Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
0303
2025
451-4
Sprachtheoretische Grundlagen
0303
2025
Joschka Briese
Während die zeichentheoretischen Grundlagen insbesondere verschiedene Aspekte und Qualitäten von Zeichen in ihrer Konstitution und Semiose reflektieren, zeichnen sich die sprachtheoretischen Grundlagen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, nicht nur die Diskussion eines spezifischen Zeichensystems (Sprache) aus, sondern betten diese in sozial-kommunikative und diskursive Praktiken ein. Ausgehend von Robert B. Brandoms normativem Sprachpragmatismus wird der Status von Sprache und sprachlichen Praktiken an der Schnittstelle von normativer Pragmatik und inferenzieller Semantik diskutiert. Im Rahmen der normativen Pragmatik wird der ausgezeichnete Status von diskursiven Normen hervorgehoben sowie erstes theoretisches Vokabular zur Analyse dieser etabliert. Die inferenzielle Semantik dient anschließt zur Etablierung inferenzieller Relationen als Rollen zur Konstitution semantischer und propositionaler Gehalte.
kod451-40071
K O D I K A S / C O D E Volume 45 (2022) · No. 1 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen 3 Sprachtheoretische Grundlagen Abstract: While the foundations of semiotic pragmatism reflect on various aspects and qualities of signs in their constitution and semiosis, the foundations of language theory presented in this chapter are characterized not only by the discussion of a specific sign system (language), but also embed them in social-communicative and discursive practices. Based on Robert B. Brandom's normative linguistic pragmatism, the status of language and linguistic practices is discussed at the interface of normative pragmatics and inferential semantics. Within the framework of normative pragmatics, the eminent status of discursive norms is emphasized and the first theoretical vocabulary for analyzing them is established. Inferential semantics is then used to establish inferential relations as roles for the constitution of semantic and propositional content. Zusammenfassung: Während die zeichentheoretischen Grundlagen insbesondere verschiedene Aspekte und Qualitäten von Zeichen in ihrer Konstitution und Semiose reflektieren, zeichnen sich die sprachtheoretischen Grundlagen, die in diesem Kapitel vorgestellt werden, nicht nur die Diskussion eines spezifischen Zeichensystems (Sprache) aus, sondern betten diese in sozial-kommunikative und diskursive Praktiken ein. Ausgehend von Robert B. Brandoms normativem Sprachpragmatismus wird der Status von Sprache und sprachlichen Praktiken an der Schnittstelle von normativer Pragmatik und inferenzieller Semantik diskutiert. Im Rahmen der normativen Pragmatik wird der ausgezeichnete Status von diskursiven Normen hervorgehoben sowie erstes theoretisches Vokabular zur Analyse dieser etabliert. Die inferenzielle Semantik dient anschließt zur Etablierung inferenzieller Relationen als Rollen zur Konstitution semantischer und propositionaler Gehalte. Keywords: Robert B. Brandom, normative linguistic pragmatism, normative pragmatics, inferential semantics Schlüsselbegriffe: Robert B. Brandom, normativer Sprachpragmatismus, normative Pragmatik, inferenzielle Semantik Sprachtheorie ist keine Sprachphilosophie. Wo Theorie ihr Objekt definiert, hat Philosophie die Bedingungen solchen Definierens zu bedenken, in diesem Fall diejenigen Limitierungen, denen unsere Vorbegriffe von Sprache unterworfen sein müssen, damit Sprachwissenschaft möglich wird. Was Sprache ‘ ist ’ , kann sich philosophisch nur in der Reflexion der Grenzen wissenschaftlicher Sprachbeschreibung zeigen. (Stetter 1996: 421) Jede sprachwissenschaftliche Untersuchung basiert auf einem Sprachverständnis, welches (explizit oder implizit) die Betrachtung des zu untersuchenden Materials mitstrukturiert. Die Frage, was Sprache sei, wird dabei häufig vermieden, weil doch ontologische Annahmen mit jener einhergehen (cf. aber Nozsicska 2020). Vielmehr wird Sprache nach ihren Produktionen und Effekten befragt. Sprachbegriffe entwickeln sich dabei häufig aus ihren sprachphilosophischen Vorläufern, wobei eine Demarkationslinie zwischen den wissenschaftstheoretischen Verpflichtungen einer Sprachtheorie und den traditionsbewussten Verbindlichkeiten einer Sprachphilosophie besteht: Sprachphilosophie, die ihre eigenen paradigmatischen Gewohnheiten hat, muss sich in der Definition des Sprachbegriffs in ein Verhältnis zu anderen philosophischen Traditionen setzen, sodass metaphysische, ontologische, epistemologische und sogar ästhetische, ethische und politische Maximen der Philosophiegeschichte berücksichtigt werden könnten oder sollten. Anstatt sich dem mannigfaltigen Gebrauch sprachlicher Zeichen in unterschiedlichen diskursiven Praktiken zuzuwenden, sucht die Sprachphilosophie zumeist ihre Definition in den universalen Eigenschaften der Sprache und schlussfolgert daraus deren Wirksamkeiten in unterschiedlichen Anwendungsbereichen. Sprachtheorie hingegen wendet sich einerseits zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen (auch der Sprachphilosophie) hin, um Sprachbegriffe zu entlehnen, muss sich aber andererseits auch an sprachlichen Praktiken messen lassen. Als Menge an wissenschaftlichen Aussagen über Sprachsystem und Sprachgebrauch ist sie der Analyse, Synthese und Modellierung verpflichtet und muss sich im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen sowohl in ihrer internen logischen Struktur als auch in Abgrenzung zu anderen Sprachtheorien und Sprachbegriffen bewähren. Sprachtheorien sollten damit die Verbindung schaffen zwischen der tiefenstrukturellen Begründung ihrer Aussagen mithilfe der Argumentation sowie der Autorität ihrer eigenen Tradition und anderer wissenschaftlicher Disziplinen, aber gleichzeitig den Gütekriterien der zeitgenössischen Forschung standhalten. Eine semiotisch fundierte pragmatistische Sprachtheorie, wie die hier zu entwickelnde, steht selbst in der Tradition verschiedener Zeichen- und Sprachphilosophien. Allerdings sollte sie nicht Annahmen über Sprache und Zeichen im Allgemeinen beschreiben, sondern der Analyse von sprachlichen Zeichen in diskursiven Praktiken dienen. Die zeichentheoretischen Grundlagen bilden innerhalb des semiotischen Pragmatismus ontologische, epistemologische und methodologische Prinzipien, die sich für eine linguistische Pragmatik nutzen lassen. Allerdings hält sich der semiotische Pragmatismus (zumindest derjenige von Peirce) bezüglich einer Definition eines spezifischen Sprachbegriffs und dessen funktionaler Rolle in diskursiven Praktiken eher zurück. Es geht ihm vielmehr darum, die grundlegenden Prinzipien von Zeichenprozessen und -praktiken zu analysieren, als diese auf ein Zeichensystem (Sprache) und dessen Prozesse zu reduzieren. Zwar bilden insbesondere die Aspekte der internen wie externen Zeichenkonstitution eine semiotische Fundierung einer Sprachtheorie und auch spezifische Begrifflichkeiten (z. B. Token und Typ, Indexikalität etc.) haben ihre terminologischen Spuren in der Linguistik hinterlassen, doch ist insbesondere die Anwendbarkeit der Zeichentheorie auf alle Zeichensysteme und -prozesse für die spezifischen Qualitäten sprachlicher Zeichen ein Hindernis. Die Erkenntnis, dass sprachliche Elemente Zeichen und damit semiotisch zu erfassen sind, führt zwar einerseits zu wesentlichen Aufschlüssen bezüglich ihrer Struktur 72 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen und Prozesshaftigkeit, doch inwiefern linguistische Pragmatik und Semantik innerhalb von diskursiven Praktiken semiotische Sonderfälle darstellen, ist dadurch noch nicht erklärt. Hierzu bedarf es der Ergänzung durch sprachtheoretische Grundlagen, welche mit den zeichentheoretischen Voraussetzungen vereinbar sind, sie aber linguistisch interpretieren und somit sowohl die spezifischen Qualitäten sprachlicher Zeichen betonen als auch deren linguistische Analyse, Synthese und Modellierung ermöglichen. Im Folgenden soll deshalb insbesondere das Verhältnis zwischen linguistischer Pragmatik und Semantik aus sprachtheoretischer Perspektive betrachtet werden, um die entsprechenden Verantwortungsbereiche innerhalb von wissenschaftlichen Erhebungen festzustellen. Dazu ist eine Erklärung des Verhältnisses von Pragmatik und Pragmatismus ebenso erforderlich wie die Beschreibung der sozial-normativen Dimension der Pragmatik, welche sowohl diskursive Prozesse als auch die Konstitutivität sprachlicher Zeichen betont. Anschließend werden Prozesse inferenzieller Semantik erklärt und die dynamischen, konditionalen und inferenziellen Aspekte spezifiziert. Auch erste Begriffe des theoretischen Vokabulars sowohl zur Explikation der impliziten Normativität der diskursiven Praktiken als auch zur Analyse der inferenziellen Prozesse können auf diesem Wege eingeführt werden. In einer Verknüpfung von normativer Pragmatik und inferenzieller Semantik können dann die explanatorischen Kompetenzen beider wissenschaftlichen Heuristiken erklärt und das Wechselverhältnis der von ihnen beschriebenen Prozesse erfasst werden. Außerdem entgegne ich prototypischen Einwänden gegen einen Inferenzialismus und einen normativen Sprachpragmatismus. Nicht nur das explanatorische, sondern auch das theoretische Verhältnis zwischen Pragmatik und Semantik ist dabei folgendes: Semantische Gehalte, Relationen und Prozesse erwachsen aus diskursiven, normativen und pragmatischen Signifikanzen. Kurz: Semantik folgt Pragmatik. 3.1 Normative Pragmatik Die Begriffe Pragmatik, pragmatisch und verwendungsähnliche Ausdrücke wie Sprachgebrauch sind in der Sprachwissenschaft verbreitet. Viele theoretische, empirische sowie praktische Ansätze verfolgen zumindest rudimentär gebrauchsorientierte oder -basierte Perspektiven in ihrer Forschung bzw. schreiben sich diese Eigenschaften zumindest selbst zu und sich damit auch in die pragmatische Forschungsgeschichte ein. Was unter den entsprechenden Ausdrücken zu verstehen ist, welche sprachtheoretischen wie praktischen Konsequenzen aus ihnen erwachsen, bleibt jedoch oft implizit bis unterbestimmt. Die Definitionen der Pragmatik sind dabei nicht nur äußerst zahlreich, sondern schwanken zwischen mathematischen Gleichungen wie “ pragmatics = semantics - truth conditions ” (Gazdar 1979: 2), die letztlich wenig erklären, und vielzitierten, aber nicht immer konsequent verfolgten plakativen und aphoristischen Dikta wie Wittgensteins “ Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache ” (1984: 262). Während bereits im Rahmen der Zeichentheorie Charles S. Peirces wesentliche Grundlagen des semiotischen Pragmatismus erklärt wurden, sollen nun die Grundlagen einer normativen und linguistischen Pragmatik expliziert werden, welche sich nicht mehr auf die Gesamtheit von Zeichensystemen und -prozessen, sondern auf sprachliche Prozesse beziehen. Somit wird nicht nur der Verantwortungsbereich der linguistischen Pragmatik 3 Sprachtheoretische Grundlagen 73 umrissen, sondern es werden auch operative Begriffe der linguistisch-pragmatischen Theoriebildung eingeführt. Entlang der Betrachtung der unterschiedlichen Erscheinungsformen von Pragmatik und Pragmatismus, wie sie Robert B. Brandom analysiert, zeichnet sich eine Definition der linguistischen Pragmatik ab, die sich methodologisch und erkenntnistheoretisch von der Semantik abgrenzt und Zeichengebrauch, implizite Normativität und die konstitutive Kraft der Sprache in den Blick nimmt. Die Unterscheidung zwischen Pragmatik und Semantik verdankt sich hierbei einer wissenschaftlichen Heuristik, die sich in mehr oder weniger abstrakten Verantwortungsbereichen äußert und innerhalb einer Sprachanalyse als komplementäre Aspekte zu verstehen sind (Semantik-Pragmatik-Schnittstelle). Mit der erkenntnistheoretischen Orientierung an der normativen Pragmatik, welche sich vom methodologischen und semantischen Pragmatismus abgrenzt, werden forschungs- und theorieleitende Prämissen entwickelt, die sich an der kritischen Diskussion der Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG veranschaulichen lassen und die zu einem normativen Sprachpragmatismus führen, welcher die implizite Normativität diskursiver Praktiken hervorhebt. Anstatt theoretisch Regeln und Konventionen vorauszusetzen, entfaltet sich die implizite Normativität innerhalb sprachlicher Praktiken, sodass der Begriff der impliziten Normativität sowohl vom regulistischen als auch vom regularistischen Regelbegriff als auch von einem konventionalistischen Normverständnis unterschieden werden muss. 1 Mithilfe der Übersetzung des allgemeinsprachlichen Metavokabulars in eine einzelsprachliche und normative Grammatik der Modalverben zur Analyse und Explikation der impliziten Normativität erfolgt anschließend eine methodische Reflektion der erkenntnistheoretischen Prämissen der normativen Pragmatik. 3.1.1 Pragmatik, Pragmatismus und die Metapher sprache als werkzeug Robert B. Brandom, der nicht nur als herausragender Vertreter des amerikanischen Pragmatismus gilt, sondern auch Grundlagen für eine linguistische Pragmatik bietet, untersucht in Pragmatik und Pragmatismus (cf. PP) das Verhältnis zwischen kommunikativer Handlung und semantischem Gehalt. In seiner Untersuchung unterschiedlicher Pragmatismen plädiert er für ein umfassendes Verständnis von Pragmatik und Pragmatismus, welches den “ Vorrang des Praktischen ” (PP: 29) anerkennt und konsequent umsetzt. Brandom unterscheidet zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen von Pragmatik und Pragmatismus: Im methodologischen Pragmatismus “ gehorcht die Semantik der Pragmatik insofern, als die pragmatische Theorie das Erklärungsziel der semantischen Theorie angibt und folglich die ausschlaggebende Quelle der Adäquatheitskriterien ist ” (PP: 32). Der methodologische Pragmatismus erkenne an, dass der Sprachgebrauch für die Analyse notwendig sei und dieser die semantischen Gehalte mitbestimme. Die Semantik von Sprachzeichen fußt also auf Gebrauchsbedingungen, doch bleibt die tatsächliche sprachliche Praxis während der Anwendung der Methode letztlich irrelevant, denn sie stellt 1 Die Unterschiede zwischen Regulismus, Regularismus und Konventionalismus, welche im Folgenden veranschaulicht werden sollen, basieren auf der Regelbzw. Konventionsinvolviertheit in der Erklärung von Verhalten. Insbesondere Regulismus und Regularismus trennen zwischen Regel und Verhalten, setzen aber unterschiedlich starke Regelbzw. Regelmäßigkeitsbegriffe in ihre Modelle ein. Konventionalismus hingegen geht von einer irreduziblen Verbindung zwischen Konvention und Verhalten aus. 74 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen eben nur ein Erklärungsziel dar. Der Sprachgebrauch ist lediglich eine abstrakte Adäquanzgröße, welche z. B. Interpretationsanleitungen geben kann ( “ Der Satz X erscheint hier in Kontext Y, sodass der Gehalt von X in Bezug auf Y interpretiert werden muss. ” ). Die Beziehung zwischen Handlung und Gehalt besteht also nur methodologisch. 2 Der semantische Pragmatismus hingegen gehe davon aus, dass sprachliche Zeichen “ ihre faktische Bedeutung durch die Art und Weise [erhalten], in der die Sprecher von ihnen Gebrauch machen ” (PP: 35; Hervorh. im Original). Der semantische Gehalt bestimmt sich demnach tatsächlich erst im Sprachzeichengebrauch, sodass die tatsächliche Bedeutungskonstitution im Sprachgebrauch berücksichtigt werden muss. Während methodologischer Pragmatismus allein pragmatisches Theorievokabular zur Beschreibung der hermeneutischen wie empirischen Erkenntnisse nutzt, geht semantischer Pragmatismus davon aus, dass die pragmatischen Zeichengebrauchskonsequenzen die Bedeutung grundlegend konstituieren. Obwohl der semantische Pragmatismus die Aspekte der Handlung und des Gehalts zwar verschränkt, erklärt er kaum, welche signifikative Kraft dem Sprachgebrauch und dessen Zeichen zukommt. Zwar besteht der semantische Pragmatismus darauf, dass dem Wissenwie ein Vorrang gegenüber dem Wissen-dass (cf. z. B. Ryle 2009) eingeräumt werden sollte, doch spezifiziert dies noch nicht, was Sprachgebrauch eigentlich sei, was zu einer divergenten theoretischen Konzeption des Sprachgebrauchsbegriffs führen kann. Brandom (cf. PP: 53 f.) bemerkt, dass der Zeichengebrauch von pragmatistischen Theorieansätzen sich häufig auf den instrumentellen Charakter der Sprache reduzieren lässt. Insbesondere in der Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG manifestiere sich dieses instrumentelle Verständnis der Sprache. Die Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG sei zunächst auf vielerlei Weise sinnvoll, so Brandom, um konstitutive Eigenschaften der Sprache und des Sprachgebrauchs zu veranschaulichen: Erstens erkläre die Metapher, dass sprachliche Zeichen ebenso vielfältig eingesetzt werden könnten und sich in verschiedenen Gebrauchssituationen ereignen wie Werkzeuge. Sprachliche Zeichen und Werkzeuge können zu vielfältigen und unterschiedlichen Zwecken gebraucht werden. Zweitens helfe die Metapher zu verstehen, dass zum Nutzen von sprachlichen Zeichen weitere Sinnzusammenhänge nötig sind, die sich nicht aus der implizierten Struktur des Sprachzeichens selbst ergeben. Ebenso wie der Gebrauch eines Werkzeugs andere handwerkliche Utensilien erfordern würde (wie z. B. das Verhältnis von Hammer und Nagel zeigt), würden auch sprachliche Zeichen auf andere Zeichen verweisen, sodass sie ein holistisches Netz bilden würden. Drittens stelle sie einen Bezug zwischen der Angemessenheit des Gebrauchs eines Werkzeugs zur Bewältigung einer Aufgabe und sprachlichen Zeichen her. Ähnlich wie 2 Methodologischer Pragmatismus erlebt in der linguistischen Pragmatik momentan eine Renaissance. Sowohl formale Pragmatik, die sich als “ Weiterentwicklung der formalen Satzsemantik ” (Klabunde 2018: 122) versteht als auch die experimentelle Pragmatik, die sich explizit auf die Semantik H. P. Grices stützt (cf. z. B. Noveck/ Sperber 2006), tendieren in ihren Forschungspraktiken dazu, Pragmatik als situatives und kontextuellen Inferenzmethode zu verstehen, welche die lexikalische Unterspezifikation semantischer Gehalte anreichert. Entsprechend seien die Hypothesen nicht nur an formalen Sätzen und in experimentellen Settings zu veranschaulichen, sondern tatsächlich nachweisbar. 3 Sprachtheoretische Grundlagen 75 Werkzeug, welches auf richtige Weise für angemessene Aufgaben verwendet werden kann, impliziere auch die Sprache eine Dimension der normativen Bewertbarkeit, die durch die Metapher veranschaulicht werden kann. Viertens sei die Normativität der Sprache eher ein Mehr-oder-Weniger-Kriterium als ein Entweder-Oder-Maßstab. Ähnlich wie handwerkliche Arbeiten mehr oder weniger gelungen sein können, ein Werkzeug effizienter sein kann als ein anderes, sei Normativität der Sprache eine graduelle Angelegenheit. Fünftens ähnelt handwerkliche Arbeit, welche aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilt werden könne, der Vieldimensionalität der Sprache, so Brandom. Das hergestellte Bau- oder Kunstwerk könne zwar z. B. funktional, aber nicht ästhetisch sein, sodass sich dadurch die Bewertbarkeit aus unterschiedlichen Perspektiven zeige. Vielfalt, Holismus, normative Bewertbarkeit, Mehr-oder-Weniger-Kriterien und Vieldimensionalität sind fünf Kriterien, die veranschaulichen, was die Metapher S PRACHE ALS W ERKZEUG leisten und erklären kann. Allerdings, so Brandom (PP: 56 f.), versage die Metapher an einem bestimmten und zentralen Punkt. Würde Sprache - wie das Werkzeug - als Mittel zur Zweckerfüllung verstanden, dann verliere die Metapher einen wesentlichen Aspekt der Sprache aus dem Auge: Sprache ist nicht Mittel eines vorausgehenden Zwecks. 3 Vielmehr seien Performanzen erst kraft der Existenz von Sprache bzw. sprachlichen Zeichen überhaupt möglich. Sprache ist damit kein Werkzeug mehr, sondern eine conditio sine qua non sozial-kommunikativer und insbesondere sozial-normativer Vergesellschaftungsprozesse. 4 Die Konstitution kraft Sprache wird laut Brandom von methodologischen und semantischen Pragmatismen, die die instrumentelle Funktion der Sprache betonen, vernachlässigt. Stattdessen müsse die normative und konstitutive Kraft der Sprache im Mittelpunkt der Analyse stehen. Die normative Kraft, die die Distanz zwischen Mittel und Zweck überwindet, bildet damit das Fundament des normativen Sprachpragmatismus Brandoms, welcher Zeichengebrauch, Normativität und die konstitutive Kraft der Sprache miteinander vereint. Brandom etabliert also seinen normativen Sprachpragmatismus, der die konstitutive und normative Kraft sprachlicher Zeichen in den Mittelpunkt rückt, in Abgrenzung zu 3 Auf ähnliche Weise formuliert Rudi Keller (2018: 206) seine Kritik an der SPRACHE ALS WERKZEUG -Metapher: “ Sprachliche Zeichen sind in vielerlei Hinsicht mit Werkzeugen vergleichbar, aber nicht in jeder Hinsicht. Wählen wir als Beispiel einen Stock: Stöcke eignen sich zum Prügeln. Prügeln ist etwas Intentionales. Stöcke selbst sind nicht intentional. Bis hierher ist der Vergleich mit sprachlichen Zeichen in Ordnung. Nun aber wird es problematisch: Ein Stock eignet sich zum Prügeln, weil er aus Holz ist, eine bestimmte Größe und Stärke hat, eine bestimme Elastizität usw. Es ist ihre Beschaffenheit, die Werkzeuge zu ihrem Zweck geeignet macht. Die Beschaffenheit macht das Werkzeug dazu geeignet, bestimmte Intentionen zu realisieren. Ein sprachliches Symbol hingegen eignet sich zur Realisierung einer bestimmten Intention ausschließlich deshalb, weil es üblich ist, es zur Realisierung dieser Intention zu verwenden. Von einem sprachlichen Zeichen zu sagen, es sei arbiträr, heißt zu sagen, dass seine Eignung nicht in seiner Beschaffenheit begründet ist. ” Auch Christian Stetter (2005: 74) betont diese irreduzible Verschränkung von Handlungskraft und Zeichenqualität, wenn er Mittel zur Kommunikation vom Begriff des Mediums unterscheidet, welches “ eine in Operation gesetzte Apparatur [ist], sodaß durch diese Operation etwas, nämlich eine Darstellung von bestimmter Gestalt hervorgebracht wird. Medien in diesem Sinne sind, verkürzt gesprochen, symbolisierende Performanzen, genauer gesagt: das, was an der performance reiner Vollzug ist. ” (Hervorh. im Original) 4 Ohne es herauszustellen, folgt Brandom hier einer Sprachphilosophie im Sinne Humboldts (1999 a, 1999 b) und Herders (1964), die ebenfalls die konstitutive Funktion von Sprache anerkennen. 76 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen methodischen und semantischen Pragmatismen. Seine Analyse der Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG zeigt, wie sprachliche Zeichen im Rahmen des normativen Sprachpragmatismus konzeptualisiert und modelliert werden. Auch wenn den Prämissen des normativen Sprachpragmatismus, wie sie hier formuliert wurden, in der vorliegenden Arbeit weitestgehend gefolgt wird, sind sie doch zumindest hinsichtlich des semiotischen Pragmatismus keineswegs neu. Brandom, der Peirce fälschlicherweise einen instrumentellen Pragmatismus unterstellt (cf. z. B. PP: 46 f.), übersieht, dass die Konstitutivität von Zeichen bei Peirce irreduzibel an deren Regeln, Konventionen und Normen (in Form von Drittheiten) gebunden ist (cf. z. B. Pape 2002). Insofern sind semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus theoretisch vollständig kompatibel. Was Brandom hingegen für eine linguistische Pragmatik so interessant macht, ist, dass dessen theoretische Voraussetzungen nicht nur an Zeichen, sondern an sprachlichen Zeichen ansetzen. Insofern kann anhand des normativen Sprachpragmatismus eine spezifische Semiotik sprachlicher Zeichen entwickelt werden, welche konstitutive und normative Kraft sprachlicher Zeichen erklärt und modelliert. Auch wenn die Modellierungskonsequenzen des normativen Sprachpragmatismus im Laufe der Arbeit noch entwickelt werden sollen, möchte ich zumindest skizzieren, inwiefern die Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG , aber auch die genuine Normativität sprachlicher Prozesse sich in der Analyse und Modellierung von diskursiven Praktiken wiederfindet. Ausgehend von einer explanatorischen Verpflichtung der linguistischen Pragmatik, die implizite Normativität diskursiver Praktiken offenzulegen, folgt auch das explanatorische Potenzial der Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG dieser grundlegenden Annahme. Insofern sind Vielfalt, Holismus, normative Bewertbarkeit, Mehr-oder-Weniger-Kriterien und Vieldimensionalität auch hinsichtlich ihrer normativen Verstrickungen zu beurteilen, was teilweise offensichtlich (normative Bewertbarkeit), teilweise weniger augenscheinlich (Holismus) ist. Sprachliche Praktiken, wie sie im Folgenden analysiert werden, lassen sich aufgrund der vielfältigen Gebrauchsweisen von sprachlichen Zeichen nicht notwendigerweise anhand ihrer Text- oder Äußerungsoberfläche erkennen. Signifikanten oder Ausdrücke sind nicht hinreichend für eine Analyse. Vielmehr müssen die verschiedenen Zeichen in ihrer Zeichenumgebung untersucht werden, in der sozial-kommunikative Akte und Performanzen nach ihren diskursiven Konsequenzen befragt werden. Hierzu wird im Folgenden ein Inferenzmodell entwickelt, welches Kontext und Performanztypen berücksichtigt, und mithilfe inferenzieller, pragmatischer und normativer Prozesse erläutert (cf. Kapitel 14). Auch der Holismus diskursiver Praktiken wird im Folgenden mithilfe inferenzieller Prozesse modelliert. Inferenzielle Relationen stellen dabei nicht nur eine Bedingung der Bedeutungskonstitution dar, sondern beeinflussen auch nichtsprachliche Praktiken wie Wahrnehmungen und Handlungen, die im Inferenzmodell ebenfalls holistisch an der Bedeutungskonstitution beteiligt sind bzw. aufgrund inferenzieller Relationen diskursive Relevanz erlangen (cf. Kapitel 8.3). Dass sprachliche und diskursive Praktiken nicht nur hinsichtlich ihrer normativen Bewertbarkeit beurteilt werden, sondern diese den Praktiken sogar implizit ist, ist eine zentrale Annahme der vorliegenden Arbeit und muss entsprechend veranschaulicht werden. Hierzu werden nicht nur soziale, diskursuniversale und diskursspezifische Normtypen definiert, sondern es wird auch deren Involviertheit in diskursiven Praktiken 3 Sprachtheoretische Grundlagen 77 erklärt, indem die normative Kraft von Verben (hier insbesondere Modalverben und intentionale Verben) untersucht wird (cf. Kapitel 12). Da sich die explizierende und normative Kraft von Verben, aber auch ihre spezifischen inferenziellen Relationen in diskursiven Praktiken nicht anhand eines einzelnen Zeichenereignisses, sondern nur im Verhältnis zu performativer Kraft, kontextuellen Faktoren und interlokutiven Relationen erklären lassen, liegt wiederum an den Mehr-oder-Weniger- Kriterien und der Vieldimensionalität der Normativität von sprachlichen Praktiken. Insofern werden auch die verschiedenen Aushandlungspraktiken, sprachlichen Handlungen und deren Voraussetzungen modelliert, da diese die konkrete Bestimmung von Verben und ihren diskursiven Rollen erst ermöglichen (cf. Kapitel 14). 3.1.2 Regeln - Implizite Normativität der diskursiven Praktiken Auch wenn die Metapher SPRACHE ALS WERKZEUG bereits einige Aspekte sprachlicher und diskursiver Praktiken erklärt, muss doch die implizite Normativität dargestellt werden, welche Zeichengebrauch und Konstitutivität der Sprache mitbestimmt. Dabei muss sie nicht nur von begriffsähnlichen Verwendungen wie Regel oder Konvention unterschieden und der epistemische, deontologische wie linguistische Status der Normativität erklärt, sondern auch eine Analysierbarkeit im Sprachgebrauch gewährleistet werden. In der linguistischen Pragmatik besteht weitestgehend Konsens darüber, dass der Gebrauch sprachlicher Zeichen durch Regeln und Konventionen bestimmt bzw. beeinflusst ist, doch erklärt sich dadurch noch nicht, was unter den jeweiligen Aspekten zu verstehen ist. Nur selten wird das jeweilige Regel-, Konventionsbzw. Normverständnis tatsächlich expliziert oder skizziert, sodass die Verwendung der Begriffe Regel und Konvention in der latenten Gefahr steht, als Letztbegründung gebraucht zu werden ( “ X ist Y, weil es unter der Regel gültig/ konventionell ist. ” ). Tatsächlich erklärt die Verwendung dieser Begriffe kaum etwas, obwohl für eine linguistische Pragmatik, die sich der Normativität des Sprachgebrauchs bewusst ist, die Konzeption eines Normbegriffs fundamental ist. Deshalb sollte auch eine linguistisch-pragmatische Sprachtheorie verpflichtet sein, ihren Normativitätsbegriff zu explizieren und ihn sowohl mit Zeichengebrauch und Konstitutivität der Sprache als auch der Analysierbarkeit (in Form eines theoretischen Vokabulars) in Einklang zu bringen. Brandoms Normativitätsbegriff, der hier kurz vorgestellt werden soll, folgt einer Traditionslinie Ludwig Wittgensteins und versucht, die grundlegende Struktur von konventionellen und regelhaften Phänomenen im Sprachgebrauch zu ergründen. Normativität stellt bei Brandom nicht nur eine sozial-kognitive Einstellung des Sollens [ought to be] dar, die sich sprachlich markieren lässt. Er grenzt seinen Normbegriff auch von anderen Begriffen wie Regelhaftigkeit und Regelmäßigkeit ab. Insbesondere von regulistischen und regularistischen Regelbegriffen distanziert sich Brandom dabei, dessen Argumente im Folgenden skizziert werden. Einen markanten und starken Regelbegriff definiert der Regulismus (cf. EV: 56 f.). Laut Regulismus erscheinen Regeln in expliziter Gestalt, z. B. in Form von Vorschriften, Verboten und Erlaubnissen (cf. EV: 57). Dank ihrer Erscheinungsform lassen sie sich demnach nicht nur als explizite Regeln nachweisen, sondern auch in spezifische Relationen zu den regulierten Tatsachen und Verhaltensweisen stellen. Sprachgebrauch und Regel 78 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen stehen im Regulismus damit in einem konstanten und hierarchischen Verhältnis, welches sich folgendermaßen zusammenfasst lässt: “ Zuerst die Regel, dann die Anwendung ” (Schneider 2008: 44). Sprachgebrauch wird demnach durch vorgeordnete Regeln mitbestimmt. Eine solche Hierarchiekonstanz zwischen Regel und Sprachgebrauch ist allerdings begründungsbedürftig und stößt auf explanatorische und praktische Schwierigkeiten der Regelbegründung. Ludwig Wittgenstein veranschaulicht dies in seinen Philosophischen Untersuchungen anhand des Beispiels der Notation von Grundzahlenreihen (cf. Wittgenstein 1984: 336 f.): Eine Lehrperson gibt einem Schüler die Aufgabe, die Grundzahlenreihe nach der Regel “ + 2 ” bis 1000 (2, 4, 6, 8, … , 1000) zu notieren. Nachdem der Schüler seine Aufgabe erfüllt hat, überprüft die Lehrperson stichprobenhaft das Ergebnis und erkennt, dass der Schüler der Regel gefolgt ist. Die Regel scheint hier die Anwendung determiniert zu haben. Nun soll der Schüler derselben Regel folgen und die Grundzahlenreihe bis 2000 vervollständigen. Nachdem der Schüler auch diese Aufgabe vollendet hat, prüft die Lehrperson abermals die Anwendung der Regel und stellt fest, dass der Schüler der Regel anscheinend nicht gefolgt ist, denn die produzierte Grundzahlenreihe weist Lücken auf, die nach der Regel “ + 2 ” nicht auftreten dürften: 1000, 1004, 1008, … , 2000. Anscheinend folgt der Schüler nicht der Regel “ + 2 ” , sondern einer anderen Regel: “ Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 immer 4, bis 3000 6, etc. ” (Wittgenstein 1984: 336). Nachdem die Lehrperson nun abermals die erste Grundzahlenreihe prüft, die noch unter der Anwendung der Regel “ + 2 ” produziert wurde, fällt auf, dass mehrere Regeln der Notation der Grundzahlenreihe des Schülers (Verhalten) angemessen zugeordnet werden können. Sowohl die Regel “ + 2 ” als auch “ Addiere bis 1000 immer 2, bis 2000 immer 4, bis 3000 6, etc. ” finden in der Anwendung ihre Erfüllung. Wenn nun aber verschiedene Regeln auf dasselbe Verhalten angewandt werden können, gibt es kein explizites Zuordnungsverhältnis zwischen Regel und Verhalten, welches das Verhalten erklärt, da eine potenziell unendliche Anzahl an Regeln auf das Verhalten des Schülers angewandt werden kann. Die Konstanz von Regel und Verhalten lässt sich damit nicht mehr fraglos annehmen, sondern ist durch eine Regelkontingenz bestimmt: Aus dem jeweiligen Verhalten lässt sich keine Regel explizieren. Um nun aber die Regel unter den Regeln zu bestimmen, welche tatsächlich zur Anwendung gekommen ist, ist abermals eine Regel erforderlich, die, wenn sie die gleiche explanatorische Qualität haben soll wie die zu erklärende Regel, selbst reguliert werden muss. Die explanatorische Hierarchie zwischen den Regeln kann dann nur metaperspektivisch begründet werden, da ansonsten ein infiniter Regelregress droht. Doch dann würde nicht mehr jede Regelanwendung reguliert werden müssen, was die fundamentale Annahme des Regulismus, welche eine regulative Konstanz zwischen Regel und Verhalten annimmt, infrage stellt. Daraus folgt, dass das Verhältnis von Regel und Verhalten unter regulistischen Prämissen zu einem Paradox des Regelfolgens führt, denn “ eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei ” (Wittgenstein 1984: 345). Anstatt von Regeln bzw. deren Formulierungen auszugehen, könnte die Lösung der Paradoxie des Regelfolgens in der Hinwendung zum Regelinterpretationsprozess Abhilfe 3 Sprachtheoretische Grundlagen 79 leisten. Schließlich spielen unterschiedliche Interpretationen von Regeln eine wichtige Rolle in Zeichen- und Kommunikationsprozessen. Allerdings führt auch die Hinwendung zur Regelinterpretation nicht zu einem haltbaren Regelbegriff, denn was als angemessene Interpretation gilt, müsste wiederum nach regulistischen Prämissen reguliert werden. Stattdessen ist es zielführend, wenn Regeln innerhalb von sozialen und diskursiven Praktiken gesucht werden, die sich im jeweiligen (sprachlichen) Verhalten zeigen. Regeln sind damit nicht dem (sprachlichen) Verhalten vorgeordnet, sondern diesen inhärent, sodass man im Sinne Gilbert Ryles (2009) davon sprechen kann, dass das Regelwissen-Wie dem Regelwissen-Dass vorausgeht. Regulismus allerdings versteht Regeln als der (sprachlichen) Praxis vorgeordnet. Ludwig Wittgenstein hält dem Regulismus deshalb einen Regelbegriff entgegen, der sozial und praxisbasiert ist. Regeln, so gibt Brandom Wittgensteins Regelbegriff wider, werden nicht interpretiert, sondern erfasst und “ eine Regel zu erfassen, ohne sie zu interpretieren, heißt, sie in einer Praxis zu erfassen statt vermittels des Ersetzens eines Regelausdruckes durch einen anderen ” (EV: 120). Regeln zu folgen bedeutet demnach, dass gemäß der impliziten Normativität diskursiver Praktiken gehandelt wird, ohne sich zwingenderweise auf explizite Regeln berufen zu können oder zu müssen. Die Paradoxie des Regelfolgens und der infinite Regress des Regulismus lassen sich vermeiden und Regeln innerhalb von Handlungspraktiken situieren, indem regelhaftes Verhalten nicht mehr als gelernte (und damit explizite) Regel, sondern als Regularität bzw. Regelmäßigkeit in der jeweiligen Verhaltensweise verstanden wird. Verhalten setzt dann keine Regeln mehr voraus. Diese regularistische Position erkennt das Regelwissen-Wie an, indem es Regeln aus dem regelmäßigen Verhalten expliziert. Ob sprachliches Verhalten angemessen oder unangemessen ist, wird nach dem Regularismus mit regelmäßigem und unregelmäßigem Verhalten erklärt. Der Regularismus scheint auf den ersten Blick eine angemessene Theorie der Normativität sprachlicher Praktiken zu sein, weil er tatsächlich von einer impliziten Normativität diskursiver Praktiken ausgeht. Allerdings eröffnen sich bei genauerer Betrachtung auch Schwierigkeiten bei einem regularistischen Regelbegriff. Problematisch ist zunächst, dass unregelmäßiges Verhalten eine untergeordnete Rolle im Vergleich zum regelmäßigen Verhalten einnimmt. Im Fokus regularistischer Regelanalyse steht die markante Beziehung zwischen Regelmäßigkeit und Verhalten, doch inwiefern unregelmäßiges Verhalten selbst regelhaft und nicht willkürlich ist, bleibt weitestgehend offen. Regelmäßigkeiten zu untersuchen, eröffnet eine strikte Trennung, die sich kaum rechtfertigen lässt, ohne abermals eine metaperspektivische Unterscheidung zu treffen. Virulent wird der Fokus auf Regelmäßigkeit, wenn innerhalb diskursiver Praktiken neuartiges Verhalten auftritt, welches ebenfalls auf Regelwissen-Wie basiert. Verweilt der Blick des regularistischen Regelbegriffs auf dem regelmäßigen Verhalten, ist die Anwendbarkeit des Regelfolgens auf neues Verhalten ausgeschlossen. Dies liegt insbesondere daran, so zeigt es Brandom (EV: 69 f.), dass jedes sprachliche Verhalten verschiedene Regelmäßigkeiten aufweist. Insofern ist die Kritik am Regulismus bezüglich der Kontingenz der anzuwendenden Regel auch auf den Regularismus anwendbar: Es gibt nicht eine spezifische Regelmäßigkeit, die sich in einem spezifischen sprachlichen Verhalten zeigt. Entsprechend müsste auch der Regularismus festlegen, welche die bevorzugte Regelmäßigkeit ist, die das Verhalten erläutern soll 80 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen und sich auch auf künftiges Verhalten anwenden lassen kann. Die entsprechende Bestimmung einer solchen privilegierten Regelmäßigkeit vermeidet der Regularismus allerdings, um nicht in einen Regress der Regelmäßigkeiten zu geraten. Diese konzeptuellen und theoretischen Probleme von Regulismus und Regularismus sind innerhalb der linguistischen Pragmatik bekannt, sodass Regelbegriffe oft anderen linguistischen Disziplinen wie Syntax oder Grammatik überlassen oder nur behutsam eingesetzt werden. Stattdessen ersetzt der Begriff der Konvention den Begriff der Regel, um die implizite Normativität diskursiver Praktiken zu erläutern. Der Begriff der Konvention ist insofern bereichernd, als dass er den Aspekt der sozialen Praxis, welcher sprachlichen Verhaltensweisen innewohnt, impliziert. Konventionalistische Regelbegriffe bilden z. Z. das Kernstück innerhalb der Theoriebildung der linguistischen Pragmatik (cf. aktuell z. B. Sander 2018), da sie häufig einen genuin sozial-kommunikativen und sprachlichen Aspekt aufweisen. Nur selten aber wird der Begriff der Konvention tatsächlich definiert. So hebt Jaroslav Peregrin (2012: 219) hervor, dass der Ausdruck Konvention unterschiedliche Bedeutungen involviert, die zu unterschiedlichen Definitionen führen können. Konventionen können demnach z. B. Gewohnheiten des Handelns, Menschengemachtes, was sich von der Natur unterscheidet, oder explizite Abmachungen sein. David Lewis (2002) z. B., dessen Standardwerk zum Konventionsbegriff immer wieder zitiert wird, versteht Konventionen als spieltheoretische Konstrukte, die als Problemlösungsstrategien funktionieren. Dabei bleibt allerdings häufig ungeklärt, ob der Konventionsbegriff nach Lewis tatsächlich die implizite Normativität diskursiver Praktiken erklären kann und sich sprachliches Verhalten auf Problemlösen reduzieren lässt. Auch die konstitutive Kraft der Sprache nimmt bei Lewis keinen theoretischen Raum ein, sondern wird als Problemlösungsstrategie den Konventionen nachgeordnet. Inwiefern es spezifische Formen der Normativität nur kraft Sprache gibt, wird nicht diskutiert. Tatsächlich kann der Konventionsbegriff für die Analyse sprachlicher Praktiken sogar hinderlich sein, weil er die situative Sensibilität von Konventionen und Normen kaum berücksichtigt, was aber nicht bedeutet, dass der Konventionsbegriff von Lewis für die Analyse von sozialen Praktiken strikt abzulehnen sei. Die hier vertretene normative Pragmatik folgt weder Regulismus noch Regularismus und lehnt einen starken Konventionalismus ab, der Konventionen mit Problemlösungen gleichsetzt bzw. jegliche Normativität mithilfe von Konventionen erklärt. Stattdessen supplementiert der Begriff der impliziten Normativität bzw. der impliziten Normen sowohl einen Konventionsals auch einen Regelbegriff. Die genuine Normativität, die sich innerhalb diskursiver Praktiken konstituiert, reproduziert und perpetuiert, aber auch die jeweiligen sozialen und diskursiven Normen stellen den zentralen Bereich der hier zu entwickelnden linguistischen Pragmatik dar. Zur Erklärung von sozial-kommunikativen, diskursiven und sprachlichen Praktiken werden Regel- und Konventionsbegriff damit keineswegs abgelehnt. Vielmehr handelt es sich bei verhaltens- und handlungsleitenden Konventionen und Regeln um verfestigte Normen, die sich aus der impliziten Normativität diskursiver Praktiken ableiten lassen. Im Sinne Brandoms wird davon ausgegangen, dass diskursive Praktiken genuin normativ sind, denn “ Normen, die explizit in Form von Regeln sind, setzen Normen, die implizit in Praktiken enthalten sind, voraus ” (EV: 58, Hervorh. im Original). 3 Sprachtheoretische Grundlagen 81 Nach Peregrin lässt sich eine sozial-kommunikative Normativität sprachlicher Praktiken, die in der normativen Pragmatik untersucht wird, unter folgenden handlungs- und forschungsleitenden Prämissen zusammenfassen: a. “ Rules and what we called the normative dimension are crucial for so many things we humans do that to analyze humans as social beings is not really possible without paying due attention to them; and b. though there may be no reason to reject the claim that any talk to rules and of what is correct is in principle reducible, no such reduction is realistic and hence rules must figure in many essential explanations of human social life. [ … ] c. Talk about what is correct or what should be done is not reducible - not even ‘ in principle ’ - to non-normative talk. ” (2016: 67 f.) Peregrin betont die Irreduzibilität der normativen Dimension, die uns als diskursive Wesen ausmacht. Jede Analyse sozialer Praktiken, zu denen auch insbesondere sprachliche Praktiken gehören, erfordert eine Analyse der Normativität, die den sozialen Praktiken einerseits zugrunde liegt, aber gleichzeitig stets mitverhandelt, prozessiert und reproduziert wird. Sprachgebrauch gehört dabei zu den exklusiven sozialen Praktiken, sodass auch hier weder Konventionsnoch Regelbegriff entkoppelt werden können. Jede sprachliche Äußerung stellt normative Ansprüche, die in diskursiven Praktiken implizit diskutiert werden. Die der sprachlichen Praxis implizite Normativität ist damit keine starre und hierarchisch strukturierte Analysekategorie, sondern eine prozesshafte und dynamische Angelegenheit, die sich jedweder Festsetzung entzieht. Bei der impliziten Normativität diskursiver Praktiken geht es mehr um implizite Wirklichkeitsvorstellungen, die mittels Wirklichkeitsansprüchen zur Wirklichkeitskonstitution beitragen können, als um tatsächliche unhintergehbare Wirklichkeitskriterien z. B. im Rahmen anthropologischer Konstanten. Die ständige Involviertheit diskursiver Wesen in die Normativität der Praktiken sorgt auch für eine entsprechende Empfindsamkeit gegenüber Normgebrauch (und auch Normverletzungen). Deshalb folgt auch die Analyse impliziter Normativität innerhalb der normativen Pragmatik den Grundsätzen, “ daß wir nicht nur nach Regeln, sondern nach Regelvorstellungen handeln ” (EV: 76) und “ daß wir nicht nur Normen unterworfen, sondern auch sensibel ihnen gegenüber sind ” (ebd., Hervorh. im Original). 5 Beschreibung und Kritik verschiedener Regelbzw. Konventionsbegriffe und die Hervorhebung der Normsensibilität diskursiver Wesen erläutern aber noch nicht, was diese Arbeit unter Normativität und Norm versteht. Auch wenn ich keinen Beitrag zur Normativitätsbzw. Normtheorie leisten möchte und kann, ist es doch sinnvoll, entsprechende Arbeitsbegriffe darzustellen, um zu erfassen, mit welcher Gebrauchsdefinition von Normativität und Norm im Folgenden operiert wird. Daher möchte ich zumindest skizzieren, was Normativität und Normen im Rahmen von sprachlichen und diskursiven Praktiken darstellen und inwiefern sie ihre Kräfte in diskursiven Praktiken entfalten können. Des Weiteren möchte ich die verschiedenen Normen, die in sprachlichen, sozialen und diskursiven Praktiken wirken, näher differenzieren: Soziale, diskursuniversale und 5 Diese Sensibilität für Normativität betont auch Christian Stetter, wenn er von sprachlichem Handeln gemäß Regeln schreibt. Dieses “ impliziert das Vermögen, ad hoc zu beurteilen, ob ein Ausdruck in eine bestimmte Situation, in einen bestimmen Handlungszusammenhang ‘ paßt ’” (1999: 91). 82 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen diskursspezifische Normen, wie sie eine normative Pragmatik beschreiben kann, unterscheiden sich dabei sowohl in ihrer Involviertheit als auch in ihrer Gültigkeit in Verhaltens- und Handlungspraktiken. Die beiden Konzepte Normativität und Norm müssen voneinander unterschieden werden, nicht nur im Rahmen einer Normativitätsbzw. Normtheorie, sondern auch für die vorliegende Arbeit: Normativität ist ein, wenn nicht sogar der grundlegende Aspekt diskursiver Praktiken, während Normen spezifische (handlungsbzw. verhaltensleitende) Prinzipien darstellen. Normativität erfasst damit einen wesentlichen Aspekt, der sozialen und diskursiven Praktiken innewohnt: Die verschiedenen Tatsachen, Sachverhalte, Verhaltensweisen, Personen und AkteurInnen, die in diskursive Praktiken involviert sind, sind nicht nur teilweise normsensibel, sondern in ihrer diskursiven Konstitution stets auch normativ strukturiert. Die jeweilige diskursive Konstitution von Performanzen und Sachverhalten in diskursiven Praktiken ist zunächst hinsichtlich ihrer normativen Involviertheit zu befragen, die sich z. B. in spezifischen institutionellen Normen äußert. Was dann z. B. gültig ist, was Geltung erlangt, basiert auf der impliziten Normativität diskursiver Praktiken, was nicht bedeutet, dass es außerhalb von diskursiven Praktiken keinerlei Existenzbedingungen und/ oder agierende Wesen gäbe, die nicht normativ strukturiert sind. Normen hingegen stellen spezifische Strukturen der impliziten Normativität diskursiver Praktiken dar. Doch ein alltäglicher Normbegriff umfasst unterschiedliche Regeln, Gesetze, Vorschriften, Manieren, Anweisungen und Sitten. Hinzu kommen verschiedene moralische, ästhetische und technische Normverständnisse. Deshalb soll der hier verwendete Normbegriff entsprechend klar abgegrenzt werden. Zunächst ist es daher sinnvoll einer allgemeinen Normdefinition zu folgen, welche das grundlegende Verhältnis zwischen Normen und Verhalten veranschaulicht: A norm can be understood generally as a principle which enables one to judge actions as right or wrong, and which hence can guide people's actions (Mäkilähde/ Leppänen/ Itkonen 2019 a: 2) Diese ganz allgemein gehaltene Erklärung veranschaulicht zunächst noch einmal die Beziehung zwischen Normen einerseits und Handlungen bzw. Verhalten andererseits. Normen stehen nicht für sich, sondern sind in Handlungen und Verhalten eingebettet. Tatsächlich, so lässt sich nach der oben formulierten Kritik an Regulismus und Regularismus konstatieren, stehen Handlungen/ Verhalten in einem irreduziblen Verhältnis zu Normen: Verhalten bzw. Handlungen können einerseits mittels Normen beurteilt werden, leiten aber diese Handlungen und Verhalten auch an. Beschreibungen der Konzepte von Normativität und Norm sind allerdings insofern problematisch, als sich Normativität und Normen nicht unvermittelt beobachten bzw. erfassen lassen. Sie treten, selbst wenn sie explizit erscheinen, in Normformulierungen auf, die nicht mit der formulierten Norm gleichgesetzt werden dürfen. Zudem, und diese Facette wiegt für eine Darstellung schwerer, handelt es sich bei Normativität und Normen nicht um Seiendes (im Sinne einer Ontologie). Daher ist die Frage, was Normativität und Norm eigentlich sind, insofern irreführend, als dass sie einen Kategorienfehler nahelegt. Die Erläuterung von Normativität und Norm fällt vielmehr in den Bereich einer Deontologie, welche die Konsequenzen von Handlungen und Verhalten hinsichtlich ihrer Normhaftigkeit erklärt. Deskriptionen von Normativität und Norm müssen also Abstand zur Seins- 3 Sprachtheoretische Grundlagen 83 Kategorie nehmen und die Effekte und Verhaltensbzw. Handlungskonsequenzen von Normativität und Norm erfassen. Normativität und Norm sind also nur im Verhältnis zu Handlungen, Performanzen und Verhalten erfassbar. Für die folgende Arbeit ist die Erfassung von Normen zwar maßgeblich, doch sollten zumindest zwei Aspekte konkretisiert werden, um sie für eine linguistische Pragmatik nutzbar zu machen und mit den Prämissen des normativen Sprachpragmatismus in Einklang zu bringen: 1. die Beschreibung des Verhältnisses von Verhalten und Norm und 2. die Spezifikation der zu untersuchenden Normen selbst. Dass das Verhältnis von Verhalten und Normen irreduzibel ist, gilt für diese Arbeit ebenfalls. Allerdings ist es für das theoretische Vokabular relevant, dieses Verhältnis angemessen zu analysieren. Die oben gewählte Formulierung, dass Normen handlungsleitend [guide people's actions] sind, ist insofern passend, als dass die Kraft von Normen als Motivierung von Verhalten erfasst wird. Auf ähnliche Weise, allerdings aus einer anderen theoretischen Perspektive, können Handlungen auch als normfolgend erklärt werden. Die Formulierungen der handlungsleitenden Norm und der normfolgenden Handlung verhalten sich komplementär zueinander, hierarchisieren aber entweder Handlung oder Norm, sodass sich beide in eine gemeinsame Formulierung einbetten lassen: Die Norm leitet, die Handlung folgt. Diese Deskription des hierarchischen Verhältnisses von Norm und Verhalten leuchtet im Rahmen der Analyse von diskursiven Praktiken der linguistischen Pragmatik insofern ein, als dass Normen nicht nur in sprachlichen Praktiken entstehen können. Auch nichtsprachlich instruierende Normen können Einfluss auf diskursive Praktiken haben und sind dann z. B. Voraussetzungen im Rahmen des dann folgenden Verhaltens. Allerdings sind Normen, die im Rahmen von diskursiven Praktiken zutage treten, keine starren Konstrukte, wie die Formulierung der handlungsleitenden Norm und der normfolgenden Handlung nahelegt. Die gültigen Normen, die zum Verhalten in einem Verhältnis stehen, werden kraft des Verhaltens auch reproduziert, perpetuiert, aber auch gleichzeitig zur Disposition gestellt. Iterationen des Verhältnisses von Verhalten und Norm führen auch in der Regel dazu, dass sich die Gültigkeit der Norm verändert bzw. verändern kann, wobei offenbleibt, ob sie sich verstetigt oder verflüchtigt. Hier besteht auch der zentrale Unterschied zwischen konventionstheoretischen Ansätzen wie von David Lewis (2002), die Konventionen zwar als dem Verhalten irreduzible, aber doch hierarchisch vorgeordnete Kategorie verstehen, und einer normativen Pragmatik wie der von Robert Brandom, die die relevanten Norm-Verhaltens-Relationen in ihren verschiedenen Iterationen als eher instabile Verhältnisse betrachtet. Insofern ist es angemessener, Verhalten als normgebunden zu beschreiben, weil diese Bezeichnung einerseits die empirische Irreduzibilität von Norm und Verhalten betont, aber andererseits keine Hierarchie voraussetzt. Der Begriff der Normgebundenheit lässt offen, ob sich das Verhältnis der Normen zum Verhalten in den verschiedenen Iterationen verändern kann. Insbesondere bei der Analyse von sprachlichen Praktiken sollte diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden, denn auch sprachliche Äußerungen können das Verhältnis von Norm und Verhalten verändern und neue Normen etablieren (cf. PP). 84 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Die Metapher der Normgebundenheit, wie sie z. B. Heinrich Popitz (2006: 61) gebraucht, ermöglicht es außerdem, dass analytisch zwischen Verhalten und Norm unterschieden und das Verhältnis entsprechend modelliert werden kann, ohne die Irreduzibilität von Verhalten und Norm anzuzweifeln. Insbesondere bei der Modellierung und Analyse intentionaler Verben, die in diskursiven Praktiken das Verhältnis zwischen diskursiven Normen und Verhalten herstellen können, ist die Unterscheidung analytisch insofern wertvoll, als sie ein Erklärungsvokabular ermöglicht, welches beschreibt, warum gerade jene spezifische Norm an Verhalten gebunden ist und warum nicht andere Normen das Verhalten an entsprechender Stelle beurteilen. 6 Neben dem Konzept der Normgebundenheit, mit welchem ich versuche, das irreduzible Verhältnis von Verhalten und Norm möglichst neutral zu erfassen, sind für diese Theorie der Pragmatik von diskursiven Praktiken aber nicht alle Normen interessant: Es geht insbesondere um soziale, diskursuniversale und diskursspezifische Normen, also diejenigen, die sich auf das soziale und diskursive Miteinander in gesellschaftlichen und kommunikativen Praktiken auswirken. Eine entsprechende Differenzierung verschiedener Normtypen ist insofern sinnvoll, als dass sie verschiedene Aspekte sozialer, sprachlicher und diskursiver Praktiken betont. Das Konzept der sozialen Norm, welches insbesondere zur Erklärung von sozialem Verhalten verwendet wird, kann hier zunächst als Matrize der Analyse von Verhalten dienen. Dabei ist z. B. die Beschreibung von Heinrich Popitz (cf. 2006: 65 f.) zielführend, welcher wesentliche Aspekte sozialer Normen erfasst: 1. Soziale Normen typisieren Handlungen, Situationen und Verhalten; 2. konstituieren Normstrukturen, die Personen involvieren, wobei 3. diese Personen Träger unterschiedlicher sozialer Rollen sein können; 4. lassen sich hinsichtlich ihrer Geltung befragen, welche selbst graduell ist; 5. sind tradierbar (und tradiert). Popitz' Darstellung erfasst nicht nur das Verhältnis zwischen sozialen Normen und Verhalten, sondern zeigt auch, dass soziales Verhalten auch immer Personen involviert, die in einem spezifischen sozialen Verhältnis zueinander stehen. Insofern wird die Irreduzibilität von Norm und Verhalten bei sozialen Normen um den Aspekt der Person erweitert. Auch der Aspekt der Typisierung ist hervorzuheben, denn er zeigt, dass verschiedene (hier insbesondere soziale) Handlungen, Situationen und Verhaltensweisen kraft sozialer Normen unter spezifischen Normtypen vereint werden können. Außerdem 6 Im Folgenden wird hierfür der Modellbegriff Attraktion eingeführt, welcher beschreibt, inwiefern Normen kraft des intentionalen Verbs ein Verhalten beurteilbar machen (cf. Kapitel 16). Der Begriff Attraktion weist eine gewisse Affinität zum Konzept des Attraktors in der Theorie dynamischer Systeme auf (cf. z. B. Milnor 1985, Thom 1972: 38 f.), obwohl es nicht als geborgtes Konzept verstanden werden sollte. Verben können im sprachlichen Kontinuum fixpunktartige Zeichen sein, die eine diskursive Verbindung zwischen Normen und Verhalten an der zeitlich-räumlichen diskursiven Position herstellen. Sie attrahieren soziale oder diskursive Normen, die dann für entsprechendes Verhalten gelten. Attraktionen sind strukturähnlich zu Evokationen und beide verhalten sich dabei entsprechend komplementär: Während intentionale Verben z. B. semantische bzw. diskursive Rollen evozieren und damit über die Ereignisbeschreibung hinweg auch z. B. Diskursakteure benennen bzw. involvieren, stellt das Verb kraft Attraktion auch jeweilige Normen bereit, die dann genutzt werden können, um Verhaltensereignis und Personen beurteilbar zu machen. 3 Sprachtheoretische Grundlagen 85 ähneln einige der Beschreibungen Popitz' den Grundlagen der normativen Pragmatik. Sowohl Vielfalt (hier z. B. der sozialen Rollen), Mehr-oder-Weniger-Kriterien (in Form von gradueller Geltung) und Vieldimensionalität (der Normstruktur) werden berücksichtigt. Mit sozialen Normen kann damit Verhalten in sozialen Situationen beschrieben werden, um anschließend zu erklären, warum Verhalten sozial typisiert wird. Die Beschreibung von sozialen Normen ist für die vorliegende Arbeit zwar interessant und einige Aspekte können für die folgenden Analysen auch übernommen werden, doch handelt es sich hier um eine Analyse von diskursiven Praktiken, welche nicht notwendigerweise deckungsgleich mit sozialen Praktiken und damit sozialen Normen sind. Tatsächlich können zwar diskursive Normen auch soziale Normen sein, doch sind nicht alle sozialen Normen auch notwendigerweise diskursiv. So ist z. B. die Norm, dass man sich zur Begrüßung die Hände schüttelt, notwendigerweise eine soziale Norm, weil sie soziales Verhalten normiert. Ähnliches gilt für Tischsitten. Allerdings entfalten diese sozialen Normen nicht notwendigerweise eine diskursive Wirksamkeit, auch wenn dies natürlich möglich ist. Diskursive Normen zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie etwas über diskursive Praktiken vermitteln, was sich nicht unmittelbar erfassen lässt: die sprachlichen, konstitutiven, historischen, institutionellen, regulativen Normen, die in die entsprechenden Praktiken involviert sind. So kann zumindest auch Michel Foucaults Diskurstheorie verstanden werden (cf. z. B. Foucault 1973). Weil die folgenden theoretischen Betrachtungen diskursiver Praktiken insbesondere sozial-normatives Verhalten im Blick haben, sind die meisten der zu untersuchenden Normen sowohl sozial als auch diskursiv. Allerdings ist es für die Analyse diskursiver Praktiken relevant, die zu untersuchenden diskursiven Normen noch einmal zu untergliedern. Denn es soll sich noch zeigen, dass unterschiedliche diskursive Normen auch unterschiedliche Kraft hinsichtlich der Konstitution von diskursiven Praktiken haben: Diskursuniversale Normen tragen zum Zustandekommen und Gelingen von diskursiven Praktiken bei, während diskursspezifische Normen etwas über die Besonderheiten der jeweiligen diskursiven Praxis verraten (cf. Kapitel 16). Diskursuniversale Normen sind also hinsichtlich ihrer Wirksamkeit robuster, weil ihre Geltung sich über verschiedene diskursive Praktiken erstreckt. Diskursuniversale Normen konstituieren also diejenigen Praktiken, die für das Zustandekommen diskursiver Prozesse notwendig sind. Insofern beschreibt die Universalität der diskursiven Normen nicht Normen, die eine anthropologische Konstante bilden (wie z. B. das Inzesttabu). Im Rahmen der linguistischen Pragmatik können z. B. die Konversationsmaximen Grices als diskursuniversale Normen gelten, die auch in unterschiedlichen diskursiven Praktiken Anwendung finden. Die Universalität dieser Normen besteht darin, unterschiedliche soziale und diskursive Prozesse zu normieren, wobei kulturelle Differenzen damit nicht ausgeschlossen sind (cf. hierzu z. B. Levinson 2006). Im Folgenden wird außerdem argumentiert, dass (diskursive) Intentionalität selbst als Emergenzphänomen auf diskursuniversalen Normen beruht, deren Gültigkeit sich in Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen konstituiert (cf. Kapitel 13). Neben den diskursuniversalen Normen gibt es außerdem diskursspezifische Normen, die sich mithilfe einer normativen Pragmatik analysieren lassen. Diese diskursiven Normen 86 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen sind weniger robust, insofern, als dass ihre diskursive Spezifik an die jeweilige diskursive Praxis gebunden ist. Zu den diskurspezifischen Normen gehören also alle Normen, auch und insbesondere soziale, die die entsprechende diskursive Praxis normieren, aber nicht notwendigerweise Gültigkeit in anderen diskursiven Praktiken beanspruchen. So entfaltet z. B. die diskursive Norm “ Wer etwas sagen möchte, soll sich melden ” nicht in allen diskursiven Praktiken ihre Kraft, sondern ist auf spezifische Praktiken reduziert (hier z. B. schulische Praktiken) und kann bei der Anwendung in anderen Praktiken sogar zu Irritationen führen. Die Differenz von sozialen, diskursuniversalen und diskursspezifischen Normen ermöglicht es nun, unterschiedliche Perspektiven auf die verschiedenen sozial-normativen Prozesse diskursiver Praktiken zu entwickeln und diese zu analysieren. Zusammenfassend lassen sich soziale und diskursive Normen als theoretisches Substitut für Regelbzw. Konventionsbegriffe erklären. Sie stellen einen fundamentalen Aspekt diskursiver Praktiken dar und lassen sich mithilfe des entsprechenden theoretischen Vokabulars explizieren. Die Darstellung von sozialen und diskursiven Normen sowie deren Abgrenzung von Regel- und Konventionsbegriffen ist insbesondere dann für die Analyse diskursiver Praktiken und die folgenden theoretischen Reflexionen wichtig, wenn es um die performativen und intersubjektiven Aspekte geht: Performanzen, Handlungen, Sprechakte, aber auch die intersubjektiven Beziehungen zwischen Interlokutoren werden im Folgenden mithilfe der von Verben explizierten sozialen und diskursiven Normen erklärt (cf. Kapitel 12). 3.1.3 Modalität und Modalverben - Theoretisches Vokabular zur Explikation der impliziten Normativität diskursiver Praktiken Die Annahme einer impliziten Normativität diskursiver Praktiken erfordert eine methodische Rekonstruktion. Innerhalb einer linguistischen Pragmatik, die nicht nur diese implizite Normativität sprachlicher Praktiken konstatieren kann, sondern sie nutzt, um “ die Signifikanz verschiedener Sprechakte anhand der praktischen Richtigkeiten [ … ] zu erklären ” (EV: 220, Hervorh. im Original), ist eine entsprechende Modellierung zur Analyse von diskursiven Praktiken unerlässlich. Das erkenntnistheoretische Verhältnis von Implizitheit und Explizitheit kann dazu genutzt werden, um ein erklärendes Vokabular (Metavokabular) zu suchen, welches die implizite Normativität expliziert und damit für die Analyse rekonstruiert. Dabei ist es notwendig, dass ein metasprachliches Vokabular gewählt wird, welches selbst innerhalb von diskursiven Praktiken genutzt wird, damit keine explanatorische Kluft zwischen Meta- und Objektsprache entsteht. Schließlich kann ein Sprachpragmatismus, der seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und insbesondere die Konstitutivität sprachlicher Zeichen hinsichtlich diskursiver Normen anerkennt, keine ontologische Demarkation zwischen unterschiedlichen Vokabularen treffen. Daher wird das normative Vokabular der Alltagssprache entlehnt, um die implizite Normativität zu explizieren. Ein entsprechendes Vokabular findet Brandom in der modalen Logik, welches sich mit Deskriptionen wie notwendig, hinreichend, möglich, unmöglich und kontingent beschäftigt. Brandoms Gebrauch des modalen Vokabulars orientiert sich an seiner Interpretation von 3 Sprachtheoretische Grundlagen 87 Kants Modalitäten der transzendentalen Logik (cf. Kant 1997: 119): 7 Was notwendig, hinreichend, möglich, unmöglich oder kontingent ist, lässt sich nicht ontologisch bestimmen. Vielmehr geht es um Perspektiven und Gültigkeiten innerhalb von diskursiven Praktiken, die normativ wirksam sind und die sich mithilfe des modalen Vokabulars offenlegen lassen. Brandom gründet seine Interpretation der Modalitäten damit weder auf einer Modallogik im Sinne Saul Kripkes (1981) noch auf einer deontischen Logik im Sinne Georg Henrik von Wrights (1977), denn weder die modale Logik Kripkes noch die deontische Logik Wrights untersuchen Modalität und Normativität auf eine Weise, die sprachlich basiert ist. 8 Ulf Harendarski (2012: 264 f.) erweitert diese Bestimmung des zu verwendenden Metavokabulars, indem er sie nicht nur allgemeinsprachlich (im Sinne einer philosophischen Sprachlogik), sondern einzelsprachlich (im Sinne eines spezifischen Zeichenrepertoires) erklärt. Das Metavokabular ist demnach tatsächlich aus dem jeweiligen Einzelsprachgebrauch zu explizieren und erfüllt damit nicht nur die Kriterien eines Sprachpragmatismus. Harendarski schlägt vor, die verschiedenen Bedeutungs- und Gebrauchsweisen deutscher Modalverben zu nutzen, um die implizite Normativität diskursiver Praktiken zu explizieren. Als entsprechendes Analysewerkzeug kann daher folgendes Verzeichnis der Bedeutung deutscher Modalverben dienen (cf. Zifonun/ Hoffmann/ Strecker 1997: 1910): modale Relation Redehintergrund möglich notwendig epistemisch können, dürfen, mögen müssen, nicht brauchen [sollen, wollen] extrasubjektiv circumstantiell können müssen, nicht brauchen normativ können, dürfen müssen, nicht brauchen sollen teleologisch können, dürfen müssen, nicht brauchen sollen volitiv dürfen sollen [mögen], müssen, nicht brauchen intrasubjektiv circumstantiell können volitiv wollen, mögen/ möchte, müssen 7 Inwiefern Brandoms Kantverständnis angemessen ist, ist ausführlich diskutiert worden (cf. z. B. Beiträge in Barth/ Sturm 2011). Es zeigt sich, dass Brandoms Rezeption sich von der traditionellen Kant-Forschung unterscheidet. Inwiefern Kant tatsächlich als Autorität der Sprachphilosophie Brandoms angesehen werden kann, sei dahingestellt. Dennoch entwickelt er damit ein adäquates Vokabular für die Normativität des sprachlichen Zeichengebrauchs. 8 Auf die von Brandom in seinem späteren Werk (cf. z. B. BSD, WI, AST) eingeführten Differenzierungen im modalen Vokabular (deontisch, normativ, alethisch) sowie dessen Formalisierungen soll hier nicht eingegangen werden. 88 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Die Modalverben in epistemischer Verwendung (einschließlich des Konjunktivs dürfte und der modalen Verwendung von werden) bilden das folgende Feld: epistemisch möglich epistemisch wahrscheinlich (auf einer Skala zwischen notwendig und möglich) epistemisch notwendig vom Sprecher selbst inittierte Inferenzen eher intersubjektiv zugängliche Wissenbasen können, adverbiale Paraphrase: möglicherweise, vielleicht dürfte, adverbiale Paraphrase: vermutlich müssen, adverbiale Paraphrase: sicher, gewiß Wissenbasen weniger intersubjektiven Charakters werden, adverbiale Paraphrase: kontextabhängig von bestimmt bis wohl, vielleicht Einräumung mögen für den Sprecher fremdinitiierte Inferenzen intrasubjektiv wollen extrasubjektiv sollen Tab. 3: Modalverben zur Explikation impliziter Normativität nach Zifonun/ Hoffmann/ Strecker (1997: 1910) Auch wenn die Modalitätsforschung innerhalb der germanistischen Linguistik seither unterschiedliche Gebrauchsweisen von Modalität und modalen Verben untersucht hat (cf. z. B. Baumann 2017, Abraham/ Leiss 2013), reicht eine entsprechende Tabelle für die Explikation impliziter Normativität vollkommen aus. Schließlich soll nicht das entsprechende normative und modale Vokabular der jeweiligen Einzelsprache (Modalverben) untersucht, sondern die Tabelle lediglich als Analyseinstrument genutzt werden, welches aus der jeweiligen Einzelsprache gewonnen wird. Modalverben (aber im Folgenden, so soll sich zeigen, auch intentionale Verben) dienen also im Rahmen des normativen Sprachpragmatismus als theoretisches Vokabular zur Explikation der impliziten Normativität diskursiver Praktiken bzw. können verschiedene soziale und diskursive Normen, die in diesen Praktiken wirksam sind, anzeigen. Die Beschreibung der normativen Pragmatik, die aus den Grundlagen des normativen Pragmatismus, der Beschreibungen der Begriffe der impliziten Normativität, sozialen und diskursiven Normen sowie der Einführung des theoretischen Vokabulars der Modalverben besteht, soll den genuin normativen Aspekt diskursiver Praktiken erfassen. Tatsächlich sind implizite Normativität und soziale bzw. diskursive Normen auch Ausgangspunkt der Analyse und ihnen wird eine konstitutive Kraft in der Emergenz von sprachlichen Handlungen und Performanzen, aber auch semantischen Gehalten attestiert. Daher gelten auch semantische Gehalte von Äußerungen als bestimmte Effekte, die aus spezifischen 3 Sprachtheoretische Grundlagen 89 sozialen und diskursiven Normen in den jeweiligen Praktiken erwachsen. Insofern sollte bei der Analyse semantischer Gehalte, Relationen und Prozesse stets deren Involviertheit in normative Praktiken berücksichtigt werden. 3.2 Inferenzielle Semantik Normative Pragmatik, die sowohl Signifikanz von sprachlichen Handlungen als auch inferenzielle Gehalte erklärt, berührt das Feld der Semantik. Da sich die implizite Normativität sprachlicher Zeichen nicht nur in dynamischen und sozialen Praktiken, sondern auch in unterschiedlichen Normsystemen und -konstellationen manifestiert, muss auch eine die normative Pragmatik komplementierende Semantik entsprechende Dynamik mitbedenken: In diskursiven Praktiken, die sich durch entsprechende Normativität auszeichnen, sind auch die semantischen Relationen und Gehalte stets dynamisch und durch implizite Aushandlungsprozesse mitbestimmt. Diese Prozesshaftigkeit, die innerhalb der Semantik stets (kraft aktualer Inferenzen) konstitutiv wirkt, begründet das Bedeutungsmodell der inferenziellen Semantik (auch Inferenzialismus), welche Bedeutungsgehalte als relationale, dynamische und holistische Konzepte (inferenzielle Relationen) versteht. Eine repräsentationale 1: 1-Zuordnung (aliquid stat pro aliquo) von Ausdruck und Gehalt ist innerhalb einer inferenziellen Semantik kategorial ausgeschlossen, obwohl diese erklären kann, warum sprachliche Zeichen innerhalb von diskursiven Praktiken als spezifischen semantischen Gehalten zugeordnet verstanden werden. Von Inferenzen bzw. inferenziellen Relationen und sprachlichen Zeichen zu sprechen, ist zunächst nichts Neues. Theorien zu Inferenzen gibt es in der Sprachphilosophie bereits vor dem linguistic turn und ihre unterschiedlichen Ausdrucksformen innerhalb des semantischen Holismus sind vielfach diskutiert worden (cf. hierzu z. B. Bertram/ Lauer/ Liptow/ Seel 2008). Im weiteren Sinne kann sich demnach fast jede Sprachtheorie inferenziell nennen, solange sie Inferenzen als theoretisches Konzept zulässt. Eine inferenzielle Semantik (insbesondere in Bezug auf Robert B. Brandom) im engeren Sinne hingegen spricht inferenziellen Relationen die grundlegende Funktion in sprachlichen Zeichenprozessen zu. Das Interesse am Inferenzialismus ist in den letzten Jahren nicht nur in sprachphilosophischer und -theoretischer Forschung gestiegen (cf. z. B. Beran/ Kolman/ Kore ň 2018, Gurova 2012), sondern findet auch Anwendungen in nicht-sprachlichen Disziplinen (cf. z. B. Canale/ Tuzet 2007, Derry 2017, Klatt 2008, Marshall 2013). In der Sprachwissenschaft findet sich hingegen kaum eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Inferenzialismus (cf. aber Harendarski 2012), obwohl er für aktuelle sprachwissenschaftliche Diskussionen durchaus anschlussfähig ist und auch wahrgenommen wurde (cf. z. B. Deppermann 2002). Im Folgenden sollen die spezifisch semantischen Aspekte sprachlicher und diskursiver Praktiken skizziert werden, indem Brandoms normativer Inferenzialismus vorgestellt wird, welcher die theoretischen Prämissen des normativen Sprachpragmatismus auf semantischer Ebene einzulösen sucht. Mithilfe des theoretischen Konzepts der Expression, welches die inferenziellen Relationen sprachlicher Zeichen zu explizieren sucht, wird das erste inferenzielle Vokabular zur Analyse semantischer Gehalte eingeführt. Mithilfe der 90 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Umstände und Folgen von Äußerungen, die sich mithilfe von Konditionalen rekonstruieren lassen, soll gezeigt werden, wie weitreichend das Konzept der Inferenz bzw. der inferenziellen Relationen im normativen Inferenzialismus ist: Spezifische Inferenzen und inferenzielle Relationen sind im normativen Inferenzialismus nämlich wesentlich an soziale und diskursive Normen der Praktiken gebunden und lassen sich nun unter Rekurs auf diese explizieren. Anschließend kann Brandoms Inferenzialismus von anderen Bedeutungstheorien, die Inferenzen in ihre Analyse semantischer Gehalte inkorporieren, abgegrenzt werden. Dabei folge ich der von Robert Brandom und Jaroslav Peregrin eingeführten Unterscheidung von schwachem Inferenzialismus, starkem Inferenzialismus und Hyperinferenzialismus, um zu zeigen, auf welchen theoretischen Annahmen diese jeweils beruhen, und um dann die Konzepte der Inferenz und der inferenziellen Relation auch im gesamten theoretischen Projekt des normativen Sprachpragmatismus zu verorten. 3.2.1 Konditionalistische Inferenzexplikation Um Inferenzen und ihre inferenziellen Relationen innerhalb von Äußerungen und diskursiven Praktiken ausfindig zu machen, ist Explikation erforderlich, denn Inferenzen und inferenzielle Relationen sind nicht immer an der Text- oder Äußerungsoberfläche nachzuweisen. Sie müssen sowohl von Theoretikern als auch Gesprächs- und Diskursteilnehmern inferiert werden. Brandoms Inferenzialismus nimmt allerdings kein formales Gültigkeitssystem an, welches gute und schlechte Inferenzen sortiert, sondern entwickelt ein eigenständiges Vokabular und Modell, um angemessene inferenzielle Relationen von Äußerungen und Äußerungskomplexen aufzuzeigen. Brandom führt hierzu den Begriff der Expression bzw. der Expressiven Vernunft ein, die auch dessen Hauptwerk in der deutschen Übersetzung (EV) betitelt. Dabei geht es darum, dass “ das paradigmatisch rationale Vorgehen [ … ] von der Möglichkeit abhängt, implizite Festlegungen in der Form von Behauptungen [claims, J. B.] 9 explizit zu machen. Indem man sie auf diese Weise ausdrückt, bringt man sie in das Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen als solche ein, die jene besondere Rolle spielen, kraft deren etwas überhaupt einen begrifflichen Gehalt besitzt, nämlich eine inferentielle Rolle, als Prämisse und Konklusion von Inferenzen ” (BB: 81, Hervorh. im Original). Wenn Brandom von Rationalität spricht, dann handelt es sich nicht um eine abstrakte und übergeordnete Rationalität, sondern um diskursspezifische Rationalitäten. Die Inferenzen, die auf dem normativen Sprachgebrauch basieren, sind von diskursiver Praktik zu Praktik unterschiedlich. Rationalitäten folgen unterschiedlichen Geltungsansprüchen und Normen, wobei sich diese teilweise überlagern und teilweise inkompatibel miteinander sind. Das Konzept der expressiven Vernunft ermöglicht es nun, dass die entsprechenden Inferenzen offengelegt werden können. Dazu ist ein inferenzielles Vokabular erforderlich, 9 Im amerikanischen Originaltext heißt es “ possibility of making implicit commitment explicit in form of claims ” (AR: 57). “ Claims ” mit “ Behauptungen ” zu übersetzen ist hier jedoch insofern irreführend, als dass das Konzept der Behauptung bei Brandom sich von Ansprüchen dieser unterscheidet: Während Behauptungen sprachliche Handlungen sind, sind Ansprüche eine Funktion, die diese sprachlichen Handlungen übernehmen können. 3 Sprachtheoretische Grundlagen 91 um die inferenziellen Gehalte der Inferenzen analysieren zu können. Hierzu führt Brandom die Ausdrücke der festlegungserhaltenden, berechtigungserhaltenden und inkompatiblen inferenziellen Relationen ein, die erklären, wie sich Äußerungen in ihren bedeutungs- und handlungskonstitutiven Funktionsrelationen verhalten. Das logische Vokabular der inferenziellen Relationen komplementiert nicht nur das theoretische Vokabular zur Explikation impliziter Normativität, sondern stellt der normativen Pragmatik zugleich eine Bedeutungsdimension zur Seite, die von der impliziten Normativität der sozialen und diskursiven Normen motiviert wird. Das logische Vokabular der inferenziellen Relationen etabliert drei wesentliche inferenzielle Rollen, die die Bedeutungsdimension innerhalb von diskursiven Praktiken konstituiert: (1) Georg ist Tischler. (2) Georg ist berufstätig. (3) Georg ist bodenständig. (4) Georg ist arbeitslos. Der semantische Gehalt der Äußerung (1) lässt sich mithilfe seiner inferenziellen Relationen zu (2), (3) und (4) analysieren. Allerdings unterscheiden sich die inferenziellen Relationen in ihrer logischen Struktur. Die inferenzielle Relation zwischen (1) und (2) ist eine festlegungserhaltende inferenzielle Relation, denn kraft der diskursiven Normen impliziert die Äußerung von (1) den semantischen Gehalt von (2). Das Verhältnis von (1) zu (2) ist eher deduktiv motiviert. Die Relation zwischen (1) und (3) hingegen beruht nicht auf einem Implikationsverhältnis. Nicht jeder Tischler ist (unter den spezifischen Normen) notwendigerweise bodenständig. Dennoch ist es eine naheliegende Möglichkeit, die das Verhältnis zwischen (1) und (3) auszeichnet, sodass die Relation auf Assoziations- oder Implikaturverhältnissen beruht, die induktiv sind und die Brandom berechtigungserhaltende inferenzielle Relationen nennt. Die Äußerung von (1) schließt allerdings die Äußerung von (4) aus, weil der semantische Gehalt von (1) in einer inkompatiblen inferenziellen Relation zum semantischen Gehalt von (4) steht. Im Rahmen von diskursiven Praktiken ist es daher nicht möglich, dass sich Interlokutoren sowohl auf (1) als auch auf (4) festlegen, da die Inkompatibilitätsrelation zwischen (1) und (4) ausschließt, sich sowohl auf (1) als auch auf (4) festzulegen. Bei entsprechender Tilgung eines der semantischen Gehalte (bezüglich des Referenzobjektes, hier: Georg) kann die festlegungserhaltende inferenzielle Relation wieder ermöglicht werden. Auch wenn bei Brandom der propositionale Gehalt die zentrale Position der inferenziellen Gliederung einnimmt, werden damit nicht nur sentenziale, sondern auch intersentenziale Gehalte (Text und Diskurs) untersucht. Denn der relevante Gehalt propositionaler Strukturen ergibt sich stets aus dessen Bezug zu anderen propositionalen Gehalten. Daher geht es bei der Analyse der sentenzialen semantischen Gehalte auch um Folgerelationen, die Äußerungen und semantische Gehalte zu anderen Äußerungen und semantischen Gehalten eingehen. Dabei wird zudem darauf geachtet, welche lexikalischen Einheiten, aber auch pragmatischen Elemente die sentenziale Äußerungsstruktur beeinflussen und konstituieren, sodass 92 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen subsentenziale inferenzielle Rollen ebenfalls als Analysekategorie zur Bedeutungs- und Sprachhandlungskonstitution herangezogen werden (cf. Kapitel 11). Die formale Darstellung der inferenziellen Relation mithilfe des logischen Vokabulars kann über die sequenzielle Dimension inferenzieller Prozesse hinwegtäuschen. Tatsächlich muss auch dieser Aspekt bei der Analyse inferenzieller Prozesse berücksichtigt werden. Um die temporale Dimension der inferenziellen Relationen zu betonen, verweist Brandom auf die Konditionalität inferenzieller Prozesse, da das Konditional “ inferentielle Festlegungen als die Gehalte von Urteilen explizit ” (BB: 85) macht. Ein Konditional gehört damit nicht nur zum logischen Vokabular der Inferenzexplikation, sondern verweist in seiner Folgebeziehung auch auf einen temporalen Aspekt diskursiver Praktiken. Die propositionalen Gehalte und die entsprechenden Äußerungen sind nicht nur als logisches Konditional sortiert, sondern werden als Äußerungen kraft ihrer temporalen Bezüglichkeit in ein sequenzielles Muster geordnet: Eine Äußerung, die sich ereignet hat, ist damit nicht nur relevant für die jetzige diskursive Praxis, sondern ist ihrerseits eine Konsequenz vorheriger diskursiver Praktiken. Das Konditional nimmt damit eine besondere Rolle im logischen Vokabular ein, sodass sich die inferenzielle Semantik Brandoms auch als konditionalistisch bezeichnen lässt (cf. Rescher 2001: 9). Dieser Konditionalismus, welcher semantische Gehalte in sequenziellen Prozessen untersucht, lässt sich mithilfe zweier theoretischer Begriffe spezifizieren, die beide eine ebenbürtige Funktion bei der Analyse der semantischen Gehalte und des Gebrauchs des sprachlichen Ausdrucks haben: “ die Umstände, unter denen er in richtiger Weise angewendet, geäußert oder gebraucht wird, und die angemessenen Folgen seiner Anwendung, seiner Äußerung oder seines Gebrauchs ” (BB: 87). Sowohl die Umstände als auch die Folgen des Gebrauchs eines sprachlichen Zeichens sichern damit den Übergang zur normativen Pragmatik bzw. etablieren die diskursive Signifikanz von Äußerungen. Formal lässt sich der Zusammenhang von Umständen und Folgen derart demonstrieren, dass das Konditional p → q danach befragt wird, inwiefern und unter welchen Umständen p auftritt und welche inferenziellen Folgen sich aus der Anwendung von p ergeben. Wichtig ist, dass dabei nicht nur die Umstände des Ereignisses von p befragt werden, sondern zugleich die Folge der Äußerung des propositionalen Gehalts p, um das Beherrschen eines Begriffs nicht als “ Anknipsen eines cartesianischen Lichts ” (BB: 89) zu verstehen. Den angemessenen Gebrauch sprachlicher Zeichen, also deren Umstände und Folgen, demonstriert Brandom am Beispiel des Ausdrucks Boche (diffamierender Ausdruck für “ Deutsche ” ). Er borgt sich dieses Beispiel von Michael Dummett, der schreibt: The distinction is thus meant as no more than a rough and ready one, whose application, in a given vase, will depend in part on how we choose to slice things up. It remains, nevertheless, a distinction of great importance, which is crucial to many forms of linguistic change, of the kind we should characterize as involving the rejection or revision of concepts. Such change is motivated by the desire to attain or preserve a harmony between the two aspects of an expression's meaning. A simple case would be that of a pejorative term, e. g. ‘ Boche ’ . The condition for applying the term to someone is that he is of German nationality; the consequences of its application are that he is barbarous and more prone to cruelty than other Europeans. We should envisage the connections in both directions as sufficiently tight as to be involved in the very meaning of the word; neither could be severed without altering its meaning. Someone who rejects the word does so because he does not 3 Sprachtheoretische Grundlagen 93 want to permit a transition from the grounds for applying the term to the consequences of doing so. The addition of the term ‘ Boche ’ to a language which did not previously contain it would be to produce a non-conservative extension, i. e. one in which certain statements which did not contain the term were inferable from other statements not containing it which were not previously inferable. (1981: 454) Was für den Ausdruck “ Boche ” gilt, gilt für jedes sprachliche Zeichen in einem spezifischen normativen Sinne. “ Boche ” angemessen anzuwenden bedeutet, dass er in der angemessenen Situation und auf die angemessene Person zutrifft und dass die Folgen, also inferenziellen Relationen, die mit dem Ausdruck einhergehen, anerkannt werden. Wer diese inferenziellen Relationen nicht eingehen will, der muss schlichtweg darauf verzichten, diesen Ausdruck zu verwenden. Wer hingegen den Ausdruck “ Boche ” verwendet, aber gleichzeitig bestreitet, dass es eine Beleidigung ist, beherrscht weder semantischen Gehalt noch diskursive Signifikanz des Ausdrucks, weil er die inkompatible inferenzielle Relation zwischen den semantischen Gehalten nicht erkennt. Das konditionalistische Vokabular der Inferenzexplikation dient nun dazu, dass Umstände und Folgen (normative Strukturierung der inferenziellen Gliederung) erfasst werden können. Brandoms Inferenzialismus bietet also die Möglichkeit, die dynamischen semantischen Gehalte auf unterschiedlichen Ebenen mithilfe unterschiedlicher inferenzieller Relationen zu untersuchen. Unterschiedliche Äußerungen werden demnach nach ihren unterschiedlichen inferenziellen Rollen, die sich in Umständen und Folgen manifestieren, befragt. Dabei ist sowohl eine stetige Hinwendung an die implizite Normativität der Sprache, ihre Gebrauchsnormen, -konventionen und -regeln notwendig, als auch ein Metavokabular, mit dessen Hilfe die materialen Inferenzen diskursiver Praktiken analysiert werden können, ohne anzunehmen, dass diskursive Praktiken diesem logischen Vokabular tatsächlich im engeren Sinne folgen. 3.2.2 Normativer Inferenzialismus Von den unterschiedlichen Inferenzialismen (für eine Übersicht cf. z. B. Murzi/ Steinberger 2017: 198 f.) ist es der normative Inferenzialismus, welcher die diskursspezifischen und -sensiblen Eigenschaften sprachlicher Praktiken im Rahmen inferenzieller Relationen darzustellen vermag. Deshalb bietet sich auch Brandoms inferenzielle Semantik als Komplement zur normativen Pragmatik an. Brandom geht davon aus, dass etwas, um semantischen Gehalt zu haben, inferenziell gegliedert sein muss. Entgegen der repräsentationalistischen Tradition, die über Zuordnungsprozesse von Signifikant und Signifikat bzw. Sachverhalt semantische Repräsentationen erklärt, bekräftigt er, dass inferenzielle Relationen der Repräsentation vorzuordnen sind: “ Zustände und Handlungen erhalten dadurch Gehalt, daß sie - als Prämissen und Konklusionen - in Folgerungen, in Inferenzen eingebunden sind ” (BB: 68). Die entsprechende explanatorische Position erfordert es daher, dass semantische Gehalte von sinnlichen Gehalten unterschieden werden können. Um einen Begriff vom Ausdruck “ rot ” zu haben, müssen entsprechende Inferenzen an diesen semantischen Gehalt angegliedert sein (z. B. “ farbig ” , “ nicht blau ” etc.). Zwar können nicht-diskursive Wesen auf Reize der Röte reagieren, aber verfügen deshalb noch nicht über (diskursive) Repräsentationen des begrifflichen Gehalts. Weder Papageien noch andere Tiere oder Apparaturen und 94 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Maschinen können über den entsprechenden Begriff verfügen, weil sie nicht über die sinnlichen bzw. computationalen Eindrücke hinweg richtige oder falsche Inferenzen ziehen können. 10 Mit einem explanatorischen Vorrang des Begriffs der Inferenz wird der Begriff der Repräsentation aber nicht verworfen. Allein, Repräsentationen müssen inferenziell gegliedert sein, um überhaupt als Repräsentationen zu gelten. Das, was entsprechende Gehalte nun repräsentiert, wird damit nicht über sinnliche oder referenzielle Zuordnungsprozesse, sondern über die inferenziellen Rollen entschieden, die zur Repräsentation beitragen. Dass sich semantische Gehalte durch ihre inferenziellen Relationen bzw. Rollen bestimmen, heißt nicht, dass andere Gehalte in Brandoms inferenzieller Semantik unberücksichtigt bleiben. Tatsächlich spielen nicht-inferenzielle Berichte bzw. sogenannte Sprachein- und ausgänge (auch Wahrnehmungen und Handlungen) eine wesentliche Rolle, die allerdings innerhalb diskursiver Praktiken selbst als inferenziell gegliedert gelten müssen: Um einen begrifflichen Gehalt zu besitzen, muß eine Reaktion schlicht die Rolle in dem inferentiellen Spiel des Aufstellens von Behauptungen, des Gebens und Verlangens von Gründen spielen. Einen solchen Begriff zu begreifen oder zu verstehen heißt, die Inferenzen, in die er verwickelt ist, praktisch zu beherrschen - zu wissen, d. h. praktisch unterscheiden zu können (und das ist ein Wissen-wie), was aus der Anwendbarkeit eines Begriffs folgt und woraus diese Anwendbarkeit ihrerseits folgt. (BB: 71) Aus dieser grundlegenden Annahme folgen für den normativen Inferenzialismus zwei Konsequenzen (cf. BB: 71 f.): Um einen Begriff zu verstehen und anwenden zu können, müssen mehrere (ebenfalls inferenziell gegliederte) Begriffe verstanden und angewandt werden können (Holismus) und auch nicht-inferenzielle Berichte sowie Handlungen müssen als Prämissen und Konklusionen in inferenzielle Relationen implementiert werden können. Erkennt man den Vorrang der Inferenz sowohl bezüglich Repräsentationen als auch nicht-inferenziellen Berichten und Handlungen an, dann muss die Signifikanz inferenzieller Relationen spezifiziert werden. Wenn sich semantische Gehalte durch ihre inferenziellen Relationen bestimmen lassen, diese aber selbst wieder inferenziell gegliedert sind, steht der normative Inferenzialismus im Verdacht, in einen infiniten Regress zu geraten. Demnach wären semantische Gehalte nicht nur von Interlokutor zu Interlokutor unterschiedlich, sondern es wäre niemals abschließend zu klären, welchen semantischen Gehalt sprachliche Zeichen in den spezifischen diskursiven Praktiken hätten. In Bezug auf Gottlob Freges Begriffsschrift (1993 a: 2 f.) macht Brandom (BB: 74) allerdings klar: “ Zwei Behauptungen haben den gleichen begrifflichen Gehalt dann und nur dann, wenn sie die gleiche inferentielle Rolle spielen ” . Nach diesem regulativen Prinzip ist es also nicht nur möglich, dass semantische Gehalte die gleiche Bedeutung haben, sondern sind die spezifischen Gehalte auch an die normative Pragmatik gekoppelt. Erst wenn die sprachlichen Zeichen die gleiche Rolle spielen, also auf die gleiche Weise angewandt werden, 10 Insofern unterscheidet sich der sozial-normative Inferenzbegriff von anderen Inferenzbegriffen. Brandoms Inferenzbegriff gilt tatsächlich nur für diskursive Wesen, sodass andere Kognitionsmodelle (cf. z. B. Tomasello/ Call 1997), die auch für andere Lebewesen, die über komplexe kognitive Prozesse verfügen (z. B. Primaten oder Rabenvögel), gültig sind, nicht in Konkurrenz zum Inferenzbegriff Brandoms stehen. 3 Sprachtheoretische Grundlagen 95 erhalten sie den gleichen semantischen Gehalt. Wenn zwei Äußerungen innerhalb eines Sprachspiels die gleichen semantischen Gehalte oder diskursiven Signifikanzen haben, dann haben sie auch dieselben inferenziellen Relationen. Wenn Brandom von Inferenzen spricht, dann meint er also weder formale noch logische Inferenzen (im engeren Sinne). Vielmehr geht es um materiale Inferenzen, “ deren Korrektheit die begrifflichen Gehalte ihrer Prämissen und Konklusionen bestimmen ” (BB: 76). Brandom weist darauf hin, dass das Verstehen von materialen Inferenzen “ ganz unabhängig von irgendeiner spezifisch logischen Kompetenz ” (ebd.) möglich ist. Materiale Inferenzen konstituieren sich als sprachliche Zeichen innerhalb von diskursiven Praktiken und können daher nicht auf formallogische Inferenzen reduziert werden. Vielmehr sind formallogische Inferenzen selbst eine Form materialer Inferenzen (cf. BB: 79). Materiale Inferenzen leiten alle Handlungen, nicht nur formallogische. Deshalb sind formallogische Fehlschlüsse im Rahmen einer Sprachtheorie, die sich auf materiale Inferenzen stützt, nicht nur erwartbar, sondern werden als gültige Inferenzen konzeptualisiert, die Indizien für inferenzielle Relationen sein können. Da formallogische Inferenzen selbst den material richtigen Inferenzen untergeordnet werden, sind auch diese diskursspezifisch: In formallogischen Kontexten ist es schlichtweg angemessen, formallogische Inferenzen zu ziehen. Für Brandoms Inferenzialismus sind unlogische Inferenzen in experimentellen Settings (cf. z. B. Kahnemann 2012, Mercier/ Sperber 2017) damit auch keine Überraschung, weil kognitive und sprachliche Prozesse nicht auf formallogischen Schlüssen, sondern auf materialen Inferenzen beruhen, die von Normen diskursiver Praktiken motiviert werden. Was eine material gute Inferenz ist, lässt sich nicht anhand eines formallogischen Systems bestimmen. Zusammenfassend lässt sich der normative Inferenzialismus als ein spezifischer Inferenzialismus beschreiben, welcher die Irreduzibilität von semantischen Gehalten und Performanzen einerseits und diskursiven und sozialen Normen andererseits annimmt und dabei stets die Einbettung von Inferenzen in die entsprechenden Normen zu erklären sucht. 3.2.3 Schwacher Inferenzialismus, starker Inferenzialismus und Hyperinferenzialismus Die Tatsache, dass Inferenzen die grundlegende Funktion in Brandoms Inferenzialismus übernehmen, ist erklärungsbedürftig. Vergleichbar mit der Darstellung der konstitutiven Bedingungen des normativen Sprachpragmatismus muss sich auch eine inferenzielle Semantik von anderen Bedeutungstheorien unterscheiden lassen, indem das theoretische Vokabular erklärt und somit von anderen bedeutungsähnlichen Ausdrücken abgegrenzt wird. Insbesondere drei Themen zeigen dabei auf, inwiefern sich die Grundannahmen der inferenziellen Semantik von anderen Semantiken unterscheiden: die Hierarchie von repräsentationaler und inferenzieller Relation, das Verhältnis von Normativität und Kausalität sowie der Aspekt der Kompositionalität. Unterschiedliche Bedeutungstheorien lassen sich je nach Involviertheit und Konstitutivität der Inferenzen untersuchen, sodass eine Unterscheidung zwischen schwachem Inferenzialismus, starkem Inferenzialismus und Hyperinferenzialismus eingeführt werden kann (cf. BB: 44 f., Peregrin 2014: 6 f.). 96 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Schwache inferenzialistische Ansätze gehen wie die Semantik konzeptueller Rollen (conceptual role semantics) davon aus, dass inferenzielle Relationen zwischen begrifflichen Gehalten notwendig sind, um die untersuchten begrifflichen Gehalte zu bestimmen. Sprachliche Zeichen zeichnen sich demnach durch spezifische semantische Gehalte aus und können je nach Kontext und Gebrauchssituation durch andere semantische Gehalte ergänzt werden. (Mehr oder weniger) beständige Lexeme werden also durch periphere semantische Gehalte angereichert. Daher gelten nicht nur Semantiken konzeptueller Rollen, sondern auch viele kognitive und gebrauchsorientierte Semantiken als schwache Inferenzialismen. Insbesondere letztere haben im Anschluss an H. P. Grice (1989) die Unterscheidung zwischen lexikalischer Bedeutung und pragmatischen Anreicherungen (what is said/ what is implicated) zu ihrer konstitutiven Bedingung gemacht (für einen Überblick cf. z. B. Liedtke 2016). Der starke Inferenzialismus hingegen, der auch in dieser Arbeit vertreten wird, erklärt, dass inferenzielle Relationen für die Analyse begrifflicher Gehalte nicht nur notwendig sind, sondern explanatorisch hinreichen. Das Verhältnis zwischen lexikalischer Bedeutung und pragmatischer Anreicherung verschiebt sich strukturell: Kraft der inferenziellen Relationen haben sprachliche Zeichen lexikalische Bedeutung. Damit wird Inferenzen der explanatorische Vorrang gegenüber repräsentationalen semantischen Gehalten eingeräumt. Anstatt also von einem semantischen Gehalt auszugehen, der bereits vor der Sprachanalyse lexikalisch bestimmt ist, untersucht der starke Inferenzialismus alle (möglichen) Gehalte, zu denen das zu untersuchende sprachliche Zeichen in inferenziellen Relationen steht, wobei die inferenziellen Relationen erklären, welche Inferenzen sich tatsächlich ereignen können. Zugleich werden die inferenziellen Relationen innerhalb der diskursiven Praxis untersucht, sodass sprachliche Zeichen in unterschiedlichen Normsystemen und -konstellationen auch unterschiedliche inferenzielle Relationen eingehen können, die sich in unterschiedlichen semantischen Gehalten äußern. Eine entsprechende Annahme, die den inferenziellen Relationen die grundlegende explanatorische Funktion innerhalb von diskursiven Praktiken zuweist, ist nicht nur begründungsbedürftig, sondern muss sich gegenüber einem Hyperinferenzialismus abgrenzen. Hyperinferenzielle Ansätze, zu denen z. B. einige poststrukturalistische Sprach- und Zeichentheorien zählen können ( “ frei flottierende Signifikanten ” ), vertreten einen Inferenzbegriff, der keine nicht-inferenziellen bzw. nicht-diskursiven Gehalte und Strukturen zulässt. Demnach gibt es keine nicht-inferenziellen Entitäten, die eine Rolle in diskursiven Praktiken spielen (z. B. Wahrnehmungen, Tätigkeiten etc.). Der starke Inferenzialismus unterscheidet sich hier von Hyperinferenzialismen, denn er geht davon aus, dass es zwar nicht-inferenzielle Relationen gibt, dass diese aber trotzdem inferenziell gegliedert sein müssen, um sozial-kommunikativ und diskursiv relevant zu werden. Das Verhältnis von inferenziellen und nicht-inferenziellen Relationen thematisiert die grundlegende Beziehung zwischen diskursiver Normativität und Kausalität im Inferenzialismus. Wenn semantische Gehalte durch inferenzielle Relationen bestimmt sind, die innerhalb diskursiver Praktiken konstituiert werden, dann lassen sich inferenzielle Relationen und die entsprechenden semantischen Gehalte nur in Bezug auf die implizite Normativität dieser Praktiken nachvollziehen. Die Analyse inferenzieller Relationen muss die Dimension der impliziten Normativität also stets mitbedenken. 3 Sprachtheoretische Grundlagen 97 Der hier vertretende normative Inferenzialismus geht von einer genuinen Normativität sprachlicher Praxis aus, die sich in inferenziellen Relationen zeigt. Nicht jeder Inferenzialismus teilt die Ansicht, dass die inferenziellen Relationen der Semantik von der impliziten Normativität der Pragmatik abhängig sind. Insbesondere Semantiken konzeptueller Rollen, teils mit computationalem Hintergrund, gehen davon aus, dass die Relationen zwischen semantischen Gehalten kausal zu erklären seien (cf. z. B. Fodor 1990, Harman 1987, für eine Debatte zwischen normativen und kausalistischen Ansätzen cf. Zangwill 2005). Eine inferenzielle Semantik hingegen, die von einer normativen Pragmatik ausgeht, flexibilisiert und dynamisiert die Bedeutungsprozesse. Innerhalb diskursiver Praktiken werden semantische Gehalte ebenso wie die implizite Normativität stets zwischen den Interlokutoren ausgehandelt. Dies gilt nicht nur für lexikalische Bedeutung, sondern auch für semantische Folgerelationen. Unter unterschiedlichen sozial-kommunikativen und diskursiven Bedingungen können dann auch unterschiedliche semantische Gehalte unterschiedliche Konsequenzen haben. Ein normativer Inferenzialismus lehnt Kausalität als Konzept weder ab noch zweifelt er an Ursache-Wirkungsrelationen und Naturgesetzen. Er beruht allerdings auf der Annahme, dass die sozial-diskursive Konstitution von Kausalität einer normativ-inferenziellen Gliederung unterworfen ist: Etwas als kausal zu behandeln, ist nach dem normativen Inferenzialismus selbst eine normative Einstellung. Dass etwas kausal funktioniert, können vermutlich nur diskursive Wesen beurteilen. Das Verhältnis von Normativität, Kausalität und Inferenz führt direkt zur Frage der Repräsentation. Repräsentationalistische und auch schwache inferenzialistische Ansätze orientieren sich in der Erklärung der theoretischen Sachverhalte an der Repräsentation, also dem Verhältnis zwischen Zeichen und Sachverhalt bzw. Objekt, um anschließend aus diesem Verhältnis inferenzielle Relationen explizieren zu können. Der starke Inferenzialismus hingegen kehrt die Erklärungsstrategie auf gewisse Weise um: Damit ein (sprachliches) Zeichen etwas repräsentieren kann, muss es in inferenziellen Relationen stehen, welche nicht nur diskursiv konstituierend wirken, sondern zugleich handlungs- und kommunikationsleitende Funktionen für die Interlokutoren haben: Über einen begrifflichen, kognitiven, semantischen oder propositionalen Gehalt zu verfügen, heißt, unter den gegebenen impliziten Normen der diskursiven Praxis über angemessene Inferenzen zu verfügen, was sich am folgenden Beispiel zeigt: (5) Fische sind aquatisch. (6) Fische haben Kiemen. Sprach- und Zeichentheorien, die der Repräsentation den explanatorischen Vorrang einräumen, sehen im Verhältnis zwischen dem Zeichen und Sachverhalt von (5) eine hinreichende Bedingung zur Analyse des semantischen bzw. propositionalen Gehalts ( “ Fische sind aquatisch [als semantischer Gehalt], weil Fische aquatisch sind [als Objekte der Wirklichkeit]. ” ). Schwache Inferenzialismen hingegen erkennen eine inferenzielle Relation wie (6) als mögliche semantische Explikation des repräsentierten Gehalts an, aber verstehen (5) als weiterhin hinreichend für die Explanation des Gehalts ( “ Fische sind aquatisch [als semantischer Gehalt], weil Fische aquatisch sind [als Objekte der Wirklichkeit] und diese Tatsache kann durch “ Fische haben Kiemen ” [als Sachverhaltsdeskription] analysiert werden. ” ). 98 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Starke Inferenzialismen analysieren weder in (5) noch in (6) einen repräsentationalen Gehalt, sondern diese in ihrer inferenziellen Relation zueinander, sodass (5) nur etwas repräsentiert, weil es in inferenzieller Relation zu (6) steht. Eine Zeichenemission von (5) (mit entsprechendem Sachverhalt) ist demnach noch kein hinreichender Beleg, dass (6) etwas repräsentiert. Erst wenn die inferenzielle Gliederung von (5) zu (6) gültig wird, kann von Repräsentation gesprochen werden. Der normative Inferenzialismus ergänzt zudem, dass die inferenzielle Relation zwischen (5) und (6) diskursspezifisch ist, sodass (6) nicht innerhalb jeder diskursiven Praxis als semantischer Gehalt von (5) gelten muss. Die Darstellung vom schwachen Inferenzialismus, starken Inferenzialismus und Hyperinferenzialismus zeigt also, dass unter dem Begriff der Inferenz zwar ähnliche Konzepte verstanden werden, diese aber bei der Bedeutungskonstitution in diskursiven Praktiken eine unterschiedliche Funktion einnehmen. Wenn im Folgenden Inferenzen und inferenzielle Relationen beschrieben und modelliert werden, dann folgt die Deskription den Annahmen des starken Inferenzialismus. 3.3 Normative Pragmatik und inferenzielle Semantik - Kritik und Konnexion Brandoms normativer Inferenzialismus erfährt Widerspruch von unterschiedlichen Seiten. Einige dieser Einwände sollen im Folgenden vorgetragen werden, nicht nur, um sich gegenüber etwaiger Kritik abzusichern, sondern insbesondere, um die theoretischen Konsequenzen der hier vorgetragenen Grundlagen des normativen Sprachpragmatismus noch einmal zu konkretisieren. Insofern dient das vorliegende Kapitel der Explikation der Theorie im Verhältnis zu anderen linguistischen Theorien, aber auch als eine Skizze der Verbindung von normativer Pragmatik und inferenzieller Semantik. Ein Einwand, der gegen den normativen Inferenzialismus immer wieder vorgebracht wird, ist, dass er nicht kompositional sei und zirkulär argumentiere. Diese Einwände erweisen sich allerdings als gegenstandslos, wenn das Verhältnis zwischen normativer Pragmatik und inferenzieller Semantik expliziert wird. Argumente gegen die Kompositionalität und für die Zirkularität des Inferenzialismus kommen insbesondere vonseiten eines Modularismus. Jerry Fodor und Ernest Lepore (cf. 2001, 2010) werfen nicht nur Brandom, sondern auch anderen inferenziellen Theorien vor, zirkulär zu argumentieren. Wenn, so das Verständnis von Fodor und Lepore, inferenzielle Gehalte durch andere inferenzielle Gehalte bestimmt wären, dann könnte nicht für spezifische inferenzielle Gehalte selbst argumentiert werden. Wenn untersucht werden soll, welche inferenziellen Relationen den inferenziellen Gehalt bestimmen, dann müssten wiederum die inferenziellen Gehalte der Relata des zu untersuchenden inferenziellen Gehalts bestimmt werden. Diese seien aber bereits durch den zu untersuchenden inferenziellen Gehalt bestimmt. Fodor und Lepore übersehen dabei die hierarchische Orientierung inferenzieller Semantik im Inferenzialismus. Inferenzielle Relationen bestimmen sich nicht ausschließlich durch andere inferenzielle Relationen - das wäre ein kausalistisches Verständnis - , sondern Inferenzen werden durch implizite Normen diskursiver Praktiken organisiert, die inferenziellen Relationen übergeordnet sind. Damit ist auch nicht jede Inferenz notwendig, um den inferenziellen Gehalt bestimmen zu können, sondern es sind lediglich jene relevant, die eine diskursive Funktion innerhalb der untersuchten Praktiken haben. Es gibt also ein 3 Sprachtheoretische Grundlagen 99 hierarchisches Verhältnis zwischen den erklärenden Normen und den zu erklärenden semantischen Gehalten und diskursiven Signifikanzen. Neben dem Einwand der Zirkularität lässt sich auch der Einwand gegen die fehlende Kompositionalität des Inferenzialismus nicht aufrechterhalten. Auch wenn semantische Gehalte über inferenzielle Relation konstitutiv miteinander verbunden sind, bedeutet dies nicht, dass Zeichen nicht auch kompositional sind. Ganz im Gegenteil ist der Inferenzialismus genuin durch diese konstitutiven Kompositionalitätsbedingungen über, auf und unterhalb der Äußerungsebene bestimmt. Kompositionalität von inferenziellen Gehalten ist, so Jaroslav Peregrin, “ not direct their modus existendi, then clearly their modus individuandi. They are contributions that individual expressions bring to the inferential potentials of the sentences in which they occur; and it is only the principle of compositionality that makes it possible to individuate such contributions. ” (2014: 61, Hervorh. im Original) Für den Inferenzialismus ist Kompositionalität “ just trivial ” (ebd.). Kompositionalitäts- und Kontextprinzip (cf. Frege 1884: 71, 2008 a) werden im Inferenzialismus nicht nur prinzipiell angenommen, sondern mithilfe des theoretischen Vokabulars zur Explikation impliziter Normativität als auch des konditionalistischen Vokabulars zur Inferenzexplikation modelliert, sodass sich Effekte dieser Prinzipien bei jeder Äußerungsanalyse zeigen. So können z. B. Behauptungen, die im normativen Inferenzialismus die grundlegende Zeicheneinheit darstellen, in subsentenzialen Einheiten untergliedert werden, welche zur Konstitution der gesamten Einheit beitragen (cf. Kapitel 14.1). Auch Wolfram Hinzens Einwand (2001: 165), dass Brandom beide Erklärungsreihenfolgen (von Semantik zu Pragmatik und von Pragmatik zu Semantik) verfolge und damit zirkulär argumentiere, verkennt den ereignis- und zeitsequenziellen Aspekt der Zeichenprozesse von normativer Pragmatik und inferenzieller Semantik. Die Idee des Inferenzialismus ist, dass “ language involves practical mastering of a certain cluster of unwritten rules, which remain implicit to the practices as passed down from generation to generation ” (Peregrin 2009: 155, Hervorh. im Original). Normative Pragmatik und inferenzielle Semantik enthalten also ein zeitliches, bisweilen historisches Moment. Normative Pragmatik beeinflusst inferenzielle Semantik und vice versa, aber diese Bedingung gilt bzw. wirkt nie gleichzeitig, sondern sequenziell. Inferenzielle Gehalte können als implizite Normen für weitere inferenzielle Gehalte dienen, sodass etwas, was inferenzieller Gehalt ist, künftig diskursive Signifikanz haben kann. Jetzige diskursive Normen können selbst in inferenzielle Bedeutungs-, Handlungs- und Kommunikationsrelationen eingebettet gewesen sein. Andersherum können auch soziale und diskursive Normen selbst wieder (metasprachlich) expliziert und als inferenzielle Gehalte in Schlussprozesse eingebunden werden. Eben diese Signifikanz sprachlicher Zeichen betont Brandom, wenn er (eher pragmatische) Handlungsumstände und (eher temporal-semantische) Handlungsfolgen gleichberechtigt behandelt. Das Wechselspiel zwischen Semantik und Pragmatik ist damit eher eine dynamische Oszillation als eine statische Erklärungsreihenfolge. Zusammenfassend lassen sich normative Pragmatik und inferenzielle Semantik als komplementäre Heuristiken darstellen, die die verschiedenen Aspekte diskursiver Praktiken zu erklären suchen. Dabei ist das explanatorische wie theoretische Verhältnis eindeutig: Semantische Gehalte, die auf inferenziellen Relationen beruhen, bedienen sich der diskursiven Signifikanzen, die die normative Pragmatik analysiert, wobei dies 100 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen impliziert, dass semantische Gehalte in Folgepraktiken als diskursive Signifikanzen auftreten können. Die Darstellungen des normativen Sprachpragmatismus, welcher sich in normative Pragmatik und inferenzielle Semantik gliedert, dienen im Folgenden als sprachtheoretische Grundlagen zur Analyse diskursiver Praktiken. Insbesondere, wenn diskursive Signifikanzen und inferenzielle Relationen beschrieben werden sollen, dienen die hier formulierten theoretischen Annahmen stets als implizite Begründung der gewählten Erklärungsreihenfolge. Dies betrifft insbesondere (1) das Konzept der diskursiven Intentionalität, welches zwar als intentionale Relation mit semantischen Gehalten modelliert wird, aber auf der konstitutiven Kraft diskursiver Normen beruht und sich damit auch in der semiotischen und linguistischen Analyse intentionaler Verben niederschlägt. Semantische Gehalte, die sich aus der konstituierten intentionalen Relation ergeben, sollten dann als aus der diskursiven Signifikanz des Verbs abgeleitet begriffen werden (cf. Kapitel 12). (2) Die Modellierung und Analyse der Semiose der Behauptung sowie anderer sprachlicher Handlungen ergibt sich aus pragmatischen Signifikanzen, aus denen ggf. auch semantische bzw. propositionale Gehalte folgen. Auch hier geht es zunächst um die konventionelle bzw. normgebundene Handlungskraft von Äußerungen und erst anschließend um etwaige semantische bzw. propositionale Gehalte dieser (cf. Kapitel 14). (3) Aus diskursiven Rollen, welche diskursive Signifikanzen aufweisen, können semantische Rollen (und damit Gehalte) folgen, aber zunächst steht dort die Betrachtung der möglichen Handlungskraft im Mittelpunkt (cf. Kapitel 12 und 14). Insofern sind diskursive und semantische Rollen an verschiedenen Punkten der Pragmatik-Semantik-Schnittstelle des normativen Sprachpragmatismus zu verorten. Sie erklären unterschiedliche Aspekte der konstitutiven Kraft sprachlicher Zeichen. 3 Sprachtheoretische Grundlagen 101
