Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
826
2024
422-4
Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus
826
2024
Winfried Nöth
U. Eco’s early semiotic writings were deeply indebted to the conceptions of structure of the founders of 20th century semiotic structuralism F. de Saussure and L. Hjelmslev, but as early as in 1968, Eco distanced himself from a variant of structuralism that he criticized as“ontological” and that he confronted with another structuralism with which he identified his own position and which he defined as “methodological”. The roots of this conception of structure are in the semiotics of Scholastic nominalism. Equally early, Eco began to adopt poststructuralist elements within his semiotics, especially from Derrida. From 1975 to 2007, these elements prevailed more and more in his writings, although Eco never distanced himself entirely from the classics of structuralism that were the point of departure of his semiotic theory. From 1985 (Semiotics and the Philosophy of Language) to 2007 (Dall’albero al labirinto), Eco applied the poststructuralist method of deconstruction to those structures that formed a “tight system” in Saussure’s conception of structure, until he finally applied this method to his own early theory of the “absent structure” of 1968. In his revision of his early theory, he came to the conclusion that the notion of absence presupposes the metaphysics of presence. Without saying so explicitly, Eco thus links up again with the fundamental tenet of Saussure’s structuralist semiotics according to which a structure is constituted through its opposition to another structure.
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K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus Winfried Nöth (S-o Paulo) Abstract: U. Eco ’ s early semiotic writings were deeply indebted to the conceptions of structure of the founders of 20 th century semiotic structuralism F. de Saussure and L. Hjelmslev, but as early as in 1968, Eco distanced himself from a variant of structuralism that he criticized as “ ontological ” and that he confronted with another structuralism with which he identified his own position and which he defined as “ methodological ” . The roots of this conception of structure are in the semiotics of Scholastic nominalism. Equally early, Eco began to adopt poststructuralist elements within his semiotics, especially from Derrida. From 1975 to 2007, these elements prevailed more and more in his writings, although Eco never distanced himself entirely from the classics of structuralism that were the point of departure of his semiotic theory. From 1985 (Semiotics and the Philosophy of Language) to 2007 (Dall ’ albero al labirinto), Eco applied the poststructuralist method of deconstruction to those structures that formed a “ tight system ” in Saussure ’ s conception of structure, until he finally applied this method to his own early theory of the “ absent structure ” of 1968. In his revision of his early theory, he came to the conclusion that the notion of absence presupposes the metaphysics of presence. Without saying so explicitly, Eco thus links up again with the fundamental tenet of Saussure ’ s structuralist semiotics according to which a structure is constituted through its opposition to another structure. Keywords: Umberto Eco; structure; semiotics; structuralism; nominalism; difference; opposition Zusammenfassung: U. Ecos frühe semiotische Schriften waren wesentlich den Strukturkonzeptionen der Begründer des semiotischen Strukturalismus im 20. Jh. F. de Saussure und L. Hjelmslev verpflichtet. Aber schon 1968 distanzierte sich Eco von einer Variante des Strukturalismus, die er “ ontologisch ” nannte, um ihr eine andere, “ methodologische ” Konzeption von Struktur und Strukturalismus gegenüberzustellen, mit der er sich identifizieren konnte und deren Wurzeln in der Semiotik des scholastischen Nominalismus zu finden sind. Schon früh machte sich Eco auch Elemente des Poststrukturalismus insbesondere von J. Derrida zu eigen. Von 1975 bis 2007 gewannen diese eine immer größere Bedeutung in seiner Semiotik, ohne dass sich Eco je vom der Semiotik der Begründer des Strukturalismus im 20. Jh. distanzierte, auf deren Lehren seine frühen Schriften fußten. Von seinem Werk Semiotik und Philosophie der Sprache (1985) an bis hin zu seinen semiotischen Analysen zur Logik des Porphyrianischen Baums (zuletzt in Dall ’ albero al labirinto, 2007) wandte sich Eco mehr und mehr der poststrukturalistischen Methode der Dekonstruktion zu, mit der er jene semiotischen Strukturen, die bei Saussure noch ein “ festes System ” bildeten, “ aufzuheben ” suchte, bis er diese Methode schließlich auch auf seine eigene frühe Theorie von der “ abwesenden Struktur ” (1968) anwandte. In seiner Revision dieser frühen Theorie gelangte Eco zu der Schlussfolgerung, dass die Idee von der Abwesenheit nicht ohne die Idee von der Anwesenheit denkbar sei. Mit diesem Argument kehrt Eco, ohne es so zu begründen, zu einem Grundgedanken des Strukturalismus zurück, wonach sich eine Struktur aus ihrem Gegensatz zu einer anderen konstituiert. Schlüsselbegriffe: Umberto Eco; Struktur; Semiotik; Strukturalismus; Nominalismus; Differenz; Opposition 1 Umberto Eco: Strukturalist und Nominalist Struttura assente, ‘ Die fehlende ’ oder ‘ abwesende Struktur ’ , war im Jahre 1968 der Titel von Umberto Ecos erster programmatischer Darlegung seiner später zu einer Theorie der Zeichen weiter entwickelten Semiotik (Eco 1968; 1975). Das Schlagwort von der “ fehlenden ” oder “ nicht vorhandenen ” oder Struktur ist charakteristisch für Ecos damaliges Verständnis von Struktur und Strukturalismus. In jenen Jahren, in denen der Strukturalismus seinen Höhepunkt erreichte, die Existenz von Struktur überhaupt schon im Titel eines Buches in Frage zu stellen, musste wie das Einstimmen in einen Abgesang auf den Strukturalismus klingen. Grit Fröhlich kommentiert denn auch: “ Ecos Verhältnis zum Strukturalismus ist ambivalent ” (2009: 174 - 75). Um Ecos Strukturalismuskonzeption genauer zu untersuchen, ist es erforderlich, sowohl mit Ecos Struttura assente aus dem Jahr 1968 als auch mit seiner Einführung in die Semiotik aus dem Jahr 1972 zu beginnen, denn letzteres Werk, das oft als Übersetzung des ersteren bezeichnet worden ist, unterscheidet sich in etlichen Passagen von ersterem gerade hinsichtlich der Konzeption von Struktur und Strukturalismus in einigen Punkten, entweder weil Passagen aus dem Buch von 1968 auf Wunsch des Autors nicht mehr in das Werk von 1972 mit aufgenommen oder weil sie vom Autor umformuliert worden sind. Einerseits entwickelt Eco in Struttura assente Prinzipien einer strukturalen Semiotik und stützt sich dabei auf die Semiologie von Klassikern des Strukturalismus wie Ferdinand de Saussure (1857 - 1913), Louis Hjelmslev (1899 - 1965), Roman Jakobson (1896 - 1982), Roland Barthes (1915 - 1980), Luis Prieto (1926 - 1996), Algirdas Greimas (1917 - 1992) u. a. (vgl. Nöth 2002). Andererseits wendet er sich gegen die Annahme von “ objektiven ” oder universellen Tiefenstrukturen des menschlichen Geistes, die Eco der Generativen Grammatik von Noam Chomsky (Eco 1972: 363 - 64), der semiotischen Psychoanalyse von Jacques Lacan (Eco 1968: 329 - 344; 1972: 403 - 4, 407; vgl. Nöth 2013), dem marxistischen Strukturalismus von Lucien Sebag, Louis Althusser und Étienne Balibar (Eco 1968: 319 - 322; 1972: 393) sowie vor allem dem Begründer der strukturalen Anthropologie Claude Lévi-Strauss unterstellt (Eco1968: 295 - 316; 1972: 365 - 387). Der Strukturalismus dieser Autoren sei ein ontologi- 236 Winfried Nöth scher. Der ontologische Strukturalismus betrachte die erforschten Strukturen als von Natur aus gegeben, als “ objektiv existent ” und “ nicht vom Forscher gesetzt ” . Dabei postuliere er ein “ Ur-System, das, weil in jeder semiotischen Manifestation anwesend, deren geheimes Prinzip immer wieder bestätige ” (Eco 1972: 396). Andererseits bekennt sich Eco zu einem Strukturalismus, den er als methodologisch definiert. Er beruft sich dabei auf die strukturale Semantik Louis Hjelmslevs (Eco 1972: 362), auf die Glossematik von Hans Christian Sørensen (Eco 1972: 426), auf den Strukturbegriff, den Merleau-Ponty (1960) in seiner Schrift über Zeichen entwickelt (Eco 1968: 377; 1972: 427 - 31; vgl. dazu Waldenfels 1975), auf die Strukturalismustheoretiker Lucien Sève (1967) und Lucien Goldman (Eco 1968: 263 - 64) sowie auf Piagets genetischen Strukturalismus (Eco 1972: 428 - 29, 435 - 36). Kennzeichen für die Strukturauffassung dieser Autoren sei die Ablehnung der Auffassung von Struktur als einer objektiven Realität, die in der Natur der Zeichen und der semiotischen Systeme läge. Der methodologische Strukturalismus verfolge demgegenüber die Annahme, dass jede Struktur nur vorläufig gegeben, weil stets historischen Veränderungen unterlegen sei. Statt von “ Struktur ” spreche der methodologische Strukturalismus von “ Strukturen ” . “ Indem er die Struktur verneint, bejaht er die Strukturen ” , so Eco (1968: 10), der sich diese Struktur- und Strukturalismuskonzeption zu eigen macht. Hinter der Strukturauffassung, die Eco im Titel von Struttura assente kritisiert, indem er die Struktur als abwesend charakterisiert, steht mithin eine gewissermaßen fundamentalistische Auffassung von Struktur. Der Autor wirft den ontologisch-strukturalistischen Denkern vor, universell gültige Tiefenstrukturen des menschlichen Geistes zu suchen, deren Existenz nicht erwiesen sei. Eco wendet ein: “ Was jede Untersuchung über die Struktur der Kommunikation aufdeckt, ist [ … ] keine zugrundeliegende Struktur, sondern die Abwesenheit der Struktur ” . Struktur zeige sich allenfalls “ im Feld eines ständigen ‘ Spiels ’” (Eco 1972: 410). Mit dieser Formulierung zitiert Eco Derrida, der im Kapitel “ Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen ” seines Werkes Die Schrift und die Differenz die Strukturauffassung, die Eco als “ ontologisch ” kritisiert, wie folg ablehnt: Die Struktur oder vielmehr die Strukturalität der Struktur wurde [ … ] immer wieder neutralisiert, reduziert: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte. Dieses Zentrum [ … ] sollte vor allem Sorge dafür tragen, dass das Organisationsprinzip der Struktur dasjenige in Grenzen hielt, was wir das Spiel der Struktur nennen könnten (Derrida 1967: 422). Und was für die Struktur gilt, gilt auch für das System oder den Code, denn “ wenn am Ursprung der Kommunikation ein ursprüngliches Spiel steht, dann kann dieses Spiel nicht unter Zuhilfenahme der Kategorien der strukturalistischen Semiotik definiert werden. Der Begriff des Codes selbst z. B. bricht dann zusammen. Das bedeutet, dass es an der Wurzel jeder möglichen Kommunikation keinen Code gibt, sondern die Abwesenheit jeden Codes ” , folgert Eco (1972: 410). Dabei unterstellt der methodologische Strukturalist Umberto Eco den ontologischen Strukturalisten, in Strukturen etwas Reales, Objektives oder Universelles zu sehen. Wer aber von solchen Annahmen ausgehe, erkenne nicht, dass Strukturen stets bloße Hypothesen, immer nur vorläufige Modelle und bloße “ Operationsverfahren ” seien, schreibt Eco Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 237 (1972: 361). Strukturen seien nämlich immer nur bloße “ Verfahrenskonzepte ” (Eco 1972: 367). Überhaupt zieht der methodologische Strukturalist Eco gerne Parallelen zwischen Strukturen und Modellen, um das Wesen einer Struktur zu erklären: Wenn ich weiß, dass die Struktur ein Modell ist, so weiß ich auch, dass sie, im ontologischen Sinn, nicht existiert. Aber wenn ich sie als ontologische Realität postulieren würde, so würde sie [ … ] als Struktur dennoch nicht existieren. In jedem Fall ist die Struktur abwesend. Ich kann nicht anders, als sie als Abwesenheit zu preisen, die meine Beziehung zum Sein konstituiert, oder als Fiktion (Eco 1968: 355, übersetzt von Fröhlich 2009: 178). Strukturalisten, die diese Prämisse nicht akzeptierten, unterlägen der “ ontologischen Versuchung ” (Eco 1968: v), die Struktur zu einem “ Substanzkonzept ” zu machen und zu glauben, “ dass das, was das Funktionieren des Modells ermögliche, dieselbe Form habe wie das Modell ” oder die Struktur selbst (Eco 1972: 367 - 68). Der ontologische Strukturalismus gründe sich mit solchen Annahmen auf einer Metaphysik, wie sie Eco Heidegger unterstellt und so kritisiert: (a) Sobald man versucht, den Begriff der Struktur objektiv und unzeitlich zu machen, kommt man zwangsweise zu einer Ontologie des Ursprungsortes; (b) eine Ontologie des Ursprungsortes zwingt dazu, wenn man korrekt alle Folgerungen zieht, den Begriff der Struktur zu zerstören; (c) diese Zerstörung der Struktur [ … ] macht einer “ Ontologie der Abwesenheit ” Platz [ … ]; (d) im westlichen Denken repräsentiert die Philosophie Heideggers diese Ontologie. Der Kern unserer Hypothese: der ontologische Strukturalismus zerstört sich als Strukturalismus und wird Heideggerismus. [ … ] Eine Vorwegnahme unserer Schlussfolgerungen könnte folgende sein: Die strukturale Ontologie führt dazu, als “ Ursprungsort ” ein Sein anzuerkennen, das sich, verborgen und heimlich, in Form von strukturierenden Ereignissen manifestiert, wobei es - Es - sich aber jeder Strukturierung entzieht (Eco 1972: 394). Wenn Eco nach diesen Prämissen fragt, “ Kann die Dialektik zwischen Anwesenheit und Abwesenheit als bloßer Gliederungsmechanismus verstanden werden oder ist sie ein metaphysisches Prinzip? ” (1972: 399), so darf die Antwort nur heißen, dass mit “ Struktur ” ein bloßer Gliederungsmechanismus gemeint sein kann, dem keine metaphysische Begründung zukommt. Ecos “ Ambivalenz ” gegenüber dem Strukturalismus impliziert mithin keine Ablehnung des Strukturalismus überhaupt. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass Ecos Theorie von der abwesenden Struktur von strukturalistischen Prämissen ausgeht und solche bekräftigt. Wenn Eco die Möglichkeit des Gegenteils andeutet, indem er die rhetorische Frage, ob sein Buch strukturalistisch oder antistrukturalistisch sei, damit beantwortet, dass er selbst “ beide Etikette dankend annehmen ” könne (1968: 11), so überzeugt seine Antwort nicht ganz. Schließlich hat Eco noch 1980 anlässlich einer Neuauflage seiner Struttura assente den Untertitel dieser Einführung von Introduzione alla ricerca semiologica zu La ricerca semiotica e il metodo strutturale abgeändert und sich damit noch einmal ausdrücklich zum Strukturalismus bekannt. In Ecos Strukturalismusrezeption zeigt sich keine Infragestellung des Strukturalismus an sich. Vielmehr geht es Eco lediglich darum, sich von den Prämissen einer Strukturauffassung zu distanzieren, der er eine andere gegenüberstellt, um sich diese zu eigen zu machen. Kennzeichnend für Ecos Verwurzelung im Strukturalismus ist nicht zuletzt, dass der Autor der Struttura assente sich bei der Begründung seiner eigenen Position als me- 238 Winfried Nöth thodologischer Strukturalist und in vielen anderen seiner Schriften immer wieder auf den Hyperstrukturalisten Louis Hjelmslev beruft (Eco 1972: 361 - 362; Eco 1973). Aus dessen Aufsätzen zitiert Eco etwa die These, dass unter einer strukturalen Wissenschaft von der Sprache die “ Gesamtheit der Untersuchungen ” zu verstehen sei, “ die auf einer Hypothese beruhen, der zufolge es wissenschaftlich legitim ” sei, “ die Sprache so zu beschreiben, als ob sie eine Struktur wäre ” . Eco merkt dabei an, dass sich Hjelmslev bei dieser Begründung “ sehr wohl davor hüte ” , von einer Struktur an sich zu sprechen, um auf diese Weise der Gefahr zu entgehen, sich in metaphysischen Reflexionen zu verlieren (Eco 1972: 361 - 62). Ebenfalls von Hjelmslev stammt der Verweis darauf, dass der Gegensatz zwischen dem methodologischen und dem ontologischen Strukturalismus, wie Eco diese beiden Richtungen des Strukturalismus bezeichnet, seinen Ursprung im Streit zwischen den Realisten und den Nominalisten in der mittelalterlichen Scholastik hat. Diese These bekräftigt Eco mit dem folgenden Zitat aus dem Werk des dänischen Glossematikers: “ Damit ist man wieder bei dem alten im Mittelalter diskutierten Problem, ob die Begriffe [ … ], die aus der Analyse hervorgegangen sind, aus der Natur des Gegenstandes selbst stammen (Realismus) oder ob sie aus der Methode stammen (Nominalismus) ” (Hjelmslev, in Eco 1972: 362). Es scheint somit, dass Eco seinen Begriff des methodologischen Strukturalismus von genau jenem Zitat abgeleitet hat, in dem Hjelmslev die Semiotik der Scholastik so interpretiert, dass die Nominalisten die Realität der Begriffe in der Methode der logischen Forschung begründet sehen, also in den Begriffen die die Instrumente der Forschung sind, aber nicht in der Realität der Sachen. In seiner Struttura assente vertieft Eco solche mittelalterlichen Wurzeln des methodologischen Strukturalismus im Nominalismus und solche des ontologischen Strukturalismus im scholastischen Realismus nicht weiter. Dass Eco aber die Semiotik der scholastischen Nominalisten derjenigen der Realisten vorzieht, lässt sich seinem Roman Der Name der Rose entnehmen (Eco 1980). Dort tritt nämlich der Protagonist William von Baskerville in der Rolle des kongenialen Zeichendeuters Sherlock Holmes (in Begleitung seines Gehilfen Adson, alias Watson) und zugleich in der Rolle eines nominalistischen Philosophen auf. Der Nominalist, für den William von Baskerville als Philosoph steht, ist William von Ockham (1285 - 1349), und die Dialoge, in welchen der fiktionale William nominalistische Thesen vertritt, handeln zum Beispiel davon, dass Wörter bloße Zeichen seien und dass Allgemeinbegriffe wie “ Rose ” oder “ Pferd ” unabhängig von der Welt der bezeichneten Dinge bloße Namen seien, die so beschaffen seien wie sie sind, ohne dabei von den Dingen beeinflusst zu sein, welche diese Namen bezeichnen. Der Name der Rose sei beispielsweise allein dafür verantwortlich, dass wir Rosen als Rosen bezeichnen, nicht die botanische Realität der Flora im Allgemeinen oder diejenige der Rosen im Besonderen (vgl. Schreiber 1991). Die semiotische Position, die Eco als methodologischen Strukturalismus beschreibt, ist mithin eine nominalistische. Ecos These von der abwesenden Struktur und dem Strukturalismus, der ein methodologischer zu sein habe, erklärt dessen Sympathie für die Semiotik der scholastischen Nominalisten. Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 239 2 Wie Eco die Abwesenheit der Struktur mit Saussures strukturalistischer These vom Differenzcharakter und von der “ reinen Negativität ” der Zeichen begründet Der Begriff der Struktur selbst war noch kein Schlüsselbegriff in den Vorlesungen des Begründers des Strukturalismus Ferdinand de Saussure, weshalb Mounin (1968) ihn auch einen “ Strukturalisten, ohne es zu wissen ” nannte. Statt von Strukturen, spricht Saussure vom System der Sprache, und was die Strukturalisten später “ Struktur ” nannten, bezeichnete er als Differenz, Opposition und gelegentlich allgemeiner als Form. Strukturen konstituieren sich für einen Strukturalisten, ganz gleich ob der ontologischen oder der methodologischen Prägung, aus Differenzen und Oppositionen zwischen Elementen eines Systems. Differenzen betreffen nach Saussure die Unterschiede zwischen den Elementen auf der Ausdrucksseite des Systems (den Signifikanten) oder auf der Inhaltsseite (den Signifikaten), jeweils für sich betrachtet. Die Relation zwischen zwei Ausdruckselementen wie etwa / maus/ und / laus/ ebenso wie diejenige zwischen zwei Inhaltseinheiten (Semen), etwa ‘ weiblich ’ und ‘ männlich ’ , konstituieren demnach Differenzen. “ Die Bedeutung einer jeden Form kommt der Differenz zwischen diesen Formen gleich. [ … ] Wir müssen als erstes Prinzip anerkennen, dass jede Form auf zwei negativen Tatsachen beruht: die allgemeine Differenz zwischen Lautkonfigurationen UND die allgemeine Differenz zwischen den Bedeutungen die mit diesen Formen verbunden sind ” , schreibt Saussure (2002: 29). Als Oppositionen sind dagegen diejenigen Relationen definiert, die zwischen den Zeichen in ihrer Gesamtheit, also zwischen Einheiten bestehen, die einen bestimmten Signifikanten mit einem bestimmten Signifikat verbinden, wie z. B. “ Mutter ” vs. “ Vater ” (Saussure 1916: 129). Die strukturalistische These von der Opposition als dem konstitutiven Merkmal semiotischer Strukturen und Systeme findet ihren ersten programmatischen Ausdruck im Cours de linguistique générale: “ Die Sprache [ … ] ist ein System, das auf psychischen Oppositionen zwischen akustischen Wahrnehmungen beruht, ebenso wie ein Wandteppich ein Kunstwerk ist, welches aus visuellen Oppositionen zwischen den unterschiedlichen Farben der Fäden beruht. Was für die Analyse wichtig ist, ist das Spiel dieser Oppositionen; es sind nicht die Verfahren ihrer Herstellung ” , schreibt Saussure (1916: 40). Oppositionen konstituieren das System als solches und bestimmen dabei den Wert der einzelnen Strukturen, die das System bilden. Der Wert der Strukturen im System der Sprache sei wie der Wert der Figuren eines Schachspiels zu begreifen, argumentiert Saussure: Unter allen Vergleichen, die man sich vorstellen kann, ist derjenige zwischen dem Sprach- und dem Schachspiel am treffendsten. Hie und da geht es um Systeme von Werten und um deren Veränderung. Eine Schachpartie kommt der künstlichen Verwirklichung dessen gleich, was die Sprache in natürlicher Form ausmacht. [ … ] Der Wert der einzelnen Figuren hängt von ihrer jeweiligen Position auf dem Schachbrett ab, ebenso wie in der Sprache jeder Begriff seinen Wert aus seiner Opposition zu anderen Begriffen erhält (Saussure 1916: 96). Das dritte Kapitel von Teil II des Cours führt unter der Überschrift “ Das Zeichen in seiner Gesamtheit betrachtet ” (§ 4), den Begriff der Differenz als Schlüsselbegriff der Analyse des Sprachsystems ein. “ Im System der Sprache gibt es nichts als Differenzen [ … ] ohne positive Begriffe, denn weder, was die Signifikate noch was die Signifikanten angeht, gibt es 240 Winfried Nöth irgendwelche dem System der Sprache vorausgehende Ideen oder Laute ” , erklärt Saussure (1916: 128). Weder die Ausdrucksnoch die Inhaltselemente, die Signifikanten oder Signifikate der Sprache, haben irgendeinen substanziellen semantischen bzw. lautlichen Eigenwert, denn für beide gilt, sie sind “ negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Elementen des Systems bestimmt. Ihre genaue Beschreibung lautet, sie sind das, was die anderen nicht sind ” (Saussure 1916: 125). An die so definierten Begriffe der Differenz und der Opposition sowie an Saussures Theorie von der Negativität der Werte des Systems allgemein knüpft Eco in seiner Theorie von der abwesenden Struktur an. Saussures These, dass es in einer Sprache keine substanziell “ positiven Begriffe ” gebe, passt zu Umberto Ecos Theorie von der substanziell abwesenden, weil fehlenden Struktur. Eco schreibt: Saussure [ … ] bekräftigt entschieden den Systemcharakter der Sprache ( “ die Sprache ist ein System, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem ich Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen ergeben ” [Saussure 1916: 88]). Es bedeutet folglich einen großen Fehler, zum Beispiel einen Begriff als die Einheit eines gewissen Lautes mit einer bestimmten Bedeutung zu betrachten [ … ] und zu glauben, man könne mit den Begriffen beginnen und aus ihnen das System konstruieren, indem man deren Summe ermittelt, statt von der Gleichzeitigkeit des Ganzen auszugehen, um so im Verlaufe der Analyse zu den Elementen zu gelangen, welche sie enthält. Aber vom Ganzen auszugehen, um die Beziehungen zwischen den Begriffen zu beleuchten, um zum Beispiel eine gewisse Bedeutung im Gegensatz zu einem anderen kopräsenten Begriff zu definieren, bedeutet, Differenzen im System zu ermitteln (Eco 1968: 259 - 60). Saussures These von der Sprache, in der es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder gibt, ist die These vom Differenzcharakter und der reinen Negativität der sprachlichen Zeichen. In dieser These, wonach ein sprachliches Zeichen weder auf seiner Ausdrucksnoch auf seiner Inhaltsseite einen positiven oder substanziellen Wert hat, findet Eco ein strukturalistisches Fundament für seine Theorie von der abwesenden Struktur. Wenn nämlich die Struktur der Zeichen weder in seiner Ausdrucks noch in seiner Inhaltssubstanz begründet ist, sondern allein in einer Form, die so ist, wie sie ist, aber durchaus anders sein könnte, dann kann die semiotische Struktur eben kein ontologisches Fundament haben. Saussures These von der Negativität der Werte, welche eine Struktur bestimmen, macht sich Eco zu eigen, wenn er schreibt: “ In einem strukturierten System hat jedes Element insofern einen Wert, als es nicht das andere oder die anderen ist, die es ausschließt und gleichzeitig evoziert ” (1972: 399), aber Umberto Eco wäre nicht Umberto Eco, wenn er diesen Saussureschen Prämissen nicht noch eigene Gedanken hinzufügte. Am Beispiel der Differenzen, die nach der Saussureschen Prämisse den Wert eines Phonems ausmachen, fügt Eco den Prämissen Saussures die folgenden Überlegungen hinzu, die darauf abzielen, die Saussuresche These von der reinen Negativität der Differenzen, die das System konstituieren, im Lichte eines Ecoschen Dualismus von der Anwesenheit und der Abwesenheit der Struktur zu deuten: Das phonematische Element gilt nicht wegen des Vorhandenseins einer physischen Substanz des Ausdrucks, sondern wegen des an sich leeren Stellenwerts, den es im System einnimmt. Damit aber der Sinn entstehen kann, muss einer der Ausdrücke der Opposition erscheinen und da sein. Wenn er nicht da ist, wird auch die Abwesenheit des anderen nicht bemerkt. Die oppositionelle Abwesenheit gilt nur angesichts einer Anwesenheit, die sie offenbar macht. Die Evidenz der Anwesenheit wird eben von der Ausdruckssubstanz gegeben [ … ]: der leere Raum zwischen den zwei Größen, die nicht da Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 241 sind, gilt nur, wenn alle drei Werte (Ja, Nein und der leere Raum zwischen beiden) in Spannung zueinander stehen. Die Abwesenheit, von der der Strukturalist spricht, betrifft zwei Tatsachen: 1) Es zählt nicht, was an der Stelle des Ja und des Nein steht, sondern, dass die Größen, die deren Stellenwert einnehmen, eben in Spannung zueinander stehen. 2) Sobald das Ja (oder das Nein) ausgesprochen ist, bedeutet die ausgesprochene Größe dadurch, dass sie sich von der Abwesenheit der anderen abhebt. Aber was letztendes in der Mechanik der signifikativen Oppositionen zählt, ist, dass die systematische Möglichkeit gegeben ist, dass etwas da ist, indem es sich von etwas unterscheidet, was nicht da ist. Die strukturalistische Abwesenheit zählt, insofern etwas nicht da ist und an dieser Stelle etwas anderes erscheint (Eco 1972: 399 - 400). Diese Passage steht symptomatisch dafür, wie Eco in seinem Strukturalismus unorthodox sein kann, ohne dabei dem Strukturalismus gänzlich abzuschwören. Unorthodox, wenn nicht sogar schon poststrukturalistisch, ist Ecos Umdeutung der Saussureschen Theorie von der Negativität der differenziellen Werte des Systems zu einer Theorie der An- und Abwesenheit der Strukturen bei gleichzeitiger Erweiterung der binären Form des Saussureschen Arguments von der Opposition von etwas Anwesenden zu etwas Abwesendem zu einer triadischen Konzeption von Struktur, in der als drittes Element der “ leere Raum ” zwischen den beiden Polen der Opposition hinzukommt. Eco verlässt allerdings in diesem Zitat die Pfade des Strukturalismus dann doch nicht, wenn er im Folgenden “ letztendlich ” das strukturalistische Denken in binären Oppositionen bekräftigt, indem er zu binären Reflexionen über anwesende und abwesende Strukturen zurückkehrt. Nur am Rande sei hier vermerkt, dass der Nominalist Eco, wenn er sich auf Saussures Theorie von der reinen Negativität der Strukturen beruft, nicht die Auffassung eines Nominalisten teilt, für den wissenschaftliche Modelle und Theorien bloße methodologische Instrumente sind, deren Vorläufigkeit es zu unterstreichen gälte. Saussure selbst war kein methodologischer Strukturalist im Sinne Umberto Ecos, denn für ihn war es nicht die Aufgabe der Linguisten oder Semiologen, bloß vorläufige wissenschaftliche Modelle des zu erforschenden semiotischen Feldes zu erarbeiten. Vielmehr ging es ihm darum, nachzuweisen, dass die semiologische Theorie ein Spiegel ihres Gegenstandsbereiches sein müsse, ebenso systematisch wie der Gegenstand der Analyse, das semiotische System selbst. “ Die Sprache ist ein fest geschlossenes System, und die Theorie muss ein ebenso geschlossenes System sein wie die Sprache ” , schreibt Saussure in einem Manuskript aus dem Jahr 1909 (Quijano 2005: 63). 3 Eco über Strukturen, Oppositionen und Differenzen Auch wenn Eco weiß, dass der Strukturalismus ein Forschungsprogramm des 20. Jahrhunderts ist, verortet er dessen geistesgeschichtliche Wurzeln sehr früh in der Geschichte der Philosophie. Als “ Vater des strukturalistischen Denkens ” habe Aristoteles zu gelten, schreibt Eco, und fügt hinzu, dass “ die Idee eines strukturierten Ganzen die philosophischen Reflexionen in allen Jahrhunderten bestimmt hat ” (1968: 255 - 57). Nach Aristoteles schreibt Eco der Scholastik Affinitäten zum Strukturalismus zu. Eines der Charakteristiken, welche das scholastische dem strukturalen Denken verwandt macht, sei das besondere Interesse der scholastischen Logiker für binäre Unterscheidungen (wahr/ falsch, sic et non) (Eco 1970: 259). Nach der Scholastik findet Eco ein solches Interesse wieder in der neuplato- 242 Winfried Nöth nischen Idee vom Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) des Nikolaus von Kues (Cusanus) und Giordano Brunos. Eco vertieft diese Themen in seiner Theorie der Interpretation und in seinem Werk Suche nach der vollkommenen Sprache (1990: 18 - 27; 1993). Spuren seiner Faszination für Gegensätze finden sich auch in Ecos literarischem Werk. “ Wenn ich einen Roman schreibe, inszeniere ich ein Stück von Widersprüchen ” , erklärt Eco (1992: 140). Schon in der Liste seiner Aufsatz- und Buchtitel gibt es zahllose Beispiele für die sprichwörtliche Anziehungskraft zwischen Gegensätzen und Widersprüchen in Ecos Denken (z. B. Eco 1983: “ Der Antiporphyrios ” ; 2006: Im Krebsgang voran; 2007: Vom Baum zu Labyrinth). Nachdem er in den 1960er Jahren über die Ästhetik des Scholastikers Thomas von Aquin diachron geforscht hatte (später auch Eco 1987), wandte sich Eco unmittelbar dem auf Synchronie eingeschworenen Strukturalismus zu. In seiner Einführung in den Strukturalismus definiert er, wie oben gezeigt, die Struktur im Sinne des Strukturalismus und stellt ihr zugleich seine Theorie von der Abwesenheit derselben gegenüber. Eco schreibt einerseits kenntnisreich über die Gedächtniskunst der mittelalterlichen Rhetoriker (1992) und reflektiert andererseits über die Möglichkeit einer Kunst des Vergessens (1988a). Seiner Geschichte der Schönheit (2004) lässt er bald auch eine Geschichte der Hässlichkeit (2007) folgen. Einige seiner Bücher oder Kapitel künden schon im Titel an, dass sie von Gegensätzen handeln, andere sind sogar in Form von Oxymora formuliert, z. B. Apokalyptiker und Integrierte (1964, dt. 1978), “ On truth: a fiction ” (1988b), Interpretation und Überinterpretation (Zwischen Autor und Text, dt. 1992) oder Woran glaubt, wer nicht glaubt (Eco und Martin, dt. 1998). Wie ein roter Faden zieht sich das Thema der semantischen Oppositionen und Differenzen durch Ecos semiotische Schriften. Die Inhaltsoppositionen Louis Hjelmslevs werden für Eco zum Baustein seiner Kultursemiotik. “ Eine kulturelle Einheit [ … ] ist definiert insoweit, als sie innerhalb eines Systems weiterer kultureller Einheiten platziert ist, die in Opposition zu ihr stehen oder sie umschreiben, ” führt Eco in seinem Entwurf einer Theorie der Zeichen aus (1976: 108) und folgert: “ Eine kulturelle Einheit ‘ existiert ’ und wird insoweit erkannt, als es eine andere gibt, die in Opposition zu ihr steht. Es ist die Beziehung zwischen den verschiedenen Elementen eines Systems, die jedem dieser Elemente das wegnimmt, was das andere übermittelt ” (ibid.). Oppositionen und Differenzen bestimmen auch für Eco semiotische “ Werte, die ausschließlich aus dem System stammen ” (1976: 109). Diese Werte entsprechen zwar kulturellen Einheiten, lassen sich aber definieren als bloße Differenzen; sie werden nicht nach ihrem Inhalt [ … ] definiert, sondern danach, in welcher Weise sie zu anderen Elementen des Systems in Opposition stehen und welche Position sie innerhalb des Systems einnehmen (ibid.). Zum Kern seiner semiotischen Theorie macht Eco ein in Form einer semantischen Opposition konzipiertes Argument, wenn er in seiner Semiotik und Philosophie der Sprache die Möglichkeit, Wahres zu sagen, von der Bedingung abhängig macht, mit dem gleichen Ausdrucksmittel auch Falsches sagen zu können: Die Semiotik befasst sich mit allem, was man als Zeichen betrachten kann. Ein Zeichen ist alles, was sich als signifizierender Vertreter für etwas anderes auffassen lässt. Dieses andere muss nicht unbedingt existieren oder in dem Augenblick, in dem ein Zeichen für es steht, irgendwo vorhanden Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 243 sein. Also ist die Semiotik im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwenden kann. Wenn man etwas nicht zum Aussprechen einer Lüge verwenden kann, so lässt es sich umgekehrt auch nicht zum Aussprechen einer Wahrheit verwenden: Man kann es überhaupt nicht verwenden, um ‘ etwas zu sagen ’ . Ich glaube, dass die Definition einer ‘ Theorie der Lüge ’ ein recht umfassendes Programm für eine allgemeine Semiotik sein könnte (Eco 1975/ 1987, dt. 26). Mit diesem Argument schreitet Eco von der strukturalen Semantik Hjelmslevs und Saussures zu einer strukturalen Semiotik fort, denn es geht nun nicht mehr allein um die semantischen Werte von Wörtern, wie sie die Linguistik untersucht, sondern um diejenigen der Argumente, die Eco dann in seiner Theorie der Interpretation vertiefen wird. 4 Wie Eco Oppositionen mit poststrukturalistischen Argumenten aufzuheben sucht Schon früh fließen in Ecos Reflexionen zum Wesen der Strukturen und des Strukturalismus poststrukturalistische Elemente mit ein. Ein erstes Beispiel für diesen Übergang zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus fand sich oben, wo Eco in seiner Einführung den Dualismus von Anwesenheit und Abwesenheit durch Reflexionen über den “ leeren Raum ” zwischen beiden erweitert. Eco erweist sich an solchen Stellen als Strukturalist und Poststrukturalist zugleich (Nöth 2017). Nicht immer ist es leicht zu erkennen, wo zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus Ecos Position zu verorten ist. Symptomatisch für die gelegentliche Ambiguität seiner Position zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus sind Gedanken, die er in Kapitel 1.5.3 seiner Semiotik und Philosophie der Sprache unter der Überschrift “ Das Zeichen als Differenz ” entwickelt (1985: 42 - 44). Ausgehend von Hjelmslevs Definition des Werts eines Wortes als die Form, in der es eine Inhaltssubstanz segmentiert, gelangt Eco nun zu einem recht anderen Schluss: Die Korrelation zwischen Ausdrucksebene und Inhaltsebene ist ebenfalls durch einen Unterschied gegeben: die Zeichenfunktion existiert durch eine Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit als ein gegenseitiger Austausch zwischen zwei Heterogenitäten. Von dieser strukturellen Prämisse ausgehend, kann man das gesamte Zeichensystem in ein Netz von Frakturen auflösen. Die Natur des Zeichens ist in der ‘ Wunde ’ oder ‘ Öffnung ’ oder ‘ Spaltung ’ zu finden, die es konstituiert und gleichzeitig annulliert (Eco 1985: 43). Während die Prämissen von Ecos Argumentationslinie strukturalistisch sind, klingt seine Konklusion posstrukturalistisch, denn nun spricht Eco von der Auflösung jener Strukturen, die zuvor als Differenzen und Oppositionen definiert waren, in einem Netzwerk von Frakturen, in denen sich Wunden, Löcher oder Spalten zeigen. Eine solche Konzeption der Strukturen eines Systems steht in krassem Gegensatz zu der Saussureschen Konzeption eines semiotischen Systems, “ in dem alles zusammenhält ” ( ‘ ou tout se tient ’ ; cf. Koerner 1996). In den Verletzungen und Verformungen, die Eco schließlich in den Differenzen eines semiologischen Körpers bemerkt, werden poststrukturalistische Gedankensplitter sichtbar, deren Ursprung in Deleuzes poststrukturalistischer Theorie von den Wunden und Narben (vgl. Reynolds 2007) liegen dürfte, auch wenn Eco selbst sie an dieser Stelle “ insbesondere Derrida ” zuschreibt (Eco 1985: 43). Ecos detaillierteste kritische Untersuchung eines semantischen Universums nach den Prinzipien der strukturalen Semantik findet sich wohl in seinem Aufsatz “ Antiporphyrios ” 244 Winfried Nöth (1983), einer Untersuchung zur Semantik des Baums des Wissen des antiken Aristoteles- Kommentators Porphyrios von Tyros (auch in: Eco 1984: 92 - 107). Als Buchtitel und inhaltlich erweitert ist das Thema in Ecos Dall ’ albero al labirinto: Studi storici sul segno e l ‘ interpretazione ([ ‘ Vom Baum zum Labyrinth …’ ] 2007) thematisiert. Schritt für Schritt untersucht Eco hier die Möglichkeiten und deren Grenzen, das Universum des Wissens nach strukturalistischen Prinzipien in Form eines Baumdiagramms zu analysieren, um schließlich das logische Scheitern dieses Unterfanges aufzuzeigen, weil die Zahl der Probleme dieses Versuches größer ist als diejenige der Möglichkeit, das Universum des Wissens nach diesem Prinzip zu gliedern. Am Ende gibt Eco auf: Der Baum der Gattungen und Arten, der Baum der Substanzen löst sich in einen Staubregen von Differentiae, in einen Tumult von unendlichen Akzidenzien, in ein nicht-hierarchisches Netzwerk von qualia auf. Das Wörterbuch wird in eine potentiell ungeordnete und begrenzte Galaxis von Stücken von Weltwissen aufgelöst. Das Wörterbuch wird so zu einer Enzyklopädie, weil es ohnehin eine verkleidete Enzyklopädie war (Eco 1984, dt. 1985: 107). Überhaupt ist bei der Lektüre des Abschnitts 1.5.3 von Semiotik und Philosophie der Sprache unter dem Titel “ Das Zeichen als Differenz ” (1985: 42 - 44) zu beachten, dass dieser ein Unterkapitel des Kapitels 1.5 ist, welchem Eco den poststrukturalistischen Titel “ Die Dekonstruktion des sprachlichen Zeichens ” gegeben hat. Die Dekonstruktion der Struktur, wie sie ja schon in Struttura assente Programm war, wird hier radikaler. Eco scheut nun nicht einmal davor zurück, sein eigenes Argument von der fehlenden Struktur (Struttura assente) neu aufzugreifen, um es dialektisch aufzuheben. Dabei gelangt er zu der folgenden Einsicht: Um jedoch ein System von Oppositionen überhaupt denken zu können, in dem etwas als abwesend wahrgenommen wird, muss etwas anderes als zumindest potentiell anwesend behauptet werden. Die Anwesenheit des einen Elements ist notwendig für die Abwesenheit des anderen. Alle Beobachtungen, die die Wichtigkeit des abwesenden Elements betreffen, gelten symmetrisch auch für das anwesende Element. Alle Beobachtungen, die die konstitutive Funktion des Unterschieds betreffen, gelten für beide Pole, aus deren Opposition der Unterschied erzeugt wird. Das Argument beißt sich daher in den Schwanz (Eco 1985: 43). Den letzten Satz dieser Ausführungen formuliert Eco (1984: 18) im Original so: “ L ’ argomento è quindi autofago ” - ‘ Das Argument ist mithin autophag ’ , also ‘ sich selbst verzehrend ’ , was wohl als eine Metapher für “ paradox ” zu verstehen ist. Damit deckt Umberto Eco aber, ohne dies sehr deutlich zu sagen, auf, dass seine eigene Theorie von der Abwesenheit der Struktur auf einem Paradox beruhte. Dem zitierten Abschnitt des Kapitels 1.5.3 über “ Das Zeichen als Differenz ” , in dem er dieses Paradox formuliert, lässt Eco im italienischen Original seines Buches, Semiotica e filosofia del linguaggio, einen weiteren Absatz folgen, der sowohl in der englischen Übersetzung (Semiotics and the Philosophy of Language) als auch in der deutschen fehlt. Der letzte Satz dieses Abschnittes beendet das Kapitel mit einer weiteren Reflexion über die Paradoxie von der Abwesenheit, die sich nur durch eine Anwesenheit konstituieren kann. Er lautet: “ Così il segno come pura differenza si contraddice nel momento in cui, per nominarlo come assenza, si producono segni percepibili ” (1984: 18): ‘ So widerspricht sich das Zeichen als reine Differenz, wenn es als Abwesenheit definiert wird, in dem Moment selbst, in welchem wahrnehmbare Zeichen produziert werden ’ . Mit dieser Formulierung des Gedankens von der Selbstaufhebung der Struktur als Abwesenheit durch die Notwendigkeit einer Anwesenheit bedient sich Eco Umberto Ecos Konzeptionen von Struktur und Strukturalismus 245 schließlich doch wieder eines strukturalistischen Argumentes, denn wenn das Zeichen in absentia des Zeichens in praesentia bedarf, um wahrnehmbar zu werden, dann zeigt sich doch, dass seine Struktur nicht als bloße Abwesenheit definiert werden kann, weil sich diese aus der Opposition von Anwesenheit und Abwesenheit konstituiert, die sich gegenseitig bedingen. Literatur Derrida, Jacques (1967). Écriture et la différance. Paris: Seuil. - Deutsch von Rodolphe Gasché: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976. Eco, Umberto (1968). La struttura assente, nuova edizione 1980. Paperbackausgabe Milano: Bompiani/ Tascabili 2002. Eco, Umberto (1970). Il problema estetico in Tommaso d ’ Aquino. Milano: Bompiani. Eco, Umberto (1972). Einführung in die Semiotik. 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