eJournals Kodikas/Code 42/1

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/516
2024
421

Leer-Zeichen - Die ‘Mauer’ im Gedächtnis der Literatur

516
2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
Statt eines Schlusswortes spürt das folgende Kapitel den Spuren einer Leerstelle nach, die das zentrale Wahrzeichen der europäischen Teilung und die ideologische Systemkonkurrenz zwischen Ost und West in Berlin hinterlassen hat: für fas eine Generation lang spaltete eine am 13. August 1961 errichtete und nur unter akuter Lebensgefahr überwindbaren Mauer die Stadt, aber auch nach deren ‘Fall’ am 9. November 1989, ihrem schnellen Verschwinden und nach einer weiteren Generation sind die Folgen der Teilung noch immer nicht gänzlich überwunden. Die Mauer mag städtebaulich getilgt worden sein, in den Köpfen der Menschen wirkt sie heute noch nach. Anhand von vier exemplarisch ausgewählten Werken – Zafer Şenocaks Gefährliche Verwandtschaft, Thomas Brussigs Sonnenallee, Inka Pareis Schattenboxerin und Katja Lange-Müllers Böse Schafe – wird der kontroverse Befund diskutiert, dass aller Euphorie über ‘die Wende’ zum Trotz die Verwandlung des Todesstreifens erst zur Brache und dann zur hektischen Füllung der Leere unter nicht wenigen Autoren als zeitdiagnostisch sensiblen Seismographen gesellschaftlicher Bruchstellen einen merkwürdigen Phantomschmerz ausgelöst hat, dessen politische Anamnese und Therapie noch aussteht.
kod4210082
9 Leer-Zeichen - Die ‘ Mauer ’ im Gedächtnis der Literatur Statt eines Schlusswortes Abstract: Instead of a conclusion, the following chapter traces a void left by the central landmark of European division and the ideological system competition between East and West in Berlin: for almost a generation, a wall erected on August 13, 1961 and only surmountable at acute risk to life divided the city, but even after its ‘ fall ’ on November 9, 1989, its rapid disappearance and after another generation, the consequences of division have still not been completely overcome. The Wall may have been erased in terms of urban planning, but it still has an effect on people ’ s minds today. On the basis of four selected works - Zafer Ş enocak ’ s Gefährliche Verwandtschaft, Thomas Brussig ’ s Sonnenallee, Inka Parei ’ s Schattenboxerin and Katja Lange-Müller ’ s Böse Schafe - the controversial findings are discussed that despite all the euphoria about ‘ the turnaround ’ , the transformation of the death strip first into a wasteland and then into the hectic filling of the void has triggered a strange phantom pain among not a few authors as timediagnostically sensitive seismographs of social ruptures, the political anamnesis and therapy of which is still pending. Zusammenfassung: Statt eines Schlusswortes spürt das folgende Kapitel den Spuren einer Leerstelle nach, die das zentrale Wahrzeichen der europäischen Teilung und die ideologische Systemkonkurrenz zwischen Ost und West in Berlin hinterlassen hat: für fast eine Generation lang spaltete eine am 13. August 1961 errichtete und nur unter akuter Lebensgefahr überwindbare Mauer die Stadt, aber auch nach deren ‘ Fall ’ am 9. November 1989, ihrem schnellen Verschwinden und nach einer weiteren Generation sind die Folgen der Teilung noch immer nicht gänzlich überwunden. Die Mauer mag städtebaulich getilgt worden sein, in den Köpfen der Menschen wirkt sie heute noch nach. Anhand von vier exemplarisch ausgewählten Werken - Zafer Ş enocaks Gefährliche Verwandtschaft, Thomas Brussigs Sonnenallee, Inka Pareis Schattenboxerin und Katja Lange-Müllers Böse Schafe - wird der kontroverse Befund diskutiert, dass aller Euphorie über ‘ die Wende ’ zum Trotz die Verwandlung des Todesstreifens erst zur Brache und dann zur hektischen Füllung der Leere unter nicht wenigen Autoren als zeitdiagnostisch sensiblen Seismographen gesellschaftlicher Bruchstellen einen merkwürdigen Phantomschmerz ausgelöst hat, dessen politische Anamnese und Therapie noch aussteht. Keywords: The Berlin Wall, shooting order, commemoration of the Wall ’ s victims, remembrance through memorials, remembrance in the medium of literature, East Side Gallery, Zafer Ş enocak ’ s “ Gefährliche Verwandtschaft ” , Thomas Brussig ’ s “ Sonnenallee ” , Inka Parei ’ s “ Schattenboxerin ” , Katja Lange-Müller ’ s “ Böse Schafe ” Schlüsselbegriffe: Die Berliner Mauer, Schießbefehl, Gedenken der Mauertoten, Erinnerung durch Mahnmale, Erinnerung im Medium der Literatur, East Side Gallery, Zafer Ş enocaks “ Gefährliche Verwandtschaft ” , Thomas Brussigs “ Sonnenallee ” , Inka Pareis “ Schattenboxerin ” , Katja Lange-Müllers “ Böse Schafe ” 9.1 Der Riss Über 28 Jahre lang (vom 13.08.1961 bis 09.11.1989) ging ein Riss mitten durch Berlin: ein Todesstreifen teilte die Stadt, eine Mauer trennte die Einwohner in hüben und drüben, und wer von Osten nach Westen wollte, musste gewärtigen, erschossen zu werden. 1961 wurde die Mauer errichtet, dreißig Jahre später war sie so gut wie verschwunden, weitere dreißig Jahre später sucht man nach ihren letzten Spuren, wenn es der vielen Toten zu gedenken gilt, die ihr Leben ließen beim verzweifelten Versuch, den “ antifaschistischen Schutzwall ” zu überwinden (so die zynische Bezeichnung des SED-Propagandachefs Horst Sindermann für die “ Grenzbefestigungsanlage ” , mit der die DDR ihre Bürger an der Flucht zu hindern suchte). Nach wie vor gilt die Mauer als Symbol der deutschen Teilung, auch wenn nur noch drei kurze Fragmente davon am Originalstandort erhalten sind (cf. Schulte 2011). Tatsächlich wollte man in der ersten Euphorie mit der Teilung zunächst rasch auch deren Spuren tilgen, es galt, zügig eine klaffende Lücke zu schließen, eine Wunde zu heilen, die so viele Opfer gefordert hatte. Der breite Grenzstreifen wurde zur riesigen Brache, die reichlich Raum bot für Ideen zu ihrer Bebauung, Nutzung und Entwicklung. Nicht alle Pläne können im Rückblick als gelungen gelten, manche Projekte hätte man vielleicht lieber so nicht umgesetzt, und mit zunehmendem zeitlichen Abstand wurde auch die Forderung lauter, Teile der Mauer zu erhalten, um sie nicht dem Vergessen anheimzugeben, sondern für spätere Generationen zur Mahnung und Erinnerung bestehen zu lassen. Endlose Debatten entzündeten sich an der Frage einer angemessenen Form des Gedenkens, eine Senatskommission sollte schließlich ein Konzept dafür entwickeln, Gedenkstätten wurden Abb. 53: Gedenktafel Maueropfer Ebertstraße nahe Reichstag, Berlin Tiergarten Der Riss 83 eingerichtet, Ausstellungen eröffnet, Dokumentationen erstellt, Führungen veranstaltet, Vereine gegründet, Kreuze errichtet, Bücher geschrieben, die inzwischen Bibliotheken füllen. Ein Mauerweg zeichnet als Rad- und Fußweg den 160 km langen Grenzverlauf rund um die einstige Enklave ‘ Westberlin ’ nach und zieht viele Besucher an, die mit Infostelen und Texten in mehreren Sprachen über die deutsche Teilung informiert werden. Zahlreiche Mahnmale erinnern an die an der Grenze erschossenen Flüchtlinge (Abb. 53). Auch 30 Jahre nach ihrem ‘ Fall ’ sorgt die Mauer noch immer für Diskussionen in der Stadt. Immer wenn irgendwo ein Bauherr Mauerreste entfernen lässt, um an der Stelle Wohn- oder Geschäftshäuser zu bauen, muss er mit Protesten rechnen. So erregte es international Aufsehen, als im März 2013 Tausende gegen den Teilabriss der inzwischen weltberühmten East Side Gallery demonstrierten, jene mit Graffiti bemalte Mauerzeile, die nach dem Willen eines geschichtsvergessenen Investors am Ufer der Spree einem Hochhaus mit Hotel und Luxuswohnungen weichen sollte (Rogalla 2013). Man hat dann irgendwann einen Kompromiss gefunden, um sowohl den Interessen des Investors als auch denen der Berliner am Erhalt dieses einzigartigen Dokuments der deutschen Teilung gerecht zu werden. Bis heute wirken die Ensembles von Mauerresten, Mauerweg und Mahnmalen als Symbol der Hoffnung auf eine Überwindung des Kalten Krieges, eine Hoffnung, die angesichts der politischen Systemkonkurrenzen gerade wieder zu schwinden droht, aber auch wachzuhalten ist als Zeichen der gebotenen Erinnerung an eine Epoche, die so viele Familien entzweite und unendliches Leid über zahllose Menschen brachte. In Zeiten neuer DDR-Nostalgien und Versuche der Verharmlosung eines menschenverachtenden Regimes kann auch bei wachsendem zeitlichen Abstand gar nicht nachdrücklich daran erinnert werden, zumal wenn die baulichen Zeichen der ideologischen Spaltung der Stadt in antagonistische Räume überschrieben werden durch neue Bedeutungen, sei es in der Umfunktionierung des Mauerrests zur Kunstkulisse wie im Falle der East Side Gallery, sei es Abb. 54: Berlin mit und ohne Mauer, ein Fotovergleich der Berliner Morgenpost v. 06.08.2021 84 Leer-Zeichen - Die ‘ Mauer ’ im Gedächtnis der Literatur in der Neubebilderung historischer Entzweiung durch das musealisierende Zitat preußischer Einheit. Die Ambivalenz dieser Entwicklung verdichtet sich in der Frage Aleida Assmanns, wie viel in Berlin von der geteilten Stadt erhalten und damit in der Erinnerung der Bevölkerung überhaupt präsent bleiben soll: Durch Selektion bestimmter Epochen, die durch plakative Leitbilder vermittelt werden, entstehen auf dem Wege der Rekonstruktion neue museale Zonen zeitlicher Homogenität, die die gewachsene Heterogenität der Stadt in eine immer einheitlichere historische Kulisse verwandeln. Architektonische Rekonstruktionen dürfen nicht dazu führen, dass auf Kosten anderer Zeitschichten (wie der DDR) ein harmonisiertes preußisches Epochenbild geschaffen wird (Assmann 2009: 26). 9.2 Zafer Ş enocaks Gefährliche Verwandtschaft und Thomas Brussigs Sonnenallee “ Wie es wirklich war ” , das lehrt paradoxerweise am genauesten die Fiktion. Die Mauer mag verschwinden, die Erinnerung daran verblassen, im Medium der Literatur bleibt sie ‘ aufgehoben ’ . Die Menschen in Berlin würden sich nicht lange mit den “ alten Geschichten ” aufhalten, sie lebten mit dem Blick nach vorn, meint der Protagonist Sascha Muhteschem in Zafer Ş enocaks Gefährliche Verwandtschaft, so werde “ auch die Mauer bald vergessen sein ” ( Ş enocak 1998: 71). Ihr unverhofftes Verschwinden führt zu ambivalenten Empfindungen, einerseits bietet der neue freie Raum auch neue ‘ Freiräume ’ in des Wortes schönem Doppelsinn, andererseits fehlt etwas, woran man sich gewöhnt, womit man sich arrangiert hatte: Für eine Stadt, deren Mitte komplett neu gestaltet wird, bricht eine neue Zeit an. Menschen stellen sich immer gegen Zeitenwechsel. Sie haben dabei das Gefühl, als würde ihnen der Boden unter den Füßen entgleiten. Bei einem Zeitenwechsel wird man entweder neu geboren oder hat das Gefühl, dass die eigene Zeit abgelaufen ist. Ein tiefer Riss geht durch die Gesellschaft ( Ş enocak 1998: 70). Die Diagnose erweist sich heute angesichts der Erfolge populistischer Bewegungen und reaktionärer Parteien im Osten als aktueller denn je. Wie schnell war der Jubel vom 9. November 1989 verstummt, das Hochgefühl verflogen, ein vereintes Deutschland war geboren, aber “ die Zahl derer, die sich die Mauer zurückwünschten, stieg von Tag zu Tag ” ( Ş enocak 1998: 33) - aus je unterschiedlichen Gründen übrigens in den linken Milieus des Westens ( “ Preußens Gloria! ” ) und den neurechten Resten der SED-Kader im Osten (Schutz und Schirm der Partei). Die “ Schutzhaut ” , die vor dem Unbekannten schützte, war plötzlich abgefallen, eine neue Identität noch nicht gefunden: Identität ist zum Ersatzbegriff für Geborgenheit geworden. Es war als hätte der Fall der Mauer, der Zusammenbruch der alten Ordnung, nicht nur eine befreiende Funktion gehabt. Ohne Mauer fühlte man sich nicht mehr geborgen ( Ş enocak 1998: 47). Ob dieses Gefühl des Unbehaustseins in der unversehens entgrenzten Weite der Welt die Menschen nach neuer Zugehörigkeit suchen ließ? Nach heimeliger Wir-Nähe im zugigen Raum neuer Unübersichtlichkeiten? Nach deutsch-nationaler Identität als schützendem Kokon gegenüber ‘ fremden ’ Menschen und Mächten? Für Yasemin Day ı o ğ lu-Yücel scheint der Wegfall einer physischen Grenze eher die Sehnsucht nach einer psychischen genährt zu haben: Zafer Ş enocaks Gefährliche Verwandtschaft und Thomas Brussigs Sonnenallee 85 Obwohl die Mauer eigentliche Komplexität im Sinne von kultureller Vielfalt und Austausch zwischen ‘ Ost ’ und ‘ West ’ unterminierte und die Öffnung dieser Grenze eben diese Vielfalt im Sinne einer multikulturellen, multikonfessionellen und multipolitischen Gesellschaft begünstigt hätte, geschieht - folgt man der Gefährlichen Verwandtschaft und auch den Debatten um verstärkten Nationalismus nach 1989/ 90 - das genaue Gegenteil (Day ı o ğ lu-Yücel 2005: 94). Für Sascha Muhteschem, der den Mauerfall ‘ verpasst ’ hat, weil er zu der Zeit im Ausland lebt, wird die neue Lage jedenfalls zum Impuls, sich seiner komplexen Identität neu zu versichern, indem er seiner Herkunft nachspürt und die neue Offenheit auch als Befreiung anzunehmen lernt. Von der Sonnenallee im Berliner Bezirk Neukölln war im Zusammenhang mit signifikanten ‘ Sprachlandschaften ’ bereits kurz die Rede (s. o. Kap. 3, Abb. 14), sie gilt heute als die “ arabische Straße ” Berlins schlechthin, in der nach der Schätzung der ehemaligen Neuköllner (und neuen Berliner) Bürgermeisterin Franziska Giffey über 90 % aller Geschäfte in arabischer Hand sind (Küpper 2016). In den Nachrichten kommt die Straße vornehmlich als ‘ Problem ’ ins Bild, wenn wieder einmal jüdische Menschen attackiert wurden oder Verkehrsrowdys Passanten erschrecken oder die kriminellen Großfamilien der berüchtigten Berliner Clans gewaltsam ihre Revieransprüche geltend machen (cf. Sundermeier 2016). Ihren heutigen Namen erhielt die anlässlich des Todes von Kaiser Friedrich III nach ihm benannte 1920 Straße bei der Eingliederung der Gemeinde Rixdorf in die Stadt Berlin. Kaum kamen die Nationalsozialisten an die Macht, wurde die inzwischen ausgebaute Sonnenallee nach dem Geburtsort Adolf Hitlers in Braunauer Straße umbenannt, viele der jüdischen Anwohner wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nach dem Krieg bekam sie schnell wieder ihren früheren Namen (cf. Hildebrandt 2020). Kaum etwas erinnert hier mehr daran, dass diese einstige Flaniermeile dann ab 1961 geteilt war in ein westliches und östliches Stück, getrennt durch Mauer und Todesstreifen. Eine Reihe mit ein paar Pflastersteinen, eine kleine in den Boden eingelassene Tafel, zwei Fernrohre als Zeichen für die einst allgegenwärtige Überwachung durch die Grenzpolizisten der DDR. Das war ’ s. Nach markanteren Spuren der Teilung sucht der Flaneur vergebens. Die findet er stattdessen zuhauf in Literatur und Film. Der Regisseur Leander Haußmann drehte 1999 eine lockere Komödie mit dem Titel Sonnenallee über eine im Schatten der Mauer lebende Clique Ostberliner Jugendlicher, zu der er mit Thomas Brussig und Detlev Buck auch das Drehbuch schrieb. Brussig erweiterte das Skript zu einem Roman, den er noch im selben Jahr unter dem Titel Am kürzeren Ende der Sonnenallee im Verlag Volk und Welt herausbrachte. Thomas Jung liest den aufgrund seiner nostalgischen Verklärung der DDR-Realität nicht unumstrittenen Roman als Gedächtnisort der Zeitenwende: Abseits von den innerstädtischen Zentren der Macht gelegen, gilt die Sonnenallee weniger in der Topografie der Großstadt als ein Erinnerungsort an die deutsche Teilung als vielmehr in der durch den Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee [. . .] geschaffenen kollektiven Erinnerung an die späten Jahre und den schließlichen Untergang der DDR. Die Rede von der Sonnenallee - die vielmehr das literarische [. . .] Abbild eines fiktiven Ortes in der grenznahen ostdeutschen Provinz als den realen Grenzübergang evoziert - hat einen über den spezifischen Ort hinaus gültigen Erinnerungsraum geschaffen ( Jung 2006: 276). 86 Leer-Zeichen - Die ‘ Mauer ’ im Gedächtnis der Literatur Die Wirklichkeit des Lebens im Schatten der Mauer gerät in diesem harmlosen, vielleicht auch verharmlosenden Mikrokosmos der “ scheinbar idyllischen Enklave ” kaum in den Blick (Dubrowska 2010: 335); die jungen Leute blenden Schießbefehl und Todesstreifen aus ihrem Alltag aus: “ Wenn in aller Heimlichkeit die Mauer geöffnet worden wäre, hätten die, die dort wohnten, es als allerletzte bemerkt ” (Brussig 1999: 137), behauptet der auktoriale Erzähler, was eine wohl doch allzu arglose Sicht der Lage suggeriert. Seine Jugendlichen machen sich lustig über die westlichen Besucher einer Aussichtsplattform, die mit leichtem Grusel einen halb spöttischen, halb mitleidigen Blick über die Mauer auf die “ Zonis ” werfen, die sich ihrerseits einen Spaß daraus machen, den Westlern eine Show zu bieten, um deren Ressentiments zu entlarven. Sobald sich ein Bus mit westlichen Touristen nähert, “ rannten Mario und Micha auf den Bus zu, streckten die Hände bettelnd vor, rissen die Augen auf und riefen: ‘ Hunger! Hunger! ’” (Brussig 1999: 42). Die schockierten Besucher photographieren solche Szenen, was sogleich von der Westpresse aufgegriffen wird, die sich scheinheilig über die “ Not im Osten ” sorgt. Die Jungen stellen weder die Existenz noch den Zweck der Mauer in Frage, sie ist einfach da, nur im Alltag gelegentlich etwas lästig wegen der ständigen Ausweiskontrollen, die sie als Bewohner des Grenzgebiets über sich ergehen lassen müssen. Nur einmal scheint die von ihr ausgehende Gefahr kurz auf, als Michael und sein Freund Wuschel einen leider auf den Todesstreifen gewehten vermeintlichen Liebesbrief mit einem Staubsauger zu bergen versuchen. Die Grenzwächter eröffnen sofort das Feuer auf Wuschel, den nur eine unter seiner Jacke verborgene Schallplatte der Rolling Stones rettet, welche die für ihn bestimmte Gewehrkugel ablenkt. Das reale Grauen wird hier als Slapstick inszeniert, aber weiter nicht thematisiert, geschweige problematisiert. Nur Marios Freundin, die sich für den Existenzialismus interessiert, wagt einmal Kritik und erlaubt sich die träumerische Phantasie, dass die Mauer dereinst verschwinden werde, was freilich für Mario “ ungeheuerlich ” ist: “ das überstieg alles Vorstellbare ” (Brussig 1999: 76). Auch hier also, ähnlich wie bei Ş enocak, eine eher unkritische Affirmation bestehender Verhältnisse, in deren überschaubarer Enge man sich eingerichtet und es sich gemütlich gemacht hat, eine teils konservativ regressive, teils nostalgisch verklärende Haltung, die vielleicht nicht den beiden Autoren anzulasten ist, aber die auch dreißig Jahre nach der Wende bei vielen, die im Osten oft eher zu den Profiteuren des autoritären Systems gehörten, noch immer verbreitet scheint und sich etwa im zunehmend demokratieskeptischen Wählervotum für populistische und rechtsreaktionäre Parteien niederschlägt. 9.3 Inka Pareis Schattenboxerin und Katja Lange-Müllers Böse Schafe Im selben Jahr wie Brussigs Sonnenallee erscheint auch Inka Pareis schnell erfolgreiches Debüt Die Schattenboxerin, der als ‘ Berlin-Roman ’ von der Kritik überwiegend wohlwollend aufgenommen wird und in dem die Teilung der Stadt ebenfalls ein zentrales Motiv ist, auch wenn die Mauer selbst zwar nur indirekt thematisiert, aber doch zum Schauplatz einer individuellen Gewalterfahrung der Ich-Erzählerin wird. Eine Brache im Grenzgebiet am Görlitzer Bahnhof wird hier zur trostlosen Kulisse einer Vergewaltigung, die das Opfer so traumatisiert, dass sie sich von der Außenwelt abschottet: Inka Pareis Schattenboxerin und Katja Lange-Müllers Böse Schafe 87 An manchen Tagen scheint mein Leben von der Zimmertür bis zur Balkonbrüstung zu reichen, an anderen nur bis zu den Kanten der Matratze. Hin und wieder endet es an der Stelle, wo mein Körper das Ende seiner physischen Ausdehnung erreicht hat. Ich ahne, dass es vielleicht möglich wäre, sich noch weiter zu minimieren, nach innen hinein, aber an diesem Punkt überfällt mich Angst, und ich stehe auf (Parei 1999: 113). In der Kritik wurde eine Parallele gezogen zwischen der Verletzung des urbanen Raums durch die Mauer, die brutal eine Schneise durch seine Mitte schlägt, und der des Körpers der Protagonistin durch die physische Gewalt, die ihr widerfuhr. Umgekehrt deutet Dörte Bischoff (2005: 125) vielmehr den Fall der Mauer als Verletzung des zuvor als intakt gedachten status quo - nun ja, immerhin wird die Parallelisierung von Körper und urbanem Raum in beiden Perspektiven bemüht. Etwas bemüht scheint mir auch ihr Versuch, die Angst vor der Vergewaltigung insofern zugleich metaphorisch auf den ‘ Schutzwall ’ zu beziehen als “ zumindest ihr Ost-, in gewisser Weise aber auch der Westteil, durch die Mauer vor dem Eindringen des Anderen, Fremden, Bedrohlichen geschützt werden sollte ” (Bischoff 2005: 126). Gemeinsam ist dabei der Protagonistin wie der Stadt ihre Isolation, mit der sich die eine vor der Außenwelt verschließt und die andere sich als Ostteil vom Westteil abkapselt, der seinerseits als vom Westen Deutschlands abgeschnittene Enklave am Tropf der ehedem ‘ rheinischen Republik ’ hängt. Ihre selbstgewählte Isolation überwindet die Protagonistin erst nach der Wende durch ihren Umzug in den Ostteil der Stadt. Die neue Nachbarin ihrer Wohnung wirkt schon rein äußerlich wie eine Doppelgängerin der Ich-Erzählerin. ‘ Hell ’ und ‘ Dunkel ’ , wie die beiden Figuren ein wenig plakativ genannt werden, sind die letzten Mieter eines ehemals jüdischen Hauses, einander ähnlich und doch fremd wie die gegenüberliegenden Wohnungen, die als Metapher für die beiden Teile der Stadt verstanden werden können. Dass ‘ Hell ’ und ‘ Dunkel ’ am Ende zusammenziehen, wurde als Auflösung der Spaltung gelesen, als Verschmelzung zweier Figuren, als Vereinigung zweier (Stadt-)Teile zu einem Ganzen (cf. Meise 2005: 135). Vielleicht eine etwas zu versöhnliche Lesart angesichts fortdauernder, immer wieder auflebender Spannungen und der immer noch offenen Frage, wann endlich hier “ zusammenwächst, was zusammengehört ” , wie Willy Brandt einst hoffte. Auch in Katja Lange-Müllers schmalem Berlin-Roman Böse Schafe stehen zwei Protagonisten für die geteilte Stadt, sie liegen “ nicht Seite an Seite, dennoch Kopf an Kopf ” auf verschiedenen Matratzen, die Ich-Erzählerin Soja, die aus Ost-Berlin geflohen ist, und Harry, der West-Berliner, beide gelernte Schriftsetzer, beide mit dem Nachnamen Krüger, beide einer Sucht verfallen (im Westen mit Heroin, im Osten mit Alkohol und Nikotin assoziiert), beide mit der Erfahrung der Unfreiheit, sei ’ s im Gefängnis wie Harry, Junkie und HIV-positiv, sei ’ s eingemauert in einem Land, aus dem es nur schwer ein Entrinnen gab. Einander fern durch getrennte Entwicklung und dennoch ein Paar: Zwischen deiner und meiner Kindheit, Pubertät, Jugend [standen] außer etlichen Ruinen, Häusern, Bäumen, Sträuchern, Grasnarben noch Mauer, Panzersperren und nervös, nach Orden, Prämie, Sonderurlaub gierende Grenzer, die mit dafür gesorgt hatten, dass uns mehr unterschied als bloß das Geschlecht (Lange-Müller 2009: 28). Als die Mauer fällt, liegt Harry als Aids-Kranker in der Klinik, Sonja flieht erneut in die Fremde, weil sie sich fremd fühlt im neuen Berlin. Kaum dass das ummauerte Westberlin 88 Leer-Zeichen - Die ‘ Mauer ’ im Gedächtnis der Literatur dank Harry ihr Zuhause hätte werden können, löst es sich auf, der schöne Harry verfällt, sie bleibt allein, ungeschützt, und geht fort, “ [. . .] weil ich nicht zu Hause sein wollte, wenn sich beides auflöste, mein Ost- und unser Westberlin, hatte befürchtet, dass ich mich ebenso auflösen und womöglich verschwinden würde ” (Lange-Müller 2009: 198). Die hier ausgewählten literarischen Texte scheinen eine Leerstelle zu spüren, wo eine Mauer einst vermeintlich Sicherheit bot, fast ist es, als vermissten die Autoren etwas, als sehnten sie sich zurück in die Zeit der Übersichtlichkeit des Gewohnten und weiter nicht Hinterfragten, als fürchteten sie die neue Offenheit, als irritierte sie das Fremde der plötzlichen Veränderung, als misstrauten sie den Fremden, die aus aller Welt in die Stadt strömen und das berlinisch grau Vertraute kosmopolitisch bunt werden lassen. Dies erscheint als ein ebenso bemerkenswerter wie merkwürdiger Befund in einer sich politisch als eher links-alternativ definierenden Berliner Literaturszene, die bewahren zu wollen scheint, was endlich überwunden werden konnte: die Mauer, die ein Ganzes zerschnitt in einander zunehmend entfremdete Teile. Inka Pareis Schattenboxerin und Katja Lange-Müllers Böse Schafe 89