eJournals Kodikas/Code 42/2-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
826
2024
422-4

Holocaustvergleiche auf X/Twitter

826
2024
Daniel Miehling
Victor Tschiskale
Günther Jikeli
The word “Juden” and references to the Nazi regime are potent symbols in German culture with great emotional weight, due to the historical persecution of Jews. They are signs that signify a complex network of meanings related to prejudice, guilt, persecution, and suffering and can be used and misused in many ways. This paper analyzes trends in online antisemitism on German-language X/Twitter from 2019 to 2021, focusing on comparisons and references to the Nazi regime. It is based on an analysis of all tweets containing the word “Juden” during this period. We identified more than 2,400 tweets with Nazi comparisons using semi-automated methods. Our study identifies themes of Holocaust comparisons in online discourse and reveals an increase in Nazi comparisons during the pandemic, including comparisons of the situation of some of today’s (alleged) victim groups, such as Covid-skeptics, AfD supporters, and Muslims, with the situation of Jews during the Nazi regime. Other inappropriate comparisons are made between the Nazi regime and (alleged) perpetrators today, such as the national government imposing measures to contain the pandemic. Unlike Holocaust denial, Holocaust comparisons are based on acknowledging the existence of the Holocaust, but references to the Holocaust are most often used to distort and diminish it.
kod422-40133
K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Holocaustvergleiche auf X/ Twitter Assoziationen deutschsprachiger User zu Juden und der Shoah Daniel Miehling (TU Berlin), Victor Tschiskale (TU Berlin), Günther Jikeli (Bloomington, Indiana) Abstract: The word “ Juden ” and references to the Nazi regime are potent symbols in German culture with great emotional weight, due to the historical persecution of Jews. They are signs that signify a complex network of meanings related to prejudice, guilt, persecution, and suffering and can be used and misused in many ways. This paper analyzes trends in online antisemitism on German-language X/ Twitter from 2019 to 2021, focusing on comparisons and references to the Nazi regime. It is based on an analysis of all tweets containing the word “ Juden ” during this period. We identified more than 2,400 tweets with Nazi comparisons using semi-automated methods. Our study identifies themes of Holocaust comparisons in online discourse and reveals an increase in Nazi comparisons during the pandemic, including comparisons of the situation of some of today ’ s (alleged) victim groups, such as Covid-skeptics, AfD supporters, and Muslims, with the situation of Jews during the Nazi regime. Other inappropriate comparisons are made between the Nazi regime and (alleged) perpetrators today, such as the national government imposing measures to contain the pandemic. Unlike Holocaust denial, Holocaust comparisons are based on acknowledging the existence of the Holocaust, but references to the Holocaust are most often used to distort and diminish it. Keywords: Holocaust, Shoah, Covid, AfD, “ Neue Juden ” , X, Twitter, Social Media Zusammenfassung: Das Wort “ Juden ” und Verweise auf das NS-Regime sind in der deutschen Kultur starke Symbole, die aufgrund der historischen Verfolgung der Juden ein großes emotionales Gewicht besitzen. Es sind Zeichen, die ein komplexes Bedeutungsgeflecht von Vorurteilen, Schuld, Verfolgung und Leid darstellen und auf vielfältige Weise genutzt und missbraucht werden können. Dieser Beitrag analysiert die Entwicklung des Online-Antisemitismus auf dem deutschsprachigen X/ Twitter von 2019 bis 2021 und konzentriert sich dabei auf Vergleiche und Bezüge zum NS-Regime. Er basiert auf einer Analyse aller Tweets, die das Wort “ Juden ” in diesem Zeitraum enthalten. Mit halbautomatisierten Methoden wurden mehr als 2.400 Tweets mit Holocaust-Vergleichen identifiziert. Die Studie untersucht Themen von Holocaust-Vergleichen im Online-Diskurs und zeigt eine Zunahme von Vergleichen mit dem Nationalsozialismus während der Pandemie, einschließlich Vergleichen der Situation einiger heutiger (vermeintlicher) Opfergruppen wie Covid-Skeptiker, AfD-Anhänger und Muslime mit der Situation der Juden während des Nationalsozialismus. Weitere unangemessene Vergleiche werden zwischen dem NS-Regime und (vermeintlichen) Tätern von heute gezogen, wie z. B. die von der Bundesregierung verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Im Gegensatz zur Holocaust-Leugnung basieren Holocaust-Vergleiche zwar auf der Anerkennung der Existenz des Holocaust, doch wird der Verweis auf den Holocaust häufig dazu verwendet, den Holocaust zu verzerren und zu verharmlosen. Schlüsselbegriffe: Holocaust, Shoah, Covid, AfD, “ Neue Juden ” , X, Twitter, Soziale Medien 1 Holocaustvergleiche - Wozu? Seit etwa drei Jahren verfolgen wir Diskurse über Juden 1 auf X/ Twitter. In unserem fortlaufenden Forschungsprojekt zu Antisemitismus in sozialen Medien an der Indiana University analysieren wir repräsentative Stichproben von Twitter-Nachrichten, die Rückschlüsse auf Diskurse über Juden und Israel zulassen. Uns ist aufgefallen, dass, wenn über Juden gesprochen wird, die Shoah oft auf die eine oder andere Weise thematisiert wird. Das kann anlässlich eines Gedenktages sein, etwa in einem Beitrag, der an die Opfer der Shoah erinnert, aber auch in Vergleichen aktueller Ereignisse mit der Shoah oder sogar in offen antisemitischen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus. Das Wort “ Juden ” und Verweise auf das NS-Regime sind aufgrund der Geschichte der Verfolgung und des Massenmords an Juden in Deutschland starke Symbole in der deutschen Kultur. Sie haben ein großes emotionales und kulturelles Gewicht. Wenn diese Symbole in Tweets verwendet werden, sind sie nicht einfach nur Worte, sondern Zeichen, die ein komplexes Netzwerk von Bedeutungen im Zusammenhang mit Vorurteilen, Schuld, Verfolgung, Diskriminierung und Leid darstellen und auf vielfältige Weise verwendet und missbraucht werden können. NS-Vergleiche, auch über das Wort “ Juden ” als Symbol, haben vielfältige Funktionen, die von der Veranschaulichung abstrakter Phänomene über die Erzeugung von Empörung und Aufmerksamkeit zugunsten von Einzelpersonen, Gruppen und politischen Organisationen bis hin zur Leugnung der Shoah reichen. Wir wollten dieses Phänomen empirisch näher untersuchen. Wenn in Online-Diskursen NS-Vergleiche oder antisemitische Bezüge hergestellt werden, stellt sich die Frage, bei welchen Themen diese Äußerungen gehäuft auftreten und wie solche Vergleiche sprachlich realisiert werden. Wir knüpfen an die Arbeit von Linda Giesel zu antisemitischen NS-Vergleichen und NS- Metaphern in E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ) und die Israelische Botschaft in Deutschland (IBD) an. Sie untersuchte 945 solcher Texte, die zwischen 2002 und 2008 an den ZdJ und zwischen 2003 und 2014 an die IBD geschickt wurden. Sie stellte fest, dass solche Metaphern und Vergleiche “ in erster Linie als Stigmatisierungen und Diffamierungen jüdischer und/ oder israelischer Personen, Institutionen oder des Staates 1 An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass im nachfolgenden Text alle Geschlechtsidentitäten inkludiert sind, aber aus Gründen der Barrierefreiheit, insbesondere im Hinblick auf nicht muttersprachliche Leser*innen, im Fließtext ausgespart bleiben. 134 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Israel fungieren ” und beobachtete eine Täter-Opfer-Umkehr, die sie als eine Form der Schuldabwehr und Erinnerungsabwehr nach 1945 interpretierte (Giesel 2019: 298). Findet sich Vergleichbares im sozialen Medium Twitter? Und wenn ja, in welchem Kontext? Anfang Februar 2023 war auf der Twitter-Seite der Alternative für Deutschland (AfD)- Fraktion der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin zu lesen: 2 (1) “ Die Nazis haben die Juden ausgerottet, die Grünen die Deutschen! Sie nennen es Vielfalt! ” Damit kommentierte die Fraktion einen Tweet der AfD-NRW, der sich seinerseits wiederum auf das Zitat der Grünen-Politikerin Bettina Jarasch bezog: (2) “ Die nächste Berliner Generation hat überwiegend Migrationshintergrund. Daran sollten sich alle mal gewöhnen ” . Der Kommentar der lokalen AfD-Fraktion wurde mittlerweile gelöscht. Dennoch stellt sich die Frage, was Menschen dazu bewegt, solche offensichtlich abwegigen, die Shoah verharmlosenden Vergleiche zu ziehen. Und wie verbreitet sind solche Vergleiche und Bezüge? Komplizierter ist ein anderes Beispiel. Yossi Bartal, ein in Berlin lebender Israeli mit mehr als 11.000 Follower auf Twitter, kommentierte eine Kritik des Bild-Korrespondenten Björn Stritzel mit den Worten: (3) “ Springer-Autoren sind die neuen Juden! ” Stritzel hatte seinerseits einen aggressiven Kommentar von Stephan Anpalagan gegen Wohnungseigentümer mit dem Gerede eines “ ordinäre[n] Nazi[s] ” gleichgesetzt. 3 Die Gleichsetzung von Springer-Autoren mit Juden im Nationalsozialismus ist hier eher als Ironie zu werten, die mittels dieser rhetorischen Überspitzung die zuvor von Stritzel vorgenommene NS-Analogie anprangert - unter Inkaufnahme einer Verharmlosung des Holocaust. Auffällig ist jedenfalls, dass in den Online-Kommentaren, in denen von Juden die Rede ist, häufig Holocaust-Bezüge hergestellt werden, und dass ein Teil dieser Bezüge nicht historisch ist, sondern sich auf Vergleiche in der Gegenwart bezieht. Der Holocaust dient dabei als häufig in Bezug gesetzte Relationsbasis, mit der die Verfasser beispielsweise die Ereignisse während der Corona-Pandemie überspitzt kritisieren oder sich selbst als “ Opfer der Gegenwart ” darstellen. Die vorliegende Studie stellt einen ersten Ansatz dar, das quantitative Ausmaß von NS-Vergleichen auf Twitter im Längsschnitt zu erfassen sowie die in aktuellen Online-Diskursen verwendeten sprachlichen Mittel zu veranschaulichen und die darin wiederkehrenden Themen und Erscheinungsformen aufzuzeigen, mit denen NS- Vergleiche im Spannungsverhältnis von Universellem und Partikularem realisiert werden. Giesel stellt fest, dass NS-Vergleiche einen besonderen Typus des Vergleichs darstellen, der zwar strukturelle und sprachliche Äquivalenz zu typischen Vergleichen aufweist, sich aber funktionell deutlich davon unterscheidet (Giesel 2019: 298). Von zentraler Bedeutung ist, dass bei NS-Vergleichen Analogiebeziehungen zwischen Konzepten aus verschiedenen Wirklichkeitsdomänen hergestellt werden (Giesel 2019: 125; vgl. Thurmair 2001: 74). NS- 2 Quelle: https: / / www.berliner-register.de/ vorfall/ 6b0226d5-f5a6-4ca1-9c30-eb51bf597d86/ , zuletzt geprüft am 31.12.2023 3 https: / / twitter.com/ bjoernstritzel/ status/ 1302929430898147328, zuletzt geprüft 31.12.2023 Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 135 Vergleiche werden oft nicht explizit kommuniziert und stattdessen indirekt über Anspielungen (vgl. Pérennec 2008: 4) oder rhetorische Fragen hergestellt (vgl. Meibauer 2008: 109). Des Weiteren erschließen sich NS-Vergleiche oftmals nur aus konzeptuellen Bezugspunkten, über “ das Dritte des Vergleichs ” , das sogenannte Tertium Comparationis (vgl. Hortzitz 1995: 21), aus vorhandenem Weltwissen, über Bilder und Metaphern, über Neologismen oder damit verknüpften Adjektiven (Giesel 2019; Hortzitz 1995; Pérennec 2008; vgl. Schwarz-Friesel 2013). Vergleiche zum Nationalsozialismus werden außerdem häufig als “ Äquativvergleiche ” (Giesel 2019: 22 f.; Thurmair 2001: 73 ff.) realisiert. 4 Ihre Funktion besteht darin, dass über Vergleichspartikel oder einen Junktor (Becker 2018; vgl. Giesel 2019: 225), implizit oder explizit, eine Äquivalentsetzung hergestellt wird. Manche NS-Vergleiche basieren auf verbalen Entgleisungen, manche sind jedoch keine zufälligen sprachlichen oder rhetorischen Ausrutscher, sondern bewusst intendierte Sprachhandlungen, die den Holocaust als schlimmstmöglichen Bezugspunkt der Geschichte missbrauchen, um einem Thema größtmögliche Aufmerksamkeit zu verschaffen (siehe auch Jureit & Schneider 2010; Salzborn 2020; vgl. Schwarz-Friesel 2022: 169; Schwarz-Friesel & Reinharz 2013). Entsprechende Vergleiche sind also problematisch und können antisemitisch motiviert sein, 5 auch wenn viele dieser Vergleiche nach gängigen Definitionen von Antisemitismus, wie beispielsweise der Arbeitsdefinition des Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA 2016), 6 nicht als antisemitisch klassifiziert werden. 7 Im Vordergrund unserer Arbeit steht jedoch nicht die Frage, welche NS-Bezüge als antisemitisch zu werten sind, sondern aufzuzeigen, wie und bei welchen Themen diese realisiert und verbreitet werden. 2 Worauf basieren unsere Beobachtungen? Daten und Methodik Unsere Arbeit basiert auf einer qualitativen und quantitativen Analyse von Kurznachrichten auf Twitter, in denen über Juden gesprochen wird. Die Daten stammen aus dem Twitter-Archiv, in dem alle bisher versendeten Nachrichten zugänglich sind, sofern sie nicht gelöscht oder die User gesperrt wurden. 8 Wir extrahierten zunächst alle Twitter- Nachrichten einschließlich der zugehörigen Metadaten aus dem Zeitraum Januar 2019 bis einschließlich April 2021, die das Wort “ Juden ” enthalten, insgesamt 651.984 Nachrichten. 9 4 Darüber hinaus lassen sich weitere Vergleichsformen wie Modalitäts-, Komparativ-, und Superlativvergleiche unterscheiden siehe hierzu Schwarz-Friesel (2022: 171). 5 Zur weiteren Thematisierung von NS-Analogien im Zusammenhang mit Israel siehe auch die Beiträge von Klaff (2014); Gerstenfeld (2007). 6 IHRA, “ Arbeitsdefinition von Antisemitismus. ” Zuletzt geprüft am 31.12.2023, https: / / www.holocaustremembrance.com/ de/ resources/ working-definitions-charters/ arbeitsdefinition-von-antisemitismus 7 Nach unserer Lesart schließt die Arbeitsdefinition des Antisemitismus der IHRA nur Holocaustleugnungen, nicht aber Holocaustverzerrungen und -relativierungen mit ein. Wir gehen jedoch davon aus, dass viele dieser Holocaustverzerrungen und -relativierungen antisemitisch motiviert sind und außerdem dazu beitragen, antisemitische Denkmuster zu verbreiten. 8 Die Daten wurden über die API-Schnittstelle V2 des Twitter Full-Archive abgerufen. Twitter Full-Archive, online einsehbar unter: https: / / developer.twitter.com/ en/ docs/ twitter-api/ tweets/ search/ quick-start/ full-archive-search, zuletzt geprüft 23.06.2023 9 Die Metadaten umfassen 35 Parameter, darunter Text, User-Name, Profildaten, Kategorie des Nachrichtentyps und Anzahl der Follower/ Follows. 136 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Auch wenn in vielen Twitter-Nachrichten mit inhaltlichen Bezügen zu Juden das Lexem “ Jude ” nicht explizit vorkommt, stellt unser Korpus eine gewisse Repräsentativität für den Diskurs über Juden auf Twitter dar, zumindest wenn explizit von “ Juden ” die Rede ist. Twitter-Nachrichten (Overall Content) umfassen Tweets, Retweets, Replies und Quotes. Tweets sind Nachrichten, die individuelle User erstellen und in der eigenen Timeline veröffentlichen. Retweets werden durch das Anklicken des Retweet-Buttons erzeugt. Quotes werden ähnlich wie Retweets erstellt, jedoch mit einem zusätzlichen Kommentar. Replies sind Kommentare zu anderen Nachrichten und werden nicht allen Followern der User angezeigt, sondern bleiben in der Diskussion, auf die sich der Reply bezieht. Der Gesamtvergleich zeigt, dass 117.365 verschiedene Twitter-Accounts die Inhalte der Grundgesamtheit generiert haben. Retweets stellen mit einem Anteil von 63 % die größte Nachrichten-Kategorie dar, gefolgt von Replies mit 25 %, während die Kategorie der Tweets lediglich 10 % aufweist. “ Quotes ” werden nur sehr selten verwendet, siehe Tabelle 1. 10 Das ist nicht ungewöhnlich. Eine amerikanische Studie des Pew Research Center ergab, dass im Sommer 2021 Originalbeiträge nur 14 % der Nachrichten auf Twitter ausmachten. Die überwiegende Mehrheit der Beiträge waren entweder Retweets (49 % der Gesamtzahl) oder Antworten auf andere User (33 %) (McClain, Widjaya u. a. 2021). Tab. 1: Gesamtzahl der Tweets in unserem Korpus 11 2019 2020 Jan-Apr 2021 Overall N 293537 278679 79768 651984 % n % n % n % n Unique Content a 33,74 99038 36,67 102192 40,31 32156 35,65 232407 Unique Users b 21,23 62317 25,18 70170 38,34 30587 18 117365 Tweets 10,6 31118 9,35 26504 10,83 8636 10,16 66249 Replies 22,14 64992 26,2 73009 28,53 22758 24,7 161054 Retweets 65 190786 62,06 172960 58,52 46684 62,95 410430 Quotes 2,16 6355 2,23 6206 2,12 1690 2,19 14251 a Anzahl/ Anteil an Inhalten ohne Duplikate, b Anzahl/ Anteil an unterschiedlichen Usern Diskussionen über Juden werden auf Twitter durch verschiedene Ereignisse ausgelöst. An manchen Tagen ist das Volumen der Kurznachrichten, in denen das Wort “ Juden ” vorkommt, um ein Vielfaches höher als in anderen Zeiten. Im Zeitraum von Januar 10 Die Daten-Abfrage umfasst existierende Live-Tweets, die wir mithilfe der Python-Library TWARC erfassten. Twarc-Library, online einsehbar unter: https: / / twarc-project.readthedocs.io/ en/ latest/ , zuletzt geprüft 23.06.2023 11 Die Anzahl der Tweets, Replies, Retweets und Quotes errechnet sich nach der Filterung der Nachrichten- Kategorie. Die Erfassung des Unique Content basiert auf zwei Schritten: Die Textbotschaften wurden im ersten Schritt (Text-Pre-processing) systematisch von Anhängen wie beispielsweise in Form von URLs, einem oder mehreren @Usernames oder der Entfernung der Retweet- Markierung, bereinigt. Im zweiten Schritt wurden alle Duplikate entfernt. Die Berechnung der Unique Users resultiert durch Entfernung aller Duplikate der Twitter-User-IDs. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 137 2019 bis April 2021 gab es einige Zeitpunkte mit deutlich erhöhten Nachrichtenaggregationen, sogenannten Peaks, siehe Abbildung 1. Abb 1. Gesamtanzahl der Tweets im Verlauf der Zeitachse Januar 2019 bis 30. April 2021 Die fünf höchsten Peaks traten am 2. Juni 2019, am 10. Oktober 2019, am 27. Januar 2020, am 9. November 2020 und am 27. Januar 2021 auf. Die Peaks lassen sich durch verschiedene Ereignisse erklären. Der Internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar führt zu Spitzenwerten in den Jahren 2019 (2.679 Nachrichten), 2020 (7.787 Nachrichten) und 2021 (4.423 Nachrichten). Auch das Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November führte zu einer erhöhten Aktivität: 2019 wurden 6.591 Nachrichten gepostet, 2020 waren es 3.537. Der höchste Peak am 10. Oktober 2019 war ein Tag nach dem geplanten Massenmord in Halle, bei dem ein rechtsextremer Terrorist am jüdischen Feiertag Jom Kippur versuchte, mit Waffengewalt in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um die dort versammelten Juden zu ermorden. Ein weiterer Spitzenwert wurde am 2. Juni 2019 mit 5.542 Meldungen verzeichnet, von denen 4.349 das Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch enthielten. Dies stand im Zusammenhang mit einer Online-Kampagne der islamistischen Gruppe Generation Islam. Die Gruppe trat erstmals 2018 unter diesem Hashtag in Erscheinung (vgl. ISD Global 2018). Am 2. Juni 2019 startete die Kampagne erneut und verkündete über Twitter, dass das Hashtag innerhalb weniger Minuten bereits über 303.300-mal geteilt wurde. Nur ein kleiner Teil der Nachrichten dieser Kampagne nahm allerdings Bezug auf Juden. Bereits im Vorfeld hatte die Organisation ihre Kampagne als Twitter-Storm auch außerhalb der Plattform Facebook angekündigt. Am häufigsten teilten User zu diesem Zeitpunkt einen Tweet mit einem Zitat des Historikers Wolfgang Benz: (4) “‘ In Deutschland darf man nicht ungestraft gegen Juden hetzen. Man darf aber ungestraft gegen Muslime hetzen. ’ (Wolfgang Benz, Deutscher Historiker) #NichtOhneMeinKopftuch ” Um Holocaustvergleiche und antisemitische NS-Bezüge in diesem Korpus von Online- Diskursen über Juden zu untersuchen, wurde zum einen ein vorwiegend qualitativer und zum anderen ein vorwiegend quantitativer Ansatz gewählt. 138 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli 2.1 Manuelle Auswahl von Tweets mit Holocaustvergleichen Wir sind an einem fortlaufenden Forschungsprojekt zu Diskursen über Juden und Israel auf Twitter an der Indiana University beteiligt. Im Rahmen dieses Projektes wurden zufallsgenerierte Stichproben von jeweils 500 Nachrichten erstellt aus der Gesamtmenge der Nachrichten auf Twitter mit bestimmten Schlüsselwörtern, unter anderem mit dem Schlüsselwort “ Juden ” . Aus den drei Zeiträumen Januar bis Dezember 2019, Januar bis Dezember 2020 und Januar bis April 2021 generierten wir zunächst vier Stichproben von je 500 Tweets, eine aus dem Jahr 2019, zwei aus dem Jahr 2020 und eine für die ersten vier Monate des Jahres 2021. Im Projektverlauf kam eine fünfte Stichprobe für die qualitative Analyse aus dem Zeitraum Mai bis August 2021 hinzu. Die Samples bilden somit einen Querschnitt der Diskussionen auf Twitter von Januar 2019 bis August 2021, in denen das Wort “ Juden ” verwendet wurde, wobei das Jahr 2019 unterrepräsentiert ist, da wir nur ein Sample aus dem Jahr 2019 verwendeten. Die Stichproben wurden von jeweils zwei Personen im Rahmen eines Forschungsprojekts am Institute for the Study of Contemporary Antisemitism an der Indiana University annotiert. Eine der Klassifizierungen war, ob die Nachricht einen Bezug zum Holocaust aufweist. 616 Kurznachrichten wiesen einen solchen Bezug auf. Darunter fallen Anspielungen und indirekte Vergleiche mit dem Holocaust. Einer der Autoren war am Annotationsprozess beteiligt und hat alle fünf Stichproben mit jeweils einer anderen Person annotiert. Manuell wurden aus den 616 Tweets, die sowohl das Wort “ Juden ” enthalten als auch einen Bezug zum Holocaust aufweisen, 53 Tweets identifiziert, die einen Vergleich zum Holocaust ziehen, siehe Tabelle 2. Diese 53 Tweets bilden die Grundlage für eine induktive Kategorienbildung nach Form und Inhalt. Tab. 2: Zahl der Tweets mit Bezug zum Holocaust und Holocaustvergleiche Sample Anzahl der Tweets mit Bezug zum Holocaust Anzahl der Tweets mit Holocaustvergleichen Jan.-Dez. 2019 - Rep1 59 16 Jan.-Dez. 2020 - Rep2 121 6 Jan.-Dez. 2020 123 16 Jan.-April 2021.rep2 207 8 Mai-August 2021.rep1 106 7 Summe 616 53 2.2 Teilautomatisierte Identifizierung von Tweets über Juden und mit NS-Bezug Aus einer Gesamtmenge von 651.984 Nachrichten, die das Wort “ Juden ” enthalten und zwischen Januar 2019 und April 2021 versendet wurden, identifizierten wir mittels eines teilautomatisierten Auswahlverfahrens 2.403 Beiträge mit Holocaust-Vergleichen oder antisemitischen NS-Bezügen. Das Verfahren basiert auf einer Adaption des von Daniel Miehling entwickelten plattformübergreifenden Verfahrens zur Identifizierung von antisemitischen Inhalten Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 139 im Web 2.0 mittels eines Diktionärs. 12 Diktionäre sind Sammlungen von Wörtern, Sätzen, Wortarten oder anderen wortbezogenen Indikatoren (z. B. Wortlänge, Anzahl der Silben), die als Grundlage für eine Textanalyse verwendet werden (Neuendorf 2017: 213). Sie werden im Rahmen der computergestützten Inhaltsanalyse eingesetzt, um aus einer großen Menge von Daten relevante Textstellen zu identifizieren 13 , einschließlich Hate-Content und terroristischer Muster in Texten (Hine, Onaolapo u. a. 2016; Mittos, Zannettou u. a. 2019; Rieger, Kümpel u. a. 2021; vgl. Riloff 1996). Diktionäre können aus mehreren tausend Wörtern bestehen, sowie fortlaufend erweitert werden, jedoch kann sich dadurch auch der Anteil an Tokens mit Ambiguitäten erhöhen. So stellen beispielsweise Homonyme ein ungelöstes Problem in NLP-Verfahren dar (vgl. Döring, Bortz u. a. 2015: 299), wie sich am Beispiel des Lexems “ Israel ” zeigt. Es kann sich auf den jüdischen Staat beziehen oder einen Nachnamen oder männlichen Vornamen repräsentieren. Hinzu kommen sehr kurze Tokens und Tokens mit non-ASCII-Zeichen, wodurch die Validität von diktionärgeleiteten Textanalysen verringert wird. Ohne ergänzende qualitative und kontextbezogene Evaluation können chiffrierte Begriffe oder Sprechakte mit konversationalen Implikaturen (vgl. Grice 1995; Meibauer 2009) nur unzureichend erklärt werden. Auch Metaphern, Ironie oder Sarkasmus lassen sich nur schwer durch Diktionäre erfassen. Wir wählten daher eine Methodenkombination aus einer teilautomatisierten Inhaltsanalyse, die durch eine qualitative Annotation ergänzt wurde. Im ersten Schritt erfolgte eine deduktiv geleitete Ermittlung von Tokens und N-Grams, darunter Pejorativlexeme, Schimpf- und Codewörter mit Bezugspunkten zum Nationalsozialismus, Ausdrucksformen mit expliziten Negativevaluierungen, sowie Tokens und N- Grams mit Tiervergleichen, Fäkalisierungen und Dehumanisierungen. Die identifizierten Informationskomponenten wurden jeweils separat den Pejorativen, NS-Vergleichen und Superlativen zugeordnet, wodurch keine Überschneidungen entstehen. Dem ging eine Vorstudie zu Telegramkanälen voraus, bei der ein Diktionär entstand, das dann für diese Studie erweitert wurde. Es beruht auf der Durchsicht von Nachrichten auf Telegramkanälen, die hauptsächlich von Menschen genutzt wurden, die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie kritisch gegenüberstehen und dem rechten Spektrum zuzuordnen sind. Für die Erweiterung des Diktionärs nutzten wir Auswertungen einer randomisierten Stichprobe von 2.000 Kurznachrichten aus unserer Grundgesamtheit von Twitter-Nachrichten mit dem Stichwort “ Juden ” sowie die in dem oben erwähnten Annotationsprojekt als antisemitisch klassifizierten 59 Nachrichten. So wurden weitere relevante Wörter, Tokens und Sprechakte als Informationskomponenten identifiziert und in das Diktionär integriert. 14 12 Das Forschungsprojekt “ Online-Antisemitismus verstehen: Hassrede im Web 2.0 ” ist ein von der Hans- Böckler-Stiftung gefördertes Dissertationsprojekt, das in Kooperation an der Technischen Universität Berlin und an der Indiana University Bloomington betreut wird. 13 Zu den Schwächen und Erfassungsgrenzen computergestützter Inhaltsanalysen siehe Früh (2017: 278). 14 Die systematische Erfassung der Informationskomponenten wurde mithilfe eines Key-Word-Parsers realisiert. Ein Parser ist eine computergestützte Anwendung, die Texte einer syntaktischen Analyse unterzieht, zum Beispiel in Form einer Phrasenstruktur oder eines Dependenzbaums (vgl. Lemmnitzer & Zinsmeister (2015: 198)) 140 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Im zweiten Schritt nutzten wir das Diktionär für die automatisierte Filterung der Grundgesamtheit, womit 11.852 antisemitische oder holocaustrelativierende Nachrichten (inkl. einiger Falsch-positiver) erfasst wurden. Im dritten Schritt erfolgte eine qualitative Evaluation der erfassten Nachrichten. Dies beinhaltete die Disambiguierung und Filterung von sogenannten falsch-positiven Textbotschaften (vgl. Früh 2017: 74, 273). Alle mittels des provisorischen Diktionärs identifizierten Tweets (abzüglich der durch Retweets aufgetretenen Dopplungen) wurden manuell auf falsch-positive Textbotschaften geprüft. Textbotschaften, die keine antisemitischen Semantiken oder NS-Vergleiche aufwiesen, wurden aus der Stichprobe entfernt und das Diktionär wurde so modifiziert, dass Falsch-Positive reduziert werden. Zudem wurden kontextgebundene und wiederkehrende Sprechakte als Informationskomponenten in das Diktionär integriert. 15 Zur Erfassung zusätzlicher Informationskomponenten dienten weitere Texte von Usern als Quellen, von denen viele antisemitische Nachrichten stammten. So entstand ein überarbeitetes Diktionär aus 6.688 Informationskomponenten. Gleichzeitig wurden antisemitische Nachrichten auch manuell identifiziert, sowie User, die antisemitische Inhalte versendet hatten. Die in manueller Durchsicht als antisemitisch identifizierten Nachrichten sowie weitere Nachrichten der User, die häufig antisemitische Inhalte verbreiten, wurden genutzt, um neue explizite, implizite und kontextgebundene antisemitische Inhalte zu finden, die folglich in das Diktionär ergänzend aufgenommen wurden. Hierzu zählen Antisemitismen, die implizit und als chiffrierte Sprachhandlungen beispielsweise über Vergleichspartikel und Junktoren und realisiert wurden (Becker 2018: 364; vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz 2013: 369) sowie Sprachhandlungen, die keine klassischen Vergleichsindikatoren aufweisen und beispielsweise über semiotische Marker als sogenannte Bildzeichenmuster realisiert wurden (vgl. Li & Yang 2018). Insgesamt umfasst das Diktionär 6.688 unterschiedliche Informationskomponenten, bestehend aus Unigrams, N-Grams, Kombinationen von Bildzeichen sowie komplexeren Token-Kombinationen, in denen Ausdrucks- und Sinnformeln realisiert werden. Für die quantitative Erfassung judenfeindlicher Sprachgebrauchsmuster basiert das Diktionär auf Indikatoren von Schwarz-Friesel und ist in drei Kategorien unterteilt: NS- Vergleiche, Superlativvergleiche und -Konstruktionen, sowie Pejorativlexeme mit drastischen Dehumanisierungen von Juden (vgl. Schwarz-Friesel 2019: 104 f.). Die quantitative Klassifizierung judenfeindlicher Inhalte ist von der IHRA-Arbeitsdefinition zu Antisemitismus geleitet und orientiert sich des Weiteren an Ergebnissen empirischer Studien, sowie Konzepten und Beiträgen der interdisziplinären Forschung zu Antisemitismus von Nicoline Hortzitz 1995, Ergebnisse der Korpusstudien von Monika Schwarz-Friesel & Jehuda Reinharz 2013 sowie die Analysen zu NS-Vergleichen von Linda Giesel 2019 und Matthias J. Becker 2018, die als methodologische Rahmen- und Referenzwerke für die Annotation antisemitischer Textbotschaften dienten. 16 Im vierten Schritt wurde erneut eine automatisierte Filterung der Grundgesamtheit vorgenommen, wodurch wir 8.088 antisemitische oder holocaustrelativierende Nach- 15 Zur kontextgebundenen Äußerungsbedeutung siehe Wodak (2011); vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz (2013: 53). 16 Siehe hierzu ausführlich Komparandum und Komparationsbasis bei Thurmair (2001: 183). Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 141 richten identifizierten. Dies sind 1,24 % der Gesamtmenge. Die manuelle Annotation von repräsentativen Samplen ergibt einen Anteil antisemitischer Nachrichten von etwa 3 %. Für unser Projekt sind jedoch nur die Nachrichten mit NS-Vergleichen oder antisemitischen NS-Bezügen relevant, nicht alle antisemitischen Nachrichten. Daher wurden im fünften Schritt alle Nachrichten mit NS-Bezug herausgefiltert, insgesamt 2.443 Nachrichten. Im sechsten Schritt wurden diese Nachrichten einer eingehenden Analyse unterzogen. Die schloss eine automatisierte Clusteranalyse sowie eine manuelle Kategorisierung nach Themen ein. Bei der manuellen Durchsicht wurden nochmals 40 Falsch-Positive aussortiert. Zu den verbliebenen 2.403 Nachrichten erstellten wir Statistiken über User-Aktivitäten, Verbreitungstechniken und Themenschwerpunkte. Unter den Nachrichten waren erwartungsgemäß viele Retweets. 578 Nachrichten waren singuläre Nachrichten. Retweets fließen in die statistischen Analysen ein, da User Tweets und Retweets in ähnlicher Weise sehen. 3 Wie äußern sich Holocaustvergleiche auf Twitter? Ergebnisse der qualitativen Analyse: Typenbildung Allen 53 qualitativ untersuchten Twitter-Beiträgen ist gemeinsam, dass sie Analogiebeziehungen zwischen aktuellen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen und dem Nationalsozialismus herstellen. Diese Form der Holocaustrelativierung ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht Dimensionen und Mechanismen wie Opferzahlen und Vernichtungslager geleugnet werden, sondern darin, den Nationalsozialismus und den Holocaust mit aktuellen Geschehnissen in der deutschen Politik und Gesellschaft gleichzusetzen, die nicht annähernd mit dem Zivilisationsbruch durch den Holocaust und den Nationalsozialismus vergleichbar sind. Ob es sich dabei um Antisemitismus handelt, muss unseres Erachtens im Einzelfall geprüft werden. Antisemitische Ressentiments scheinen in vielen Fällen eine plausible Erklärung dafür zu sein, weshalb entsprechende Analogien gezogen werden. Dies lässt sich nicht immer mit formalen Definitionen erfassen, die auf der Erscheinungsebene verbleiben, wie etwa der Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance. Letztere schließt zwar Holocaustleugnung explizit als eine Form von Antisemitismus ein, nicht aber verzerrte Darstellungen der Shoah. Gewisse Formen dieser Verzerrungen sind in ihrem Ausdruck so deutlich, dass sie unter Leugnung der Shoah im Sinne der IHRA fallen können, jedoch hat die Praxis gezeigt, dass eine Vielfalt holocaustrelativierender Aussagen gibt, denen die IHRA als Arbeitsdefinition nicht immer gerecht werden kann. In den von uns untersuchten Holocaustvergleichen konnten wir Muster auf drei Ebenen identifizieren: wiederkehrende sprachliche Mittel, Vergleichskonzepte und thematische Bezüge. 3.1 Sprachliche Mittel bei Holocaustvergleichen Mit sprachlichen Mitteln wird eine Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus bzw. der Shoah und aktuellen gesellschaftlichen oder politischen Ereignissen hergestellt, siehe Tabelle 3. 142 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli In der Analyse der sprachlichen Mittel wurde zwischen “ expliziten ” und “ impliziten ” Formulierungen unterschieden (vgl. Schwarz-Friesel & Consten 2014). In expliziten Vergleichen, bei denen das historische Ereignis mit einem aktuellen auf eine Stufe gestellt - also gleichgesetzt wird, werden Junktoren wie “ genauso ” , “ wie ” oder Formulierungen wie “ Nachkommen der Faschisten ” , “ Geschichte wiederholt sich ” verwendet (vgl. Thurmair 2001: 89). Beispielhaft dafür ist folgender Tweet, in dem über den Vergleichsindikator “ wie damals ” eine Ähnlichkeitsrelation hergestellt wird: (5) “ Das sind ja Methoden wie damals im 3. Reich. Das haben die Nazis damals auch gemacht bei den Juden. ” , der als Reaktion auf die Kündigung des Kontos des thüringischen AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke durch die zuständige Bank, zu verstehen ist. Während bei expliziten Vergleichen ein direkter Bezug zum Nationalsozialismus respektive zur Shoah hergestellt wird, basieren implizite Vergleiche oftmals auf Anspielungen, die beispielsweise durch rhetorische Fragen realisiert werden. Dabei werden Ähnlichkeiten suggeriert, deren relativierende Wirkung sich aus dem Kontext der Aussagen ableiten lässt und durch Vergleichsindikatoren wie “ erinnert an ” oder “ fast wie ” hergestellt werden. Ein Beispiel für solch einen relativierenden Holocaustvergleich ist der folgende Tweet: (6) “ Haben wir die Geschichte der Juden behandelt, um daraus zu lernen, oder um uns auf etwas Ähnliches vorzubereiten? #StopMacron ” . Gleichsetzungen oder Vergleiche lassen sich in allen untersuchten Kurznachrichten finden, dabei waren Gleichsetzungen häufiger zu finden als Vergleiche. Ein weiteres sprachliches Mittel, das verwendet wird, um eine bereits gezogene Analogie noch zu verstärken, sind Zitate mit einer klaren Zuordnung zum Nationalsozialismus, beispielsweise “ Kauft nicht beim Juden ” , oder “ Die Juden sind unser Unglück ” . So schreibt ein User: (7) “ 1933: ‘ Die Juden sind unser Unglück ’ 2021: ‘ Die Ungeimpften sind unser Unglück. ’ Ich finde diese faschistoide Scheiße passt nicht zu Deutschland. Ich will #Deutschlandabernormal. ” Versehen ist der Tweet mit semiotischen Markern: Deutschlandfahnen, zum Gebet geformte Hände und blaue Herzen. Dazu wurde ein Bild gepostet. Die Schwarz-Weiß- Fotografie zeigt eine Frau, die öffentlich zur Schau gestellt und der ein Schild um den Hals hängt, auf dem steht: “ Ich bin aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen ” . Der Bezug zum Nationalsozialismus wird explizit über mehrere Vergleichsindikatoren bimodal auf der Text-Bild-Ebene hergestellt und auf den Kontext der Corona-Pandemie adaptiert. Durch das Ersetzen von “ Juden ” durch “ Ungeimpfte ” bei gleichzeitigem Beibehalten des restlichen Zitats werden beide (tatsächliche und vermeintliche) Opfergruppen gleichgesetzt. Dieser Tweet ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie explizit die Analogie zum Nationalsozialismus von einigen Usern gezogen wird. Deutliche Analogisierungen werden, wie hier, durch die Verwendung von bekannten Zitaten oder von Namensnennungen, wie “ Goebbels ” realisiert. Andere User verzichten auf solche expliziten Formulierungen und überlassen es dem Kontext und dem Weltwissen der Lesenden, die Verbindung zum Nationalsozialismus und der Shoah zu ziehen (vgl. Schwarz-Friesel & Reinharz 2013: 206). Dabei reicht meist der Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 143 Verweis auf “ Juden ” oder das sich als “ Jude fühlen ” , um diesen Sinnzusammenhang klarzumachen. Beispielhaft steht dafür dieser Tweet, der anlässlich einer Debatte um mögliche Kopftuchverbote verfasst wurde: (8) “ Damals Juden, heute wir Muslime ” . Ein expliziter Verweis auf den Nationalsozialismus oder die Shoah bleibt aus, lediglich das Wort “ damals ” impliziert eine Verbindung zu einem historischen Ereignis. Eine Ähnlichkeitsrelation zum Nationalsozialismus kann jedoch im Rezeptionsprozess der Nachricht nur über das hierzu notwendige Hintergrundwissen erschlossen werden (Pérennec 2008: 2; vgl. Schwarz-Friesel 2022: 169). Neben diesen Beobachtungen ist eine weitere sprachliche Besonderheit auffällig. Für alle untersuchten Kurznachrichten gilt, dass eine negative Konnotation des Nationalsozialismus vorliegt, beziehungsweise auf die gesellschaftlich anerkannte / gewünschte negative Konnotation vertraut wird. Mehr als die Hälfte der untersuchten Tweets beinhaltet dabei eine explizit negative Beurteilung des Nationalsozialismus als schlecht oder bösartig. Die User heben hier noch einmal besonders diese Beurteilung hervor und machen dies sprachlich vor allem durch Adjektive wie “ grausam ” , “ böse ” , oder “ widerlich ” kenntlich. Beispielhaft dafür schreibt ein User: (9) “ Das Grundgesetz wurde 1949 verkündet aus dem, Resultat des 1. & 2. Weltkriegs, in dem die Juden aufs brutalste vernichtet wurden. Die Zeit des bösen hat genauso angefangen, Schritt für Schritt systematisches Feindbild aufgebaut! #NichtOhneMeinKopftuch. ” Keine der untersuchten Nachrichten bezieht sich positiv auf den Nationalsozialismus. Andere sprachliche Mittel wie Suggestivfragen und Zitate werden vereinzelt verwendet. Tab. 3: Sprachliche Mittel von Holocaustvergleichen Sprachliche Ebene Definition Ankerbeispiel Gleichsetzung (Überkategorie) Sprachliche Indikatoren: “ genauso ” , “ wie ” oder Formulierungen wie “ Nachkommen der Faschisten ” , “ Geschichte wiederholt sich. ” NS oder Shoah im Speziellen werden mit einem aktuellen Bezugspunkt (Gesetzgebungen, gesell. Umgang mit bestimmten Gruppen, politische Debatten) auf eine Stufe gestellt - gleichgesetzt. “ Das sind ja Methoden wie damals im 3. Reich. Das haben die Nazis damals auch gemacht bei den Juden. ” Vergleich (Überkategorie) Sprachliche Indikatoren: “ erinnert an ” , “ ähnlich ” , “ fast wie ” . NS oder Shoah im Speziellen werden mit aktuellen Ereignissen verglichen, dabei aber nicht gleichgesetzt. Eine Vergleichbarkeit zwischen beiden Ereignissen, die miteinander in Verbindung gebracht wird, impliziert jedoch eine sprachliche Relativierung oder Kontextualisierung. “ Haben wir die Geschichte der Juden behandelt, um daraus zu lernen, oder um uns auf etwas Ähnliches vorzubereiten? #StopMacron ” 144 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Sprachliche Ebene Definition Ankerbeispiel Implizit Sprachliche Indikatoren: “ früher, ” “ damals ” Verzicht auf direkte Benennung des Nationalsozialismus oder der Shoah. Eine Zuordnung zu besagten Themen ist erst aus dem Kontext erschließbar. Grundannahme bei der Annotation ist die Verankerung von NS und Shoah im kollektiven Gedächtnis. “ Von wem geht die Gewalt aus? Früher wurden die Juden verfolgt und jetzt die AfD. ” Explizit Sprachliche Indikatoren: “ Kauft nicht bei Juden ” , “ Goebbels ” , “ Nazis ” , “ 3. Reich ” . Verweis auf den Nationalsozialismus oder die Shoah im speziellen mit Wörtern oder Namensnennungen oder Formulierungen, die diesem Themenkomplex eindeutig zuordenbar sind. “ Knobloch macht das mit der AfD, was die Nazis mit den Juden gemacht haben. ” Zitat Zitat mit klarer Zuordnung zum NS. “‘ Kauft nicht beim Juden ’ hieß es früher. ” Negative Bezugnahme auf NS Der User macht eine negative Haltung / Verurteilung des NS oder der Shoah erkennbar, z. B. durch Adjektive wie “ grausam ” , “ böse ” , “ widerlich ” . Gilt zur Erfassung sprachlicher Mittel, die eine verstärkende Wirkung haben und an denen sich die negative Rezeption des NS eindeutig nachweisen lässt. Die generelle Tendenz einer negativen Konnotation ist Gegenstand der inhaltlichen Auswertung. “ Den Gegner entmenschlichen ist so ziemlich das schwerste Geschütz, welches man auffahren kann. Im 2.WW konnte man so z. B. Juden oder Russen ganz legitim dem Hass eines gesamten Volkes aussetzen und es funktionierte. Tolle Zeiten in denen wir leben. #Merkelmussweg #Weidel ” [sic] Suggestivfrage Fragen, die eine Antwort besonders nahelegen, bzw. deren Beantwortung im Tweet selbst folgt, z. B.: “ Hatten wir das nicht schon mal? ” “ Hatten wir das nicht alles schon mal, Rot fuer die Kommunisten. Gelb fuer die Juden, Rosa fuer die Schwulen und Lespen und Gruen für die Kleinkriminellen, nichts neues im Deutschen Reich. ” [sic] Die Kategorien der Tabelle wurden aus dem untersuchten Material entwickelt. Dabei lassen sich frappierende Ähnlichkeiten mit den Ergebnissen von Linda Giesels Arbeit zu NS- Vergleichen und NS-Metaphern in E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland feststellen. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 145 3.2 Konzeptionelle Ebene von Holocaustvergleichen: Täter-Analogie, Opfer- Analogie und doppelte Analogie Die konzeptionelle Ebene widmet sich weniger konkreten sprachlichen Ausformulierungen, sondern konzentriert sich auf die Art der von den Usern gezogenen Analogien. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Opfer-Analogie, Täter-Analogie und Analogie-Dopplungen. Eine ausführliche Analyse von Täter- und Opferkonzepten lässt sich in Beckers Untersuchung von antiisraelischen Leser-Kommentaren in der Zeit und im Guardian finden. Die Opfer-Analogie konkretisiert die Analogie zum NS dahingehend, dass eine Vergleichbarkeit oder gar Gleichsetzbarkeit von Juden im Nationalsozialismus mit einer heutigen gesellschaftlichen Gruppe in der BRD impliziert wird. Das Konzept von Juden als (historischer) Opfergruppe wird also auf eine andere Gruppe im aktuellen gesellschaftlichen und politischen Kontext übertragen. Die Opfer-Analogie kann so weit gehen, dass sie zu einer expliziten Selbstbezeichnung als “ Jude ” führt, also nicht nur die Analogisierung zweier Opfergruppen. Der Verfasser nimmt eine Selbst- oder Fremdzuordnung einer Person oder Gruppe vor, die als “ Jude ” oder “ jüdisch ” perspektiviert wird. Das nachfolgende Beispiel illustriert dies gut: (10) “ @ING_Deutschland (die ING-DiBa Bank ist damit gemeint, sie wird im Tweet mit ihrem Twitter-Account verlinkt) hat Björn Höcke ohne Angabe von Gründen das Konto gekündigt. Weshalb? Was soll das? Kein Konto für Juden? ” (zusätzlich verlinkt der User noch den Account der AfD-Bundestagsfraktion) Die als Suggestivfrage formulierte Aussage “ Kein Konto für Juden? ” dient der Analogisierung von Kontokündigung und nationalsozialistischer antisemitischer Politik. Außerdem wird Höcke als Jude imaginiert, was dessen Opferstatus unterstreichen soll. “ Jude ” steht hierbei nicht nur metaphorisch für eine Person, die von Diskriminierung und Repression betroffen ist. Höcke wird hier mit der historischen Opfergruppe der Juden in eins gesetzt. Mit der Täter-Analogie verhält es sich wiederum so, dass weniger die vermeintliche Opferperspektive bzw. Opferrolle der User oder einer Gruppe in den Vordergrund gerückt wird. Vielmehr geht es darum, Politiker oder politische Gruppen mit den Nazis gleichzusetzen und somit als Täter zu perspektivieren. So zum Beispiel: (11) “ Bekommen geimpfte Freiheiten und nicht geimpfte weniger Freiheiten, sind wir in der NS Zeit angekommen, da hat Hitler auch Unterschiede zwischen den blonden und den Juden beschlossen, Angela Merkel folgt ihm, der wahre Nazi ist Angela Merkel in dem Falle. Diskriminierung gegen die Menschenrechte. ” Merkel wird hier explizit als Nazi und Nachfolgerin Hitlers referenzialisiert. Die dritte Subkategorie, also die doppelte Analogie, entstand aus der Schwierigkeit heraus, dass sich einige Tweets nicht eindeutig in die bereits genannten Kategorien einordnen ließen und sowohl eine Täter-Analogie als auch eine Opfer-Analogie aufwiesen. Folgender Tweet illustriert das Phänomen besonders gut. Der User leitet den Tweet mit einem abgewandelten Zitat bzw. der zitierten Parole des nationalsozialistischen Boykotts jüdischer Geschäfte ein: (12) “ Kauft nicht bei Sachsen (Juden) ” … Hatten wir das nicht schon mal? Steht die Antifa, SA im neuen Gewand, schon bereit um anders Denkende zu denunzieren, verleumden, verprügeln oder Schlimmeres? ” 146 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Neben den expliziten Bezügen auf den Nationalsozialismus lässt sich hier sehr gut zeigen, wie (historische) Opfer- und Tätergruppen einfach ausgetauscht werden. Nicht nur werden im Tweet nach Anfeindungen gegen Sachsen mit der Diskriminierung und Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus auf eine Stufe gestellt, auch werden Antifaschisten in ihr Gegenteil verkehrt und mit der SA gleichgesetzt. Der Austausch kann sogar so weit gehen, dass jüdische Personen mit Nazis gleichgesetzt werden. Ein User schreibt in Reaktion auf eine Rede der ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, in der diese die AfD für eine Pogromstimmung im Land zur Verantwortung zieht: (13) “ Knobloch macht das mit der AfD, was die Nazis mit den Juden gemacht haben. ” Die AfD wird in ihrer vermeintlichen Opferrolle somit mit den verfolgten und ermordeten Juden gleichgesetzt. Es wird keinerlei Differenzierung zwischen dem vermeintlichen Umgang Knoblochs mit der AfD und der nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik vorgenommen. Diese doppelte Analogie kann sich auch weniger explizit darstellen, so zum Beispiel, wenn die Verbindung eines aktuellen Ereignisses mit dem Nationalsozialismus allgemein gehalten wurde und der Fokus der getätigten Aussage auf gesamtgesellschaftlichen Tendenzen lag, die sowohl Täterals auch Opferschaft implizieren: (14) “ Und dann fragt ihr Euch noch wie sowas jemals passieren konnte … Warum hat keiner aufgemuckt und sich dagegen gewehrt? Warum wurden Juden in der Gesellschaft geächtet und ausgegrenzt? Warum liefen soviele Menschen der Propaganda hinterher? Jetzt wisst ihr es … #Corona ” [sic]. Versehen ist der Text mit einer historischen Fotografie, die ein vollbesetztes Stadion zeigt, in dem alle Menschen den Arm zum Hitlergruß heben. Zur konzeptionellen Ebene der Untersuchung lässt sich abschließend festhalten, dass sich der größte Teil der analysierten Tweets in Täter- und Opfer-Analogien aufteilen lässt, wobei Opfer-Analogien die am häufigsten aufgetretene Variante sind. Der kleinere Teil entfällt auf die beschriebenen Analogie-Dopplungen. 3.3 Thematische Bezüge der Holocaustvergleiche Die dritte Ebene der Betrachtung bildet die Zuordnung der Tweets zu Themenkomplexen. Einige der Themen sind schon in den vorherigen Beispielen angeklungen. Die zeitliche Rahmung ist durch die Auswahl der untersuchten Datensamples von 2019 bis 2021 gegeben. Während sich die gemeinsame qualitative und quantitative Untersuchung auf den Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 30.04.2021 beschränkt, wurde in der qualitativen Untersuchung ein zusätzliches Datensample für den Zeitraum vom 01.05.2021 bis zum 31.08.2021 analysiert, in dem sich zeigt, dass sich die gefundenen Ergebnisse der Untersuchung auch über den begrenzten Zeitraum hinaus fortsetzen. Die Fokussierung bei der Zusammenstellung der Untersuchungsdaten auf das Stichwort “ Juden ” grenzte einen möglichen thematischen Bezug ein, ohne dass von vornherein einzelne gesellschaftliche und politische Ereignisse ausgeklammert wurden. Um die Einordnung in diese thematischen Bezüge zu erleichtern, wurden wiederkehrende Stichworte wie “ Impfungen oder G-Regelungen ” , Namensbzw. Parteinennungen und verlinkte Nachrichtenartikel berücksichtigt, die Aufschluss über den Themenbezug der einzelnen Tweets geben konnten. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 147 Drei wiederkehrende thematische Bezüge kristallisierten sich heraus. Zum einen die Debatte um vermeintliche und tatsächliche Diskriminierung von Muslimen im Rahmen von Verbotsdebatten um das Kopftuch und um Karikaturen des Propheten Mohammed. Beispielhaft ist dafür folgender Tweet zu nennen: (15) “ #NichtOhneMeinKopftuch früher waren ’ s die Juden. Und heute wollen sie uns an ihre Stelle Rücken. [ … ] ” Der zweite Themenkomplex dreht sich um die rechtsradikale Partei AfD. Dabei ging es zumeist um den (zivil)-gesellschaftlichen Umgang mit der Partei. Vor allem in diesem Themenkomplex ist eine Häufung von Einzelereignissen auffällig, auf die verschiedene User Bezug nehmen. So zum Beispiel die bereits erwähnten Fälle der Kündigung des Bankkontos von Björn Höcke, die Rede Charlotte Knoblochs anlässlich einer Gedenkveranstaltung vor dem bayerischen Landtag, in der sie die AfD kritisierte, aber auch ein Interview mit der Parteivorsitzenden der AfD, Alice Weidel, in der diese über die vermeintliche Ächtung in ihrem privaten Umfeld aufgrund ihrer Tätigkeit, spricht. Der dritte - und mit Abstand größte Themenzusammenhang, ist das Auftreten der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus. Bedeutend waren hier vor allem Diskussionen um die sogenannten G-Regelungen, die den Zugang zu Restaurants und Kulturstätten reglementieren sollten und den Eintritt nur für Menschen mit nachweisbarem Impf- oder Genesenen- Status möglich machten. Die Diskussion, ob dieses Vorgehen diskriminierend sei, zieht sich über einen Zeitraum von mehreren Monaten, nicht nur im deutschsprachigen Raum, und kann als wichtiger Referenzpunkt seitens der Tweet-Verfasser angesehen werden. Aber auch die Diskussion um die Impfungen und eine mögliche allgemeine und eine berufsgruppenspezifische Impfpflicht waren prägend. Hier sind für das Jahr 2019 keine Tweets zu finden, da das Virus erst im Jahr 2020 in Deutschland auftrat. Neun der 53 Tweets konnten keinem der drei thematischen Bezüge zugeordnet werden. Grund dafür waren Tweets mit thematischen Bezügen, die lediglich einmal in allen Sets vorkamen, sprachlich unverständlich waren, oder solche, deren Aussagen ohne Kontext nicht klar einzuordnen waren und in denen dieser benötigte Kontext bereits gelöscht wurde. Beispiele für weitere Themen, in denen auf Vergleiche zum Nationalsozialismus zurückgegriffen sind eine Kritik an Donald Trump, die Diskussion um die Enteignungsdebatte (Deutsche Wohnen) in Berlin, eine “ Reichensteuer ” und der Vergleich von Untätigkeit bei unmenschlicher europäischer Flüchtlingspolitik. 4 Trends. Welche Holocaustvergleiche sind wann besonders prominent und wie werden sie verbreitet? Unser teilautomatisiertes Verfahren zur Identifizierung von antisemitischen NS-Bezügen und holocaustrelativierenden Botschaften auf Twitter führte zu einer Auswahl von 2.403 entsprechenden Nachrichten aus einer Gesamtmenge von 651.984 Nachrichten. 148 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli 4.1 Thematische Entwicklungen: Ergebnisse der Clusteranalyse Um wiederkehrende Muster und thematische Ähnlichkeiten zu erfassen, ordneten wir die 2.403 Textnachrichten in thematische Muster. Topics bestehen aus einer Mischung aus Schlüsselwörtern, die in unterschiedlichen Dokumenten beziehungsweise in Textbotschaften unseres Korpus auftreten (vgl. Vajjala, Majumder u. a. 2020). Dazu verwendeten wir zunächst das Topic Modelling Verfahren Latent Dirichlet Allocation (LDA). Nach der Bereinigung von Stoppwörtern, Links, Usernamen, etc. wurden hiermit Tokens nach ihrer Häufigkeit in der einzelnen Nachricht und nach ihrer Seltenheit im gesamten Datensatz nach dem Term Frequency-Inverse Document Frequency (TF-IDF) gewichtet. Das LDA- Verfahren umfasst 2000 Iterationen, nach denen die zehn meistgenutzten Tokens in zehn Themenfeldern erfasst wurden. Abbildung 2 visualisiert die nach diesem Verfahren gewonnenen Themenfelder in Word-Clouds. Abb. 2: Top 10 Themenfelder nach Topic Modelling (LDA) Aus den Word-Clouds können erste thematische Schlüsse zu prominenten Themen und wiederkehrenden Textmustern abgeleitet werden. Die Topics 1, 2 und 8 beziehen sich inhaltlich auf Tweets im Rahmen der Kampagne “ #NichtOhneMeinKopftuch ” . Referenzen zur Corona-Pandemie und damit verbundenen Impf-Diskursen zeigen sich in Topic 6. Topic 9 bezieht sich auch auf Impfungen, was jedoch nicht ersichtlich ist, ohne den Wortlaut des betreffenden Tweets zu kennen, der leicht variiert sehr häufig weitergeleitet wurde. 17 In Topic 7 werden Analogien zu AfD Mitgliedern ersichtlich, was sich in Topic 10 nur erahnen lässt. Bezüge zu Israel und dem Holocaust finden sich in den Topics 3 und 4, wobei in Topic 3 auch noch die USA hinzukommt. Diese automatisierte Clusteranalyse lässt auf mindestens vier große Themen schließen, bei denen antisemitische NS-Bezüge oder Holocaustrelativierungen vorgenommen werden: Covid, Muslime in Deutschland, Israel, und die AfD. Die 10 Topics der Clusteranalyse lassen sich jedoch nicht klar voneinander abgrenzen, sodass eine Quantifizierung auf dieser Grundlage schwierig ist und einige inhaltliche Themen vermutlich nicht erfasst werden. 17 Der Tweet lautet “ 1933: #IBM entwickelt für NaziDeutschland das Lochkartensystem, ohne das die Erfassung, Zusammenführung & Vernichtung der europäischen Juden nicht durchgeführt hätte werden können. 2021: #IBM entwickelt für Deutschland den digitalen Impfpass. #KeinVergleich #JustFacts ” . Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 149 Eine qualitative, “ manuelle ” Analyse, d. h. eine Sichtung und Klassifizierung aller Einzelnachrichten, bildet die Grundlage für unsere weitergehende statistische Auswertung zur Ermittlung prominenter Formen antisemitischer NS-Bezüge und Holocaust-Vergleiche. 4.2 Thematische Entwicklungen: Manuelle Klassifizierung der Nachrichten mit antisemitischen NS-Bezügen und Holocaustvergleichen Die Klassifizierung erfolgte im iterativen Prozess durch induktive Kodierung der verbliebenen Nachrichten (einschließlich Retweets). Es kristallisierten sich drei Überkategorien heraus. Die ersten beiden waren analog den Beobachtungen aus der qualitativen Analyse: Opfer-Analogien und Täter-Analogien. 18 Die dritte Überkategorie umfasste antisemitische Bezüge zur Shoah. Darunter fielen die affirmative Verwendung von Begriffen wie “ Schuld-Kult ” oder “ Holocaustindustrie ” oder die Behauptungen, Juden hätten nach 1945 in Deutschland “ Narrenfreiheit ” und der Antisemitismusvorwurf werde pauschal instrumentalisiert. Es gab auch direkte Holocaustleugnungen oder -zweifel, pronazistische Nachrichten, Behauptungen einer angeblichen Beteiligung von Juden am Holocaust (etwa durch George Soros oder die Haavera). Auch die besondere Hervorhebung deutscher Opfer mit Bezug auf die Shoah, Weltverschwörungsfantasien mit Bezug auf die Shoah, Gleichsetzungen des Holocaust mit dem Holodomor oder der Sklaverei in den USA fassten wir unter dieser Überkategorie zusammen. Hinsichtlich der Opfer-Analogien kamen einige Themen besonders häufig vor. Die Situation von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus wurde gleichgesetzt mit Muslimen, Migranten, Arabern, Abgeschobenen, Palästinensern oder Islamisten, aber auch mit Anhängern der AfD, Rechten im Allgemeinen, Trump-Anhängern oder Nazis. Gleichsetzungen mit Impfkritikern, Covidskeptikern oder Querdenkern fanden ebenfalls häufig statt. Zudem kamen Gleichsetzungen mit der gegenwärtigen Lebensrealität von Deutschen vor. “ Deutsche sind die Juden 2020 ” , hieß es beispielsweise. Vereinzelt wurden in den Diskussionen reiche Menschen oder Vermieter als Verfolge “ wie Juden ” dargestellt. Unter den Täter-Analogien fanden wir Gleichsetzungen der Verfolgung von Juden durch das NS-Regime oder NS-Anhängern, mit Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, mit Zionismus, Israelis oder mit Juden heute im Allgemeinen, mit den Juden in der AfD, mit der Politik von SPD, Der Linken, Antifa, oder Den Grünen, aber auch mit der Politik oder Aktivitäten von AfD, Rechten, Söder, Sundermeyer oder anderen eher rechten Einzelpersonen. Vereinzelt traten Täter-Analogien zu BDS-Anhängern, Medien, Amerikanern (mit Bezug auf den Völkermord an indigenen Stämmen), Katalanen oder sogar unliebsamen Nachbarn auf. Wir konnten 11 Themenfelder im Material erkennen, die sich wie folgt betiteln lassen, (1) Muslime/ Migranten, 19 (2) AfD/ Rechte, (3) Covid, (4) Deutsche, (5) Zionismus und Israelis, (6) Juden in der AfD, (7) Linke, (8) “ Schuld-Kult ” , (9) Holocaustleugnung/ pro-Nazi, (10) Jüdische Weltverschwörung, (11) Sonstiges, siehe Abbildung 3. 18 In der Verwendung des Opfer- und Täter-Kategorisierungen beziehen wir uns auf die Arbeiten von Heidrun Kämper zum Schulddiskurs in der frühen Nachkriegszeit und das von ihr entwickelte Wörterbuch zum Schuldiskurs von 1945-1955. siehe hierzu Kämper (2005); vgl. Kämper (2007). 19 In den Texten wurden vor allem “ Muslime ” benannt, aber auch “ Migranten, Araber, Abgeschobene, Palästinenser und Islamisten. ” 150 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Die manuelle Auswertung der Themencluster der 2403 Nachrichten aus dem Zeitraum von Januar 2019 bis April 2021 zeigt, dass Opfer-Analogien innerhalb aller Nachrichten mit einem Anteil von 60 % (n = 1443) am häufigsten auftraten, gefolgt von Täter-Analogien mit 27 % (n = 641). Der Anteil der Shoah-Bezüge beträgt 13 % (n = 319). Die Analyse der Unterkategorien verdeutlicht, dass die häufigste Opfer-Analogie (59 % aller Opfer-Analogien) zu Muslime/ Migranten gezogen wurde. Dies konzentrierte sich vor allem auf das Jahr 2019 und fand im Zusammenhang der #NichtOhneMeinKopftuch- Kampagne der Organisation Generation Islam statt. AfD-Sympathisanten und Anhängern rechter Parteien und Organisationen realisierten am zweithäufigsten Opfer-Analogien in ihren Nachrichten (23 %). Opfer-Analogien von Impfkritikern, Covidskeptikern und Querdenkern stellen den drittgrößten Anteil dar (20 %). Im Frühjahr 2021 tauchten besonders häufig Parallelen zwischen der Corona-Pandemie und der Judenverfolgung während des Nationalsozialismus auf. Bei der Auswertung der Täter-Analogien stellen wir ebenfalls drei dominierende Themen in den Unterkategorien fest: Gut 31 % der Täter-Analogien bezogen sich auf Impfkritikern, Covidskeptikern und Querdenkern. In 33 % der Nachrichten wurden linke Parteien und Organisationen mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt, vor allem im Jahr 2020 (30 %). Der drittgrößte Anteil (23 %) bezog sich auf Nachrichten, in denen der Zionismus und Israel mit den Nationalsozialisten gleichgesetzt wurden. Shoah-Bezüge weisen insbesondere zwei größere Anteile in den Unterkategorien auf: In 47 % der Nachrichten wurde der Holocaust geleugnet, besonders im Jahr 2020 (36 %). Sprachliche Äußerungen, in denen Juden beschuldigt wurden, die Shoah zu instrumentalisieren, machen mit 34 % den zweitgrößten Anteil dieser Unterkategorie aus. Diese Äußerungen wurden am häufigsten im Jahr 2019 (20 %) getätigt. Abb. 3: Prominente Themenfelder nach qualitativer Analyse Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 151 Einige Nachrichten gehören zu mehreren Kategorien, was sich manchmal erst erschließt, wenn man die Nachricht im Kontext sieht. Dies zeigt sich an einem Reply mit dem Wortlaut: (16) “ Dies ist offener #Faschismus. Gerade #Juden sollten Lehren aus diesem dunkelsten aller Kapitel gezogen haben! ” Dies ist zum einen eine antisemitische Opfer-Täter-Umkehr, bei der Juden in die Nähe des Faschismus gerückt werden. Bei Durchsicht des Threads wird deutlich, dass der Reply Maßnahmen in Israel zum Schutz vor Covid kommentiert. Der NS-Vergleich bezieht sich also auch auf Israel und auf Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie, siehe Abbildung 4. Abb. 4: Täter-Analogie mit Bezug auf Israel und Covid Am häufigsten treten NS-Vergleiche im Zusammenhang von Opferanalogien auf: In den beiden größten Themenclustern, NS-Vergleiche im Zusammenhang mit der Kopftuchdebatte unter dem Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch und politischen Auseinandersetzungen mit AfD-Sympathisanten, stellen Schreiber gezielte Bezüge zur Shoah her. Im ersten Themencluster entgegnen Muslime der Kritik der Unterdrückung religiöser Konventionen, während sich im zweiten Themencluster AfD-Sympathisanten aufbegehrend gegen das “ politische Establishment ” wenden. Gemein ist den Schreibern beider Gruppen, dass sie die Shoah als Relationsbasis für ihre Selbstviktimisierung missbrauchen, analog auf aktuelle politische Debatten übertragen und sich dabei in Eigenbezeichnung als “ neue Juden ” gerieren. 4.3 Zeitliche Verteilung der NS- Vergleiche & Bezüge NS-Vergleiche und -Bezüge traten im Jahr 2019 deutlich häufiger auf als 2020, sowohl in Zahlen als auch prozentual im Verhältnis zur Grundgesamtheit an Nachrichten. Für das Jahr 2021 lässt sich ein ansteigender Trend feststellen. Die meisten User posteten nur einen NS- Vergleich, siehe Tabelle 4. 152 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Tab. 4: Anzahl von NS-Vergleichen und Bezügen in Nachrichten auf Twitter mit dem Stichwort “ Juden ” n a % b Unique Users c 2019 1254 0.43 873 2020 685 0.25 504 Jan-Apr 2021 464 0.58 282 Overall 2403 0.37 1602 a Anzahl Vergleichen und Bezügen; b Prozentualer Anteil Vergleichen und Bezügen in Relation zu den Grundgesamtheiten pro Zeitraum; c Anzahl der Unique User pro Zeitraum 4.4 Superspreader Eine kleine Anzahl von acht Usern, die von Januar 2019 bis April 2021 jeweils mindestens 10 Nachrichten mit antisemitischen NS-Bezügen oder Holocaustrelativierungen allein mit dem Stichwort “ Juden ” verschickten, waren verantwortlich für 13 % der NS-Vergleiche und -Bezüge. Von einem Account gingen gar 174 Nachrichten mit NS-Vergleichen aus. Interessanterweise waren dies fast ausnahmslos Replies auf unterschiedliche User, immer mit dem gleichen Text, manchmal angereichert durch Links zu Zeitungsartikeln: (17) “ Was unterscheidet uns noch vom dritten Reich? -Wachsender Antisemitismus, -SS, Gestapo Methoden, keinen Zutritt für AFD Mitglieder, keinen Zutritt für Juden. -AFD Mitglieder werden zusammen geschlagen und Attentate auf sie verübt. ” Mit 60.000 Nachrichten ist der Account seit September 2018 äußerst aktiv. Viele der Nachrichten legen eine Nähe zur AfD nahe und weisen seit dem Krieg in der Ukraine prorussische Positionen auf. Andere “ Superspreader ” von NS-Vergleichen zeichneten sich durch pro-palästinensische Nachrichten aus oder beteiligten sich an der Kampagne #NichtOhneMeinKopftuch. 4.5 User-Aktivitäten und Verbreitungstechniken Betrachtet man die Aktivitäten der User, so lässt sich derzeit ein rückläufiger Trend feststellen: Im Jahr 2019 verbreiteten 1,4 % der User zum Keyword Juden NS-Vergleiche. Im Folgejahr 2020 sinkt der Anteil auf 0,7 %. Für das Jahr 2021 ist zum Stand der Analyse noch keine abschließende Tendenz der Aktivitäten vorauszusagen, da die Auswertung auf die Monate Januar-April 2021 begrenzt ist. Der Anteil an Usern, die im Frühjahr 2021 NS- Vergleiche zogen, beträgt 0,9 %. Die Verbreitung der Textbotschaften der beiden größten Themen-Cluster erstreckt sich über den Erhebungszeitraum der Jahre 2019 - 2020. Im Jahr 2019 verbreiteten zwischen 18. Mai und 03. Juli 706 unterschiedliche User 926 Textbotschaften, die Opfer-Analogien zwischen Juden und Muslimen aufweisen. Opfer-Analogien zwischen Juden und AfD- Sympathisanten erstrecken sich über den Zeitraum des 03. Januar 2019 bis 17. Oktober 2020 und umfassen insgesamt 328 Textbotschaften von 120 unterschiedlichen Usern. Ein Großteil der Textbotschaften beider Themen-Cluster ist dem Nachrichtentyp Retweet Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 153 zuzuordnen, wodurch sich auch die hohe Anzahl der in Abbildung 5 visualisierten Verbreitungstechniken identischer Inhalte als sog. Share-Messages erklären lässt. Die Verbreitung von NS-Vergleichen findet am häufigsten über sogenannte Share- Messages statt: Die quantitativen Daten belegen, dass Textbotschaften des Typs Retweet mit einem Anteil von über 67 % am häufigsten als Multiplikator genutzt werden, um den Radius der Inhalte zu vergrößern. 21 % der Inhalte treten als Antworten, sogenannte Replies, auf, was ein Hinweis darauf ist, dass vor allem vorangegangene Tweets und Kommentare antisemitische Reaktionen evozieren. Nur 8 % der NS-Vergleiche werden als reguläre Tweets verfasst. Den geringsten Anteil an NS-Vergleichen umfassen Textbotschaften mit sog. Quotes, darunter fallen Textbotschaften, die mitunter ein Zitat eines anderen Users oder eines Dritten aufweisen. Deren Anteil beträgt unter 3 %. Diese prozentuale Verteilung von Retweets, Replies, Tweets und Quotes ist allerdings nicht ungewöhnlich. Sie entspricht in etwa der Verteilung aller Kurznachrichten auf Twitter, zumindest mit dem Stichwort “ Juden ” . Betrachtet man die Verteilung jedoch in einer Zeitschiene (Abbildung 5), fällt auf, dass die meisten Retweets im Sommer 2019 gesendet wurden. Dies geht zu einem großen Teil auf die Kampagne mit dem Hashtag #NichtOhneMeinKopftuch zurück. Viele der Retweets dieser Kampagne vergleichen die Situation von Muslimen in Deutschland mit der Situation der Juden im Nationalsozialismus. Abb. 5: Verbreitungstechniken antisemitischer NS-Vergleiche in longitudinaler Abbildung der Zeitachse 5 Schlussfolgerungen Der Holocaust ist ein beispielloses Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Vergleiche im Sinne von Gleichsetzungen zwischen dem Holocaust und anderen Ereignissen oder Phänomenen verharmlosen damit meist indirekt den Holocaust, sind aber im Web 2.0 weit verbreitet. Unsere Studie zeigt, dass entsprechende NS-Vergleiche nicht nur in extremistischen Randbereichen des Internets vorkommen oder von einigen wenigen Personen verbreitet werden, sondern dass sie Bestandteil von Diskursen sind, die als 154 Daniel Miehling / Victor Tschiskale / Günther Jikeli Mainstream bezeichnet werden können. Sie erstrecken sich über das gesamte politische Spektrum jeglicher Couleur und nehmen unterschiedliche Formen an, ob als Täter- oder Opfer-Analogien oder anderweitigen NS-Bezügen. Mit beiden unserer Untersuchungsansätze, einmal mit überwiegend qualitativen und einmal mit überwiegend quantitativen Methoden kommen, wir zu ähnlichen, sich ergänzenden Ergebnissen hinsichtlich der Mechanismen und Themenkomplexe. Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass Opfer-Analogien, in denen NS- Vergleiche realisiert werden, die derzeit am häufigsten verwendete Analogieform in Online-Diskursen darstellt, zumindest auf X (ehemals Twitter): Die Verwendung von selbstviktimisierenden Analogien, wie sie von Coronaskeptikern, Muslimen oder AfD- Sympathisanten mit Juden in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgen, verweisen zugleich auf eine besonders perfide Form der Opfer-Analogie. In selbstviktimisierenden Analogien missbrauchen die Verfasser die Shoah, um ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Diskriminierungserfahrungen maximale Aufmerksamkeit zu verleihen, bei gleichzeitiger Nivellierung der Gräueltaten der Nationalsozialisten und Verhöhnung der Opfer des Holocaust. Sie setzen ihre eigene Situation in Eins mit der Verfolgung von Juden im Nationalsozialismus. Ein ähnlicher Mechanismus, jedoch ohne direkte Selbstidentifizierung, findet sich in Opfer-Täter-Umkehrungen, die den Holocaust nutzen, um auf die Situation von Palästinensern im israelisch-palästinensischen Konflikt zu verweisen. Die Themen der Opfer-Analogien sind dominiert von aktuellen Themen wie Covid oder politischen Kampagnen. Auch das Projekt Decoding Antisemitism, das neben deutschsprachigen auch englisch- und französischsprachige Online-Diskurse untersucht, stellt fest, dass eine thematische Nähe zum israelisch-palästinensischen Konflikt (vgl. Becker, Ascone u. a. 2022), aber beispielsweise auch zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine (vgl. Chapelan, Ascone u. a. 2023), Auslöser für holocaustrelativierende Vergleiche und NS- Analogien sein können. Unsere Funde scheinen also über den deutschsprachigen Raum und die von uns erwähnten Themen/ Diskursauslöser hinaus relevant zu sein. Unsere Untersuchungen zeigen entlang des Hashtags #NichtOhneMeinKopftuch, dass Kampagnen einen bedeutenden Einfluss auf die Verbreitung von Holocaustvergleichen im Online-Diskurs haben können, in denen das Wort “ Juden ” als Symbol für Verfolgung benutzt wird. Diese Kampagnen zeichnen sich durch die rasante Generierung und Multiplikation von affektsteigernden Inhalten aus, die zunächst an ein spezifisches Publikum gerichtet sind und das Ziel haben, Leser und Gruppen zu aktivieren und sie zur Weiterverbreitung dieser Inhalte zu mobilisieren. Insbesondere im Kontext der Verbreitungsdynamiken wird deutlich, dass Share-Messages die vorherrschende Verbreitungstechnik von NS-Vergleichen darstellen und dass einseitige Viktimisierungen und Täterzuschreibungen an politisch verhasste Akteure NS-Vergleiche triggern. Diese Studie zeigt, dass X-/ Twitter-User das Zeichen des Holocaust missbrauchen, um die historische Realität der Shoah zu verzerren und zu vermindern. Indem sie die Situation von Covid-Skeptikern, AfD-Anhängern und Muslimen mit der Lage der Juden während des Nazi-Regimes vergleichen, lösen sie den Signifikanten (Holocaust) von seiner ursprünglichen Bedeutung (den systematischen Völkermord an sechs Millionen Juden). Dieser Missbrauch von Zeichen führt zu historischer Verzerrung und Trivialisierung. Holocaustvergleiche auf X/ Twitter 155 Auf konzeptueller Ebene verdeutlichen unsere Ergebnisse, dass NS-Vergleiche sprachliche Äußerungen abbilden, bei denen unweigerlich eine “ schleichende Nivellierung der Erinnerung ” (Salzborn 2020: 103) bei gleichzeitiger Verhöhnung der Opfer und Verfolgten erzielt wird. Insbesondere die von rechtsgerichteten Verfassern realisierten NS-Vergleiche beinhalten Schuldabwehrstrategien, die in Form des Entlastungsantisemitismus zum Ausdruck kommen. Auch die von Muslime und Migranten artikulierten NS-Vergleiche basieren auf dem kollektiven Gedächtnis und Wissen über den Holocaust und stellen über Äquativvergleiche eine Analogiebeziehung zu den Opfern der Shoah her. Im Unterschied zur Holocaust-Leugnung, die die historische Tatsache verneint und damit die Bedeutung des Zeichens Holocaust ablehnt und den Zweck hat, sich oder ein Kollektiv von Verantwortung und Schuld zu befreien, ist in Holocaust-relativierenden Vergleichen die Existenz des Holocausts Grundlage der Argumentation. In Vergleichen wird die Bedeutung akzeptiert, aber manipuliert, um ihren Erzählungen zu entsprechen. Dies zeigt, wie flexibel und manipulierbar Zeichen im Kontext des Holocaust und der NS-Geschichte sein können. Die Besonderheit der untersuchten Tweets liegt in ihrem instrumentellen Verhältnis zu Juden als (historische) Opfergruppe. Ihr Status als unschuldige Leidtragende eines bisher beispiellosen Menschheitsverbrechens wird im Rahmen einer Selbstviktimisierung zur Unterstützung des eigenen Standpunkts und Immunisierung gegen Kritik missbraucht. Die untersuchten Analogien folgen damit klaren (moralischen) Zuschreibungen: Diejenigen, die symbolisch als NS-Täter identifiziert werden, gelten als böse, brutal und amoralisch, “ stehen auf der falschen Seite der Geschichte ” . Diejenigen, die wiederum mithilfe des Zeichens “ Juden ” als Opfer konstruiert werden, gelten als unschuldig und ihre als Diskriminierung dargestellten Erfahrungen sind damit einhergehend unhinterfragbares Unrecht. So sollen all jene, die in diesem Zusammenhang als Opfer stilisiert werden, gegen Kritik immunisiert werden. Das vermeintlich gegenüber dem Nationalsozialismus kritische Bewusstsein wird instrumentalisiert, um das jeweilige Gegenüber in Form von Täter- Analogien so stark wie möglich zu diskreditieren. Das Publikum spielt bei dieser Konstruktion eine entscheidende Rolle. Die Zunahme von Nazi-Vergleichen könnte eine Verschiebung in der Interpretation des Zeichens des Holocaust in der Öffentlichkeit widerspiegeln. Möglicherweise ist dies Ausdruck eines beunruhigenden Trends, den Holocaust mehr als Metapher für Verfolgung, Unrecht und Diskriminierung zu sehen, anstatt ihn als einzigartiges historisches Ereignis anzuerkennen. Literatur Becker, Matthias J. 2018: Analogien der “ Vergangenheitsbewältigung ” . Antiisraelische Projektionen in Leserkommentaren der Zeit und des Guardian. Baden-Baden: Nomos (Interdisziplinäre Antisemitismusforschung, Bd. 8). Becker, Matthias J., Ascone Laura, Bolton, Matthew, Chapelan Alexis, Krasni Jan, Placzynta Karolina, Scheiber Marcus, Troschke Hagen, Vincent Chloé 2022: Decoding Antisemitism: Eine KI-gestützte Untersuchung von Hassrede und -bildern im Internet. Diskursreport 4: Technische Universität Berlin. 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