Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
0303
2025
451-4
Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen
0303
2025
Joschka Briese
kod451-40019
Sprache reicht über ihren systematischen Status hinaus, da sind sich Robert B. Brandom, Ernst Cassirer und Merlin Donald in ihren Analysen einig. Brandom hebt insbesondere die Rolle der Sprache hinsichtlich Normativität und Anerkennung hervor, betont also sozialnormative Aspekte. Ernst Cassirer stellt in Versuch über den Menschen (2007) eher anthropologische Fragen über den Status sprachlicher und anderer symbolischer Formen. Es geht hier weniger um Sprache in der sozialen Interaktion, sondern um Sprache als strukturgebendes Element geistiger Prozesse, hier als abstraktionsermöglichende Struktur. Auf ähnliche Weise fasst auch Merlin Donald Sprache auf, befasst sich aber eher mit der Oszillation sprachlicher Formen zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. deren kulturellen Ausprägungen. Mit Brandom, Cassirer und Donald stehen hier exemplarisch drei Denker bereit, die nicht nur unterschiedliche Perspektiven auf das Erkenntnisobjekt Sprache ermöglichen, sondern deren Erkenntnisse die Rahmung des im Folgenden zu entwickelnden Zeichen- und Sprachbegriffs ermöglichen: Sprache bzw. sprachliche Zeichen werden als Element sozialnormativer und kognitiver Prozesse verstanden, die bisweilen konstitutive Funktionen in kulturellen (und im Rahmen der linguistischen Pragmatik insbesondere performativen) Prozessen einnehmen. Trotz dieser vermeintlichen Einigkeit bilden sich zwischen den verschiedenen Perspektiven auf Sprache Konfliktlinien. Denn dass Sprache stattfindet, ist selbstverständlich, wie sie aber prozessiert, konstituiert und wirkt, ist Thema strenger und bisweilen polemischer Diskussionen. Die stattfindende Diskrepanz zwischen trivialer Tatsache und konkurrierenden Paradigmen lässt sich anhand zweier Aspekte der Sprachwissenschaft entfalten. Zunächst ist das Erscheinen des Wortes Sprache kein Hinweis auf das Sprachverständnis der Autoren, sondern ermöglicht es vielmehr, die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks zu bewahren: Denn Sprache ist mehr als langage, langue und parole, wie z. B. Eugenio Coseriu (1985) zeigt. Gleichzeitig herrscht, auch durch das Wiedererstarken realistischer und empiristischer Tendenzen, eine Theorievergessen- und -verdrossenheit innerhalb vieler linguistischer Disziplinen, sodass z. B. Äußerungsinterpretationen im Rahmen empirischer Erhebungen teilweise unzureichend begründet werden (cf. z. B. dazu Kindt 2010: 142 f., Staffeldt 2019: 35 f.). Ausführliche theoretische Reflexionen zum Untersuchungsgegenstand und den entsprechenden bestimmenden Parametern, zu denen auch immer der verwendete Sprachbegriff gehört, finden z. B. im Rahmen einer Gesprächsanalyse häufig nicht statt, auch deshalb, weil so unverzüglich zur Datenerhebung und -auswertung übergegangen werden kann (cf. aber z. B. Grunzig 2019). Sowohl mannigfaltige Beschreibungen und Analysen von sprachlichen Prozessen als auch Tendenzen der Theorievergessen- und -verdrossenheit sollen im Folgenden gehemmt werden, um kraft theoretischer Reflexionen sowohl die zeichentheoretischen als auch sprachtheoretischen Grundlagen der anschließenden Betrachtung zu erklären und zu präzisieren. Die zeichentheoretischen Grundlagen entwickeln sich entlang der pragmatistischen Zeichentheorie Charles S. Peirces (semiotischer Pragmatismus). Der semiotische Pragmatismus dient nicht nur der Etablierung des semiotischen Fundaments des in dieser Arbeit vertretenen Sprachbegriffs, sondern formuliert grundlegende semiotische Prinzi- I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen 19 pien und Prozesse, die die Zeichenhaftigkeit der Wirklichkeit erklären und damit die Demarkierung sprachlicher Zeichen zu anderen Zeichen aufzeigen. In der Kluft zwischen universalen Kategorien und Pragmatischer Maxime, welche einerseits die phänomenologische Struktur skizziert und andererseits sowohl methodologische als auch epistemologische, semantische und handlungstheoretische Prinzipien formuliert, entwickelt sich ein pragmatischer Zeichenbegriff, welcher Zeichen und deren Prozesse im Gebrauch darstellt, sich aber auch als Grundgedanke einer linguistischen Pragmatik etablieren lässt. Neben der bekannten Dreiwertigkeit des Zeichens, welche Zeichenmittel bzw. Repräsentamen, Objekt bzw. Objektrelation und Interpretanten umfasst, lassen sich außerdem unterschiedliche Qualitäten des Zeichens differenzieren und die verschiedenen Relationen und Kraftlinien entwickeln. Die Unterscheidung zwischen den Kraft- und Effektverhältnissen der Materialität, Medialität, Repräsentation, Signifikation, Referenz und Inferenz bietet nicht nur ein theoretisches Vokabular, sondern auch eine präzise Analyse unterschiedlicher Relationen und Relata des Zeichens. Die kognitive Struktur nimmt im Rahmen der Modellierung des Zeichens eine prominente Rolle ein, sodass eine Darstellung der unterschiedlichen Interpretations- und Erkenntnisprozesse sowie Zeicheneffekte zu einer kognitiven Semiotik führt, welche traditionell auch auf der Zeichentheorie Charles S. Peirces fußt (cf. z. B. Konderak 2018: 214 f.). Neben einer internen Zeichenkonstitution öffnet sich das Zeichenmodell des semiotischen Pragmatismus außerdem einer externen Konstitution des Zeichens, da sich Zeichen ausschließlich in Zeichenprozessen verfassen und erfassen lassen. Entsprechend wird der externen Zeichenkonstitution (insbesondere in Bezug auf die zeichenphilosophische Interpretation des semiotischen Pragmatismus) ebenfalls ein Abschnitt gewidmet. Nach der Etablierung des semiotischen Pragmatismus wendet sich der Text dem normativen Sprachpragmatismus Robert B. Brandoms und dessen sprachtheoretischen Grundlagen zu. Entlang der Frage, was denn Pragmatik und Pragmatismus sei, entwickelt sich ein pragmatisches Sprachverständnis, welches die konstitutive Kraft und diskursive Signifikanz sprachlicher Zeichen in den Mittelpunkt der Sprachtheorie rückt. Dem Grundsatz folgend, dass sich implizite Normativität diskursiver Praktiken nicht auf Gesetze, Regeln oder Konventionen reduzieren lässt, argumentiert der normative Sprachpragmatismus für einen Normativitätsbegriff, der sich von regulistischen, regularistischen und konventionalistischen Regelbegriffen abgrenzt. Dem normativen Sprachpragmatismus folgend, lassen sich die impliziten diskursiven und sozialen Normen mithilfe von Modalverben innerhalb diskursiver Praktiken explizieren, sodass Modalverben ein zentrales theoretisches Vokabular des normativen Sprachpragmatismus darstellen. Robert B. Brandoms inferenzielle Semantik dient anschließend zur Erklärung der dynamischen und prozesshaften Bedeutungskonstitution, siedelt sich innerhalb der inferenzialistischen Sprachtradition an und grenzt sich von begriffsähnlichen Sprachkonzepten ab. Die substanzielle Abhängigkeit der inferenziellen Semantik von normativer Pragmatik ermöglicht es dann, einen normativen Inferenzialismus (cf. Turbanti 2017) zu formulieren und auszuarbeiten, welcher semantische und pragmatische Prozesse und Relationen als ein interdependentes Netzwerk betrachtet, sodass Bedeutungskonstitution und handlungsleitende soziale und diskursive Normen miteinander analysiert werden müssen. Semantisches Vokabular wird dabei ebenso eingeführt wie konditionale Umstände 20 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen und Folgen von sprachlichen Handlungen, die ko- und kontextuelle Antezedenz- und Konsequenzrelationen inferenziell modellieren. Die beiden systematischen Theorien des semiotischen Pragmatismus und des normativen Sprachpragmatismus werden anschließend bezüglich ihrer semantischen, pragmatischen, ontologischen, kategorialen, epistemologischen sowie methodologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede untersucht, um wechselseitige Bezüge herzustellen. Im Rahmen dieser reziproken Integration beider Ansätze zeigt sich, dass sie jeweilige theoretische Leerstellen des anderen füllen und sich anschließend in eine linguistische Pragmatik überführen lassen können. Neben den zeichen- und sprachtheoretischen Grundlagen sowie deren theoretischer Integration wird dieses Kapitel außerdem durch einen Exkurs zu diagrammatischen Darstellungsweisen ergänzt, welcher die Modellierungsformen und -gestalten der Untersuchung erklärt. I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen 21
