eJournals Kodikas/Code 45/1-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
0303
2025
451-4

Exkurs: Diagrammatik und die Signifikanz des Denkens – Die Semiotik des Modells

0303
2025
Joschka Briese
Eine linguistische Pragmatik, die sich auf eine semiotische Dimension aller diskursiver Praktiken beruft, muss auch ihre eigenen Praktiken semiotisch reflektieren. Daher wird in diesem Kapitel die Praxis der Modellierung im Rahmen einer Theorie mithilfe diagrammatischer Prinzipien erklärt. Dabei wird gezeigt, in welchem Verhältnis Diagramme als Modelle zu ihren Erkenntnisobjekten stehen und welche epistemologischen Konsequenzen daraus erwachsen bzw. wie diese für theoretische Konsequenzen genutzt werden können.
kod451-40114
K O D I K A S / C O D E Volume 45 (2022) · No. 1 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen 5 Exkurs: Diagrammatik und die Signifikanz des Denkens - Die Semiotik des Modells Abstract: Pragmatics that invokes a semiotic dimension to all discursive practices must also reflect semiotically on its own practices. Therefore, this chapter explains the practice of modeling within the framework of a theory using diagrammatic principles. It shows the relationship between diagrams as models and their epistemic objects and what epistemological consequences arise from this and how these can be used for theoretical elaboration. Zusammenfassung: Eine linguistische Pragmatik, die sich auf eine semiotische Dimension aller diskursiver Praktiken beruft, muss auch ihre eigenen Praktiken semiotisch reflektieren. Daher wird in diesem Kapitel die Praxis der Modellierung im Rahmen einer Theorie mithilfe diagrammatischer Prinzipien erklärt. Dabei wird gezeigt, in welchem Verhältnis Diagramme als Modelle zu ihren Erkenntnisobjekten stehen und welche epistemologischen Konsequenzen daraus erwachsen bzw. wie diese für theoretische Konsequenzen genutzt werden können. Keywords: diagrammatics, model, semiotics Schlüsselbegriffe: Diagrammatik, Modell, Semiotik Die Zusammenführung unterschiedlicher theoretischer Ansätze, die insbesondere semiotische, inferenzielle und normative Aspekte der Sprache betreffen, und deren Anwendung auf Aspekte der Personalität und Intentionalität basieren in dieser Arbeit vor allem auf Exemplifizierungen und Schlussprozessen. Entsprechende argumentative Passagen stellen also den Großteil der Arbeit dar. Wesentliche Erkenntnisse sollen aber zudem als Modelle bzw. Diagramme veranschaulicht werden. Graphische Darstellungen und Modellierungen sind in der Wissenschaftsgeschichte und auch bei kognitivorientierten Ansätzen populär, sodass es umso wichtiger ist, die Darstellungsweise selbst zu reflektieren. Ansonsten besteht die Gefahr, Darstellung und Darstellungsweise als selbstverständlich wahrzunehmen. Die Darstellungsweise von Diagrammen unterscheidet sich dabei wesentlich von anderen Erkenntnisprozessen wie denjenigen, die durch argumentative Texte ausgelöst werden können. Während schriftliche Texte kraft konventioneller Zeichen Erkenntnis ermöglichen, sind Diagramme vorrangig bildliche Zeichen. Aus einer semiotisch-epistemologischen Perspektive kann der Erkenntnisprozess, der durch konventionelle oder bildliche Zeichen evoziert wird, nicht gleichgesetzt werden, basiert er doch auf unterschiedlichen Zeichenprozessen. Im Folgenden sollen diagrammatische Praktiken kurz erläutert werden, nicht nur um den Erkenntnisprozess von Diagrammen nachzuzeichnen, sondern auch, weil Diagramme angesichts ihres geringeren Grads an Konventionalisierung missverständlich sein können. Einerseits wirken sie zunächst (kraft ihrer ikonischen Relation) eindeutig, weisen aber andererseits, sobald sie in Argumentationen und diskursive Strukturen eingebunden werden, Ambiguitäten auf. Insofern soll eine Erklärung dabei helfen, die folgenden Diagramme dieser theoretischen Reflexionen bereits semiotisch zu beschreiben und ggf. Missverständnissen vorzubeugen. Diagramme sind, so formulieren es Schüller und Mittelberg (2016: 12), “ die schematischen Mittler zwischen Anschauung und Vorstellung ” . Sie haben demonstratives Potenzial und können so auf andere Weise erkenntnisfördernd sein als konventionelle Zeichen. Diagrammatische Analysen untersuchen eben jene Erkenntnis- und Zeichenprozesse, die mit der Schematisierung von Diagrammen einhergehen (cf. z. B. Bauer/ Ernst 2010, Krämer 2016, Krämer/ Ljungberg 2016). Sie erfassen also nicht nur die Semantik der dargestellten Objekte und Relationen, sondern insbesondere die Signifikanz der Darstellungsweise des Diagramms selbst. Die wesentliche Zeichenrelation, die dem Diagramm innewohnt, ist ikonisch. Sie verweist auf ihre Darstellungsobjekte und -relationen in Ähnlichkeitsrelationen, wobei bei abstrakten Objekten und Relationen die Existenz des Dargestellten nicht notwendig ist. Die Ikonizität von Diagrammen unterscheidet sich damit von anderen ikonischen Zeichenrelationen, wie Charles S. Peirce nicht nur herausstellt, sodnern auch begründet hat (cf. CP 2.277). Ihre Qualität liegt insbesondere darin, dass die Relationen von Diagrammen Relationen darstellen können, ohne dass sie eine unvermittelte Ähnlichkeit zu diesen aufweisen müssen. Das Diagrammatische von Relationen liegt eben in dieser Qualität, sodass daraus eine eigene Logik entwickelt werden kann, die sich nicht auf unmittelbare Ähnlichkeiten zu Objekten der Welt reduzieren muss (cf. z. B. CP 1.54, CP 4.394). Ein Diagramm “ is an iconic representation of some components of the process and a set of operators that make some components affect other components in such way that a chain of event is released, and that the visible result of releasing the chain is a process analogous to the process I wanted to model ” (Brandt 1995: 263 f.). Um inferenzielle bzw. kognitivsemiotische Relationen und Prozesse darzustellen, eignen sich Diagramme daher besonders. Da Diagramme nicht nur einzelne Zeichen, sondern letztlich Zeichenkomplexe aus unterschiedlichen Konstituenten (Relationen, Relata und entsprechenden Operatoren und Operationen) sein können, kann die Struktur des Diagramms ggf. auch auf die jeweiligen Diagrammelemente angewandt werden: Diagramme können somit wiederum selbst aus einer bestimmten Menge an Diagrammen bestehen. Weil Diagramme die dargestellten Objekte und Relationen notwendigerweise auf eine Darstellung reduzieren müssen, weisen sie eine Art skeletthafte Form auf, die allein relevante Aspekte des Dargestellten erfasst (cf. Stjernfelt 2007: 94). Diese skeletthafte Form des Diagramms skizziert und reduziert die darzustellenden Zeichenereignisse auf ihre wesentlichen Strukturen, sodass mithilfe der Diagramme die Elemente in der Darstellung vernachlässigt werden können, die für die zu untersuchenden Relationen und Prozesse nicht notwendigerweise darstellungspflichtig sind. Neben der Reduktion des Dargestellten des Diagramms ermöglicht das Diagramm allerdings noch Weiteres. Der Erkenntnisprozess, der kraft des Diagramms ermöglicht 5 Exkurs: Diagrammatik und die Signifikanz des Denkens - Die Semiotik des Modells 115 wird, “ is a sort of natural mathematics of the mind; it grounds abstraction in the embodied human world, and it has internal principles of optimality ” (Brandt 2004: 88). Solche graphentheoretische Prinzipien erlauben es nicht nur, Partikularerkenntnisse aus dem Diagramm zu inferieren, sondern erhöhen gleichzeitig die epistemische Produktivität des Diagramms, da die verschiedenen Diagrammelemente nicht nur in Beziehung gesetzt, sondern auch rekursiv miteinander verbunden und in Teil-Ganzes-Relationen geordnet werden können. Im Abstraktionsraum des Diagramms können deshalb Untersuchungen stattfinden, die durch Beobachtungen verschiedener Ereignisse selbst nicht möglich sind. Die Abstraktion erlaubt es, mit den unterschiedlichen diagrammatischen Elementen zu experimentieren, sodass unterschiedliche Zeichenkomplexe entstehen, die sich wiederum in Korrelation zu den darzustellenden Relationen, Relata, Prozessen und Ereignissen befinden. Das Diagramm entwickelt so seine eigene semiotische Prozesshaftigkeit, die sich theoretisch nutzbringend einsetzen lässt. Eine diagrammatische Perspektive auf den Erkenntnisprozess von Diagrammen, wie ich sie im Folgenden vertrete, unterscheidet sich in einigen wesentlichen kognitiv-ontologischen Annahmen von einer Diagrammatologie, wie sie z. B. von Frederik Stjernfelt (2007) vertreten wird. Stjernfelts Diagrammatologie ist semiotisch und erkenntnistheoretisch einflussreich in der zeitgenössischen Analyse von Diagrammen, geht aber noch einen Schritt weiter, indem sie eine “ metaphysische These eines apriorischen Realismus der diagrammatischen Objekte ” (Pape 2009: 412) vertritt. Stjernfelt (2007: xiv) geht es darum, die Ähnlichkeit zwischen dem Zeichen des Diagramms und den dargestellten Objekten selbst herauszuarbeiten. Denken ist demnach genuin ikonisch-diagrammatisches Denken, welches in Analogiebeziehungen zum gedachten Gehalt und dessen Objekten steht. Stjernfelts Diagrammatologie beansprucht, jegliche Zeichenereignisse auf diese Weise analysieren zu können und damit Auskünfte über die Realität der Zeichen zu machen. Der Kritik Helmut Papes (2009), der die Arbeit Stjernfelts zwar würdigt, sie aber wegen der metaphysischen Begründung problematisiert, schließe ich mich an. Insbesondere bei der Analyse sprachlicher Zeichen, die indexikalische Referenzierungsprozessen eine konstitutive Kraft zuweist und die sozial-normative und diskursive Dimension sprachlicher Zeichen berücksichtigt, kann eine Reduktion auf Ikonizität problematisch sein. Die hier vertretene Diagrammatik geht also davon aus, dass sprachliche Zeichenprozesse mithilfe von Diagrammen schematisiert werden können und Kognition als prozessuales Ereignis in ikonischer Relation zum Diagramm steht. Entgegen dem ikonischen Realismus, den Stjernfelt vertritt, wird die Normativität und Indexikalität sprachlicher Zeichen in der folgenden Untersuchung zwar ebenfalls in Diagrammen abgebildet, doch soll sich daraus keinesfalls eine empirische Ähnlichkeit zwischen Darstellung und Dargestelltem ableiten lassen können. Das objektrelationale Verhältnis zwischen Diagramm und schematisiertem Erkenntnisobjekt hat allerdings keinen Einfluss auf die epistemischen Prozesse von Diagrammen. Vielmehr bleibt das Diagramm als Erkenntnis- und Experimentierraum selbst von ontologischen und metaphysischen Annahmen unangetastet und kann selbst als Darstellungsform und Forschungsinstrument dienen. Neben der ikonischen Dimension des Diagramms werden bei entsprechender Notwendigkeit die ikonischen Zeichen mittels konventioneller Zeichen ergänzt, um die Relata 116 I Zeichen- und sprachtheoretische Grundlagen und Relationen zu spezifizieren. Ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen bzw. deren Kategorie der Erstheit, Zweitheit und Drittheit werden also mithilfe von ikonischen und symbolischen Zeichen schematisiert. 5 Exkurs: Diagrammatik und die Signifikanz des Denkens - Die Semiotik des Modells 117