ihre letzte Ruhestätte fanden. Der Weg führt uns weiter über die Poststraße, in der viele hohe Regierungsbeamte und Militärs wohnten und in der die erste Apotheke, das ersteTheater und das erste Postgebäude Berlins standen, vorbei an der Gerichtslaube, die zur 750-Jahr-Feier 1987 wiederaufgebaut wurde, aber mit dem mittelalterlichen Gasthof kaum Ähnlichkeiten aufweist (immerhin soll das Dach als Zeichen für den einstigen Renaissance-Giebel dienen), vorbei auch am Knoblauchhaus (Poststr. 23) aus dem 18. Jahrhundert, das 170 Jahre lang im Besitz der bedeutenden Berliner Familie Knoblauch war (zu der auch der Architekt Eduard Knoblauch zählte, der u. a. die große Synagoge in der Oranienburger Straße oder die Russische Botschaft baute) und das als einziges Wohnhaus noch an seinem einstigen Ort steht (heute ein Teil des Stadtmuseums), bis hin zur “ schönsten Ecke Berlins ” , dem Ephraim-Palais, einem im Auftrag des jüdischen Bankiers Veitel Heine Ephraim 1762 - 1769 von dem Berliner Oberbaudirektor Friedrich Wilhelm Dieterich errichteten Rokoko-Palais, das unter Verwendung einiger Originalbauteile und der Kopie einer von Andreas Schlüter entworfenen Decke aus dem früheren Palais Wartenberg im ersten Stock um einige Meter nach Norden verschoben für das Stadt-Jubiläum 1987 fertiggestellt wurde. Abb. 50: Das Ephraim Palais im Nicolaiviertel einst und jetzt Ähnliche Palimpsest-Strukturen weisen auch andere Gebäude des pseudohistorischen Ensembles auf, z. B. das Wirtshaus Zum Nussbaum, das vor dem Krieg in Cölln stand und Heinrich Zilles Stammkneipe war; das heutige Haus ist eine Kopie, das man als pars-prototo-Zeichen für die zahllosen Alt-Berliner Lokalitäten nehmen kann, die heute verschwunden sind. Dasselbe gilt für den Gasthof Zur Rippe, benannt nach seinem Hauszeichen 76 Ansichten, Einsichten, Aussichten (das vor der Einführung von Hausnummern 1799 das Auffinden des Hauses erleichtern sollte), das wie das Ephraim-Palais 1935 abgerissen worden war, um dort Platz für das von den Nationalsozialisten geplante Gauforum und die Verbreiterung des Mühlendamms zu schaffen. Man kann froh darüber sein, dass, wenn der Ostberliner Magistrat schon die achtspurige Straße aus NS-Zeiten nicht zurückbauen mochte, man statt des Gauforums der Nazis immerhin die Kopie eines Alt-Berliner Lokals besuchen kann; leider wurde es 2019 geschlossen. Man könnte also über das Nicolaiviertel dieselbe Debatte führen wie heute über das Stadtschloss (in dessen Hof übrigens auch das Georg-Denkmal des Bildhauers August Kiss stand, das heute als beliebtes Photomotiv vor der Nicolai-Kirche steht), aber wenn die Schloss-Kopie von Bevölkerung und Fremdenverkehr so angenommen wird wie der simulierte historische Stadtkern, könnte sich die umstrittene Entscheidung für den Wiederaufbau am Ende doch noch als glückliche Fügung erweisen. Vielleicht hat man aus den desaströsen Fehlentscheidungen früherer Stadtplaner ja doch etwas gelernt? Die Pole der Debatte markieren zwei Beispiele, an denen sich bis heute die Gemüter erhitzen: der Alexanderplatz auf Rang vier im Ranking der beliebtesten Plätze Europas kann mit mancherlei Superlativen punkten; aber das Erbe der Hugenotten in Gestalt des Gendarmenmarktes kann mithalten, eine der teuersten Adressen der Stadt. 8.3 Der Alexanderplatz und das Erbe der Hugenotten Der Alexanderplatz im Bezirk Mitte gehört ebenfalls zum historischen Zentrum Berlins, im 17. und 18. Jahrhundert ein Markt- und Handelsplatz, später benannt nach dem russischen Zaren Alexander I anlässlich seines Besuches des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III im Jahre 1805. Mit dem Ausbau des Berliner Verkehrsnetzes in den Boom-Jahren der Gründerzeit gewann er jedoch erheblich an Bedeutung und erfuhr einschneidende bauliche Veränderungen: Hotels, Kaufhäuser, Behörden (Stadtgericht und Polizeipräsidium) säumten den Platz, überragt von einem neuen Wahrzeichen, der Berolina (eine kupferne Abb. 51: Berliner Alexanderplatz um 1900, Blick nach Westen Der Alexanderplatz und das Erbe der Hugenotten 77 Kolossalfigur, die jedoch im Weltkrieg II für die Kriegswirtschaft eingeschmolzen wurde). Der Architekt und Industriedesigner Peter Behrens wurde beauftragt, den Platz im Geiste der neuen Sachlichkeit umzugestalten und dabei den Erfordernissen der gestiegenen Mobilitätsansprüche gerecht zu werden. Die ehrgeizigen Pläne gerieten indes ins Stocken, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Die Investoren zogen sich zurück, den Rest besorgten die Bombenangriffe im April 1945. Nach dem Krieg wurden als erstes die beiden Behrens-Bauten (Berolina- und Alexanderhaus) wiederaufgebaut, später kamen klotzig-schmucklose Büro- und Geschäftshäuser dazu, ein Wolkenkratzer, der als Hotel diente, und ein Warenhaus (heute Kaufhof ). Die weite Leere in der Mitte wurde mit Betonplatten belegt, über die der Wind hinwegfegte. Wenn es das Ziel war, den Platz zu einen urbanen “ Zentrum der Begegnung ” zu machen, so wurde es durch die Stadtplanung gründlich konterkariert. Daran konnte auch die “ künstlerische Ausgestaltung ” des Platzes nicht mehr viel ändern, die stählerne Weltzeituhr des gelernten Bauschlossers Erich John und der von dem linientreuen “ Staatskünstler ” Walter Womacka geschaffene bunt-beleuchtete Brunnen der Völkerfreundschaft, den die respektlose Ostberliner vox populi alsbald “ Nuttenbrosche ” taufte. Das pulsierende Leben rund um Berlin Alexanderplatz, das Alfred Döblin 1929 in seinem Roman beschreibt, war einer sterilen Ödnis gewichen, in der sich niemand länger aufhalten mochte als nötig. Abb. 52: Berliner Alexanderplatz nach 1990 Nach der Wiedervereinigung legte der Architekt Hans Kollhoff kühne Pläne für eine komplette Neugestaltung des unwirtlichen Platzes vor, die mit einem Mix von Büroflächen und Wohneinheiten eine Re-Urbanisierung anstrebten, aber wegen der dabei vorgesehenen Hochhausgruppen umstritten waren. Stattdessen wurden ein Einkaufszentrum (Alexa) und der Saturnbau realisiert, die das urbane Leben auf die Geschäftsöffnungszeiten begrenzten. Neue Pläne sollen es nun richten. Die alten Kollhoff-Pläne werden wieder hervorgeholt, Wettbewerbe werden ausgeschrieben, Konzepte des Architekturbüros Kny & Weber orientieren sich am historischen Stadtgrundriss, aber für kleinteilige Quartiersstrukturen finden sich keine Investoren. Die Bürger demonstrieren derweil schon mal vorsorglich gegen die von Ihnen befürchtete Gentrifizierung. Die einen wollen bezahlbares Wohnen im 78 Ansichten, Einsichten, Aussichten Zentrum und neue Modelle des Zusammenlebens fördern, die anderen möchten in Luxuswohnungen investieren, die Rendite versprechen. Die Debatte dreht sich im Kreis und blockiert die Verständigung darüber, wie aus einem Verkehrsknotenpunkt wieder ein ‘ Platz ’ entstehen kann, der gesellschaftlichem Leben im Zentrum der Stadt jenen Raum gibt, in dem Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Begegnung in Cafés und Restaurants gleichzeitig stattfinden kann. Vielleicht können die Spuren der Hugenotten dabei als Orientierung dienen, denen der semiotisch sensibilisierte Flaneur auf Schritt und Tritt begegnet? Die nach dem von Louis XIV 1685 verfügten Edikt von Fontainebleau aus Frankreich vertriebenen Protestanten werden von Friedrich I mit dem Toleranzedikt von Potsdam noch im selben Jahr nach Preußen eingeladen. Mehr als 7000 von ihnen finden allein im Berliner Dorotheenviertel Obdach oder siedeln sich im Friedrichstadtviertel an und bringen nicht nur französisches savoir vivre mit, sondern auch intellektuelle und ökonomische Impulse. Das französische Gymnasium wird gegründet und gewinnt rasch an Renommee. Der Gendarmenmarkt nimmt Gestalt an, der Französische Dom wird nach dem Vorbild des Temple Charenton errichtet, die Académie des Sciences gegründet, der Französische Friedhof geweiht (cf. Fleury 2009). Für den frisch gekürten preußischen König wird Paris zum städtebaulichen Vorbild; er lässt das Berliner Schloss nach Plänen des römischen Barock-Architekten Gian Lorenzo Bernini umbauen, die er im Auftrag von Louis XIV für den Louvre entworfen hatte; er ergänzt seine Sommerresidenz (Schloss Charlottenburg) um eine Orangerie und beauftragt Jean de Bodt mit der Vollendung des noch von seinem Vater bei dem Pariser Hofarchitekten François Blondel in Auftrag gegebenen Zeughauses und mit dem (freilich nicht realisierten) Bau einer Kirche nach dem Modell des Dôme des Invalides; auch die Reiterstatue von Henri IV auf dem Pont-Neuf gefällt ihm sehr: so etwas will er auch haben und lässt eine ähnliche Skulptur, die seinen Vater (den Großen Kurfürsten) zu Pferde darstellt, auf der Langen Brücke (heute Rathausbrücke) aufstellen, die auf das Schloss zuführt (heute steht sie vor dem Schloss Charlottenburg). Sein Sohn Friedrich Wilhelm I (der Soldatenkönig) teilt den frankophilen Geschmack des Vaters und legt für das Training seiner Soldaten diverse Plätze ebenfalls nach Pariser Vorbild an: das Rondell (Mehringplatz) nach dem Modell der Place des Victoires, das Oktogon (Leipziger Platz) in Anlehnung an die Place Louis le Grand, und das Quarrée (Pariser Platz mit der Französischen Botschaft) ist der Place Royale (heute Place des Voges) nachempfunden. Der heutige Pariser Platz ist das historische Entrée zum Prachtboulevard Unter den Linden. Friedrich Wilhelm I ließ ihn 1734 bei der Erweiterung der Dorotheenstadt - die erste systematische und ab 1674 in orthogonalem Raster bebaute Stadterweiterung - durch Oberbaudirektor Philipp Gerlach von vornherein als ‘ Schmuckplatz ’ anlegen (cf. Welzbacher 2006: 120), der das Viertel mit prächtigen Palais nach Westen zum Tiergarten hin abschloss und mit einer funktionalen Toranlage (die später durch das von Carl Gotthard Langhans mit der Quadriga von Gottfried Schadow konzipierte Brandenburger Tor ersetzt wurde) den imposanten Eingang zur Stadt markierte, wo Staatsgäste mit militärischen Ehren und Glockengeläut empfangen wurden, eine architektonisch markante Referenz auf das französische Vorbild (cf. Schäche 1995: 520; Ziemssen 1888: 42). Hier wohnten wichtige Leute wie der Jurist und preußische Staatsminister Friedrich Karl von Savigny, der Der Alexanderplatz und das Erbe der Hugenotten 79 Komponist Giacomo Meyerbeer oder der Dramatiker August von Kotzebue, durch die sich der Platz “ mit Lebensart, Reichtum und Eleganz, Großbürgertum und einen Touch Bohème verband ” (cf. Nowel 2007: 136). Eines der Palais (am Pariser Platz 5) hatte im September 1860 der damalige französische Gesandte Prinz de La Tour d ’ Auvergne für die diplomatische Vertretung Frankreichs erworben; es wurde in der deutschen Hauptstadt schnell zu einer wichtigen Adresse nicht nur für den politischen Austausch, sondern auch für kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse (cf. Savoy 2004: 13). Mit dem Einmarsch Napoleons tritt indes schnell Ernüchterung ein, das Vorbild wird Konkurrent. Politisch dreht sich der Wind, der Platz wird am 15. September 1814 umbenannt und sollte als Pariser Platz nunmehr an den antinapoleonischen Befreiungskrieg und den siegreichen Einmarsch der alliierten Armeen in die französische Hauptstadt im März des Jahres erinnern (cf. Geiger, Hennecke & Kempf 2006: 74; Gärtner 1995: 281). An diesem Knotenpunkt begegnen sich die Berliner aus verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen. In seinem 1887 in der Vossischen Zeitung vorab publizierten Roman Irrungen, Wirrungen (als Buch im Jahr darauf erschienen) hat Theodor Fontane das zugleich portraitiert und problematisiert: im 7. Kapitel geht der Protagonist Baron Botho von Rienäcker von der Allee Unter den Linden herkommend auf das Brandenburger Tor zu, um sich die Zeit bis zu einem Treffen seinem Onkel zu vertreiben: Unter solchen Betrachtungen stand er eine Zeitlang vor dem Lepkeschen Schaufenster und ging dann, über den Pariser Platz hin, auf das Tor und die schräg links führende Tiergartenallee zu, bis er vor der Wolfschen Löwengruppe halt machte. Hier sah er nach der Uhr. »Halb eins. Also Zeit.« Und so wandte er sich wieder, um auf demselben Wege nach den Linden hin zurückzukehren. Vor dem Redernschen Palais sah er Leutnant von Wedell von den Gardedragonern auf sich zukommen (Fontane [1888] 1990: 351). In der Struktur des Romans kommt dieser Kurzbeschreibung des Pariser Platzes insofern eine zentrale Bedeutung zu, als sich der adlige (aber mittellose) Offizier hier gegen die nicht standesgemäße Beziehung mit seiner Geliebten, der hübschen Schneiderin Lene, und für seine gesellschaftlich privilegierte Sphäre entscheidet. Fontane ‘ verortet ’ damit nicht zufällig seine verhaltene Kritik an den sozialen Standesgrenzen und der moralischen Hypokrisie seiner Zeit an einem urbanen Schauplatz, der zugleich die wilhelminische Gesellschaft und ihren weltpolitischen Anspruch spiegelt. Wilhelm I orientiert sich in seinem städtebaulichen Anspruch antifranzösischen Aufwallungen zum Trotz weiterhin an Paris mit seinen von Baron Eugène Haussmann konzipierten “ stolzen Straßenzügen ” (Huret 1911: 28). Huret empfiehlt freilich umgekehrt den Parisern eher die Orientierung an James Hobrecht, der zwar auch breite Straßen plant, aber der eben auch die soziale Durchmischung der bis heute gültigen Blockrandbebauung im Auge hat. Wilhelm I will den Reichstag größer als das Palais Bourbon, den Berliner Dom höher als den Dôme des Invalides, den Kurfürstendamm prächtiger als die Champs-Elysées, die Museen reicher als den Louvre. Seither ist “ der Berliner als solcher ” im Ausland nicht mehr zu beeindrucken: “ Ham ’ wer ooch, nur jrößer ” . Die Folgen der Hybris wurden allseits gründlich durchlitten, umso wichtiger ist die Besinnung auf die ursprüngliche wechselseitige städtebauliche Vorbildfunktion, von der Berlin bis heute profitiert. 80 Ansichten, Einsichten, Aussichten Von der einstigen Pracht ist nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg nicht mehr viel geblieben, ein Seitenflügel der Preußischen Akademie der Künste und die Ruine des Hotels Adlon (cf. Zohlen 1999: 123), die stolze Bezeichnung ‘ Empfangssalon ’ wurde nun nicht mehr verwendet. In den zahlreichen baulichen Veränderungen des Platzes spiegelt sich emblematisch deutsche Geschichte, aber das Brandenburger Tor blieb eine gewisse Konstante in dem Ensemble, das auch nach der sog. Wiedervereinigung 1990 zunächst ein eher trostloses Bild bot. Die Erinnerung an die martialischen Grenzanlagen und die Brachen nach dem Mauerfall sollte zügig getilgt werden, aber die Debatte, wie der Platz nun städtebaulich wiederaufgebaut werden sollte, zog sich hin und beschäftigte gut fünf Jahre lang die renommiertesten Architekten aus verschiedenen Ländern, die darüber stritten, ob und wie ein “ Dialog von Alt und Neu, von Vergangenheit und Zukunft ” baulich umzusetzen sei (Schäche 1995: 521). Auf der Grundlage einer historischen Analyse der ursprünglichen Raumgestalt des Ortes erstellten schließlich die Gutachter Bruno Flierl und Walter Rolfes einen Entwurf für die zukünftige Gestaltung des Pariser Platzes, der an die Vorkriegsform des geschlossenen Stadtplatzes anknüpfen, aber mit zeitgenössischer Bebauung flankiert werden sollte. Darin suchten sie unter Beibehaltung der historischen Proportionen das ausgewogene Verhältnis von Platzformat und Traufhöhe zu wahren. Nach der Entscheidung des Deutschen Bundestages 1991, Berlin wieder zum Regierungssitz zu machen, zögerte die französische Regierung nicht lange und ließ die neue Botschaft nach den Plänen des französischen Architekten Christian de Portzamparc an derselben historischen Stelle wie vor der Zerstörung des Platzes errichten, wo sie am 23. Januar 2003 feierlich eröffnet wurde (cf. Savoy 2004: 13). Das architektonische Konzept mit seinen zum Platz hin offenen Glasfenstern verbindet elegante Modernität mit administrativer Funktionalität und passt sich harmonisch in das Gesamtkonzept des neu gestalteten Platzes ein. Ob er nun wieder zum ‘ Empfangssalon ’ der Stadt werden kann? Dass er Berliner wie Besucher in Scharen anzieht, mag ein gutes Zeichen sein. Der Alexanderplatz und das Erbe der Hugenotten 81