Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
826
2024
422-4
Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten
826
2024
Hans Giessen
The article describes the results of two quantitative surveys (with high school students and with university students). They referred to the different media in which the Icelandic artist Björk distributed a song: first as (the) simple song, then as a music video, and finally as an app. Neither the song nor the music video Crystalline could convince the majority of the students. It turns out that the app was independently appreciated and thus perceived as an independent product; in some cases the app was even appreciated because it cognitively dominated over the song. The article shows how different media each have their own effects, which are not complementary, but might even contradict each other.
kod422-40248
K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten. Ergebnisse einer qualitativen Befragung zur Mediennutzung und -bewertung. Hans Giessen (Kielce) Abstract: The article describes the results of two quantitative surveys (with high school students and with university students). They referred to the different media in which the Icelandic artist Björk distributed a song: first as (the) simple song, then as a music video, and finally as an app. Neither the song nor the music video Crystalline could convince the majority of the students. It turns out that the app was independently appreciated and thus perceived as an independent product; in some cases the app was even appreciated because it cognitively dominated over the song. The article shows how different media each have their own effects, which are not complementary, but might even contradict each other. Keywords: Apps, Björk, Christalline, media adequacy, music video, song Zusammenfassung: Der Artikel beschreibt die Ergebnisse von zwei quantitativen Erhebungen (mit Gymnasiasten und mit Universitätsstudenten), die sich auf die verschiedenen Medien bezogen haben, in denen die isländische Künstlerin Björk ihr Lied Crystalline verbreitet hatte: zunächst als reiner Audiodokument (das konkrete Lied), dann als Musikvideo und schließlich als App. Weder der Song noch das Musikvideo konnten die Mehrheit der Befragten überzeugen. Allerdings wurde die App, offenbar unabhängig vom konkreten Song, durchaus geschätzt. Sie wurde somit als eigenständiges Produkt wahrgenommen; in einigen Fällen wurde die App explizit sogar deshalb besonders geschätzt, weil sie kognitiv über den (in der Regel negativ bewerteten) Song dominierte. Der Artikel zeigt, wie unterschiedliche Medien jeweils eigene Wirkungen haben, die sich nicht ergänzen, sondern sogar widersprechen können. Schlüsselbegriffe: Apps, Björk, Christalline, Medienadäquatheit, Musikvideo, Song 1 Einleitung Ein zentrales Thema der Semiotik ist die Wechselbeziehung zwischen Inhalt und Code. Der jeweilige Code hängt dabei auch vom Publikationsmedium ab, das den Inhalt beeinflusst beziehungsweise gar verändern kann. Aus diesem Grund ist es besonders interessant, zu untersuchen, wie ein Inhalt wirkt, wenn er in unterschiedlichen Medien präsentiert wird. Dies soll im Folgenden anhand eines Songs der isländischen Sängerin Björk versucht werden. Björk ist eine international renommierte Künstlerin (Dibben 2009); von daher kann vermutet werden, dass die jeweiligen Medienprodukte jeweils professionellen Ansprüchen genügen und daher medienadäquat erstellt worden sind (Giessen 2004). Da den Medienprodukten - einem Musikvideo wie auch einer App - jeweils der selbe Song von Björk zugrunde liegt und mithin ein jeweils dominierendes künstlerisches Konzept Björks, die auch die Auftraggeberin der beiden Medienprodukte war, so dass die inhaltliche Variable zunächst und grundsätzlich identisch war, kann die Auswirkung des Mediums gut beobachtet werden. Im Folgenden sollen nicht der Inhalt beziehungsweise die künstlerischen Konzepte untersucht werden, sondern die Wirkung der unterschiedlichen Medienprodukte. Björk ist diesbezüglich auch deshalb besonders interessant, weil sie eine der ersten Künstler: innen war, die nicht nur Musikvideos erstellen ließ, sondern auch mit Apps experimentierte. Vor Björks App-Serie gab es zwar bereits vereinzelte künstlerische Versuche mit Apps, aber noch kaum vergleichbare Produktionen von kommerziell erfolgreichen Musikern. Zu den wenigen Ausnahmen zählen Brian Eno (mit der App “ Bloom ” ) oder die Gruppe Gorillaz (mit der App “ The Fall ” ), die bereits 2008 beziehungsweise 2010 entstanden sind. Im Jahr danach erschienen dann Björks Album “ Biophilia ” , zu dem sie mit Scott Snibbe eine komplette App-Serie erstellt hat. Dazu zählt auch der Song “ Christalline ” , zu dem zusätzlich noch ein Musikvideo unter der Regie von Michel Gondry produziert wurde. Die Tatsache, dass hier ein trimedialer Vergleich möglich ist, war Anlass dieser Untersuchung. Björks frühe Hinwendung zur App ist sicherlich einem für die Künstlerin charakteristischen innovativen Impuls zu verdanken. Dabei spielt wohl der Wunsch eine Rolle, ihre großen Themen wie die Synthese von Innen nach Außen, von Individuum und Universum wie von Natur und Technik auch durch die Nutzung neuer technischer Errungenschaften zu erproben und realisieren (Dibben 2009: 72 ff.). Zwangsläufig sind aber auch finanzielle beziehungsweise ökonomische Implikationen bedeutsam. Die App erschien als neue Vertriebsform, die auch finanziell interessant zu sein schien, nachdem Musiktitel regelmäßig (raub-)kopiert wurden. Björk selbst beklagte dies in einem “ Wired ” -Interview mit Charly Burton (2011); dazu kam, dass auch Radiosender wie Fernsehmusikkanäle zunehmend mainstreamiger wurden, wie Derek Birkett, der Mitbegründer und -besitzer von Björks Londoner Plattenlabel “ One Little Indian Records ” in einem Interview mit Nicola Dibben bestätigt hat (Dibben 2009: 161). Aus diesem Grund schien die App eine neue, vielversprechende Distributionsform zu sein, die zudem Innovationskraft zum Ausdruck bringt. Scott Sona Snibbe, der Designer der Crystalline-App, betonte daher im Gespräch mit Eliot van Buskirk, dass eine App Nutzerzahlen erreichen könne, die so hoch oder gar noch höher als diejenigen eines Musikvideo sein können; im Gegensatz zum Musikvideo lasse Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 249 sich mit einer App aber auch noch Geld verdienen. Warum sollte dieser Weg also nicht eingeschlagen werden (van Buskirk/ Snibbe 2011)? 1 Vor diesem Hintergrund entstehen jedoch neue Irritationen. Denn: Eine Reaktion auf Snibbes oben zitierte und von ihm offenbar nur rhetorisch gemeinten Frage, warum man angesichts potenziell hoher Nutzerzahlen und der zusätzlichen Möglichkeit, im Gegensatz zum Musikvideo Geld verdienen zu können, darauf verzichten sollte, Apps zu Musiktiteln (in Ergänzung zum Musikvideo oder gar anstelle des Musikvideos) zu produzieren, könnte in Gegenfragen bestehen: Selbst wenn mit einer App Geld verdient werden kann, nützt sie dem Künstler oder der Künstlerin? Wie gehen die Nutzer damit um? Diesen Fragen widmet sich dieser Beitrag. Zumindest ist angesichts der finanziellen Erwartungen (beziehungsweise fast Versprechungen des Designers an die Musikerin) überraschend, dass Björk, Snibbe (und andere App-Produzenten bei weiteren Biophilia- Titeln) offenbar keine Markt- oder Usability-Forschung betrieben haben, um das kommerzielle wie auch das künstlerische Potential der Apps bewerten und eventuell gezielter nutzen zu können. Vielleicht war eine explizite Marktforschung in der Tat nicht möglich, da es sich ja um eine der ersten entsprechenden künstlerischen Produktionen handelte, ein “ Markt ” also noch gar nicht vorhanden war. Eine Usability-Studie wäre aber zweifellos sinnvoll und wichtig gewesen. Selbst wenn strategische Überlegungen solchen Untersuchungen vor der Produktion entgegengestanden haben sollten (etwa: Björk wollte entsprechende Apps auf jeden Fall, aus künstlerischen beziehungsweise innovatorischen Erwägungen, veröffentlichen und sie nicht durch möglicherweise kritische Fragen aufwerfende Usability-Studien gefährden, indem sich dann Geldgeber zurückgezogen hätten), verwundert, dass Björk kein Interesse daran hatte, zumindest im nachhinein die Wirkungen ihres innovativen Produkts analysieren zu lassen. Zweifellos sind entsprechende Untersuchungen für die Abschätzung des kommerziellen Erfolgs wie der künstlerischen Wirkung bedeutsam; zudem hätte man gerade von einer innovationsfreudigen und daher zwangsläufig auch neugierigen Künstlerin wie Björk erwartet, dass es sie interessiert, ob ihr Experiment ankommt, und natürlich auch, warum dies dann der Fall ist - oder, warum es letztlich vielleicht doch nicht funktioniert hat. 2 Die qualitative Befragung: Rahmenbedingungen Dies ist nun die Frage der im Folgenden vorgestellten Untersuchung. Die trimediale Untersuchung erfolgte im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts, dessen primäres Ziel die Untersuchung der ästhetischen Umsetzungsformen von Musikvideos gewesen war (Universität des Saarlandes/ Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg). Dazu wurde Probanden unter anderem das von Michel Gondry produzierte Musikvideo gezeigt. Anschließend wurde ihnen die App von Scott Sona Snibbe zur Verfügung gestellt. Das Video zeigt keine Geschichte, sondern eine Bilderfolge, die mit einem Meteoritenschauer auf den Mond beginnt; die einschlagenden Meteoriten erzeugen die Geräusche, 1 “ [A] video doesn ’ t make any money, and reaches a modest-sized audience. An app can generate revenue and reach as large or larger of an audience. So I ’ m not sure why people wouldn ’ t be doing it. ” 250 Hans Giessen aus denen sich der Song entwickelt. Dazu kommen weitere visuelle Effekte, etwa die Idee, dass ein Lichtstrahl zu Objektbewegungen führt. Andere visuelle Effekte zeigen Regentropfen oder Blasen. Die App hingegen besteht im Kern aus einem Spiel, bei dem es darum geht, mit Bewegungen des Handhelds im Raum schwebende Kristalle zu berühren und damit , einzufangen ’ . Ziel ist es, möglichst viele Kristalle zu sammeln und so das eigene Kristall wachsen zu lassen, aber es gibt keinen ,Sieg ’ (gegen andere oder gegen eine vorgegebene Zeit). Diese App veränderte das Nutzerverhalten erneut, denn es fordert zu spielerischer Interaktion auf. Die Frage war, wie die Probanden mit der App umgingen und wie vor diesem Hintergrund die Wirkung des (selben) Songs war. Bemerkenswert ist, dass sich hier umgekehrt auch der Musiktitel an die App anpasst und unterschiedlich lang ist, so dass stetig Musik zu hören ist, so lange die Probanden beziehungsweise die Probandinnen noch spielen. Die Teilnehmer wurden dabei beobachtet und gefilmt, gaben direkt im Anschluss ihre Eindrücke schriftlich zu Protokoll und wurden in der Folge vom Projektteam interviewt. 3 Die qualitative Befragung: Sozialdaten und Mediennutzung Bezüglich der Sozialdaten war die Befragung nur teilweise ausgeglichen. Zunächst wurden vierzehn Studierende befragt. Es haben zehn weibliche, aber nur vier männliche Studierende an der Befragung teilgenommen. Dabei waren die männlichen Teilnehmer deutlich älter. Dies mag mit einem Ausreißer (ein Student war 44 Jahre alt: er studierte offenbar aus Interesse, möglicherweise ohne Immatrikulation, und akzeptierte für sich auch die Bezeichnung eines Privatgelehrten; er hat zweifellos auch den Alterschnitt der Befragten deutlich erhöht). Der Altersschnitt der Studenten lag bei 26,14 Jahren. Der jüngste Befragte war 20 Jahre alt (männlich). Die Studentinnen waren etwas homogener, hier war die jüngste Teilnehmerin 22 Jahre alt, die älteste Teilnehmerin 32 Jahre. Der Altersschnitt lag mithin bei den Studentinnen bei exakt 25 Jahren, bei den Studenten bei exakt 29 Jahren. Rechnet man den Ausreißer des untypischen Studenten heraus, liegt der Schnitt bei den Männern bei 24 Jahren. Damit herrscht bezüglich des Alters eine weitgehende Homogenität unter den Studierenden, nicht aber bezüglich der Geschlechterverteilung. Bei den Studierenden besteht eine fast exakt hälftige Zweiteilung bezüglich der Studienfächer. Die Studierenden verteilen sich auf die klassischen Geisteswissenschaften einerseits und die Sozial- und Naturwissenschaften andererseits. Insgesamt kann mit der Einschränkung des Geschlechts, aber sowohl altersmäßig, als auch aufgrund der Sozialzugehhörigkeit also demnach von einer recht homogenen Gruppe ausgegangen werden. Dies kann zunächst Vorteile haben: Als Studierende sind mit der akademisch-wissenschaftlichen Vorgehensweise und Terminologie vertraut und haben vermutlich ein aktuell trainiertes Reflexionsniveau. Zudem stand zu erwarten, dass sie auch eher bereit waren, sich auf eine etwas komplexere Musik (wie Björk sie produziert) einzulassen. Schließlich schien die Alterskohorte nahezulegen, dass die entsprechenden Medien bekannt sind. Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 251 Auch das Übergewicht weiblicher Studierender muss kein Nachteil sein, da Björk eher weibliche Interessenten anspricht (Whiteley 2005: 104 - 114)t, bezüglich ihrer Fans sogar ein repräsentativeres Bild besteht. In einer zweiten Befragungswelle wurden Oberstufenschüler und -schülerinnen angesprochen, also eine Gruppe, die fünf bis zehn Jahre jünger sind. Jüngere Probanden erschienen problematisch, weil solche Befragungen ein Reflexionsniveau benötigen, das ausgeprägt genug ist, um zu aussagekräftigen Aussagen zu kommen. In der zweiten Welle wurden sechs Schüler und Schülerinnen interviewt. Ihr Alter reichte von 16 bis 19 Jahren. Im Schnitt waren die befragten Schüler und Schülerinnen 17,16 Jahre alt. Selbst wenn die studentischen Ausreißer unberücksichtigt bleiben, ist der Unterschied zwischen fast exakt 17 und fast exakt 24 Jahren deutlich. Die Schüler beziehungsweise Schülerinnen sind also etwa sieben Jahre jünger als die Studenten beziehungsweise Studentinnen. Allerdings gab es bei den Schülern und Schülerinnen (ebenfalls) eine geschlechtsbedingte Zweiteilung: Zwei der Schüler waren die ältesten Probanden dieser Befragungswelle (18 und 19 Jahre); alle weiblichen Befragten waren dagegen (nur) 16 und 17 Jahre alt. Die Probandinnen und Probanden wurden zunächst gebeten, Leitfragen bezüglich ihrer Einschätzungen von Lied, Musikvideo und App zu beantworten. Anschließend wurden sie auf der Grundlage dieses Fragebogens interviewt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und dann verschriftet. Der folgende Artikel basiert im wesentlichen auf diesen Protokollen. 4 Ergebnisse der qualitativen Befragung Der Konsum von Musikvideos ist bei beiden Befragungsgruppen entweder Folge eines Hinweises oder, seltener, die Reaktion auf ein besonders eindrucksvolles Musikstück. Aktives Betrachten von Musikvideos, eventuell gar die intellektuelle oder ästhetische Neugierde auf neue, über YouTube gefundene Clips, die ein längeres Verweilen auf dieser Webseite nötig machen würde, findet sich dagegen eher selten; wenn, dann aus Langeweile. Dies gilt unterschiedslos für beide Befragungswellen. Die Erwartung, dass mit Hilfe des Smartphones sehr leicht vor allem die mobile Nutzung kurzer Bewegtbildmedien wie eben Musikvideos möglich ist, hat sich also eher nicht bestätigt. Als Grund dafür, warum dies dennoch nicht häufig genutzt wird, wurde immer wieder genannt, dass das Bild zu klein sei. Auch diesbezüglich ist die entsprechende Bewertung allgemein; die etwas Smartphoneaffineren Schüler und Schülerinnen sehen das nicht anders als die Studierenden. Die Befargung hat auch gezeigt, dass relativ selten neue Einzel-Apps heruntergeladen werden. Zudem musste festgestellt werden, dass sowohl Björk, als auch die CD oder die App Biophilia und mithin der Song Crystalline weitgehend unbekannt waren. Björk selbst ist offenbar rund der Hälfte der Befragten noch dem Namen nach; einige Probanden beziehungsweise Probandinnen betonten immerhin explizit, dass sie sie schätzten. Studentin 11 beispielsweise bestätigte, dass sie Björk “ gut ” fände. Das aktuelle Album kannte aber keine: r der Befragten. Eine weitere Beobachtung ist, dass der Song Crystalline offenbar überwiegend, zum Teil sogar heftige, Ablehnung hervorrief. Rund drei Vierteln der Befragten hat er nicht gefallen. 252 Hans Giessen So spricht Studentin 1 explizit von einer “ sehr monotonen Musik ” , Studentin 3 betont, dass Björk nicht ihr “ Musikstil sei ” , Studentin 10 nennt die Musik “ unmelodisch ” und Student 13 fand sie gar “ ein bisschen nervig ” . Auch Schülerin 2 bestätigte, dass Björk nicht die Musik mache, die ihr gefalle: “ Es war so ein bisschen das Gemisch einfach. Weil ich nicht finde, dass die Musik gut kombiniert war. ” Die Ablehnung war bei denjenigen Probanden beziehungsweise Probandinnen besonders ausgeprägt, die Björk nicht kannten. Hier konnte der Titel auch beim zweiten und dritten Hören keine Sympathie erringen. Dies ist vor dem Hintergrund der Diskussion, in wieweit Björk kommerzielle Kompromisse eingeht, durchaus bemerkenswert. Ganz eindeutig wendet sich ihre Musik nicht an ein breites Publikum, sondern an Rezipienten beziehungsweise Rezipientinnen mit einem spezifischen Geschmack, der auch unter Studierenden und Gymnasiast: innen nicht mehrheitsfähig ist. Ihr Publikum ist offenbar, global gesehen, noch immer groß genug, um ihr ein entsprechendes Auskommen zu garantieren, aber die Vermutung, dass kommerzielle Ziele für die Apps bedeutsam gewesen seien, relativiert sich insoweit, als es sich offenbar um ein “ Gesamtpaket ” für ein spezifisches Minderheitenpublikum handelt. Vor diesem Hintergrund ergibt die Nutzung von Apps aber möglicherweise einen weiteren Sinn, denn ein spezifisches, innovativ ausgerichtetes Publikum goutiert solch neue experimentelle Zusatzapplikation eventuell umso mehr. In jedem Fall evoziert die Ausgangsbasis des Pakets, eben der Song, bei den meisten der Befragten negative Reaktionen. Nur vereinzelt stieß er auf Wertschätzung. Dies kann ebenfalls anhand der Befragung dargestellt werden. Schüler 1, der, dem subjektiven Eindruck zufolge, der musikalischste Proband der gesamten Studie war, zeigte sich von dem Stück geradezu begeistert. Er analysierte mit Verve die Struktur des Titels, war sehr angetan von den “ Breakbeats und diesem Jungle-Artigen ganz am Ende ” . Obwohl auch er den Song zum ersten Mal gehört hatte, war er in der Lage, die seiner Meinung nach “ beste Stelle ” des Titels exakt zu beschreiben. Es handelt sich um den Moment, “ wo es quasi schon wieder aus ist das Lied, wo es normal noch mal richtig, ja Gas gibt ” . So suggeriert die Aussage von Schüler 1, dass das Minderheitenpublikum, das Björk schätzt, offenbar (musikalisch) besonders gebildet und innovationsfreudig ist beziehungsweise sein muss, obgleich die Kommentierung eines einzelnen Probanden in diesem Sample natürlich zu zufällig ist, um mehr als ein Indikator darzustellen. Zumindest ist deutlich, dass es sich bei Schüler 1 und seiner Einschätzung um eine vereinzelte Mindermeinung handelt. Die insgesamt starke Ablehnung des Songs hat möglicherweise Konsequenzen für die Forschungsfrage. So steht zu befürchten, dass es bei der Bewertung des Musikvideos und der App zu Ausstrahlungseffekten gekommen ist. Auch das Musikvideo von Michel Gondry wurde überwiegend negativ rezipiert. Rund zwei Drittel der Befragten bestätigten mehr oder weniger explizit, dass ihnen das Video nicht gefallen habe; rund ein Drittel äußerte sich nicht, neutral oder positiv. Immerhin ist die Ablehnung beim Musikvideo (leicht) schwächer, als wenn nur nach dem Musiktitel gefragt wird. Die grundsätzliche Einschätzung des Musikvideos kann anhand vieler Aussagen dargestellt werden. Studentin 2 fand “ das Video [ … ] nicht so angenehm ” . Student 8 fand es “ verwirrend ” , es habe sich ihm “ nicht erschlossen ” . Auch Studentin 12 hat “ das Video an sich nicht so zugesagt ” . Ähnlich fiel die Bewertung von Studentin 9 aus. Bereits in ihrer direkten Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 253 schriftlichen Reaktion machte sie deutlich, dass ihr das Video nicht gefallen habe. Sie fand es “ verwirrend ” und “ ein bisschen merkwürdig ” . In der Befragung bestätigte sie noch einmal diesen Eindruck: “ Das mit der Weltraumszene und der Frau, das fand ich am schlechtesten und auch nicht gut. Ich hätte es mir nicht freiwillig angeguckt oder hätte früher Schluss gemacht. ” Später ergänzte sie noch einmal, dass das Musikvideo aus ihrer Sicht “ keine Thematik ” gehabt habe. Student 13 bestätigte, dass er die Mondlandschaft im Clip “ einfach öde ” fand: “ Das war irgendwie langweilig ” . Er hätte dem Clip lediglich die Schulnote “ Fünf ” gegeben. Die Reaktionen verschiedener Schüler beziehungsweise Schülerinnen fallen ähnlich aus. Schülerin 3 und 2 äußerten sich fast wortgleich: Beide mochte den Clip “ nicht wirklich ” beziehungsweise er hat ihnen “ nicht wirklich gefallen ” . Schülerin 3 ergänzte, dass die visuelle Gestaltung des Musikvideo “ als vom Bild [ … ] so verwirrend ” gewesen sei: “ Meistens gibt es ja bei einem Musikvideo eine Geschichte oder einen Handlungsstrang, und der war für mich da nicht da. ” Es ist naheliegend, zu vermuten, dass es zu vielen Überschneidungen nicht nur bei den wenigen positiven, sondern auch bei den ablehnenden Bewertungen gekommen ist. So fanden die eher wenigen Probanden beziehungsweise Probandinnen, die Björks Musik schätzten, in der Regel auch den Clip gut, als kongeniale Ergänzung. Der bereits relativ ausführlich zitierte Schüler 1, der die musikalische Struktur des Songs Crystalline so intensiv und positiv bewertet, bestätigte auch bezüglich des Musikvideos von Michel Gondry: “ Ich finde das ist ein saugutes Musikvideo. [ … ] Ja, das hat mir gefallen, mit den Lichtfunken und den Kratern und was da alles wie Tasten rausfällt und alles dazu klingt. Das fand ich einfach super, das hat mir gefallen. ” Sowohl bei den wenigen positiven, als auch bei den negativen Aussagen könnten, wie vermutet, Ausstrahlungseffekte des Lieds eine Rolle spielen. Beispielsweise missfällt sowohl Studentin 10 wie auch Student 13 die Musik von Björk und das Video, mit ähnlich negativen (und etwas pauschalisierenden) Aussagen. Möglicherweise ergänzten sich Musik und Clip aber auch. Dies müsste allerdings noch einmal detaillierter untersucht werden. Allerdings gibt es auch mehrere Teilnehmer beziehungsweise Teilnehmerinnen, die sich negativ zur Musik äußerten, sich dann aber bei der Bewertung des Musikvideos zurückhielten oder es gar lobten. So bestätigte Schülerin 2, die Björks Song deutlich abgelehnt hatte, dass “ das Video [ihrer Meinung nach auch zur Musik] nicht gepasst ” habe. Das war, wie Mimik und Prosodie angedeutet haben, offenbar positiv zu verstehen. Auch Studentin 3, die zuvor betont hatte, dass Björk nicht ihr “ Musikstil sei ” , empfand das Musikvideo als “ schon gut gemacht und auch abwechslungsreich ” . Ähnlich äußerte Studentin 5, die Björk nicht erkannt hatte, aber bezüglich des Musikvideos sagte: “ Ja, der Clip hat mir [ … ] gut gefallen. ” Auch Studentin 10 lehnte den Song ab, empfand aber den Clip als “ Kunstwerk ” . Student 13 hat sowohl den Musiktitel, als auch das Video abgelehnt (dem er die Schulnote “ Fünf ” gegeben hätte), aber die App deutlich positiver bewertet: “ Das Spiel war für seine Art schon eine Drei plus. Es war nicht schlecht, aber es war auch nichts Besonderes. Etwas, das man zwischendurch kurz spielen kann, während man auf die Bahn wartet. ” Dies ist noch ein weiterer Hinweis auf ein entsprechendes Differenzierungsvermögen, selbst wenn in diesem Fall die Ablehnung von Song und Musikclip identisch sind und auch das Lob für die App nur verhalten ausfällt. Insgesamt kann festgehalten werden, dass auch bei identischen Urteilen bezüglich Song und Musikvideo der Grund nicht zwangsläufig in Ausstrahlungseffekten 254 Hans Giessen liegen muss (obwohl es natürlich auch Beispiele gibt, wo dies wahrscheinlich erscheint). Die meisten Befragten differenzieren so stark, dass der Eindruck gerechtfertigt erscheint, das Reflexionsvermögen sei für eine insgesamt doch realistische Einschätzung unterschiedlicher Medien und Genres groß genug. Wie erwähnt, wird dieser Eindruck verstärkt, wenn die Gesamtbefragung und mithin die Reaktionen bezüglich der App mitberücksichtigt wird. Rund zwei Drittel der Befragten lobte die App, nur rund ein Drittel lehnte sie ab. Zudem konnte bei verschiedenen Teilnehmern beobachtet werden, dass und wie sehr sie sich von der App gefangennehmen ließen. So war die Mehrzahl der Probanden beim Spielen sehr konzentriert und von der App absorbiert. Die meisten Einschätzungen waren demnach ausgesprochen positiv. Studentin 9 hatte bereits in der schriftlichen Kurzbefragung direkt nach Betrachten der App betont, es sei eigentlich “ ganz schön, damit zu spielen. ” Studentin 10, die von sich gesagt hat, dass die “ nie ” Apps benutze, spielte mit Begeisterung. Im Gespräch bescheinigte sie der App, dass sie “ Kunst ” sei. Vergleichbare Reaktionen gab es auch in der zweiten Welle der Schüler und Schülerinnen. Schülerin 2 lobte das “ Spiel selber, dass fand ich ganz interessant, weil es auch mal was Neues ist. Sowas hatte ich zumindest noch nicht gespielt. Nur man braucht dann halt einen Moment bis man raus hat, welche Kristalle man einsammeln soll oder wie man jetzt lenken muss. Also das Spiel an sich finde ich schon gut [ … ]. ” Aber es gab auch negative Bewertungen: Studentin 14 hatte “ das mit dem Spiel nicht so hinbekommen ” ; sie lehnt die App ab: “ Ich kann damit nichts anfangen. Mich langweilt das auf Dauer und ich beschäftige mich lieber mit anderen Dingen [ … ]. ” Ähnlich negativ ist die Bewertung durch Studentin 4: “ Wobei mir das Spiel auch relativ lang vorgekommen ist, das war immer das Gleiche. ” Studentin 12 hat “ die App von Björk nicht sehr gerne gespielt. ” Auch Studentin 5 sagte, dass sie “ das Kristallspiel sehr langweilig fand. ” Dennoch kam im Fall der App die große Mehrzahl der Probanden zu positiven Einschätzungen. Zwangsläufig haben mehrere von ihnen zuvor den Song und großteils auch das Musikvideo kritisiert. Fraglich ist, wie gesagt, ob und in wie weit die App in diesen Fällen unabhängig vom Musikstück erlebt und bewertet worden ist. Offensichtlich war dies häufig der Fall. So hat auch Studentin 2 zwischen Song, Video und App differenziert: “ Das Video [ … ] fand ich nicht so angenehm. Es lenkt deutlich ab. ” Zumindest im Gegensatz dazu erschien ihr die App “ nicht so schlecht ” . Die App scheint also, den Vermutungen Scott Sona Snibbes entsprechend, auf überraschende Zustimmung gestoßen zu sein. Insbesondere der Spielcharakter hat viele Probanden fasziniert und zur deutlich besseren Bewertung als beim Song oder beim Video geführt. Allerdings ist auch auffällig, dass die App nur selten mit dem Song (der ihr ja unterlegt ist) in Verbindung gebracht wurde. Nur in Einzelfällen wurden Song und App von den Probanden als Einheit erlebt. So lobte Studentin 3 die App, weil sie das Leitmotiv des Songs adäquat aufgegriffen habe. Die Studentin bestätigte beispielsweise, ihr sei aufgefallen, “ dass es gut gepasst hat. Der Text ging ja um Kristalle, das Kristalle-Sammeln war stimmig. ” Die Verbindung von App und Musik kann natürlich auch bemerkt werden, wenn der Song negativ gesehen wird. Aber auch in diesen Fällen wurde diese Beziehung nur selten thematisiert. Ein Beispiel ist der bereits genannte Student 13, der sagte: “ Bei dem Björk-Spiel hat die Musik, wenn man den Gesang noch ausgeblendet hätte, zu so einem ‘ spacigen ’ Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 255 Kristall-Spiel gepasst. Die Musik hat gepasst, nur der Gesang war ein bisschen nervig. ” Später begründete er die Einschätzung detaillierter: “ [D]ieses “ claustrophobia ” , das sie gesungen hat, dieses Gefühl, dass der Kristall immer riesiger wird, obwohl der Raum gleich groß bleibt, das hat wieder gepasst. Man muss immer schauen, dass man den nächsten Kristall noch sieht und wo man hinfliegt. Das hat ein bisschen korrespondiert. ” Die Aussage bezieht sich insbesondere auf eine Stelle im Text des Songs Crystalline, in der es heißt: “ I conquer claustophobia ” . In der Regel wurden Song und App aber nicht aufeinander bezogen (oder gegeneinander ausgespielt); vielmehr ist der Song in der Mehrzahl der Fälle fast ganz hinter die App zurückgetreten und mitunter buchstäblich verschwunden. Ein Beleg für die Aufmerksamkeitsabsorption durch die App stellt die folgende Beobachtung dar: Den allermeisten Befragten ist überhaupt nicht aufgefallen, dass die App nicht nur eine vom Musikvideo abweichende Version des Crystalline-Songs zu Gehör bringt, sondern sogar unterschiedlich an das Spielerverhalten angepasste Songs beziehungsweise Songteile und -längen und Instrumentierungen (gerade hinsichtlich der Rhythmussektion) aufweist. Beispielsweise musste Studentin 1 zugeben, dass sie “ nicht gemerkt ” habe, “ dass es etwas anderes ist, nein. ” Studentin 14 hat ebenfalls bestätigt: “ Ob das eine unterschiedliche Version war, kann ich jetzt nicht sagen. ” Auch Studentin 4 hat nichts dergleichen bemerkt: “ Ich muss ganz ehrlich sagen, mir sind keine Unterschiede aufgefallen. ” Studentin 5 sagte, sie habe bei dem Spiel “ gar nicht mehr auf die Musik geachtet. ” Studentin 7 hat ebenfalls keine Unterschiede bemerkt: “ Ich habe nur erkannt, dass es für mich grob das Gleiche war. Dann dachte ich, ‘ ja gut ’ und habe weitergespielt. ” Analog verlief das Gespräch mit Studentin 3 ( “ konkret ist mir nichts aufgefallen ” ) oder mit Studentin 14 ( “ ob das eine unterschiedliche Version war, kann ich jetzt nicht sagen ” ). Bei den Schülern beziehungsweise Schülerinnen der zweiten Welle gibt es eine ähnliche Tendenz. Schülerin 2, die das Spiel an sich schon gut fand, bilanzierte, auf die Musik habe sie “ da nicht mehr drauf geachtet. ” Noch deutlicher ist die Einschätzung von Studentin 4: “ Wenn ich mich auf das Spiel konzentriere, dann höre ich zwar die Musik, aber ich verbinde es nicht. Es ist für mich eine Musik, die nebenher läuft und ich beachte sie dann nicht so. Bei einem richtigen Video, bei dem etwas gezeigt wird, achte ich mehr darauf: Was wird jetzt gezeigt? Wie hängt es mit der Musik zusammen? Mit dem Inhalt? ” Lediglich Schüler 1, der vom Musikerlebnis ausging, sind die Unterschiede deutlich geworden: “ Ja klar. Das ist viel kürzer die Version. Und da fehlt auch das mit den Breakbeats und diesen Jungle-artigen ganz am Ende. Das ging vielleicht zweieinhalb Minuten und das Original ging viereinhalb, fünf Minuten. [ … ] Zuerst habe ich gedacht, dass es genau wie beim Musikvideo ist, denn da kommt auch nur noch der Beat und dann hort es direkt auf. Hier hat es mit der Melodie und nicht mit dem Beat aufgehört. ” Schüler 1 war in der Tat aber der einzige Teilnehmer der Befragung, dem dies aufgefallen war. Warum “ verschwand ” das Lied so sehr hinter der App? Die Wirkungsweise wurde von Studentin 3 so erläutert: “ Aber wenn man sich nur auf die Musik konzentrieren möchte, oder auf die Texte, würde das zu sehr ablenken. Gerade bei dem Kristallspiel muss man schauen, wo der Kristall ist. Wenn man gleichzeitig auf den Text achten wollte, wäre das ein bisschen zu viel. ” Studentin 2 haben Musik und Musikvideo ebenfalls nicht gefallen, sie empfand sie als nicht angenehm. Dagegen hat das Spiel so sehr dominiert, dass sie von die Musik nicht mehr “ gestört ” wurde ( “ was ich nicht schlecht fand ” ). Es habe deutlich abgelenkt: “ Die 256 Hans Giessen Musik rückt in den Hintergrund. Man hört sie trotzdem, aber vielleicht nicht mehr bewusst. ” Studentin 7 sagte: “ Wenn ich mich auf ein Spiel konzentriere, dann blende ich aus, was ich höre oder was um mich herum ist. Deswegen kommt da die Musik nicht so zur Geltung. ” , und Studentin 9, die in das Spiel der App vollständig eingetaucht war, bestätigte: “ Bei dem Spiel war es nur ein Hintergrund und ich habe es nicht als Lied [wahrgenommen], sondern eher als aneinandergereihte Hintergrundgeräusche, schon als Melodie oder Rhythmus, aber eher als eine Spiel-Hintergrundmusik. ” Offensichtlich war ihr nicht einmal bewusst, dass sie den Björk-Titel noch einmal gehört hatte. Umgekehrt ist die Bestätigung, dass die App sehr stark abgelenkt hat, von Studentin 14 formuliert worden: “ Ich habe das mit dem Spiel nicht so hinbekommen und habe dann irgendwann mehr auf die Musik gehört. ” In jedem Fall dominierte die App in der Mehrzahl der Fälle so stark, dass der Song keine Rolle mehr spielte. Die App wirkte also als eigenständiges Produkt. Damit ist aber fraglich, ob die App zu einer positiven (Um-) Bewertung des Songs beitragen kann: Dies war ja die zweite Implikation der Aussage Snibbes. Im Gegenteil scheint die App gar in überraschend hohem Ausmaß gegen Björks Lied zu wirken. Wenn die App gut funktioniert, dann auch deshalb, weil sie vom Song abgelenkt hat. Studentin 1, die sich über die Monotonie des Songs beklagt, die App aber gerne gespielt hatte, kommentierte diesen Sachverhalt folgendermaßen: “ Wenn das Musikvideo an sich spielt, dann fällt einem die sehr monotone Musik [auf]. Es ist irgendwie immer das Gleiche. Wenn man ein Spiel dazu spielt, fällt einem weniger auf, dass es wahnsinnig monoton ist, als wenn man das Musikvideo guckt und genötigt ist, diese Monotonie zu hören. Es ist wirklich verschieden. Während ich gespielt habe, habe ich weniger auf die Musik geachtet. ” Ähnlich sagte Studentin 10, die Björks Titel als “ anstrengend ” und “ unmelodisch ” eingeschätzt hatte: “ Im Hintergrund zu dem Videospiel fand ich es viel angenehmer als im Musikvideo. ” Analoge Aussagen kamen von Studentin 10, die kommentierte: “ Dadurch habe ich mich der Musik nicht so ausgeliefert gefühlt, sondern bin mit ihr mitgeschwommen. ” So werden im Rahmen der qualitativen Befragung die Grenzen der App im Kontext des genannten Gesamtpakets deutlich. Offenbar unterstützt sie den Song nicht. In der Regel der Fälle wirkt sie, obwohl ihr der Song “ unterlegt ” ist. In der Folge betont Schüler 6, er verstehe gar nicht, dass eine App auf einen Musiktitel aufmerksam machen soll oder auch kann: “ [I]ch [würde] nicht eine App spielen, um das Lied zu hören. ” Studentin 11 hat gar den Eindruck, dass vor diesem Hintergrund eine solche App ein Titel selbst gar “ entwertet ” wurde: “ Das hätte ich von Björk nicht erwartet. Sie ist hauptsächlich als Musikerin bekannt und man weiß nicht, warum sie ihre Musik so in den Hintergrund stellt. Ich habe zwar von Björk noch nie etwas gekauft, aber ich finde sie gut und finde es merkwürdig, dass sie die Musik dadurch ein bisschen entwertet. ” Fraglich ist, ob dies eine gesellschaftlich und kulturell geprägte Ansicht des Genres “ App ” darstellt (das sich also in einem kulturellen Prozess auch verändern kann), oder eine grundsätzliche Mediendivergenz darstellt. Die Aussagen insbesondere von Schüler 6 ( “ [I]ch [würde] nicht eine App spielen, um das Lied zu hören. ” ) unterstützen die zweite Erklärung. Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 257 5 Zusammenfassung und Kommentierung Tendenziell wurde mithin bestätigt, dass Björk als Künstlerin nur ein Minderheitenpublikum anspricht, das offensichtlich musikalisch wie künstlerisch eher gebildet und innovationsorientiert ist. Obwohl das Sample nur aus Oberstufengymnasiasten beziehungsweise -gymnasiastinnen und Universitätsstudenten beziehungsweise -studentinnen bestand (und es lediglich eine bezüglich des Publikums von Björk vermutlich nicht einmal untypische Verzerrung aufgrund des hohen Anteil weiblicher Probanden gab), tendenziell also in Richtung dieses spezifischen Publikums weist, haben die Probanden Björks Musik nur bedingt geschätzt; vielen war Björk nicht einmal bekannt. Der hier präsentierte Song Crystalline hat überwiegend Ablehnung provoziert. Die Befürchtung, dass dies für die Befragung problematische Ausstrahlungseffekte auch auf das Musikvideo von Michel Gondry und die App von Scott Sona Snibbe habe, kann nicht ausgeschlossen werden. Dem subjektiven Eindruck zufolge (und dies spricht ebenfalls dafür, dass die Teilnehmer einem eher intellektuellen Kreis angehören) waren die meisten Probanden aber zur Differenzierung in der Lage. Das Musikvideo fand eine höhere Zustimmung als der Song selbst, wurde aber trotzdem überwiegend abgelehnt. Immerhin gibt es insofern einen Zusammenhang, als diejenigen, die den Song mochten, überwiegend auch das Video lobten, beziehungsweise in der Mehrzahl der Fälle: diejenigen, die den Song kritisierten, überwiegend auch das Musikvideo ablehnten. Zudem gibt es offenbar aber auch einige Probanden beziehungsweise Probandinnen, die das Video als Kunstwerk schätzen, obwohl sie sich nicht mit dem Song anfreunden konnten. In jedem Fall wird das Musikvideo von den Probanden beziehungsweise Probandinnen in engem Zusammenhang mit dem Song gesehen. Bezüglich der am Anfang dieses Beitrags gestellten Frage, wie sinnvoll und nützlich die ergänzenden Produkte für Björks künstlerische und/ oder kommerzielle Ziele sind, kann immerhin bestätigt werden, dass der Clip eine ergänzende (und möglicherweise leicht verstärkende) Funktion hat oder zumindest haben kann. Michel Gondrys Musikvideo spricht ganz offensichtlich eine Klientel mit ähnlichen künstlerischen und innovationsorientierten Einstellungen an wie der Song (oder wird aus jeweils ähnlichen Einstellungen heraus abgelehnt). Im Gegensatz zum Song wie auch zum Musikvideo wurde die App von den meisten Probanden beziehungsweise Probandinnen gelobt. Gerade der Spielcharakter führte zu einer enormen Absorptionskraft beziehungsweise einem Immersionsgefühl. Diese Empfindungen dominierten allerdings so sehr über die Musik, dass sie gerade von denjenigen Probanden geschätzt wurde, die die Musik als unangenehm empfanden, denn dadurch verlor der Song an kognitiver Bedeutung. Umgekehrt hat die App bei denjenigen Irritationen evoziert, die mit Björk sympathisieren und die davon ausgehen, sie wolle, ähnlich wie mit einem Musikvideo, mit diesem Medienprodukt einen Werbe- oder zumindest Verstärkungseffekt erzielen. Die Absorptionskraft ist so stark, dass in der Tat nur diejenigen Probanden beziehungsweise Probandinnen (mit der einzigen Ausnahme des musikfokussierten Schülers 1) dem Song zuhörten, die mit dem Spiel nichts anfangen konnten. 258 Hans Giessen Insgesamt kann festgestellt werden, dass die App von Scott Sona Snibbe sehr wohl als eigenständiges Kunstwerk wahrgenommen wurde und diesbezüglich deutlich mehr Teilnehmer überzeugte und begeisterte als das Lied selbst oder als das Musikvideo. Die App löste sich aber so sehr aus dem Verbund mit der Musik, dass diesbezügliche Wechselwirkungen, Ausstrahlungs- oder gar Werbeeffekte so gut wie nicht existierten. Wenn eine App aber den Musiktitel ergänzen, verstärken oder promoten soll, hat zumindest dieses Produkt seine Funktion nicht erfüllen können. Dies wurde von verschiedenen Probanden so gesehen, die daher sogar vermuteten, dass die App den Song “ entwerte ” . Etwas pointiert muss daher festgestellt werden, dass beim Blick auf mediales Zusammenwirken diese App offenbar nicht zur Unterstützung des Musiktitels geeignet ist, im Gegenteil: Die App wurde trotz des Songs geschätzt; beziehungsweise gar, weil sie von Song abgelenkt hat. Die App von Scott Sona Snibbe stellt somit keine medienadäquate Unterstützung für den Song von Björk dar, im Gegensatz zum Musikvideo von Michel Gondry. Können sich hier unterschiedliche mediale Produkte in ihrer Wirkung ergänzen, überlagert im anderen Fall das eine mediale Produkt das andere, so dass ausgerechnet das Ursprungsprodukt (der Song) völlig an Bedeutung verliert. Damit hat die Untersuchung ein überraschend klares und deutliches Ergebnis erbracht. In wie weit es verallgemeinerbar oder doch von der spezifischen Crystalline-App bedingt ist, muss jedoch offen bleiben. Literatur Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] 2011, “ Crystalline ” , in: Biophilia. London: One Little Indian Records / Polydor [LP; CD; digital] Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] & Gondry, Michel 2011, “ Crystalline ” , in: https: / / www.youtube.com/ watch? v=MSV3ujF5uuc [Video, gesichtet am 23. August 2022] Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] & Snibbe, Scott Sona 2011, “ Crystalline ” , in: Biophilia. Apple: iTune Store [Mobile App, gesichtet am 23. August 2022] Burton, Charly & Björk [i. e. Björk Guðmundsdóttir] 2011, “ In depth: How Björk ’ s ‘ Biophilia ’ album fuses music with iPad apps ” , in: Wired Magazine (UK), http: / / www.wired.co.uk/ magazine/ archive/ 2011/ 08/ features/ music-nature-science [Online-Ressource vom 26.07.2011, gesichtet am 23. August 2022] Eno, Brian & Chilvers, Peter 2008, Bloom. Generative Music / Apple: iTune Store [Mobile App, gesichtet am 23. August 2022] Dibben, Nicola 2009, Björk (Icons of Pop Musik 4). London: Equinox Giessen, Hans W. 2004, Medienadäquates Publizieren. Von der inhaltlichen Konzeption zur Publikation und Präsentation. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag / Elsevier 2004 Gorillaz 2010, The Fall. Apple: iTune Store [Mobile App, gesichtet am 23. August 2022] Van Buskirk, Eliot & Snibbe, Scott Sona 2011, “ Björk ’ s Lead App Developer Riffs on Music, Nature and How Apps Are Like Talkies ” , in: Wired Magazine (UK), http: / / www.wired.com/ underwire/ 2011/ 07/ bjork-app-part-1/ 2/ [Online-Ressource vom 26.07.2011, gesichtet am 23. August 2022] Whiteley, Sheila 2005, Too Much Too Young. Popular Music, Age and Gender. London: Routledge. Ein Song, drei Medien: Björks Crystalline aus Sicht der Rezipienten 259
