eJournals Kodikas/Code 45/1-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
0303
2025
451-4

Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive

0303
2025
Joschka Briese
In diesem Kapitel wird Intentionalität im Rahmen von Robert B. Brandoms normativem Sprachpragmatismus analysiert. Diskursive Intentionalität wird hier als sozial-normativ und inferenziell gegliedert verstanden. Anstatt sie als essenzielle Eigenschaft mentaler Zustände zu beschreiben, ist sie in das “Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen” eingebunden: Über Zuschreibungen und Attribuierungen in diskursiven Praktiken wird sie als Heuristik zur Erklärung von Verhalten als Handlung verwendet. Die inferenzielle Gliederung diskursiver Intentionalität beschränkt sich dabei nicht auf semantische Relationen. Sie wird als handlungstheoretisch relevant verstanden, indem die Unterscheidung zwischen Handlungen aus Gründen und Handlungen mit Gründen ebenfalls als inferenziell verstanden wird. Daraus resultiert ein Begriff der diskursiven Intentionalität, welcher auf diskursiver Emergenz beruht.
kod451-40155
K O D I K A S / C O D E Volume 45 (2022) · No. 1 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive Abstract: In this chapter, intentionality is analyzed within the framework of Robert B. Brandom's normative linguistic pragmatism. Discursive intentionality is understood here as social-normative and inferentially structured. Instead of describing it as an essential property of mental states, it is integrated into the “ game of giving and asking for reasons ” : Via attributions and attributions in discursive practices, it is used as a heuristic to explain behavior as action. The inferential structure of discursive intentionality is not limited to semantic relations. It is understood as relevant to action theory in that the distinction between actions for reasons and actions with reasons is also understood as inferential. This results in a concept of discursive intentionality that is based on discursive emergence. Zusammenfassung: In diesem Kapitel wird Intentionalität im Rahmen von Robert B. Brandoms normativem Sprachpragmatismus analysiert. Diskursive Intentionalität wird hier als sozial-normativ und inferenziell gegliedert verstanden. Anstatt sie als essenzielle Eigenschaft mentaler Zustände zu beschreiben, ist sie in das “ Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen ” eingebunden: Über Zuschreibungen und Attribuierungen in diskursiven Praktiken wird sie als Heuristik zur Erklärung von Verhalten als Handlung verwendet. Die inferenzielle Gliederung diskursiver Intentionalität beschränkt sich dabei nicht auf semantische Relationen. Sie wird als handlungstheoretisch relevant verstanden, indem die Unterscheidung zwischen Handlungen aus Gründen und Handlungen mit Gründen ebenfalls als inferenziell verstanden wird. Daraus resultiert ein Begriff der diskursiven Intentionalität, welcher auf diskursiver Emergenz beruht. Keywords: Action theory, discursive intentionality, intentional stance, reasons for action Schlüsselbegriffe: Handlungstheorie, diskursive Intentionalität, Intentional Stance, Handlungsgründe Aus der Darstellung der Begriffe der phänomenalen Intentionalität, handlungsinvolvierten Intention und Volition sowie der Kritik an kommunikations-, zeichen- und sprachtheoretischen Prämissen des Intentionalismus ergibt sich nicht nur ein entsprechendes Desiderat, sondern auch die Notwendigkeit, ein Intentionalitätskonzept zu erstellen, welches dessen Verhältnis zu (sprachlichen) Handlungen und diskursiven Praktiken einerseits und der linguistischen Pragmatik andererseits expliziert. Dieses Verhältnis erklärt sich dabei aus drei Perspektiven respektive Erklärungsstrategien: Das Phänomen, welches mithilfe des Konzepts der diskursiven Intentionalität analysiert werden soll, wird 1. zunächst als Effekt von Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen erklärt, um es dann 2. mithilfe einer semiotischen Erklärung als Eigenschaft spezifischer Zeichen zu erfassen. Anschließend lässt sich 3. anhand des expliziten und impliziten Gebrauchs von intentionalen Verben Intentionalität als diskursive Signifikanz von Verben analysieren. Das folgende Kapitel widmet sich der Darstellung diskursiver Intentionalität als emergentem Phänomen und betrachtet dieses aus inferenzialistischer Perspektive. Dazu soll diskursive Intentionalität im Sinne Robert B. Brandoms skizziert und erklärt werden. Diskursive Intentionalität kann dadurch von anderen Intentionalitätsbegriffen, die einen ähnlichen Phänomenbereich beanspruchen, abgegrenzt werden. Gleichzeitig lassen sich Binnendifferenzierungen von explanatorischen Intentionalitätsbegriffen bilden. Um aber den ephemeren Charakter von diskursiver Intentionalität aufzuzeigen, reicht eine Beschreibung nicht aus. Ihr Phänomenbereich soll im Rahmen von diskursiven Praktiken erklärt werden: Zunächst wird mithilfe von Daniel C. Dennetts Theorie der intentionalen Einstellung und Systeme* 1 kognitionsphilosophisch gezeigt, wie diskursive Intentionalität entsteht, um anschließend wesentliche Konzepte in eine Handlungs- und Sprachtheorie zu überführen. Diskursive Intentionalität ist nach dieser Erklärung dann nichts, was inhärente Eigenschaften von Akteuren bzw. Personen beschreibt, sondern eine aus Praktiken der Zuschreibung und Attribuierung erwachsene Emergenz, welche sozial-kommunikativen und sozial-normativen Relationen unterworfen ist. 8.1 Diskursive Intentionalität - Eine definitorische Skizze Diskursive Intentionalität nimmt in Robert B. Brandoms Sprachphilosophie einen wesentlichen Platz ein (cf. hierzu z. B. Grönert 2006, Grüne 2011; Knell 2004, 2005, Lauer 2009), ist aber in der linguistischen Pragmatik bisher kaum beachtet worden (cf. aber Briese 2019, 2020 b, 2021; Harendarski 2012, 2013, 2016, 2021 a). Im Mittelpunkt der Betrachtung der diskursiven Intentionalität Brandoms sowie von deren sozial-normativen Effekten steht die Frage nach den grundlegenden Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, als diskursive Wesen aufzutreten und an diskursiven Praktiken teilzunehmen: “ [D]amit etwas zu ‘ uns ’ zählt, sollte es lediglich die grundlegenden Fähigkeiten besitzen, die die Teilnahme an jenen ausschlaggebenden Tätigkeiten ermöglicht, über die wir uns selbst definieren. ” (EV: 36) 2 1 Der Begriff des Systems, wie er im Folgenden von Dennett und Brandom verwendet wird, sollte aus einer sozial-kommunikativen und linguistischen Perspektive mit gewisser Skepsis betrachtet werden. Als systemisch gelten dort jene Entitäten, die mechanische oder computationale Kopplung aufweisen, ganz im Sinne eines informationstheoretischen und kybernetischen Verständnisses des Konzepts. Für Dennett ist dies wohl angemessen. Bei Brandom, der sozial-normative Aspekte diskursiver Praktiken im Blick hat, scheint das Konzept zumindest missverständlich. Denn soziale und kommunikative Systeme weisen einen anderen normativen Status auf als mechanische Systeme (cf. Arundale 2020, Luhmann 1987). Gleichzeitig ist der Systembegriff in der Linguistik stets mit den Strukturen von Einzelsprachen besetzt. Wenn im Folgenden der Begriff des Systems im Sinne Dennetts (und Brandoms) verwendet wird und auf ein eher mechanistisches und kybernetisches Verständnis hingewiesen werden soll, verwende ich den Ausdruck mit Asterisk (System*). Die Verwendung der später eingeführten Akronyme für einfache intentionale Systeme (EIS) und interpretierende intentionale Systeme (IIS) verweist stets auf dieses Verständnis. 2 Dass Brandom hier die erste Person Plural verwendet, ist keine saloppe Formulierung oder gar ein Übersetzungsfehler. Vielmehr verweist Brandom hier bereits darauf, dass die genuine Sozialität diskursiver 156 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Diese Fähigkeit, die die Teilnahme an diskursiven Praktiken ermöglicht und dazu befähigt, ist diskursive Intentionalität. Tatsächlich lässt sich Brandoms Expressive Vernunft als ein Versuch lesen, den Begriff der diskursiven Intentionalität zu entwickeln und in die analytische Philosophie einzuführen. So verweist Brandom selbst darauf, dass seine Sprach- und Handlungsphilosophie “ sich als eine Analyse der Einstellungen des Zuweisens ursprünglicher Intentionalität auffassen ” (EV: 114) lassen kann. Brandom unterscheidet diskursive Intentionalität zunächst von Empfindungsfähigkeit. Er differenziert zwischen sentience und sapience, wobei erstere “ awareness in the sense of being awake ” (IL: 348) beschreibt. Sapience hingegen umfasst “ having intentionally contentful states such as beliefs, desires, and intentions: believing, desiring, or intending of the dog that it is sitting, will sit, or should sit ” (ebd.). Im Gegensatz zur sentience ist sapience allein diskursiven Wesen vorbehalten: denjenigen Wesen, die an diskursiven Praktiken teilnehmen können. Die Interaktion von diskursiven Wesen unterscheidet sich daher auch von Wesen, die allein über sentience verfügen, weil jene sich auf sozialnormative Weise auf die Welt und andere diskursive Wesen beziehen können. Brandom markiert seine theoretische Grenze also zwischen der Interaktion von und zwischen diskursiven Wesen und derjenigen Interaktion von anderen empfindungsfähigen Wesen: Es geht hier also um Intentionalität in dem Sinne, daß Einstellungen propositional gehaltvoll sind und nicht im Sinne der Gerichtetheit der Sinne (falls sich das als etwas davon verschiedenes herausstellen sollte). Das Ziel ist, uns selbst als Urteilende und Handelnde zu verstehen, als Verwender von Begriffen, die mit der Fähigkeit zum theoretischen wie praktischen Denken und Begründen ausgestattet sind. (EV: 40) Intentionalität sei demnach Verstandesfähigkeit, die es ermöglicht, bestimmte propositionale Gehalte im diskursiven Sinne zu verwenden, indem diese in Urteils- und Handlungsprozesse eingebunden werden. Kurz: “ Verstandesfähigkeit, diskursive Intentionalität, [ist] Hantieren mit Begriffen. ” (EV: 42) Brandom verweist mit seiner Darstellung der diskursiven Intentionalität nicht nur auf eine semantische Dimension, die sich in der Forderung eines propositionalen Gehalts erfüllt, sondern betont den Performanzaspekt, der dem Begriff der diskursiven Intentionalität innewohnt. Mit dem Handlungsaspekt der diskursiven Intentionalität wird nicht nur die Abgrenzung zur Empfindungsfähigkeit, sondern zugleich die pragmatische Signifikanz hervorgehoben. Zwischen Gehalt (semantischer Struktur) und Performanz (pragmatischer Signifikanz) ist diskursive Intentionalität damit ein Grenzbegriff von inferenzieller Semantik und normativer Pragmatik: [D]iscursive intentionality is a pragmatically mediated semantic relation that essentially involves both what one is doing in saying something, and what is said about how it is with what one is thereby talking about. (BSD: 196, Hervorh. im Original) Diese Definition der diskursiven Intentionalität involviert wesentliche Aspekte, die Brandom in seiner weiteren Sprach- und Handlungsphilosophie ausführt: 1. Diskursive Intentionalität ist eine semantische Relation (zwischen jemandem und etwas), die von diskursiven Normen des Gebrauchs vermittelt wird. Damit erfasst Brandom sowohl die Praktiken in seiner Theorie ein zentrales Element ist, welches sich auch auf die Konstitution von Individuen auswirkt (cf. dazu z. B. Reichold 2016, Stekeler-Weithofer 2011). 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 157 Konstitution der diskursiven Intentionalität im Sprachgebrauch als auch die Notwendigkeit, die jeweiligen Normen der diskursiven Praxis in der Analyse zu berücksichtigen. 2. Der Phänomenbereich, der vom Begriff der diskursiven Intentionalität umfasst werden soll, beinhaltet sowohl sprachliche als auch performative Aspekte, sodass sowohl pragmatische Signifikanz als auch sprachsystematische Aspekte Einfluss auf diesen haben. 3. Außerdem spielt das Verhältnis von sprachlichen Praktiken und Wirklichkeitsbezug eine wesentliche Rolle, sodass auch dies in einer Modellierung berücksichtigt werden muss. Sowohl holistisch-inferenzielle als auch repräsentationale Aspekte der diskursiven Intentionalität sollten sich in einer Analyse der diskursiven Praktiken und ihrer Intentionalität niederschlagen. Insbesondere für inferenzielle und repräsentationale Aspekte der Darstellung der diskursiven Intentionalität findet Brandom unterschiedliche Begriffe, die sein theoretisches Vokabular spezifizieren: Intentionality - semantic contentfulness - comes in two flavors: ‘ of ’ -intentionality and ‘ that ’ intentionality. The first, or representational, dimension is semantic directedness at objects: what one is thinking of or talking about. The second, or expressive, dimension concerns the content of our thought and talk: what one is thinking or saying (about what one is thinking or talking about). So one can think of or about foxes, that they are nocturnal omnivores. (RP: 42, Hervorh. im Original) Das Konzept der diskursiven Intentionalität beinhaltet also zwei verschiedene Aspekte, die miteinander in Beziehung stehen und in der Deskription diskursiver Praktiken unterschiedliche Funktionen einnehmen: Expressive Intentionalität 3 umfasst die inferenziellen und diskursnormativen Elemente der Intentionalität selbst, aber auch deren propositionale und semantische Gehalte sowie Performanz- und Handlungsgründe, -folgen und -dispositionen. Repräsentationale Intentionalität beinhaltet all jenes, was mit Referenzbzw. Verweisstruktur der intentionalen Relation ermittelt werden kann, und sichert somit, dass die entsprechenden intentionalen Relationen, Strukturen und Prozesse auch einen Wirklichkeitsbezug aufweisen. Expressive und repräsentationale Intentionalität sind zwar zwei Aspekte der Erklärungsstrategie von Verhalten, sind aber im Sinne des normativen Sprachpragmatismus nicht explanatorisch gleichberechtigt. Brandom betont, dass expressive Intentionalität repräsentationale Intentionalität erklären müsse (cf. z. B. IL: 350). Erst ein Zugang zu den inferenziellen und normativen Aspekten der diskursiven Intentionalität ermögliche, auch die repräsentationalen Aspekte angemessen zu analysieren. Der explanatorische Vorrang der expressiven Intentionalität hat Konsequenzen für die Analyse diskursiver Praktiken. Es ist deshalb sinnvoll hervorzuheben, was das Verfügen über semantische und propositionale Gehalte bei Brandom bedeutet. Diese sind keine kognitiven Abbildungen weltlicher Objekte, Sachverhalte und Ereignisse, sondern werden zunächst über ihre inferenziellen und normativen Relationen sowie ihren Performanzaspekt definiert: 3 Brandom nennt expressive Intentionalität auch “ dass ” -, begriffliche bzw. expressiv-begriffliche (cf. z. B. WI: 168) oder propositionale Intentionalität (cf. IL: 349). Im Weiteren werden die Bezeichnungen synonym verwendet. 158 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Der Verstand, das Vermögen der Begriffe, ist das Vermögen des Regelverstehens - dort wird dem Unterschied zwischen richtiger und falscher Regelanwendung Rechnung getragen. Das Besondere am Urteilen und Tun - also von Akten mit Inhalten, die man für wahr halten oder wahr machen kann und für die das Einfordern von Gründen angebracht ist - ist die Art und Weise, wie sie Regeln unterworfen sind. Sie sind begrifflich gehaltvoll und damit gemäß der Regeln zu beurteilen, die diese Gehalte ausdrücken. Sich in einem intentionalen Zustand zu befinden oder eine absichtliche Handlung zu vollziehen ist demnach normativ signifikant. (EV: 42 f.) Brandom greift hier nicht nur seine Definition der diskursiven Intentionalität auf, indem er die Normativität, Inferenzialität und Performativität betont, sondern erklärt Notwendigkeit von Regelverstehen und Regelanwendung (was hier eher als Normverstehen bzw. -anwendung verstanden werden sollte): Wer über diskursive Intentionalität verfüge, sei der normativen und pragmatischen Anwendbarkeit der entsprechenden propositionalen Gehalte unterworfen, kann diese z. B. begründen und nach ihnen handeln. Die normative Signifikanz, die Brandom hier erläutert, dient der Darstellung des Verhältnisses von propositionalen Einstellungen, ihren Gehalten und Performanzen. Es geht also darum, dass “ alles, was als intentionaler Zustand erkennbar ist [ … ], normative Bewertungen erfüllen muß in Hinblick darauf, ob die Dinge dem betreffenden Zustand zufolge auch so sind, wie sie sein sollten - ob der Zustand den durch seinen Gehalt festgelegten Standards zufolge korrekt oder erfolgreich ist ” (MNI: 386, Hervorh. im Original). Die inferenzielle Gliederung, die aus expressiver Intentionalität folgt, bestimmt also, inwiefern Verhalten im zeitlichräumlichen Kontinuum als sozial-normativ strukturiert begriffen wird, indem diskursive Normen und Verhaltensereignis in ein signifikantes Verhältnis gesetzt werden: Etwas geschieht und muss nun beurteilt werden. Da diese Beurteilung aber selbst bereits inferenziell gegliedert ist, dienen ihre inferenziellen Relationen selbst als Erklärungsstrategie des jeweiligen Verhaltensereignisses bzw. entfalten sich erst hinsichtlich der gewählten intentionalen Erklärungsstrategie, z. B. in Form von Handlungsfolgen. Die normative Signifikanz der expressiven Intentionalität hat nicht nur diskursive Folgen für das Verhalten, sondern auch für das Wesen, welches dieses Verhalten ausführt: The difference between discursive and non-discursive creatures is not as Descartes had thought, an ontological one (the presence or absence of some unique and spooky sort of mind-stuff), but a deontological, that is, normative one: the ability to bind oneself to concepts, which are understood as a kind of rule. (IL: 351, Hervorh. im Original) Brandoms Unterscheidung Ontologie und Deontologie greift hier (implizit) dasjenige auf, was ich im vorherigen Kapitel mit der Differenz von phänomenaler und diskursiver Intentionalität skizziert habe. 4 4 Es gibt andere Lebewesen, Organismen und Automaten, die über sinnliche und phänomenale Erfahrungen verfügen können (im Sinne des mind-stuff), aber nur diskursive Wesen können kraft diskursiver Intentionalität in diskursiven Praktiken Handlungen ausführen, die semantische, inferenzielle und propositionale Gehalte aufweisen. Oder so: Es gibt eine unüberbrückbare Differenz zwischen unserer sinnlichen Wahrnehmung der Welt und der diskursiven, von Normen, Konventionen und Regeln durchzogenen Wirklichkeit. Insofern konkurriert Brandoms Intentionalitätstheorie auch nicht mit Theorien, welche Tierkognition und -intentionalität modellieren (cf. z. B. Danón 2019, Hutto/ Satne 2015, Hutto/ Myin 2017). Tatsächlich nimmt Brandom eine Form der “ Ur-Intentionality ” (cf. z. B. Abramova/ Villalobos 2015, Hutto/ Myin 2017: 93 f.) bzw. der basalen Intentionalität an, wenn er nicht-diskursive Praktiken mithilfe eines TOTE-Modells (Test- 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 159 Zusammenfassend lässt sich Brandoms Begriff der diskursiven Intentionalität als theoretische Vokabel verstehen, mit welcher er Handlungs- und Verpflichtungspotenziale in diskursiven Praktiken zu explizieren sucht. Das Konzept unterscheidet sich dabei nicht nur von phänomenaler Intentionalität und sentience, sondern gliedert sich theoretisch auch in expressive und repräsentationale Intentionalität, die verschiedene explanatorische Funktionen übernehmen. Sie erklären die kraft der diskursiven Normen konstituierten Handlungsgründe, -folgen und -dispositionen (normative Signifikanz) und Handlungspotenziale (pragmatische Signifikanz) einerseits, sichern aber auch die repräsentationale Intentionalität und damit den analytischen Zugang zu Verhalten, Ereignissen, Objekten und Akteuren andererseits. Abb. 1: Intentionalität in Brandoms Sprach- und Handlungsphilosophie Abb. 1 fasst diese Verhältnisse noch einmal zusammen und zeigt, in welchem explanatorischen Verhältnis die verschiedenen Aspekte stehen. Insbesondere die explanatorische Hierarchie von expressiver und repräsentationaler Intentionalität ist interessant, weil sie die traditionelle Unterscheidung der analytischen Philosophie in “ intentionality as aboutness ” (Ciecierski 2016: 36, Hervorh. im Original) und “ intentionality as contentfulness ” (ebd., Hervorh. im Original) zwar beibehält, sie aber in ein Verhältnis setzt. Gleichzeitig hat dieses Verhältnis, so wie die gesamten Aspekte diskursiver Intentionalität, auch Einfluss auf die Analyse verschiedener semantischer Gehalte und unterschiedlicher Performanzen in diskursiven Praktiken. Operate-Test-Exit) erklärt (cf. BSD: 176 f.). Aber dies ist für eine linguistische Theorie diskursiver Praktiken kein relevantes Faktum. 160 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Diskursive Intentionalität, so kann man zunächst Brandoms Begriff zusammenfassen, ist also Handlungsfähigkeit in diskursiven Praktiken. Sie umfasst die Fähigkeit, über propositionale Gehalte (im Sinne einer inferenziellen Gliederung) zu verfügen und diese in (sprachliche) Handlungen zu involvieren (Handlungsgründe, -folgen, -dispositionen). Diese kann außerdem auf spezifisches Verhalten angewandt werden, sodass dieses dann (im Sinne einer inferenziellen Gliederung) als intentional gelten kann. 8.2 Intentional Stance und intentionale Systeme* Neben der Darstellung der diskursiven Intentionalität, ihrer Binnendifferenzierung sowie ihrer unterschiedlichen sozial-normativen, inferenziellen und referenziellen Aspekte, muss erklärt werden, inwiefern diskursive Intentionalität in diskursiven Praktiken Relevanz erlangt und wie sie mit den sozial-normativen Aspekten diskursiver Praktiken verbunden ist. Da Intentionalität hier keine mentale, nichtbzw. vorsprachliche bzw. -diskursive Eigenschaft ist, sondern als diskursives Emergenzphänomen zu verstehen ist, soll hier skizziert werden, wie diskursive Intentionalität entsteht. Dazu wird zunächst Daniel C. Dennetts Konzept des Intentional Stance bzw. der intentionalen Systeme* (cf. insbesondere 1981, 1989) vorgestellt und dann mithilfe von Brandoms Interpretation des Modells für eine linguistische Pragmatik fruchtbar gemacht. 5 Mithilfe der Konstitutionsprozesse der Zuschreibung und Attribuierung 6 , die ich in Kapitel 13 noch vertiefen werde, soll Intentionalität dann als diskursives Emergenzphänomen erklärt werden: Sie ist nicht in Praktiken enthalten, sondern konstituiert, reproduziert und perpetuiert sich während diskursiver Praktiken. Daniel C. Dennett (1981: 3 f.) unterscheidet zwischen drei verschiedenen Einstellungen, die man gegenüber organisierten Entitäten bzw. Systemen* der Welt und deren Verhalten einnehmen kann: funktionale, physikalische und intentionale Einstellungen. Den Unterschied dieser Einstellungen erklärt er am Beispiel eines Schachspiels gegen einen Computer, in welchem die verschiedenen Einstellungen gebraucht werden können, um diesen zu besiegen. Die funktionale Einstellung nähmen Spieler ein, wenn sie die Funktionen des Schachcomputers kennen, also wissen, wie sich die Spielzüge errechnen ließen. Unter der Annahme, dass der Computer seine Aufgabe gemäß Rechenprotokoll erfülle, würden sich 5 Daniel C. Dennett (cf. 2010: 48) selbst hat Brandoms Interpretation zur Kenntnis genommen und stimmt dessen Verständnis von intentionalen Systemen* weitestgehend zu. Die Differenzen, die sich zwischen Dennett und Brandom entfalten, liegen insbesondere in deren unterschiedlichem Verständnis von diskursiver und phänomenaler Intentionalität, was die Integration von intentionalen Systemen* in eine sprach- und handlungstheoretisch fundierte kognitive Pragmatik aber nicht betrifft. 6 Gleich vorweg: Der Attribuierungsbegriff, der hier vertreten wird, orientiert sich nur marginal an der Attributionstheorie, wie sie zunächst in der Sozialpsychologie (cf. z. B. Heider 1977, Kelley 1967, Malle 2006) und dann aber auch an der Schnittstelle von Sprache und sozialer Kognition (cf. z. B. Fiedler/ Freytag 2009) vertreten wird. Attributionstheorien gehen häufig von unabhängigen Verhaltensweisen aus und erklären diese im Rahmen eines kausalen Kognitionsmodells, wie z. B. die Beiträge in Causal Cognition (Sperber/ Premach/ Premack 2000) zeigen. Das hier verfolgte Modell, welches sich sowohl Daniel C. Dennetts als auch Robert B. Brandoms Verständnis der Zuschreibung und Attribuierung bedient, deren Modelle aber weiterzuentwickeln versucht, wendet sich unmittelbar gegen die kategoriale Differenz von Verhalten und Deskription sowie die Annahme der Kausalität. Vielmehr sollen die sozial-normativen Prozesse einerseits sowie Verknüpfungen von Zeichenkonstitution und Verhaltensrelation andererseits fokussiert werden. 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 161 Aussagen über dessen Folgezüge formulieren und diese voraussagen lassen. Eine solche Einstellung sei insbesondere für mechanische Systeme* zweckmäßig, da sich so effektiv die verschiedenen Funktionsweisen erkennen ließen. Sobald die Funktionen des Systems* allerdings versagen würden, dem Rechenprotokoll nicht mehr gefolgt würde und die Folgezüge sich nicht mehr funktional erklären ließen, scheitere die funktionale Einstellung. Um nun die Folgezüge voraussagen zu können, könne eine physikalische Einstellung eingenommen werden. Die physikalische Einstellung nähmen Spieler ein, wenn sie anhand des Wissens der physikalischen Verfasstheit des Schachcomputers dessen Züge voraussagen würden. Die physikalische Einstellung sei insofern fehlerresistenter, als dass sie trotz Fehlfunktionen das Verhalten des Computers voraussagen könne, da die Funktionen des Computers auf seiner physikalischen Verfasstheit beruhen würden. Allerdings erfordere die physikalische Einstellung die Kenntnis einer Vielzahl an naturwissenschaftlichen Gesetzen sowie den Überblick über die physikalischen Gegebenheiten, was zwar effektiv, aber kaum effizient (und für menschliche Kognition kaum zu leisten) sei. Funktionale und physikalische Einstellungen seien bei einfachen funktionalen bzw. physikalischen Systemen* noch zielführend, doch bei komplexen Systemen* würden diese Einstellungen an ihrer Anwendbarkeit scheitern. Intentionale Einstellungen könnten im Falle von komplexen Systemen* Abhilfe leisten und Spieler nehmen diese ein, wenn sie das System* als vernünftig begreifen. Die beste Möglichkeit für jemanden, die Spielzüge des Schachcomputers vorauszusagen (und zu gewinnen) “ is to predict its responses by figuring out as best he can what the best or most rational move would be, given the rules and goals of chess ” , so Dennett (1981: 5). Diese allgemeine Rationalitätsannahme, die durch die intentionale Einstellung vertreten würde, ermögliche einen effektiven wie effizienten Umgang mit dem System*, wobei die spezifischen Aussagen über das Verhalten durch die Regeln und Ziele des Spielsystems* definiert seien. Brandom interpretiert nun das Konzept der intentionalen Einstellung, integriert es in seine Sprach- und Handlungsphilosophie und versucht damit, den diskursiven Emergenzeffekt der diskursiven Intentionalität zu erklären. Er untersucht dabei sowohl das Verhältnis von diskursiver Intentionalität und Rationalität als auch deren normative, diskursive und sprachliche Aspekte. Während Dennett unter der intentionalen Einstellung eine Rationalitäts- und Kohärenzannahme versteht, erklärt Brandom zunächst, dass diskursive Intentionalität in der Erklärungsreihenfolge vor Rationalität und kognitiver Kohärenz rangiert: Dennett [verbindet] seine Anerkennung der konstitutiven Rolle der Rationalität bei intentionalen Erklärungen mit der Behauptung, eine solche Erklärung enthalte eine substantielle ‘ Rationalitätsannahme ’ , nämlich daß das System im großen und ganzen tatsächlich so handeln werde, wie es rationalerweise handeln sollte. Solche Erklärungen kann man durchaus als intentionale Erklärungen betrachten, aber es ist wichtig, normative intentionale Erklärungen und kausale intentionale Erklärungen auseinanderzuhalten. Erstere erklären nur, was das Subjekt der intentionalen Zustände kraft derselben (rationalerweise) tun sollte oder zu tun verpflichtet ist oder festgelegt ist. Letztere machen die substantielle Rationalitätsannahme und erklären danach auch noch, was tatsächlich geschieht. Normative intentionale Erklärungen sind grundlegender; die kausalen setzen diese voraus und bauen auf ihnen auf. (EV: 52 f.) 162 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Wenn Brandom hier von verschiedenen intentionalen, kausalen, rationalen und normativen Erklärungen spricht, dann nimmt er das vorweg, was er später als Zuschreibungen bzw. Attribuierungen einführt. Kurz: Zuschreibung und Attribuierung von diskursiver Intentionalität und die aus der diskursiven Intentionalität folgende Rationalität, kognitive Kohärenz sowie auch die ggf. involvierten Handlungen bzw. Handlungsrelationen sollten voneinander unterschieden werden. Anstatt etwas als rational zu behandeln, was dann auch intentionale Handlungen ermöglicht, initiieren Zuschreibungen und Attribuierungen von diskursiver Intentionalität erst rationale und kohärente Handlungs-, Sprach- und Kognitionsmuster. Also: Nur Wesen, denen diskursive Intentionalität zugeschrieben wurde, können demnach auch als rational verstanden werden. Neben der initiativen Kraft der diskursiven Intentionalität tritt außerdem eine Hierarchie von normativen Erklärungsstrategien von Verhalten zutage. Intentionale Erklärungen sind normativ aus der Perspektive des explanans. Das zu beschreibende Verhalten (explanandum) hingegen kann entweder mithilfe von normativen oder kausalen intentionalen Erklärungen erfasst werden. Nicht jedes Verhalten eines intentionalen Systems* kann auch mithilfe diskursiver Normen erklärt werden. Während ein spezifisches Verhalten eines intentionalen Systems* z. B. auch mechanistisch erklärt werden kann, kann anderes Verhalten hinsichtlich diskursiver Normen sensibel sein. Brandom (EV: 198) unterscheidet daher zwischen deskriptiven und präskriptiven Konklusionen zur Beschreibung eines intentionalen Systems*. Während beide Beschreibungen sowie deren inferenzielle Gliederungen auf sozialer und diskursiver Normativität beruhen, konstituieren nur die präskriptiven Konklusionen das Explanandum selbst als diskursiv sensibel, was diskursive Folgen für die Kohärenz- und Rationalitätsannahme vom System* haben kann. Die intentionale Einstellung, die jemand gegenüber einem Wesen, einem Verhalten oder Ereignis einnimmt, kann demnach nur auf Basis von normativen Handlungsdispositionen, -gründen und -folgen bzw. spezifischen inferenziell gegliederten propositionalen Gehalten eingenommen werden. Hier greift Brandom implizit seinen Begriff der expressiven Intentionalität wieder auf. Deskriptive Konklusionen von intentionalen Erklärungen sind demnach auch nicht genuin kausal, sondern basieren selbst auf normativen Einstellungen, nämlich, dass sich das System* entsprechend der Vorstellung der kausalen Wirksamkeiten verhalten wird bzw. soll. Die normative Einstellung der Kausalität wird hier auf das Verhalten bzw. System* projiziert. Die Differenzierung von diskursiver Intentionalität und Rationalitätsbzw. Kohärenzannahmen einerseits und der Hierarchisierung von genuiner Normativität und Projektionen von diskursiver Normativität bzw. Kausalität andererseits ermöglicht die Spezifikation der Differenz: Diskursive Intentionalität (normative intentionale Konstitution): allgemeine Intentionalitätszuschreibung bzw. -attribuierung → Expressive Intentionalität (kausale bzw. normative intentionale Erklärung von Verhalten): Handlungsdispositionen, -folgen und -gründe eines spezifischen Verhaltens inklusive Kohärenzbzw. Rationalitätsannahme und ihre retro- und prospektiven inferenziellen Relationen 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 163 Die Erklärung und Anreicherung des Verhältnisses von diskursiver und expressiver Intentionalität zur Erklärung von Verhalten, so wird sich in Kapitel 13 zeigen, lässt sich auch anhand linguistischer Strukturen und Prozesse nachzeichnen: Intentionalitätszuschreibungen bzw. -attribuierungen, welche ein Verhalten als intentional und damit sensibel hinsichtlich spezifischer diskursiver Normen konstituieren, basieren auf der Signifikanz subsentenzialer sprachlicher Zeichen. Der entsprechende Effekt der expressiven Intentionalität, welcher spezifisches Verhalten sowie dessen sprachlichen, kognitiven und performativen Relationen (mithilfe der Rationalitätsbzw. Kohärenzannahme) erklärt, bezieht sich vielmehr auf die inferenzielle Makrostruktur sprachlicher Zeichen. Diese Makrostruktur kann dann als Handlungsfolgen-, -gründe und -dispositionen modelliert werden. Präferiert werden hier also nicht subsentenziale Zeichen, sondern textuelle Relationen und Prozesse. Neben der Differenz von Intentionalität und Rationalität respektive diskursiver und expressiver Intentionalität sowie den unterschiedlichen Verhaltenserklärungen analysiert Brandom außerdem das Verhältnis von intentionalen Systemen* zueinander. Die Erkenntnis, dass Einstellungen gegenüber Systemen* - egal, ob funktional, physikalisch oder intentional - selbst normativ sind, zeigt, dass Theoretiker das Verhältnis von zuweisender und zugewiesener Instanz erklären müssen. Laut Brandom entsteht zwischen diesen beiden Instanzen ein asymmetrisches Verhältnis: Zwischen einfachen intentionalen Systemen, die lediglich intentional interpretierbar sind, und interpretierenden intentionalen Systemen zu unterscheiden, als zwischen Systemen, gegenüber denen die intentionale Einstellung eingenommen werden kann, und Systemen, die diese Einstellung anderen gegenüber einnehmen können, heißt, zwischen instituierender und instituierter Intentionalität zu unterscheiden. Die einfache Intentionalität, die hiernach im Auge des Betrachters liegt, ist aus diesem Grund abhängig und in einem wichtigen Sinn abgeleitet von der Intentionalität, die den Interpreten zukommt. [ … ] Sie machen, daß ein Ereignis etwas bedeutet, indem sie unterstellen, daß es etwas bedeutet, indem sie es so verstehen. (EV: 112 f., Hervorh. im Original) Diskursive Intentionalität von interpretierenden intentionalen Systemen* (IIS) und einfachen intentionalen Systemen* (EIS) scheinen also auf den ersten Blick unterschiedliche Qualitäten zu besitzen, spricht Brandom doch davon, dass die diskursive Intentionalität der EIS von der Perspektive der IIS abgeleitet sei. Interpretationen, Zuschreibungen und Attribuierungen von diskursiver Intentionalität der EIS wären somit nur Derivate und IIS würden über ursprüngliche diskursive Intentionalität verfügen. Allerdings ist die Darstellung von IIS und EIS selbst durch drei wesentliche Eigenschaften von Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen und diskursiver Intentionalität strukturiert, die keine entsprechende starke Unterscheidung von IIS und EIS erlauben: 1. das Verhältnis von Zuschreibung/ Attribuierung und den verschiedenen Systemen*, 2. die sprachliche und 3. die soziale Dimension der diskursiven Intentionalität. 1. Die Unterscheidung zwischen IIS und EIS kann nur aus der Perspektive des jeweiligen IIS getroffen werden. Der Schluss, dass damit ein Unterschied zwischen ursprünglicher und abgeleiteter Intentionalität besteht, wird aber aus der Dritte-Person-Perspektive getätigt. Sinnvoller sei es, die Teilnehmerperspektive einzunehmen, denn dass “ etwas von jemandem als intentionales System betrachtet oder behandelt wird, rangiert in der Reihenfolge der 164 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Erklärung vor der Tatsache, daß es ein intentionales System ist ” (EV: 109). Damit sind Zuschreibungs- und Attribuierungsprozesse dasjenige, wodurch IIS und EIS erst als intentionale Systeme* behandelt werden. Ursprung und Derivat diskursiver Intentionalität sind somit keine ontologischen Annahmen, sondern eine Frage der Perspektive. 2. Zuschreibungs- und Attribuierungsprozesse sind laut Brandom außerdem an sprachliche Zeichen gebunden und müssen daher auch einer zeichentheoretisch basierten Analyse standhalten. Nicht nur erklärt Brandom, dass diskursive Intentionalität auch eine Eigenschaft von Ausdrücken sei (cf. EV: 115), sondern er betont, dass “ [u]rsprüngliche, unabhängige bzw. nicht abgeleitete Intentionalität eine rein sprachliche Angelegenheit [ist] ” (EV: 221). Intentionalität sollte sich daher unter linguistischen und semiotischen Gesichtspunkten analysieren lassen. Die Abhängigkeit von diskursiver Intentionalität und sprachlichen Zeichen reiht sich ausnahmslos in die Annahme des Primats von Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen (vor einer intentionalen und ontologischen Existenz) ein und ergibt mit der Perspektivität von Zuschreibungs- und Attribuierungspraktiken folgende Annahme: IIS sind kraft Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen von sprachlichen Zeichen konstituiert worden, während EIS kraft Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen als intentionale Systeme* konstituiert werden. Es besteht also ein asymmetrisches Verhältnis zwischen IIS und EIS, insofern, dass IIS während der Prozesse eine Konstitutionsautorität eingeräumt werden muss (cf. Kapitel 15). Im Sinne der auf sprachlichen Zeichen basierenden Praktiken können IIS EIS dann als intentional konstituieren. 3. Durch die sprachliche Dimension von Zuschreibungs- und Attribuierungsprozessen mögen diese zwar individuelle Tätigkeiten sein, sind aber (und das ist das Relevante) an die soziale und diskursive Gemeinschaft gebunden. Sprachliche Zeichen, Interpretations-, Zuschreibungs- und Attribuierungsprozesse müssen sich in der diskursiven Praxis als verlässlich erweisen, sodass sich diskursive Wesen “ gegenseitig in der Praxis als solche betrachten oder behandeln, die intentional gehaltvolle Festlegungen und andere normative Status eingehen ” (EV: 114). Aus der Theorie intentionaler Systeme* leitet Brandom also eine Theorie der Zuschreibungs- und Attribuierungsprozesse von diskursiver Intentionalität kraft sprachlicher Zeichen ab, die aus den sozial-kommunikativen und normativen Aspekten sprachlicher Prozesse erwächst (cf. Abb. 2). 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 165 Abb. 2: Relationen von IIS, EIS und IZ Die Funktion intentionaler Zeichen (IZ), also jener sprachlichen Zeichen, die die Zuschreibung bzw. Attribution von diskursiver Intentionalität ermöglichen, besteht sowohl in der konstitutiven Kraft für IIS, als auch in der Möglichkeit, dass EIS konstituiert werden, indem sie Interpretations-, Zuschreibungs- und Attribuierungsprozesse ermöglichen. Die systemtheoretischen* Darstellungen der intentionalen Systeme* Brandoms lassen sich damit als grundlegende sozial-kommunikative Verhältnisse in diskursiven Praktiken verstehen. Zusammenfassend dient die Etablierung des Intentional Stance, der intentionalen Einstellung bzw. intentionaler Systeme* in die linguistische Pragmatik der Sensibilisierung für die konstitutive Kraft von sprachlichen Zeichen, nicht nur hinsichtlich Bedeutung, sondern hier insbesondere bezüglich Performanzen, Handlungsgründen und -folgen sowie sich gegenseitig interpretierende und erklärende diskursive Wesen (also IIS und EIS). Eine Analyse der sprachlichen Zeichen soll später aufdecken, dass diese über die entsprechenden pragmatischen und normativen Signifikanzen verfügen, um die Konstitution zu gewährleisten. Gleichzeitig dient die Zusammenfassung von Dennetts Theorie der intentionalen Einstellung sowie ihrer Interpretation durch Brandom auch zur Vorbereitung einer konkreten Analyse von diskursiven Praktiken, die über unmittelbare Zuschreibungen und Attribuierungen hinausgehen. 8.3 Diskursive Festlegungen und Intentionalität - Handeln mit Gründen und Handeln aus Gründen Neben dem Verhältnis intentionaler Systeme*, die mittels Zuschreibungen und Attribuierungen für die Emergenz diskursiver Intentionalität sorgen, gliedert Brandom auch handlungstheoretische Aspekte in seine Intentionalitätstheorie ein. Es geht darum, dass das Vokabular der diskursiven Praxis zugleich eine Differenzierung zwischen verschiedenen Formen von diskursiven Festlegungen ermöglicht, die diskursive Intentionalität betreffen: Überzeugungen, die hinter Handlungen stehen und Absichten, die zu einer Handlung berechtigen oder diese ausschließen, folgen demnach zwei unterschiedlichen Festlegungstypen, also normativen Einstellungen, die allerdings miteinander verbunden seien. 166 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Brandom geht davon aus, dass “ es zwei Spezies diskursiver Festlegungen gibt: die kognitiven (oder doxastischen) Festlegungen und die praktischen Festlegungen. Letztere sind Festlegungen auf ein Handeln. Anerkennungen der ersten Sorte von Festlegungen entsprechen Überzeugungen; wohingegen Anerkennungen der zweiten Sorte von Festlegungen den Absichten entsprechen. Die ersteren sind Für-wahr-halter, die zweiten Wahrmacher. ” (BB: 110, Hervorh. im Original) Die Differenz von kognitiven und praktischen Festlegungen ist notwendig, um nicht nur das Verhältnis von sprachlichen Zeichen, kognitiven Strukturen und Prozessen, sondern auch von diskursiven Festlegungen und Handlungen bzw. Handlungsmustern zu erklären: (1) Die Sonne scheint. (2) Ich werde nachher das Geschirr abspülen. Durch Behauptungen wie (1) legen sich Interlokutoren auf eine entsprechende Überzeugung fest, die als propositionaler Gehalt formuliert werden kann: F (x) = [dass die Sonne scheint] bzw. scheinen Sonne . Daraus folgen im Sinne der deontischen Kontoführung (cf. Kapitel 14.1) entsprechende inferenzielle Relationen, die sich z. B. als [dass es nicht regnet], [dass die Sonne existiert] und ggf. [dass wir an den Strand gehen sollten] notieren lassen. Die Zeichenhandlung ermöglicht also eine kognitive Festlegung, die sich als Überzeugung erfassen lässt. (2) hingegen weist eine andere Signifikanz auf. Hier steht nicht der propositionale Gehalt der Äußerung im Mittelpunkt, sondern eine pragmatische Signifikanz, die auf eine sprachliche Handlung verweist. (2) lässt sich daher nicht allein als kognitive Festlegung erläutern. Interlokutoren gehen mit der Äußerung von (2) eine Handlungsverpflichtung ein, die sie zum Zeitpunkt t 1 einlösen sollten. Sie legen sich darauf fest, dass sie die entsprechende Handlung künftig tätigen, und gehen damit eine praktische Festlegung ein. In diesem Fall handelt es sich um eine Verpflichtung, die erst erfüllt ist, wenn die Handlung, auf die sich die Interlokutoren verpflichtet haben, vollendet ist. Entsprechende Folgeäußerungen, die (2) betreffen, können eine praktische Festlegung nicht einlösen. Die Unterscheidung von kognitiven und praktischen Festlegungen ermöglicht, zwischen der Äußerungsbedeutung und Handlungsabsichten zu unterscheiden, ohne dass auf mentale Strukturen rekurriert werden muss. Gleichzeitig wird auch hier noch auf Erfüllungsbedingungen von Festlegungen verzichtet. Es handelt sich sowohl bei kognitiven als auch bei praktischen Festlegungen zunächst um Dispositionen, die zwar entsprechende Erfüllungsbedingungen implizit markieren, aber noch nicht an ihre Erfüllung gebunden sind. Deshalb können kognitive und praktische Festlegungen nicht in das sprechakttheoretische Vokabular überführt werden, denn auch kognitive Festlegungen sind nicht allein Aufgabe von Sprechern, sondern soziale Angelegenheiten. Es geht darum, dass Interlokutoren sich wechselseitig als auf einen propositionalen Gehalt festgelegt behandeln, dass diese die Proposition für wahr halten, was aber nicht notwendigerweise deren Wahrheit (im Sinne eines repräsentationalen Verhältnisses) impliziert. Auch praktische Festlegungen gehen über die Funktion z. B. kommissiver Sprechakte hinaus, denn auch hier müssen Interlokutoren Sprecher als festlegt behandeln, damit diese die sprachliche Handlung vollziehen bzw. praktisch festgelegt sein können. Deshalb kann für die diskursiven Festlegungen auch nicht die Unterscheidung von Wort-auf-Weltbzw. Welt-auf-Wort-Ausrichtungen (cf. Searle 1982: 31 f.) übernommen werden. Auch kognitive 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 167 Festlegungen sollten im Sinne Brandoms selbst nicht vorrangig als an ihre Wahrheitsbedingungen in der Referenz gebunden verstanden werden - wobei auch diese dazu führen können, dass entsprechende Festlegungen nicht akzeptiert werden - , sondern hängen von inferenziellen Relationen der diskursiven Praxis ab, die sowohl ihre semantischen Gehalte als auch pragmatischen und normativen Signifikanzen konstituieren. Praktische Festlegungen stehen zwar in einer Verweisrelation zur entsprechenden korrespondierenden Handlung, doch gelingen sie auch, wenn die entsprechende Handlung der Handlungsverpflichtung nicht ausgeführt wird: Ein Versprechen ist auch ein Versprechen, wenn es nicht eingelöst wird, aber eben ein zu sanktionierendes. Sowohl kognitive als auch praktische Festlegungen entstehen nur unter der Akzeptanz der Bedingung der diskursiven Intentionalität, denn wer nicht als diskursives Wesen anerkannt wird, dessen Äußerungen können nicht als sprachliche Handlung konstituiert werden. Allerdings ergeben sich aus kognitiven und praktischen Festlegungen unterschiedliche diskursive Konsequenzen auf Basis von Signifikanz: Während kognitive Festlegungen insbesondere für propositionale Gehalte der deontischen Konten von Interlokutoren signifikant sind, sind praktische Festlegungen für die Deskription und das Gelingen von Handlungen ausschlaggebend. Deshalb ist es sinnvoll, sich an diesem Punkt der handlungstheoretischen Implikationen der Sprachphilosophie Brandoms zuzuwenden, die zeigen, dass Signifikanz von kognitiven und praktischen Festlegungen unterschiedliche Konsequenzen für die Deskription von diskursiven, sozialen und/ oder kommunikativen Handlungen haben. 7 Im Folgenden werden diese performativen Strukturen anhand der Begriffe Handlung aus Gründen und Handlung mit Gründen expliziert. Um sich das Verhältnis von sprachlichen Zeichen und Handlungen sowie diskursiver Intentionalität nochmal zu vergegenwärtigen, ist eine Verortung von Handlungen und damit auch pragmatischer Signifikanz im Rahmen von Brandoms Sprach- und Handlungsphilosophie sinnvoll. Konstantin Pollok (2012: 120) hat dies veranschaulicht, indem er inferenzielle Relationen und ihr Verhältnis zu entsprechenden Wahrnehmungsbzw. Handlungspraktiken aufzeigt: Abb. 3: Wahrnehmungs- und Handlungspraktiken im Inferenzialismus nach Pollok (2012: 120) 7 Brandom unterscheidet deshalb “ zwei komplementäre ‘ Ausrichtungen ’” (MNI: 387), die durch Überzeugungen bzw. Absichten, kognitive bzw. praktische Festlegungen und deklarative bzw. imperative Äußerungen repräsentiert sind. Bei beiden handelt es sich um intentionale Gehalte, die sich aus der Normativität diskursiver Intentionalität speisen. 168 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Die Darstellung der Wahrnehmungs- und Handlungspraktiken sollte aus Perspektive der inferenziell gegliederten diskursiven Praxis betrachtet werden. Insofern dienen die Pfeile in Polloks Darstellung der Perspektive, die für das Verständnis eingenommen werden sollte. Die peripheren Fluchtpunkte der horizontalen Achse bilden Wahrnehmungen oder Handlungen im Rahmen diskursiver Praxis. Diese sind zwar nicht genuin diskursiv bzw. sprachlich, aber doch diskursiv bzw. sprachlich strukturiert, hängen sie doch von den inferenziellen Gliederungen der Praxis ab. Bemerkenswert ist also insbesondere die Differenz zwischen der inferenziellen Gliederung einerseits und Wahrnehmungen oder Handlungen andererseits. Diskursive Eingangsbzw. Ausgangsschwellen ermöglichen, dass entweder Wahrnehmungsgehalte inferenziell eingegliedert, versprachlicht bzw. kognitiv relevant werden oder dass Äußerungen und anderes Verhalten pragmatische und normative Signifikanz erlangen und als Handlungen verstanden werden. Was Konstantin Pollok hier diskursive Eingangs- und Ausgangsschwellen nennt, basiert letztlich auf dem theoretischen Vokabular Wilfrid Sellars. Sellars (cf. 1953, 1954, 1969) unterscheidet in seinem theoretischen Vokabular zwischen language entrance transitions, language exit transitions und intra-linguistic transitions, um die verschiedenen dynamischen Relationen zwischen sprachlichen Zeichen, Wahrnehmungs- und Handlungsgehalten zu erläutern: Intra-linguistic transitions umfassen das, was Brandom inferenzielle Relationen nennt, also all jene Relationen, die unmittelbar auf diskursive Normen zurückzuführen sind. Language entrance transitions und language exit transitions hingegen stehen in unterschiedlicher Weise in Relation zum diskursiven Kontinuum. Language entrance transitions betreffen das Verhältnis von Wahrnehmungen, ihrer Versprachlichung und diskursiven Einbettung. Language exit transitions stellen die Sprachausgänge dar und erfassen insbesondere den Zusammenhang von sprachlichen Handlungen, aber auch von anderen Performanzen, die von der inferenziell gegliederten diskursiven Praxis (semantisch und pragmatisch) beeinflusst werden. Jener Grenzbereich, welcher von den language exit transitions erfasst wird, stellt also auch die pragmatische und normative Signifikanz von Sprachhandlungen und anderen Performanzen her. Language exit transitions, die sich auch Brandom in seinen handlungstheoretischen Modellierungen zu eigen macht, sollen im Folgenden hinsichtlich ihres Anteils am Konzept der diskursiven Intentionalität untersucht werden. Um pragmatische Signifikanz von sprachlichen Zeichen nachvollziehen zu können, soll ein Einblick in die Handlungstheorie Brandoms gegeben werden. 8 Anstatt Verhalten im Allgemeinen zu beschreiben, soll hier das Verhältnis von diskursiven Praktiken, sprachlichen Zeichen und Handlungen fokussiert werden, denn im Zentrum steht weiterhin die Frage nach den Strukturen und Prozessen der diskursiven Intentionalität. Handlungen, so entwickelt es Brandom, unterscheiden sich von anderen Formen des Verhaltens durch die Involviertheit diskursiver Intentionalität. Nur wer sich auf diskursive Intentionalität festlege bzw. als auf diese festgelegt behandelt werde, dem könnten auch spezifische Handlungen zugeschrieben werden. Handlungen selbst sind bei Brandom nicht- 8 Unterschiedliche Handlungstheorien sowie kausalistische und teleologische Handlungserklärungen sind ausführlich dokumentiert worden (cf. z. B. Meggle 1985, Beckermann 1985, Horn/ Löhrer 2010), sodass diese verschiedenen Traditionen hier nicht wiederholt werden sollen. 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 169 inferenziell gegliedert, d. h. sie sind zwar an die inferenzielle Gliederung der diskursiven Praxis gebunden, aber bilden selbst keine genuin inferenzielle Relation. Erst ihre Einbettung in diskursive Praxis und damit in inferenzielle Relationen lässt sie dann als inferenziell gegliedert erscheinen. Anstatt nun Handlung allein über kognitive Strukturen zu analysieren, transformiert Brandom John Searles Unterscheidung von Handlungsabsichten und vorausgehenden Absichten (cf. Searle 1987: 108 f.), indem er sie mithilfe von kognitiven und praktischen Festlegungen beschreibt und sie damit als mit diskursiven Strukturen verknüpft etabliert: Man kann mit einem Grund, aber ohne Absicht handeln (etwa wenn einem Festlegungen nicht gegenwärtig sind, die in den Augen eines Zuweisenden den Grund liefern könnten). Doch aus einem Grunde kann man nur intentional handeln - während man intentional, aber ohne einen Grund handeln kann. Nur rationale Wesen können Handelnde sein, aber es gibt so etwas wie irrationale Handlungen, etwa wenn jemand intentional, aber impulsiv und nicht entlang dessen, wofür man Grund hat, handelt. Aus deontischer Sicht sind solche irrationalen Handlungen insofern intentional, als sie Anerkennungen praktischer Festlegungen sind (oder aus der Ausübung verläßlicher nichtinferentieller Dispositionen, unterscheidend zu reagieren, hervorgehen), und irrational sind sie insofern, als die praktische Festlegung keine ist, zu der der Handelnde berechtigt ist durch die ordnungsgemäße praktische Inferenz aus Prämissen, auf die er festgelegt und zu denen er berechtigt ist - sei es, weil er keinen Grund hat oder weil er einen stärkeren Grund hat, etwas zu tun, was mit dem, was er tatsächlich tut, inkompatibel ist. Da diese Berechtigung einen Grund für den Vollzug einer Handlung voraussetzt, werden praktische Festlegungen und somit Handlungen (intentionale Akte) nur denjenigen zuerkannt, die sich im Raum des Gebens und Verlangens von Gründen bewegen - das sind diejenigen, die rational sind (oder als solche behandelt werden). (EV: 358 f., Hervorh. im Original) Brandoms Handlungsbeschreibung mithilfe der Begriffe der Handlungen mit bzw. aus Gründen, die eben jenen Phänomenbereich erfasst, den Searles Konzepte der vorausgehenden Absichten und Handlungsabsichten zu analysieren suchen, muss also als in diskursive Praktiken integriert verstanden werden. Kognitive und praktische Festlegungen sind zunächst diskursiver Natur und basieren damit nicht auf Absichten im engeren Sinne. Insofern wäre auch eine Gleichsetzung der Termini Brandoms und Searles irreführend. Brandoms Darstellung von Handlungen erlaubt vielmehr die Hinwendung zu Begründungsbzw. Festlegungs- und Berechtigungsstrukturen diskursiver Praktiken, sodass sich mithilfe der inferenziellen Relationen auch Handlungen und ihre Gründe, Folgen und Dispositionen als inferenziell strukturiert analysieren lassen. Kognitive Festlegungen sind damit keine mentalen Voraussetzungen für Handlungen mehr, sondern definieren sich über ihre Handlungsinvolviertheit und diskursive Begründungsstruktur, die sich mithilfe sprachlicher Zeichen rekonstruieren lassen. Sie stehen in Begründungszusammenhängen, welche das Zustandekommen aktueller und vorgängiger Absichten, Wünsche und Überzeugungen und anderer kognitiver Festlegungen nicht nur erläutern, sondern letztlich auch als diskursiv konstituiert definieren. Intentionales Handeln nicht nur über Handlungen aus Gründen, sondern auch mit Gründen zu erklären, ist zwar nicht einzigartig (cf. z. B. auch Jacob 1997: 261), aber bringt Brandoms Perspektive doch neue Facetten in die Analyse von Handlungsmustern, ihrer diskursiven bzw. pragmatischen Signifikanz sowie der Strukturierung und Deskription von diskursiven Wesen. Bevor jedoch die Unterscheidung von kognitiven (doxastisch-infe- 170 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben renziellen) und praktischen Festlegungen und Berechtigungen auf die an den diskursiven Praktiken Beteiligten angewandt wird, sollen Differenz und Verhältnis von Handlungen mit Gründen und Handlungen aus Gründen vertieft und für die linguistische Pragmatik spezifiziert werden. Ich orientiere mich im Folgenden an der Interpretation und Darstellung Ulf Harendarskis (2012: 262), beziehe die Differenz von Handlungen mit Gründen und Handlungen aus Gründen dann aber auf diskursive Intentionalität im Spezifischen: ! " # ! $ % & ! ' ( ) # ! $ ! * +! , - . # / # . # / % # 0 . # / % ( ) # ! 1 # 2 / / Abb. 4: Handlungen mit Gründen und Handlungen aus Gründen nach Harendarski (2012: 262) Harendarskis Modell der Handlungselemente und ihrer Relationen (Abb. 4) stellt dar, wie sich Verhalten im Rahmen diskursiver Praktiken mithilfe des theoretischen Vokabulars Brandoms als pragmatisch signifikant erfassen lässt. Verhalten ist hier also nicht an sich eine diskursive Handlung, sondern konstituiert sich über Zuschreibungen von propositionalen Einstellungen und Gehalten, die sich in der diskursiven Praxis mithilfe von kognitiven Festlegungen, Berechtigungen und Dispositionen analysieren lassen. Handlungen aus Gründen basieren dabei auf Absichten, die die Handlung begründen. Kognitive Festlegungen sind hier also die wesentlichen Gründe für Handlungen. Allerdings seien kognitive Festlegungen nicht hinreichend für Handlungen aus Gründen, denn Handlungen aus Gründen würden sich auf Zustandsveränderungen richten, die sich kraft einer weiteren kognitiven Festlegung beschreiben ließen (als Wille bzw. Wunsch). Der Wille bzw. Wunsch der Handlung aus Gründen besteht laut Harendarski darin, dass ein Zustand q auf der Basis von p hergestellt werden solle. Die Relation von p, des Willens bzw. Wunsches, und q, dem angestrebten Zustand, sei inferenziell gegliedert und definiere sich diskurspraktisch über 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 171 diskursive Normativität, welche die Praktiken leite. Da q aber zum Zeitpunkt von p noch nicht hergestellt ist, legen sich Interlokutoren mit der Absicht p nicht auf q fest, sind aber zu q berechtigt (cf. auch EV: 372). Diese Berechtigung zu q sei neben der Festlegung auf p notwendig für Handeln aus Gründen: Wer sich z. B. auf ein Versprechen festlegt, also z. B. verspricht, zu einer Geburtstagsfeier zu kommen (bzw. kommen will), ist gleichzeitig berechtigt, dieses Versprechen einzulösen: Wer zu t 1 verspricht, dass p (inklusive Absicht), der kann sich zu t 2 auf die implizierte Berechtigung von t 1 festlegen (hier: das Erscheinen bei der Geburtstagsfeier). Somit involviert p hier auch eine Berechtigung zu einer praktischen Festlegung. Handlungen mit Gründen hingegen basieren nicht notwendigerweise auf Absichten, sondern auf Überzeugungen (als kognitiven Festlegungen). Auch hier wird also eine Festlegung zugewiesen, die allerdings nicht unmittelbar handlungsleitend sei, diese Handlungen bzw. Handlungsmuster aber disponiere. Handlungen mit Gründen basieren damit auf vorausgehenden propositionalen Einstellungen und Gehalten (als diskursive Festlegungen): Wenn die Handlung zu t 1 stattfindet, dann basiert sie auf einer diskursiven Festlegung zu t 0 , d. h. dass die diskursive Festlegung Anlass zur Handlung ist bzw. sein kann, aber sie nicht unmittelbar bestimmt (z. B. über Begleitüberzeugungen). Diese Diskrepanz zwischen t 1 und t 0 führt dazu, dass auf eine Festlegung auf einen propositionalen Gehalt nicht notwendigerweise eine Berechtigung folgt, da die handlungsleitende Überzeugung zu t 0 nicht notwendigerweise zu einem propositionalen Gehalt zu t 1 berechtigt. Wenn dann eine Absicht zu t 1 weiterhin besteht bzw. sich die diskursive Festlegung auf eine Überzeugung zu einer Absicht transformiert, dann transformiert sich eine Handlung mit Gründen zu einer Handlung aus Gründen: In eine U-Bahn einsteigen oder spazieren gehen können so mithilfe des Konzepts Handlung mit Grund beschrieben werden. Beide Handlungen basieren auf vorausgehenden Absichten, Überzeugungen oder anderen propositionalen Gehalten und Einstellungen, die aber während der Handlung nicht unmittelbar präsent sind bzw. sein müssen und damit nicht unmittelbar die Handlung leiten: Wenn ich beschließe, dass ich zur Arbeit fahren möchte oder dass ich einen Spaziergang um den örtlichen See machen will, dann basieren die Handlungen auf propositionalen Einstellungen. Doch während ich auf dem Weg zur Arbeit in die U- Bahn einsteige oder spaziere, sind die diskursiven Festlegungen nicht präsent. Es gibt zwar eine diskursive Festlegung zu t 0 , woraus aber nicht folgt, dass dieser propositionale Gehalt (als Grund) notwendigerweise auch zu t 1 handlungsleitend ist. Handlungen mit Gründen und Handlungen aus Gründen unterscheiden sich also in ihrer Festlegungs- und Berechtigungsstruktur, was z. B. Konsequenzen hinsichtlich der Verantwortlichkeit für Handlungen hat. Nur Personen, die aus Gründen handeln, können zum Zeitpunkt der Handlung für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden, da eine unmittelbare diskursive Festlegung (in Form einer Absicht) und die notwendige Berechtigung zur Folgefestlegung bestehen. Personen, deren Verhalten als Handlung mit Gründen konstituiert werden, können nicht in dem gleichen Maß verantwortlich für ihre Handlungen gemacht werden wie Personen, deren Verhalten als Handlung aus Gründen interpretiert wird, da die notwendige implizierte Berechtigung zur diskursiven Festlegung (Absicht) fehlt. Um sie auf die gleiche Weise verantwortlich zu machen, müssten von Interlokutoren weitere Prämissen als 172 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben kognitive Festlegungen inferenziell hinzugefügt werden, sodass eine Handlung mit Gründen zu einer Handlung aus Gründen wird. Für diese Analyse gilt zunächst, dass sowohl Handlungen mit Gründen als auch Handlungen aus Gründen diskursive Intentionalität involvieren, 9 wobei das spezifische theoretische Inferenzvokabular und die pragmatischen Akte, die dies erklären, später ausgeführt werden sollen (cf. Kapitel 11 und 13). Denn nur wer über diskursive Intentionalität verfügt, der kann auch handeln bzw. als handelnde Person gelten. Es zeigt sich, dass der Begriff der diskursiven Intentionalität weiter zu fassen ist, als es traditionelle Handlungstheorien tun. Er involviert nicht nur signifikative Handlungsabsichten (als Ergebnisse diskursiver Festlegungen), sondern auch Handlungsberechtigungen, die in inferenziellen Relationen zu Festlegungen stehen. Dass sich Handlungen nicht allein über kognitive Festlegungen erfassen lassen, sondern auch praktische Festlegungen involvieren (können), soll anhand exemplarischer Inferenzprozesse dargestellt werden, um die Differenz von propositionalen Gehalten im Allgemeinen und ihrer Handlungsinvolviertheit zu beschreiben. Praktische Festlegungen umfassen bekanntlich jene diskursiven Sprachausgänge, die kognitive Festlegungen konkludieren können, aber selbst nicht genuin inferenziell gegliedert sind: Es sind Tätigkeiten, die kraft ihrer inferenziellen Einbettung als Folgen der diskursiven Praxis gelten. Sie können aber in der weiteren diskursiven Praxis auch als Prämissen fungieren (z. B. “ Weil du mich angelogen hast, glaube ich dir nicht mehr. ” ). Auf eine entsprechende kognitive Festlegung kann durch praktisches Begründen deshalb eine praktische Festlegung folgen: (3) Das Dach meines Hauses ist undicht und es regnet auf meinen Schreibtisch. (Kognitive Festlegung der Überzeugung) (4) Ich will, dass mein Schreibtisch trocken bleibt. (Kognitive Festlegung des Willens bzw. Wunsches) (5) Deshalb werde ich den Dachdecker rufen. (Berechtigung zur praktischen Festlegung der Absicht) 10 Aus den Prämissen (3) und (4), die als diskursive Festlegungen fungieren, folgt die Berechtigung zur praktischen Festlegung der Absicht (5). Während (3) propositionale Gehalte in Form von Überzeugungen involviert, die gemeinsam mit dem Willen bzw. Wunsch (4) zur Absicht (5) führen (können), können keine weiteren kognitiven Festlegungen zur Zustandsveränderung führen. Nur eine Performanz, die die praktische Festlegung einlöst, kann die kognitive Festlegung erfüllen. Die Hierarchie von praktischen und kognitiven Festlegungen ist hier offenkundig: ohne kognitive Festlegungen keine praktischen Festlegungen im Rahmen diskursiver Praktiken. Erst wenn Gründe für Performanzen diskursiv bestehen, können praktische Festlegungen und ihre Äquivalenzhandlungen überhaupt stattfinden. 9 Dass auch Handlungen mit Gründen diskursive Intentionalität involvieren, lässt sich z. B. anhand des gemeinsamen Spaziergangs demonstrieren. Denn auch wenn diese Tätigkeit z. B. in wöchentlichem Rhythmus stattfindet und daher nicht auf unmittelbaren Handlungsgründen basieren muss, ist diese Tätigkeit doch Ergebnis von gemeinsamen normativen Aushandlungsprozessen (cf. dazu Schweikard 2021). 10 Ein ähnliches Beispiel findet sich bei Brandom (RP: 140). 8 Diskursive Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive 173 Für eine Analyse diskursiver Intentionalität und entsprechender Praktiken ist dieser inferenzielle Sprachausgang deshalb interessant, weil er die Schnittstelle zwischen genuin diskursiven Strukturen und Tätigkeiten untersucht. Die Schnittstelle offenbart, warum auch nicht-sprachliche Tätigkeiten als diskursiv signifikant gelten können. Wichtig ist hierbei das Verhältnis von kognitiver und praktischer Festlegung, wobei die diskursivkognitive Festlegung den explanatorischen Vorrang hat. Die Darstellung von Brandoms Handlungstheorie, der Etablierung und Positionierung von Handlungen im Rahmen diskursiver Praktiken und der Einführung des Vokabulars von Handlung mit bzw. aus Gründen sowie kognitiver und praktischer Festlegung dient also der Spezifikation von diskursiver Intentionalität. Die verschiedenen Konzepte dienen hier zunächst als Skizze, werden aber dann wieder aufgegriffen, wenn es um die spezifische Analyse der Signifikanz von sprachlichen Zeichen geht (cf. Kapitel 12). Die Betrachtung der diskursiven Intentionalität aus inferenzialistischer Perspektive etabliert diese als einen sozial-normativen Effekt, der auf verschiedenen Festlegungs- und Berechtigungsstrukturen diskursiver Praktiken gründet. Sie unterscheidet sich nicht nur von einer Empfindungsfähigkeit [sentience] diskursiver Wesen, sondern wird zugleich begrifflich in expressive und repräsentationale Intentionalität untergliedert. Die Begriffe erfassen sowohl die inferenzielle Gliederung von Handlungsgründen, -folgen und -dispositionen als auch deren Bezug zu Objekten und Sachverhalten. Dass diskursive Intentionalität stets als ko-konstituiert verstanden werden muss, zeigt sich bei der Analyse intentionaler Systeme*. Anstatt von Intentionalität als inhärenter Eigenschaft auszugehen, rückt hier der Begriff der Zuschreibung in den Mittelpunkt, in welchem intentionale Zeichen einen zentralen Aspekt einnehmen. Die Unterscheidung von interpretierenden intentionalen Systemen* und einfachen intentionalen Systemen* bereitet gleichzeitig eine Analyse von Interlokutoren in diskursiven Praktiken vor. Die Etablierung einer Handlungstheorie im Rahmen der Analyse diskursiver Praktiken zeigt außerdem, dass diskursive Intentionalität nicht nur in verschiedene Performanzen involviert ist, sondern auch im Rahmen von Festlegungs- und Berechtigungsstrukturen diskursiver Praktiken analysiert werden kann. 174 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben