eJournals Kodikas/Code 45/1-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
0303
2025
451-4

Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus – Theorievergleich und reziproke Integration

0303
2025
Joschka Briese
In diesem Kapitel werden die Theorien Charles S. Peirces und Robert B. Brandoms miteinander verglichen und in ein theoretisches Verhältnis für eine linguistische Pragmatik gesetzt. Denn auch wenn sich beide Denker auf die Tradition des Pragmatismus berufen, unterscheiden sie sich in einigen relvanten theoretischen Aspekten. Im Mittelpunkt dieses Theorievergleichs stehen dabei das jeweilige Verständnis von Pragmatismus, Inferenzen, konditionalen Relationen, der sozial-normativen Dimension diskursiver Praktiken sowie der phänomenologischen bzw. kategorialen Grundstruktur. Der Vergleich zeigt, dass die beiden Ansätze im Rahmen einer linguistischen Pragmatik voneinander profitieren können, indem sowohl ein elaborierter Zeichenbegriff als auch eine irreduzibel sozial-normative Dimension diskursiver Praktiken angenommen wird.
kod451-40102
K O D I K A S / C O D E Volume 45 (2022) · No. 1 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus - Theorievergleich und reziproke Integration Abstract: In this chapter, the theories of Charles S. Peirce and Robert B. Brandom are compared and placed in a theoretical relationship for pragmatics. Even though both thinkers refer to the tradition of pragmatism, they differ in some relevant theoretical aspects. The comparison of these theories focuses on the respective understanding of pragmatism, inferences, conditional relations, the social-normative dimension of discursive practices and the phenomenological or categorial basic structure. The comparison shows that the two approaches can benefit from each other within the framework of pragmatics by assuming both an elaborated concept of signs and an irreducible socialnormative dimension of discursive practices. Zusammenfassung: In diesem Kapitel werden die Theorien Charles S. Peirces und Robert B. Brandoms miteinander verglichen und in ein theoretisches Verhältnis für eine linguistische Pragmatik gesetzt. Denn auch wenn sich beide Denker auf die Tradition des Pragmatismus berufen, unterscheiden sie sich in einigen relvanten theoretischen Aspekten. Im Mittelpunkt dieses Theorievergleichs stehen dabei das jeweilige Verständnis von Pragmatismus, Inferenzen, konditionalen Relationen, der sozial-normativen Dimension diskursiver Praktiken sowie der phänomenologischen bzw. kategorialen Grundstruktur. Der Vergleich zeigt, dass die beiden Ansätze im Rahmen einer linguistischen Pragmatik voneinander profitieren können, indem sowohl ein elaborierter Zeichenbegriff als auch eine irreduzibel sozial-normative Dimension diskursiver Praktiken angenommen wird. Keywords: Charles S. Peirce, semiotic pragmatism, Robert B. Brandom, normative linguistic pragmatism Schlüsselbegriffe: Charles S. Peirce, semiotischer Pragmatismus, Robert B. Brandom, normativer Sprachpragmatismus Sowohl der semiotische Pragmatismus Charles S. Peirces als auch der normative Sprachpragmatismus Robert B. Brandoms, wie sie bisher vorgestellt wurden, sind komplexe theoretische Systeme, deren Anwendungsbereiche hier nur skizziert und deren theoretische Konsequenzen allenfalls angedeutet werden können. Tatsächlich handelt es sich bei beiden Zeichenbzw. Sprachphilosophien nicht um anwendungsbezogene Theorieentwürfe, die ohne Erklärungen in eine linguistische Pragmatik überführbar sind. Erläuterungen zur Überführung in eine linguistische Pragmatik sind demnach notwendig, um den Gebrauch dieser Theorien innerhalb der Linguistik zu rechtfertigen. Zugleich erfordert die Exemplifikation dieser Zeichenbzw. Sprachphilosophien eine Argumentation, die begründet, inwiefern die Veranschaulichung und Erklärung mehrerer Theorien sowie die entstandenen Überschneidungen erforderlich sind, um die folgende sprachtheoretische Untersuchung durchzuführen, deren Argumente zu plausibilisieren und nachzuvollziehen. Insbesondere die Frage, inwiefern beide Ansätze für sich allein für eine Analyse diskursiver Praktiken im Rahmen einer linguistischen Pragmatik nicht hinreichend sind bzw. voneinander profitieren können, soll im Folgenden daher eingehend beantwortet werden. Entlang der Beantwortung, warum sowohl der semiotische Pragmatismus als auch der normative Sprachpragmatismus theoretische Leerstellen für das folgende Vorhaben aufweisen, die sie aber wechselseitig füllen können, findet zudem ein Theorievergleich statt, welcher die Vor- und Nachteile, Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Ansätze diesbezüglich veranschaulicht. Ziel ist eine reziproke Integration, aus welcher ein Programm für eine linguistische und kognitiv-semiotische Pragmatik folgt, welches im Rahmen dieser Untersuchung handlungsleitend sein soll. Ein Theorievergleich des semiotischen Pragmatismus und des normativen Sprachpragmatismus findet sich in der zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaft nur in Aspekten. Vereinzelte Gesichtspunkte beider Zeichen- und Sprachphilosophien werden dabei zusammengeführt oder kontrastiert (cf. z. B. Champagne 2016, Keeler 2004, Legg 2008, Pape 2002), wobei erschöpfende Theorievergleiche bisher ausgeblieben sind. Auch im Folgenden sollen lediglich diejenigen Aspekte des semiotischen Pragmatismus und des normativen Sprachpragmatismus verglichen werden, die für eine linguistische und kognitiv-semiotische Pragmatik nützlich sind und deren Eigenschaften eine reziproke Integration beider Ansätze erlauben, sodass sie gemeinsam in eine Linguistik überführt werden können. Als zeichentheoretische Grundlage der folgenden Betrachtungen dient Charles S. Peirces semiotischer Pragmatismus, um die semiotischen Aspekte sprachlicher Zeichenprozesse zu erfassen. Die Kraft- und Effektverhältnisse, die Zeichen und Zeichenprozesse sowie Medialität, Signifikation, Referenz, Repräsentation und Inferenz erfassen, lassen sich mithilfe des theoretischen Vokabulars Peirces erklären. Insofern dient der semiotische Pragmatismus zur Deskription der zeichenhaften Dimension der Sprache, die im Folgenden als fundamentaler Aspekt gelten kann. Das theoretische Vokabular zur Analyse der zeichenhaften Dimension der Sprache kann allerdings um weiteres Vokabular ergänzt werden. Dieses Vokabular, welches eher diskursive Praktiken analysieren kann, nimmt dabei die sozial-kommunikative und normative Dimension sprachlicher Prozesse in den Blick. Diese Dimension ist zwar nicht weniger semiotisch, erfordert aber eine spezifische Erklärung, welche ein allgemeinsemiotisches Vokabular nicht leisten kann. Tatsächlich sind sprachliche Prozesse nämlich nicht nur zeichenhaft, sondern auch sozial-normativ in Kommunikationsprozesse eingebettet, in welchen unterschiedliche Kommunikationsinstanzen und -teilnehmer verschiedene Funktionen und sozial-normativen Einfluss auf den Prozess haben. Entsprechende Thesen zum Kommunikationsprozess finden sich sowohl bei Peirce als auch bei Brandom. Peirce berücksichtigt zwar die kommunikative Dimension sprachlicher (und anderer) Zeichen, hat aber die Spezifik sprachlicher Kom- 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus 103 munikationsprozesse selbst nicht in einer Weise ausgearbeitet, die mit einer zeitgenössischen Konversationsanalyse, Gesprächs- und Interaktionalen Linguistik zu vergleichen ist. Insbesondere die fehlende Berücksichtigung verschiedener Interaktionskonfigurationen und die daraus folgenden sozial-normativen und perspektivischen Konsequenzen bleiben bei Peirce in einer allgemeinsemiotischen Perspektive verhaftet, da sein theoretisches Augenmerk schlichtweg auf die Zeichenkonstitutivität und nicht auf die kommunikationstheoretischen Konsequenzen gerichtet ist. Vereinzelt verweist Peirce zwar auf die jeweiligen Kommunikationsinstanzen, die sich bei ihm allerdings eher exemplarisch in dialogischen utterer-interpreter-Paaren äußern (cf. z. B. CP 5.447, Johansen 1993: 190 f.). Insofern sind interaktionale Prozesse im theoretischen Vokabular Peirces zwar mitgedacht, doch kommunikations- und interaktionstheoretisch nicht ausführlich konzipiert bzw. ausgearbeitet. Die Reduktion auf Dialogstrukturen und -paare innerhalb eines interaktionalen Rahmens ist im Rahmen der zeitgenössischen Konversationsanalyse, Gesprächslinguistik und Interaktionalen Linguistik nicht mehr haltbar, weil sie die multiperspektivische Wirksamkeit von sprachlichen Zeichen nicht erfasst: Das recipient design, welches innerhalb der Konversationsanalyse als Kritik an dialogischen Kommunikationsmodellen und zur Etablierung diverser Kommunikationsinstanzen genutzt wird, kann hier unterstützen (cf. hierzu z. B. Schegloff 1996, Goffman 1981, für einen Überblick cf. z. B. Hitzler 2013). Tatsächlich sind an kommunikativen Prozessen häufig mehr als zwei Instanzen beteiligt, sei es als eine andere Form der partizipativen Kommunikationsrolle (cf. z. B. eavesdropping bei Goffman 1981: 131 f.), als berufene Autorität oder als behauptende Instanz, die in eine Äußerung (z. B. durch direkte oder indirekte Rede) integriert ist. Zugleich können Äußerungen auch an mehrere Kommunikationsinstanzen adressiert sein (cf. z. B. Kühn 1995). Wie an den unterschiedlichen Funktionen und Rollen, die kommunikative und andere beteiligte Instanzen einnehmen können, zu erkennen ist, lassen sich die partizipativen Instanzen nicht darauf reduzieren, ob sie phonische oder graphische Zeichenemissionen produzieren oder rezipieren und damit in einem entsprechenden Austausch stehen. Aus den unterschiedlichen kommunikativen Zeichenprozessen folgen auch sozial-normative Konsequenzen, die sich einerseits auf entsprechende Referenzobjekte, aber gleichzeitig auch auf die Kommunikationsinstanzen selbst auswirken. Dieses stancetaking (cf. z. B. Englebretson 2007, Jaffe 2009) integriert eine evaluative und damit normative Dimension in den kommunikativen Prozess. Sowohl recipient design als auch stancetaking sind im Rahmen des semiotischen Pragmatismus nicht ausgearbeitet, sollten aber berücksichtigt werden, wenn die sozialnormativen Umstände und Folgen von kommunikativen Prozessen analysiert werden sollen. Brandoms normativer Sprachpragmatismus hingegen kann insbesondere in diesen Bereichen seine theoretischen Stärken ausspielen. Der zentrale Begriff der sozialen Normativität, der sich auch auf stancetaking bezieht und damit die unterschiedlichen Objekte und KommunikationsteilnehmerInnen als bewertbar und beurteilbar konstituiert, wird von Brandom durch ein flexibles Kommunikationsmodell ergänzt, welches diskursive Normen einem stetigen und dynamischen Aushandlungsprozess unterwirft und zugleich (im Sinne des recipient design) unterschiedliche und plurale Kommunikationsinstanzen unter dem Begriff Interlokutor fasst. Brandoms deontische Kontoführung (cf. EV: 272 f.), 104 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen welche als Kommunikationsmodell sowohl diskursive Normen als auch unterschiedliche Interlokutoren sowie deren reziproke Relationen umfasst, ist damit eine geeignete Ergänzung zum semiotischen Pragmatismus. 1 Wenn sich nun mithilfe des Kommunikationsmodells Brandoms und dessen theoretischen Implikationen diskursive Praktiken analysieren lassen, scheint dieses Modell vielleicht zunächst hinreichend, um soziale Normativität und sprachliche Zeichenprozesse erklären zu können. Und tatsächlich wirkt Brandoms Sprachphilosophie zunächst so, als sei sie ein vollständiges Modell aller sprachlichen Zeichenprozesse, was z. B. Henrik Jøker Bjerre (cf. 2008: 538) dazu veranlasst, Brandoms Texten einen Mangel an Mangel zu diagnostizieren. Inwiefern ein entsprechender Befund zutrifft, soll hier nicht beurteilt werden und doch erweist sich Brandoms normativer Sprachpragmatismus in einem wesentlichen Aspekt, der für eine linguistische und kognitiv-semiotische Pragmatik zentral ist, als lückenhaft: Robert B. Brandoms Sprachphilosophie fällt in vielen Aspekten hinter Erkenntnisse von Zeichentheorien zurück, was allerdings für moderne und insbesondere analytische Philosophie nicht ungewöhnlich ist (cf. hierzu Deely 2012). Tatsächlich fallen die expliziten Bezüge Brandoms zum Zeichenbegriff eher gering aus. Zwar finden sich Indizien, die auf ein Zeichenverständnis hinweisen, 2 doch reichen diese kaum aus, um von einem entwickelten und zeitgemäßen Zeichenbegriff zu sprechen. Auch Verweise auf eine Zeichenpraxis sind allenfalls implizit. Dennoch lassen sich Aspekte des theoretischen Vokabulars Brandoms zeichentheoretisch interpretieren. Insbesondere der Begriff der (diskursiven, pragmatischen bzw. normativen) Signifikanz legt nahe, dass ein impliziter Zeichenbegriff in Brandoms Sprachphilosophie operiert oder zumindest mitgedacht werden muss und theoretisch expliziert oder ausgearbeitet werden kann, um auch die semiotische Dimension diskursiver Praktiken zu betonen (cf. hierzu Harendarski 2016). Die folgende Untersuchung versucht, dazu einen wesentlichen Teil beizutragen. Auch die wissenschaftstheoretischen Referenzen auf semiotische Traditionen sind bei Brandom marginal. Er erweist sich eher als Skeptiker der Semiotik, der auf vermeintliche theoretische Missstände des Strukturalismus besteht: Now it is one of the founding insights of analytic philosophy of language that the results of a Procrustean assimilation of all semantic relations to this nominalistic model are disastrous. That is 1 Brandoms Modell der deontischen Kontoführung wird später, wenn es um sprachliche Handlungen und pragmatische Signikanz geht, ausführlicher vorgestellt (cf. Kapitel 14). Für diese Ausführungen reicht zunächst folgende Kurzbeschreibung: Deontische Kontoführung erfasst die verschiedenen kommunikativen Performanzen, die Interlokutoren in diskursiven Praktiken ausführen und die sie jeweils aus eigener Perspektive für sich und andere verbuchen und bewerten. Verschiedene Performanzen führen auf Basis der inferenziellen Gliederung diskursiver Praktiken dazu, dass diese unterschiedlich verstanden werden und aus ihnen Unterschiedliches kommunikativ folgt. Jede Performanz und deren Gehalte werden von den beteiligten Interlokutoren unter Berücksichtigung anderer Performanzen und Gehalte, die von derselben Person in der diskursiven Praxis geäußert wurden, beurteilt und gehen auf die “ Konten ” der jeweiligen Person ein. Daraus entsteht ein komplexes Netz, nicht nur zwischen kommunikativen Gehalten (i. S. v. “ Du hast vorhin gesagt, dass du keine Zeit hast, um abzuwaschen. Warum hast du jetzt Zeit, um Zeitung zu lesen? ” ), sondern auch zwischen Interlokutoren und andere gesprächsbeteiligten Personen, z. B. in Form von Berufung auf Autorität (i. S. v. “ Philip hat mir gesagt, dass er heute nicht zur Schule kommen kann. ” ). 2 “ Geräusche und Striche auf Papier bedeuten an sich überhaupt nichts. Zur Bedeutung gehört Verstehen, und sie verstehen nichts. Doch wir können sie als Ausdruck eines Gehalts verstehen, zu dem jene Anwendung von Begriffen gehört, die dafür sorgt, dass sie etwas bedeuten. ” (EV: 113, Hervorh. im Original) 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus 105 a lesson taught originally by Frege, and again by both the Wittgenstein of the Tractatus and the Wittgenstein of the Investigations, each in his own way. (The mistake lives on in semiotics and in the structuralist heirs of de Saussure. Derrida was sufficiently in the grip of this traditional picture that the only alternative to it he could conceive was that signs should be understood to stand exclusively for . . . other signs.) (EE: 179 f., Hervorh. im Original) Die Reduktion des Strukturalismus auf den Ferdinand de Saussure der Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft und die semiotische Verweisstruktur zwischen Zeichen bzw. Signifikanten bei Jacques Derrida widerlegt allerdings weder Semiotik noch strukturalistische Semiologie. Zunächst lässt sich in Ferdinand de Saussures Tagebüchern und Notizen (cf. 2003 a, 2003 b) ein fortschrittlicheres Zeichenmodell nachweisen, welches die Schwierigkeiten eines idealistischen Strukturalismus umgeht, sodass die Kritik schon hier auf die Semiologie nicht notwendigerweise zutrifft. Außerdem teilen strukturalistische Theorien einige ihrer konstitutiven Bedingungen mit Brandoms inferenzieller Semantik (cf. Peregrin 2001, 2008), sodass eine trennscharfe Demarkation von Strukturalismus und Inferenzialismus bezüglich der Bedeutungskonstitution noch längst nicht ausgemacht ist. Nichtsdestotrotz gilt insbesondere bei zweiwertigen Zeichenmodellen, zu denen strukturalistische Zeichenbegriffe i. d. R. gehören, dass sie teilweise kausale Wirksamkeiten auf Diskurseffekte reduzieren und Objektrelationen nicht in ihr Zeichenmodell integrieren. Insofern ist die Reduktion jeder Zeichenrelation auf semantische Relationen tatsächlich problematisch. 3 Der semiotische Pragmatismus Charles S. Peirces bietet jedoch einen Zeichenbegriff, der die unterschiedlichen Zeichenrelationen und -aspekte nicht nur voneinander unterscheidet, sondern auch semantische und referenzielle bzw. objektbezogene Relationen modelliert. Zugleich ist er als pragmatistischer Zeichenbegriff nicht nur mit dem theoretischen Fundament Brandoms vereinbar, sondern löst zeichensystematische Schwierigkeiten, die die strukturalistische Tradition betreffen: Pragmatische Zeichenbegriffe betrachten eine Systematizität des Zeichengebrauchs, ohne dass eine ideale Strukturalität der Zeichenpraktiken angenommen wird. Es werden vielmehr Strukturen im Zeichengebrauch und -prozess gesucht. Auch wenn sich gegenseitige Ergänzungspotenziale aufzeigen lassen, erfordert die Annahme, dass sich semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus wechselseitig ergänzen können, einen Theorievergleich, welcher beide Ansätze nach Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschieden durchmustert. Insbesondere in den Bereichen des Pragmatismus, der inferenziellen Prozesse, der konditionalen Relationen, der sozial-normativen Dimension diskursiver Praktiken und der Kategorien bzw. kategorialen Struktur finden sich Gemeinsamkeiten, die eine Integration beider Ansätze erlauben. Im 3 In Anschluss an Gottlob Frege unterscheidet Brandom daher z. B. zwischen Sinn- und Referenz-Abhängigkeiten [senseand reference-dependent], um semantische und referenzielle bzw. objektbezogene Relationen zu analysieren: “ Xs are sense-dependent on Ys just in case one cannot in principle count as grasping the concept X unless one also grasps the concept Y. In this sense, the concept sunburn is sense-dependent on the concepts sun and burn, and the concept parent is sense-dependent on the concept child. [ … ] Xs are reference-dependent on Ys just in case there cannot be Xs (referents of the concept X) unless there are Ys (referents of the concept Y). If Mrs. O'Leary's cow kicking over a lantern was indeed the necessary and sufficient cause of the Great Chicago Fire of 1871, then the Great Chicago Fire of 1871 is reference-dependent on Mrs. O'Leary's cow. ” (AST: 206, Hervorh. im Original) 106 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Folgenden sollen also unter den Schlagworten Pragmatismus, inferenzielle Prozesse, konditionale Relationen, sozial-normative Dimension diskursiver Praktiken und Kategorien bzw. kategoriale Struktur verschiedene Aspekte des semiotischen Pragmatismus und normativen Sprachpragmatismus verglichen werden, um eine reziproke Integration beider Ansätze zu rechtfertigen. Der Vergleich ist dabei nicht vollständig, sondern skizziert lediglich relevante theoretische Annahmen für diese Arbeit: Pragmatismus: Sowohl Peirce als auch Brandom operieren mit dem Begriff des Pragmatismus und teilen damit semantische, epistemologische und methodologische Grundannahmen. Brandom, der Peirce als Pragmatisten anerkennt (cf. z. B. PP: 46), teilt allerdings wesentliche Prinzipien des klassischen Pragmatismus nicht, zu deren Hauptvertretern er z. B. Charles S. Peirce, William James und John Dewey zählt, wenn er diese als instrumentalistische Pragmatisten interpretiert (cf. PP: 47 f., insbesondere auch PoP). Der klassische Pragmatismus betrachte einerseits nur die praktischen Konsequenzen und Folgen von Handlungen und semantischen Gehalten und nicht ihre Voraussetzungen (cf. EV: 196) und berücksichtige andererseits das Verhältnis von Normativität und sprachlichen Prozessen nicht angemessen (cf. PP: 52 f.). Was für Pragmatismus nach William James und Richard Rorty gelten mag, gilt allerdings nicht für den semiotischen Pragmatismus Charles S. Peirces, wie Helmut Pape (2002) zeigt. Dass pragmatische Prozesse grundlegend normativ und semantische Gehalte inferenziell gegliedert sind, räumt Peirce ebenso ein wie eine sozial-normative Dimension der Rationalität (cf. Pape 2002: 521). Damit berücksichtigt Peirce in seinem Modell der semiosischen Zeichenkonstitution sowohl semantische als auch pragmatische Konsequenzen und Folgen sowie Voraussetzungen des Zeichenprozesses. Auch die konstitutive und normative Funktion von sprachlichen Zeichen erfasst Peirce. Allerdings liegt sein Interesse weniger auf den exklusiven Funktionen, die sprachliche Zeichen im diskursiven Gebrauch aufweisen, sondern vielmehr in den universalen semiotischen Eigenschaften, die alle Zeichenprozesse teilen. Insofern ist die normative und konstitutive Kraft sprachlicher Zeichen bei Peirce zwar integriert, entwickelt sich aber nicht in diskursivem Kontrast zu anderen Zeichenprozessen: Peirce erfasst vielmehr Zeichen als universales Element unserer Rezeptions-, Wahrnehmungs-, Interpretations-, Verhaltens- und Handlungsprozesse, aber untersucht nicht Zeichengebrauchshierarchien, die sich innerhalb diskursiver Praktiken zwischen verschiedenen Zeichensystemen, Codes oder Modalitäten bilden. Und in diesem Verhältnis von Zeichensystemen nimmt das Sprachsystem eine außerordentliche Rolle ein (cf. hierzu z. B. Borsche 2009, 2011, 2018). Insofern trifft der Einwand, dass Peirce die konstitutive Kraft sprachlicher Zeichen unbeachtet lasse, nur bedingt zu. Es ist schlichtweg für den semiotischen Pragmatismus nicht von primärem Interesse, ob es spezifische Zeichensysteme gibt, welche exklusive Funktionen innerhalb der Konstitution von sozial-normativen Verhältnissen und in Bezug zu anderen Zeichensystemen einnehmen. Nichtsdestotrotz schließt der semiotische Pragmatismus eine solche Exklusivität auch nicht aus. Insofern lassen sich Brandoms Einwände zu den semantischen und pragmatischen Grundannahmen des semiotischen Pragmatismus entkräften, sodass semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus miteinander vereinbar sind. Beide Pragmatismen betrachten lediglich unterschiedliche Facetten von Zeichenprozessen. Zugleich wird damit aber dennoch die 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus 107 wesentliche Rolle sprachlicher Zeichen in der Konstitution von sozial-normativen und diskursiven Praktiken betont. Inferenzielle Prozesse: Neben den geteilten semantischen, epistemologischen und methodologischen Grundannahmen nehmen in beiden Pragmatismen auch inferenzielle Relationen eine wesentliche Rolle in der Bestimmung der semantischen und pragmatischen Struktur ein. Brandoms Inferenzvokabular der festlegungserhaltenden, berechtigungserhaltenden und inkompatiblen inferenziellen Relation und Peirces Erklärung von deduktiven, induktiven und abduktiven Inferenzen sind inferenzialistische Analysemodelle von sprachlichen bzw. semiotischen Prozessen oder zumindest Vorläufer dieser. Allerdings sind die Ähnlichkeiten von Brandoms inferenzieller Semantik und Peirces Interpretantenbeschreibung zunächst nicht offensichtlich. Während Brandoms festlegungserhaltende und berechtigungserhaltende inferenzielle Relationen zwar ebenfalls deduktive und induktive Inferenzen implizieren, ist die Kategorie der inkompatiblen inferenziellen Relation nicht mit abduktiven Inferenzen vergleichbar. Tatsächlich positioniert Peirce seine Konzeption von Inkompatibilität nicht an prominenter Stelle, da es im Rahmen der deduktiven, induktiven und abduktiven Inferenzen um gelingende Schlussfolgerungsprozesse geht. Inkompatible inferenzielle Relationen hingegen sind virtuelle inferenzielle Relationen, die in actu Zeichenereignisse verhindern bzw. ihre Plausibilität in Zweifel ziehen. Folglich ist die Ergänzung von inkompatiblen inferenziellen Relationen innerhalb des semiotischen Pragmatismus möglich. Abduktive Inferenzen finden sich bei Brandom hingegen nicht im Rahmen der inferenziellen Relationen, sondern nehmen einen gesonderten Platz unter dem Begriff der Modalität ein (cf. Keeler 2004: 256). Gültige abduktive Inferenzen können über ihren modalen Status indiziert werden, indem mögliche Handlungen, Ereignisse oder propositionale Gehalte in inferenzielle Prozesse substituiert werden. Somit bleibt der Status des Zweifels, welcher konstitutiv für abduktive Inferenzen ist, über den modalen Status bei Brandom erhalten. Neben der Implikation von deduktiven, induktiven, abduktiven und inkompatiblen Inferenzen ähneln sich der semiotische Pragmatismus und der normative Sprachpragmatismus insbesondere in der Erklärung der Verhältnisse und Strukturgrößen von Signifikanzen und semantischen Einheiten. Während Peirce von Begriff (Rhema), Proposition (Dicizeichen) und Inferenz (Argument) spricht, sind die entsprechenden indizierten Größen bei Brandom singuläre Termini bzw. Prädikate, Deklarativsätze/ Behauptungen und Konditionale/ Inferenzen. Damit beschreiben und analysieren Peirce und Brandom Signifikanzen und semantische Gehalte nicht nur auf propositionaler Ebene, sondern sie sehen im propositionalen Gehalt bzw. dessen Behauptung/ Äußerung die fundamentale Struktur- und Gebrauchseinheit sprachlicher Praktiken. Ausgehend vom Äußerungsereignis eines propositionalen Gehalts lassen sich damit Signifikanzen und semantische Gehalte sowohl unterhalb als auch oberhalb des propositionalen Gehalts analysieren. Somit stützen sowohl Brandom als auch Peirce ihre Sprachbzw. Zeichenphilosophie auf grundlegende inferenzielle Relationen, die sich um die Signifikanz eines propositionalen Gehalts gruppieren, um die linguistische bzw. semiotische Konstitution diskursiver Praktiken zu analysieren. Das Verhältnis der Inferenztheorien beider und ein Blick auf die Typologie der Interpretanten (cf. Tab. 2) zeigt außerdem, dass sich Brandoms Sprach- 108 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen philosophie vorwiegend im Bereich der linguistischen logischen Interpretanten bewegt. Denn er analysiert insbesondere diejenigen inferenziellen Relationen, die sich (im Sinne Peirces) mit Begriff, Proposition und Inferenz übersetzen lassen. Andere Interpretanten schließt Brandom dabei nicht aus, wenn er z. B. von Wahrnehmungen und Handlungen als nicht-inferenziellen Gehalten spricht (cf. EV: 296 f.). Weitere Zeicheneffekte und -kräfte (z. B. im Rahmen der tierischen und zellularen Kommunikation) werden von Brandom weder untersucht noch explizit angezweifelt. Denn es geht ihm schließlich um die Analyse von diskursiven Praktiken. Insofern ist der Inferenzbegriff Peirces auf viele andere Zeichenprozesse anwendbar, während Brandoms Inferenztheorie allein linguistisch-kognitive Zeichengebrauchsstrukturen erfasst. Für eine Sprachtheorie, die sich entlang einer sozial-normativen und einer kognitiv-semiotischen Achse entwickelt und der linguistischen Pragmatik verpflichtet ist, ist dies jedoch kein Hindernis. Konditionale Relationen: Sowohl Brandoms als auch Peirces Inferenzialismus unterscheiden sich von formalen Inferenzmodellen. Für Brandom äußert sich die Prozessualität der Inferenzen, welche sowohl konsequenzielle Ereignisse als auch deren Temporalität erfasst, durch den Junktor des Konditionals. Brandoms Konditionalismus markiert dabei weder den Junktorgebrauch in formallogischen Inferenzmodellen noch den expliziten Gebrauch von Konditionalsätzen innerhalb diskursiver Praktiken. Stattdessen wird dem Prinzip der Prozessualität eine allgemeine Kraft eingeräumt, welche den zeitlich-räumlichen, normativen, signifikativen sowie semantischen Veränderungen eine maßgebliche Kraft bezüglich der Bedeutungs- und Signifikanzkonstitution einräumt. Während Brandom das Prinzip der Prozessualität durch das Konditional markiert, ist bei Peirce die Prozesshaftigkeit innerhalb der Semiose bereits enthalten. Zudem betont auch Peirce die Abhängigkeit der Zeichenereignisse von vorherigen und folgenden Zeichen. Helmut Pape nennt dieses Prinzip der Prozessualität bei Peirce daher auch Sequenzialismus, “ [a] generalized and realistically interpreted version of inferential transitivity, sometimes in conjunction with the thesis that we know all empirical, experiential relations by knowing first consequences and that infer their (probable) antecedents ” (Pape 2002: 522). Sowohl Brandoms Beschreibungen mithilfe des Konditionals als auch Peirces sequenzielle Zeichenfolgen erheben damit Prozessualität zum grundlegenden Prinzip, welches inferenzielle Relationen in diskursiven Praktiken transformiert. Sozial-normative Dimension diskursiver Praktiken: Brandom betrachtet die sozial-normative Dimension als ein wesentliches Merkmal diskursiver Praktiken, welche sich dadurch von anderen sozialen und kommunikativen Praktiken unterscheiden. Diskursive Normen haben dabei eine wesentliche Funktion in der Konstitution von spezifischen sozialkommunikativen Relationen, Handlungsgründen und -folgen. Und diese diskursiven Normen werden durch Äußerungen (bei Brandom insbesondere Behauptungen) zur Geltung gebracht. Helmut Pape (2002: 522) sieht auch in Peirces semiotischem Pragmatismus “ an irreducible normative and social side ” . Im Rahmen der grundlegenden strukturellen Einheit der Äußerung lässt sich Peirces Verständnis der sozial-normativen Dimension tatsächlich nachvollziehen: To assert a proposition is both (1.) claim validity, (for example truth) in a normative sense for what the proposition which expresses the belief says and (2.) to acknowledge that one is willing to accept 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus 109 the negative consequences, e. g., some sort of social or moral sanctions, if the validity claim is refuted and the belief turns out to be wrong. (Pape 2002: 523) Pape erklärt hier nicht nur, dass mit Behauptungen Geltungsansprüche (gegenüber jemandem bezüglich etwas) erhoben werden, sondern auch, dass aus den impliziten Geltungsansprüchen von Behauptungen sozial-normative Konsequenzen folgen. Die sozial-normativen Konsequenzen müssen entgegen Papes Formulierung nicht nur sanktionieren, sondern können (z. B. in Form von Bestätigungen oder Belohnungen) auch affirmierend sein. Jeder propositionale Gehalt, welcher kraft Behauptung in diskursive Praktiken eingebettet wird, ist damit auch sozial-normativen Bedingungen und Folgen unterworfen. Sowohl Geltungsansprüche als auch sozial-normative Konsequenzen finden sich innerhalb von Brandoms normativem Sprachpragmatismus. Nicht nur sind Behauptungen eben die fundamentalen Äußerungseinheiten, sondern das Vokabular der Folgen und Umstände von Behauptungen fasst eben jene sozial-normativen Konsequenzen, welche kraft inferenzieller Relationen in Beziehung zur getätigten Äußerung stehen. Insofern nehmen sowohl im semiotischen Pragmatismus als auch im normativen Sprachpragmatismus die sozial-normative Dimension der Behauptung und anderer sprachlicher Handlungen sowie deren Folgen und Umstände eine zentrale Rolle ein. Kategorien bzw. kategoriale Struktur: Während die pragmatistischen, inferenziellen, konditionalistischen und sozial-normativen Bedingungen des semiotischen Pragmatismus und des normativen Sprachpragmatismus für eine oberflächenstrukturelle Vergleichbarkeit sorgen, lassen sich auch tiefenstrukturelle Gemeinsamkeiten finden, welche die universalen Kategorien beider Ansätze ins Verhältnis setzen. Zur Erinnerung: Peirces phaneroskopische Kategorienlehre bildet das phänomenologische Rückgrat des semiotischen Pragmatismus. Die Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit finden sich in verschiedenen zeicheninternen wie -externen Prozessen in unterschiedlicher Zeichenform wieder, sodass jedes Zeichen und jeder Zeichenprozess durch diese allgemeinen Kategorien strukturiert ist und entsprechend ihrer Universalität analysiert werden kann. Brandom hingegen entwickelt bzw. expliziert erst im Rahmen seiner Hegel-Lektüre ein Kategoriensystem zur Deskription von sprachlichen Prozessen, welches seinen normativen Sprachpragmatismus kategorial strukturiert und von ihm in folgender Tabelle zusammengefasst wird: Objective Ontological or Metaphysical Categories Subjective Pragmatic Categories Syntactic Categories Object/ Properties or Particulars/ Universals Referring/ Classifying Singular Terms/ Predicates Facts Asserting, Claiming, or Judging Declarative Sentences Laws Explaining as Inferring Universally Quantified Subjunctive Conditionals Tab. 4: Robert B. Brandoms kategoriale Struktur der Festlegung nach Brandom (AST: 209) Wenn man Robert B. Brandoms kategoriale Struktur der Festlegung (Tab. 4) mit Charles S. Peirces universalen Kategorien (Tab. 1) vergleicht, zeigt sich, dass sich die verschiedenen 110 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen Zeilen von Brandoms kategorialer Struktur der Festlegung auch mithilfe der universalen Kategorien beschreiben lassen. Die Kategorie der Objekte und Eigenschaften bzw. Einzelheiten und Universalien ähnelt der Kategorie der Erstheit, also der qualitativen Möglichkeit. Sie enthält Entitäten, die (noch) nicht in faktive Strukturen eingebunden, sondern lediglich als Einzelheiten ermöglicht sind. Sie müssen z. B. als singuläre Termini oder Prädikate in propositionale Strukturen eingebettet werden, um als Teil einer Tatsache etabliert zu werden. Die Kategorie der Objekte und Eigenschaften bzw. Einzelheiten und Universalien bilden also allein Potenziale (wie auch Erstheiten), welche sich innerhalb von diskursiven Behauptungsstrukturen etablieren und wirksam werden können. Die Kategorie der Tatsache, welche pragmatisch verschiedene Äußerungsakte und syntaktisch insbesondere den Deklarativsatz umfasst, kann mithilfe der Zweitheit umschrieben werden. Mittels verschiedener Äußerungsakte (und deren syntaktischer Form) werden verschiedene Objekte und Eigenschaften bzw. Einzelheiten und Universalien in einer Tatsache zusammengeführt, welche dann z. B. einen propositionalen Gehalt bildet. Es ist also die besondere Qualität der Tatsache, dass sie aus Objekten und Eigenschaften bzw. Einzelheiten und Universalien (Erstheiten) Existenzen (z. B. propositionale Gehalte) bildet (Zweitheiten). Die Kategorie des Gesetzes ähnelt der Kategorie der Drittheit Peirces, was sich insbesondere daran zeigt, dass inferenzielle und konditionale Struktur im Rahmen der pragmatischen und syntaktischen Kategorien markiert sind. Inferenzen sind bei Peirce drittheitliche Strukturen und führen mehrere Tatsachen unter einer Regel bzw. einem Gesetz zusammen und ähneln damit dem Konditional Brandoms. Trotz dieses knappen Vergleichs der Kategorien bei Brandom und Peirce ist es plausibel, zumindest strukturelle Ähnlichkeiten in der tiefenstrukturellen bzw. phänomenologischen Beschreibung von Zeichenbzw. Sprachprozessen beider Ansätze anzunehmen. Es lässt sich allerdings bereits an der Akzentuierung pragmatischer und syntaktischer Kategorien erkennen, dass die kategoriale Struktur, die Brandom im Blick hat, insbesondere linguistische Prozesse erfassen soll. Daher lässt sich die Gültigkeit der kategorialen Struktur zumindest innerhalb der Typologie der Interpretanten (Tab. 2) eingrenzen: Allein logische Interpretanten betrifft die Kategoriestruktur Brandoms, während die phaneroskopischen Kategorien nicht nur in alle Interpretantentypen, sondern in jedem Zeichenaspekt involviert sind. Dies ist für eine Analyse sprachlicher Zeichen kein Hindernis, da sich die beiden Kategoriensysteme bezüglich sprachlicher Zeichen derart nahekommen, dass dies eine reziproke Integration in eine Sprachtheorie nicht ausschließt. Sowohl die oberflächenstrukturellen Prämissen des Pragmatismus, der inferenziellen und konditionalen Prozesse und Relationen, der sozial-normativen Dimension diskursiver Praktiken als auch der kategorialen Strukturen scheinen eine reziproke Integration beider Pragmatismen zu plausibilisieren. Zugleich können aber auch einige Unterschiede beider Ansätze für die Theoriebildung genutzt werden, insbesondere diejenigen, die verschiedene Akzente in der Analyse setzen. Zunächst ist dies der unterschiedliche Fokus: Während Peirce sämtliche Zeichenprozesse im Blick hat, untersucht Brandom allein sprachliche Zeichen. Insofern bildet die Zeichentheorie Peirces für diese linguistische Untersuchung einen theoretischen Überschuss, welcher nicht unmittelbar in theoretische Erkenntnis 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus 111 umgedeutet werden kann. Dieses theoretische Surplus kann aber die Grenzen der Sprache im Vergleich zu anderen Zeichen und Zeichenprozessen anzeigen, sodass die Möglichkeiten sprachlicher Zeichen ausgelotet werden können (cf. hierzu z. B. Bierwisch 2008). Insofern sollte in einer semiotischen Betrachtung stets reflektiert werden, welche Signifikanzen tatsächlich auf sprachliche Zeichen zurückzuführen sind und ob auch andere Zeichen ebenfalls diese Signifikanzen aufweisen können. Außerdem ist insbesondere die sozial-normative Dimension diskursiver Praktiken, welcher zwar sowohl von Brandom als auch von Peirce betont wird, aber eine unterschiedliche Taxierung erhält, für die linguistische Pragmatik zentral und wird durch Brandom prominent in dieser platziert. Während Peirce insbesondere die drittheitliche Struktur als zeichenkonstitutiven Aspekt im Blick hat, zentralisiert Brandom die sozialnormative Dimension diskursiver Praktiken derart, dass sie zur conditio sine qua non im Rahmen von wirklichkeitskonstitutiven, performativen sowie interlokutiven Prozessen wird. Damit entwickelt Brandom ein Verständnis vom Verhältnis zwischen Wirklichkeit, Handlung und Kommunikation, welches die sozial-normative Struktur des sprachlichen Zeichens in den Mittelpunkt setzt. Auch die intersubjektiven bzw. interlokutiven Aushandlungsprozesse, welche bei Peirce als dialogische Strukturen skizziert werden (cf. CP 5.447, Johansen 1993: 190 f.), lassen sich mithilfe des normativen Sprachpragmatismus modellieren, ausdifferenzieren und erweitern (cf. Kapitel 14.1). Wirklichkeitskonstitution und Performativität können somit mithilfe der Funktion von Interlokutoren erklärt werden, ohne dass diesen Kommunikationsinstanzen eine egozentrische Autorität, intrinsische Handlungskraft oder privilegierte Perspektive innerhalb von diskursiven Praktiken zugewiesen werden muss. Vielmehr können der interlokutive Prozess selbst sowie dessen soziale Normen untersucht werden (cf. Kapitel 15 und 16). Die theoretischen Reflexionen zu einer normativen, linguistischen und kognitivsemiotischen Pragmatik beruhen also auf folgenden Thesen, deren Gültigkeit im Laufe der Argumentation belegt werden soll: Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus lassen sich dank ihrer Gemeinsamkeiten und ihrer wechselseitigen Bereicherung ineinander integrieren. Dabei können sie sich nicht einfach gegenseitig ergänzen oder komplementieren, sondern müssen in ein transversales Verhältnis gesetzt werden, welches die Durchquerung beider Ansätze ermöglicht, ohne dass es zu Bruchlinien zwischen den theoretischen Aussagen kommt. Eine reziproke Integration, welche das transversale Verhältnis würdigt, muss bei Zeichenprozessen beginnen und die kognitivsemiotische Konstitutivität im Rahmen von sozial-normativen, diskursiven und interlokutiven Prozessen erklären. Damit entwickeln sich entlang der kognitiv-semiotischen Fluchtlinien die unterschiedlichen normativen und pragmatischen Signifikanzen der diskursiven Praktiken, die wiederum anhand von Zeichenprozessen nachgewiesen werden können. Linguistische Prozesse, die diskursive und sozial-normative Effekte haben und Kraftlinien entwickeln, können somit auf deren zeichenhafte Struktur zurückgeführt werden. Das Resultat einer reziproken Integration von semiotischem und normativem (Sprach-) Pragmatismus ist damit eine sprachtheoretische Orientierung, die die diskursive Signifikanz und konstitutive Kraft sprachlicher Zeichen in ihr Zentrum stellt. Dabei werden 112 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen sowohl intersubjektive und interlokutive Aushandlungen als auch temporale und konditionale Zeichenprozesse nicht nur aus semiotischer Perspektive, sondern aus der Perspektive des Zeichens selbst betrachtet, ohne von frei flottierenden Signifikanten ausgehen zu müssen. Entlang einer sozial-normativen und einer kognitiv-semiotischen Achse lässt sich das Entwicklungspotenzial sprachlicher Zeichen sowohl pragmalinguistisch, kognitiv-linguistisch als auch diskurslinguistisch aufzeigen und schließt damit an aktuelle kognitiv-diskursive Ansätze an (cf. z. B. Ziem/ Fritsche 2018). 4 Semiotischer Pragmatismus und normativer Sprachpragmatismus 113