Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
826
2024
422-4
Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse
826
2024
Ernest W. B. Hess-Lüttich
kod422-40341
K O D I K A S / C O D E Volume 42 (2019) · No. 2 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse Ernest W. B. Hess-Lüttich (Bern/ Berlin/ Kapstadt) Der für sein umfangreiches Œ uvre vielfach ausgezeichnete Literaturwissenschaftler Peter Václav Zima (Klagenfurt) hat nach zahlreichen Büchern und Editionen eine weitere Monographie publiziert, die er als Einführung in eine “ herrschaftskritische Erzähltheorie ” konzipiert hat. 1 Bereits im Vorwort begründet er seine Unterscheidung von Text und Diskurs, was nützlich ist, denn sowohl in den einflussreichen Discourse Studies britischer Provenienz als auch in der wirkmächtigen Linguistique du discours in frankophoner Tradition werden beide Begriffe nicht selten mehr oder weniger synonym gebraucht. Damit grenzt sich Zima gleich auf den ersten Seiten sowohl von Linguisten wie Norman Fairclough als auch von Philosophen wie Michel Foucault (1966) ab und definiert seinen Diskursbegriff in Anlehnung an die Strukturale Semiotik von Algirdas Julien Greimas als (argumentierende) “ Rede mit Erzählstruktur ” (p. 9), fasst ihn damit aber enger als den übergreifenden und allgemeineren Textbegriff (cf. Greimas 1966, id. 1970, id. 1983). Die Einleitung bietet einen knappen Problemaufriss und einen Überblick über den Aufbau des Buches sowie eine kurze Erörterung des Verhältnisses von Diskurs und Macht in der Wissenschaft, was ebenfalls kein ganz unwichtiger Aspekt ist, der aber oft übersehen wird. Das Verhältnis von Sprache und Macht ist auch das Thema der Critical Discourse Analysis (CDA), die das Bewusstsein dafür geschärft hat, wie subtil in der Medienberichterstattung verbale Strategien die Rezeption zu steuern vermögen, indem sie zum Beispiel das ‘ semantische Feld ’ implizit in positiv bzw. negativ konnotierte Sphären gliedern. Norman Fairclough illustrierte dies in seinem Buch Language and Power etwa am Beispiel der Berichterstattung über Arbeitskonflikte im Wirtschaftssystem (cf. Fairclough 2015). Wenn ‘ Streiks ’ immer nur mit den durch sie verursachten “ Störungen im Betriebsablauf ” oder “ Problemen der Versorgung ” assoziiert werden, erscheinen die Arbeitnehmer eher als “ Zustandsstörer ” , wie die Juristen sagen, während Arbeitgeber und Kunden als unbeteiligte Opfer wahrgenommen werden, selbst wenn sie ungenannt bleiben. Das Beispiel nimmt Zima als Ausgangspunkt, um die Frage zu erörtern, “ wie in theoretischen Diskursen dualistische Schemata und die sie verstärkenden negativen Konnotationen in Semantik und Syntax vermieden werden können ” (p. 14), um eine dialogisch polyperspektivische 1 Peter V. Zima 2022: Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen / Toronto: Budrich (= utb 5830), 315 pp., 26,90 € , ISBN 978-3-8252-5830-6 (utb-e-ISBN 978-3-8385-5830-1) Beschreibung und Bewertung sozialer Konflikte zu ermöglichen und ihrer ideologischen Verfestigung vorzubeugen. Dieser Frage gilt im Grunde das Interesse des gesamten Buches, im ersten Teil eher in theoretischer Absicht, im zweiten Teil - und das ist in meinen Augen ein weiterer Vorteil für die Leser - mit dem Ziel, das damit bereitgestellte diskursanalytische Instrumentarium auf konkrete Praxisfelder asymmetrischer Auseinandersetzung anzuwenden. Dazu setzt sich der Verfasser zunächst kritisch mit den wichtigsten diskurstheoretischen Ansätzen auseinander, etwa mit Foucaults Begriff des Diskurses als “ ensemble d ’ énoncés ” (cf. Foucault 1966, id. 1971), den er in den folgenden Kapiteln unter Rückgriff auf die bahnbrechenden Arbeiten von Pierre Bourdieu, Norman Fairclough und Algirdas Greimas soziologisch, linguistisch und soziosemiotisch konkretisieren zu können hofft. Dem Foucault ’ schen Konzept des “ ensemble d ’ énoncés ” stellt er Bourdieus Beschreibung der “ langage autorisé ” gegenüber (cf. Bourdieu 1982), die ihr argumentatives Gewicht weniger ihrem Erkenntniswert oder ihrem Wahrheitsgehalt verdankt als eher dem sozialen Prestige dessen, der sie gebraucht, was ein wenig an das vir bonus-Ideal der antiken Rhetorik erinnert, das nach Quintilian eine Voraussetzung der schon durch die Glaubwürdigkeit (Integrität) des Sprechers überzeugenden Argumentation ist. Nach der Diskussion der soziologischen Überlegungen Bourdieus setzt sich Zima im folgenden Kapitel mit den linguistischen Beobachtungen Faircloughs auseinander, der sich ähnlich wie Bourdieu dafür interessiert, wie sich soziale Ungleichheit im Sprachgebrauch niederschlägt. Neben Paul Chilton und Ruth Wodak gehört Norman Fairclough gewiss zu den wichtigsten Initiatoren und Wegbereitern einer linguistisch informierten Kritischen Diskursanalyse, die uns für die lexikalischen, semantischen, pragmatischen und rhetorischen Indikatoren asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse sensibilisiert haben. Dieses kritisch-analytische Wissen heutigen Studenten zu vermitteln, ist in Zeiten des erstarkenden Populismus und der grassierenden fake news und alternativen Fakten wichtiger denn je (cf. Kumkar 2022). Im umfangreichen vierten Kapitel greift Zima Gedanken aus seinen früheren Büchern zur Textsoziologie auf und setzt sich mit dem soziosemiotischen Ansatz von Algirdas Julien Greimas auseinander, dem französisch-litauischen Linguisten, dessen schon den 1960er Jahren erschienene Strukturale Semantik (dt. 1971, neben dem zweibändigen Hauptwerk Du Sens) auch die deutschsprachige Textwissenschaft maßgeblich beeinflusst hat und dessen Sémiotique et science sociales (1976) die Brücke der Textzu den Sozialwissenschaften geschlagen hat. Den Ansatz sucht er mit Modellanalysen zu veranschaulichen (pp 153 - 160), in denen er im Anschluss an die Strukturale Semantik dessen “ Aktantenmodell der marxistischen Ideologie ” (mit kritischem Blick auf Georg Lukács) schematisch darstellt, dann den “ discourse of war ” in Theo van Leeuwens Einführung in die Social Semiotics (2005) erläutert und dabei auch Ecos Kritik an Ian Flemings manichäischem Weltbild streift, und schließlich den Gegensatz von rationalistischem Universalismus und vitalistischem Partikularismus (Tribalismus) in Michel Maffesolis durch die postmoderne Philosophie inspirierter Soziologie z. B. in seinem Buch Le temps des tribus (2019) herausarbeitet, was zugleich ein bezeichnendes Licht auf aktuelle Tendenzen in der politischen Auseinandersetzung zwischen autoritär auftretenden Gruppen des rechten wie linken Spektrums wirft. 342 Ernest W. B. Hess-Lüttich Auf der Grundlage der Diskussion dieser vier wichtigen theoretischen Ansätze (Foucault, Bourdieu, Fairclough, Greimas) widmet Zima sich im zweiten Teil seines Buches der Anwendung des textsoziologisch-soziosemiotisch instrumentierten methodischen Bestecks auf wiederum vier Praxisfelder. In der Auseinandersetzung mit Luigi Pirandellos Roman Einer, keiner hunderttausend und Ervin Goffmans der Untersuchung ‘ totaler Institutionen ’ gewidmeten Hauptwerken Stigma und Asyle versteht es Zima, die Manifestation von Macht in Sprache und anderen Zeichensystemen plausibel herauszuarbeiten. Auch die Vereinnahmung des Subjekts in Diskursen des Justizwesens, wie es in Albert Camus' Der Fremde oder in Artur Londons Ich gestehe (einer autobiographisch motivierten Aufarbeitung des Slánsky-Prozesses in der stalinistischen Epoche Tschechiens, seinerzeit noch Tschechoslowakei) literarisch problematisiert wird, dient dem Verfasser zur Veranschaulichung des Verhältnisses von Sprache und Macht. Die Analyse von Reden des amerikanischen Präsidenten (von der demokratischen Partei) einerseits (Barack Obamas “ Inaugural Address ” von 2009) und seines Nachfolgers (von der republikanischen Partei) andererseits (Donald Trumps Rede “ Save America ” v. 6. Januar 2021, in der er zum Sturm auf das Capitol aufruft und die Parallelen mit rhetorischen Strategien Adolf Hitlers aufweist) sollen verdeutlichen, dass Macht und Manipulation qua Sprache keineswegs auf autoritäre politische Systeme beschränkt sind, sondern auch in gefestigten Demokratien ein gefährliches Potential entfalten können. Nicht minder spannend der Vergleich mit Wladimir Putins verbalen Attacken gegen die USA, in denen er die amerikanische Kommentierung der mutmaßlichen Ermordung des russischen Regimekritikers Alexei Nawalny im Stile der stalinistischen Slánsky-Prozesse umzudeuten versucht. Aber auch die scheinbar so neutralen und allein dem Erkenntnisgewinn gewidmeten Wissenschaften sind gegen Diskurse der Macht nicht gefeit. Das sucht der Verfasser in seinem abschließenden achten Kapitel am Beispiel herausragender Debatten in den Sozialwissenschaften der Bundesrepublik aufzuzeigen, indem er die Gefechtsformationen im legendären “ Positivismusstreit ” ( ‘ Kritischer Rationalismus ’ , Karl Popper und Hans Albert einerseits, ‘ Kritische Theorie ’ , Max Horkheimer und Theodor Adorno andererseits) und in der von ihren jeweiligen Anhängern heftig geführten “ Habermas-Luhmann- Debatte ” (in der es um die Auseinandersetzung zwischen Transzendentalhermeneutik und Systemtheorie ging) noch einmal in erhellender Weise gegeneinander antreten lässt. In ihrem Vergleich arbeitet Zima zugleich ihre partielle Konvergenz heraus, deren erkenntniserschließende Kraft freilich erst im Rahmen einer Dialogizität erkennbar werde, “ die Stärken und Schwächen beider Theorien in einer produktiven Konfrontation ” (p 287) sichtbar mache, statt die eine gegen die andere “ durchsetzen ” zu wollen. Eine solche Konfrontation sei insofern produktiv, weil sie im Sinne Paul Lorenzens in ein Dialog-Modell münde, in dem theoretische Positionen in ihrer Alterität ernstgenommen und auf ihre Fruchtbarkeit hin überprüft werden könnten (cf. Lorenzen 1974). Dabei geht es also weder um kruden Falsifikationismus noch um die transzendentalhermeneutische Selbstimmunisierung qua “ immer-schon ” -Argumentationsfiguren, sondern allenfalls um eine “ Erschütterung ” von Theorien im Sinne eines Vorschlags von Otto Neurath, dem Zima einiges abgewinnen zu können scheint (cf. Neurath 1981: 635 - 644). In einem kurzen Schlusswort erinnert der Autor - anders als die meisten theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Thema ‘ Macht ’ - m. E. zu Recht an deren ‘ andere Seite ’ , Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse 343 nämlich die Wechselbeziehung von Macht und Angst, ein Gedanke, den es weiter zu verfolgen gilt. Das Buch ist, wie eingangs erwähnt, als Einführung deklariert. Da könnte es den Leser verwirren, dass die Literaturangaben in den Fußnoten und im Literaturverzeichnis nicht einheitlich sind, was man als Redundanzvermeidung rechtfertigen könnte, wenn das Prinzip dahinter leichter durchschaubar wäre. Aber abgesehen von solchen Details (wie man sie in manchen Büchern findet, die aus gesammelten Schriften neu zusammengesetzt wurden), ist die ‘ Einführung ’ zum Glück recht anspruchsvoll konzipiert, denn das heute übliche Credo, Studenten müssten ‘ abgeholt ’ werden und Ihnen dürfe keine intellektuelle Anstrengung mehr zugemutet werden, birgt das Risiko einer Nivellierung auf niedrigem Niveau und eine kränkende Unterschätzung ihrer Lernbereitschaft. Es wird ihnen nicht schaden, wenn sie auch etwas lernen dürfen über die Wissenschaftsgeschichte der Textwissenschaft und der Diskursforschung im letzten halben Jahrhundert, an der ein renommierter Autor wie der 1946 in Prag geborene Peter Václav Zima selbst maßgeblich mitgewirkt hat. Daraus gewinnt er die intellektuelle Souveränität für seinen ausgreifenden Überblick in Zeiten, in denen als veraltet und “ nicht mehr aktuell ” gilt, was nicht im neuesten Verlagsprospekt annonciert und im Internet als preprint aufzurufen ist. Nota bene: Apropos Verlagsprospekt: Es mag füglich bezweifelt werden, ob der Verlag Barbara Budrich gut beraten ist, seine Verlagsannonce des Werkes mit der dümmlichen Bewertung in der ‘ Rezension ’ einer ahnungslosen “ Student*in ” zu verlinken, die jedes kritische Wort zu Foucaults Diskursbegriff als Blasphemie missversteht und auf eine weitere verständige Lektüre gleich ganz verzichtet - womit sie unfreiwillig offenlegt, dass sie von Zimas Vorschlag, “ den eigenen Diskurs der Alterität konkurrierender Diskurse zu öffnen, um seine Theoreme und Argumente in einem empirisch fundierten Dialog zu testen ” (p. 296) nichts verstanden hat. Literatur Bourdieu, Pierre 1982: Die feinen Unterschiede, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Fairclough, Norman 3 2015: Language and Power, London / New York: Routledge Foucault, Michel 1966: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard Foucault, Michel 1971: L ’ ordre du discours, Paris: Gallimard Goffman, Erving 1973: Asyle, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Goffman, Erving 1975: Stigma, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Greimas, Algirdas Julien 1966: Sémantique structurale, Paris: Larousse Greimas, Algirdas Julien 1970: Du sens, Paris: Seuil Greimas, Algirdas Julien 1976: Sémiotique et science sociales, Paris: Seuil Greimas, Algirdas Julien 1983: Du sens II, Paris: Seuil Habermas, Jürgen & Niklas Luhmann 1971: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie _ Was leistet die Systemforschung? , Frankfurt/ Main: Suhrkamp Habermas, Jürgen 1981: Theorie kommunikativen Handelns, 2vols., Frankfurt/ Main: Suhrkamp Habermas, Jürgen 2009: Diskursethik (= Philosophische Texte 3), Frankfurt/ Main: Suhrkamp Hess-Lüttich, Ernest W. B. 1981: Grundlagen der Dialoglinguistik, Berlin: Erich Schmidt Hess-Lüttich, Ernest W. B. 2016: “ Semiotik ” , in: Ludwig Jäger, Werner Holly et al. (eds.) 2016: Sprache - Kultur - Kommunikation. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft / 344 Ernest W. B. Hess-Lüttich Language - Culture - Communication. An International Handbook of Linguistics as a Cultural Discipline, Berlin / Boston: de Gruyter Mouton, 191 - 210 Hess-Lüttich, Ernest W. B. (ed.) 2021: Handbuch Gesprächsrhetorik, Berlin/ Boston: de Gruyter Kumkar, Nils C. 2022: Alternative Fakten, Berlin: Suhrkamp Leeuwens, Theo van 2005: Introducing Social Semiotics, London / New York: Routledge Lorenzen, Paul 1974: Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Luhmann, Niklas 1984: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/ Main: Suhrkamp Maffesoli, Michel 1988: Le temps des tribus. Le déclin de l ’ individualisme dans les sociétés de masse, Paris: Méridiens Klincksieck Neurath, Otto v. [1935] 1981: “ Pseudorationalismus der Falsifikation ” , in: id. 1981: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, vol. 2, ed. Rudolf Haller & Heiner Rutte, Wien: Hölder, Pichler & Tempsky, 635 - 644 Zima, Peter V. 1989: Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen: Francke Zima, Peter V. 2 2021: Textsoziologie. Eine kritische Einführung in die Diskurssemiotik, Stuttgart: Metzler Peter V. Zima 2022: Diskurs und Macht. Einführung in die herrschaftskritische Erzähltheorie, Opladen / Toronto: Budrich Machtgefälle: Insignien asymmetrischer Kommunikationsverhältnisse 345
