eJournals Kodikas/Code 45/1-4

Kodikas/Code
kod
0171-0834
2941-0835
Narr Verlag Tübingen
0303
2025
451-4

EMSIFs, EMSIIs, EMSIBs – Theoretisches Vokabular zur Analyse subsentenzialer inferenzieller Relationen

0303
2025
Joschka Briese
Intentionale Zeichen sind unterhalb der Ebene der propositionalen Gehalte angesiedelt. Ein theoretisches Vokabular, welches Inferenzen allein auf Ebene von Propositionen betrachtet, ist daher für die folgenden Analysen ungeeignet. Deshalb entwickelt dieses Kapitel ein theoretisches Vokabular unterhalb der Ebene der Propositionen, deren Funktionen als inferenzielle Relationen zur Gliederung diskursiver Praktiken beitragen. Begrifflich orientiert sich dieses Vokabular an Robert B. Brandoms Unterscheidung von Festlegungen, Berechtigungen und Inkompatibilitäten, erweitert dies aber um ihre Anwendbarkeit auf subsentenziale Gehalte und Relationen.
kod451-40192
K O D I K A S / C O D E Volume 45 (2022) · No. 1 - 4 Gunter Narr Verlag Tübingen 11 EMSIFs, EMSIIs, EMSIBs - Theoretisches Vokabular zur Analyse subsentenzialer inferenzieller Relationen Abstract: Intentional signs are located below the level of propositional content. A theoretical vocabulary that considers inferences solely at the level of propositions is therefore unsuitable for the following analyses. Therefore, this chapter develops a theoretical vocabulary below the level of propositions, whose functions as inferential relations contribute to the structuring of discursive practices. Conceptually, this vocabulary is based on Robert B. Brandom's distinction between commitments, entitlements and incompatibilities, but extends this to their applicability to subsentential contents and relations. Zusammenfassung: Intentionale Zeichen sind unterhalb der Ebene der propositionalen Gehalte angesiedelt. Ein theoretisches Vokabular, welches Inferenzen allein auf Ebene von Propositionen betrachtet, ist daher für die folgenden Analysen ungeeignet. Deshalb entwickelt dieses Kapitel ein theoretisches Vokabular unterhalb der Ebene der Propositionen, deren Funktionen als inferenzielle Relationen zur Gliederung diskursiver Praktiken beitragen. Begrifflich orientiert sich dieses Vokabular an Robert B. Brandoms Unterscheidung von Festlegungen, Berechtigungen und Inkompatibilitäten, erweitert dies aber um ihre Anwendbarkeit auf subsentenziale Gehalte und Relationen. Keywords: inferences, Robert B. Brandom Schlüsselbegriffe: Inferenzen, Robert B. Brandom Die bisherigen theoretischen Erklärungen zur diskursiven Intentionalität beschränken sich auf die Funktionen im Rahmen diskursiver Praktiken und semiotischer Prozesse im Verhältnis Handlung und Verhalten respektive Kooperativität und signifikativer Suffizienz. Allerdings habe ich bisher noch kein theoretisches Vokabular vorgeschlagen, um diskursive Intentionalität in der inferenziellen Struktur zu analysieren. Zwar ist in Anlehnung an Peirces semiotischen Pragmatismus schon einiges über Signifikanzen und ikonische Relationen von prädikativen Strukturen gesagt und auch Brandoms Vokabular der kognitiven und praktischen Festlegung herangezogen worden, um die Analysierbarkeit diskursiver Intentionalität im Rahmen semiotischer und inferenzieller Prozesse zu verorten. Aber insbesondere Brandoms theoretisches Vokabular, welches sich im Rahmen der Festlegungs- und Berechtigungsstruktur diskursiver Praktiken bewegt (Festlegungen, Berechtigungen und Inkompatibilitäten), ermöglicht bisher nur holzschnittartige Analysen, da sie die hier favorisierten sprachlichen Zeichen nur bedingt erfasst: Während Brandoms theoretisches Vokabular der Festlegungs- und Berechtigungsstruktur die propositionale Struktur kommunikativer Prozesse analysierbar macht, sind intentionale Verben zwar in propositionalen Strukturen involviert, sind aber selbst subsentenziale sprachliche Zeichen. Hier findet also eine Verschiebung des theoretischen Fokus von propositionaler auf eine subsentenziale Ebene statt, die aber auch kategoriale Konsequenzen hat. Denn mit Blick auf Peirces Inferenzkategorien (cf. Kapitel 2.1.3.3) kann man feststellen: Geschlussfolgert wird ausschließlich in propositionalen Strukturen, intentionale Verben und andere prädikative Relationen und Strukturen tragen in ihrer subsentenzialen Struktur etwas zur propositionalen Struktur bei, sind aber selbst im engeren Sinne keine vollwertigen Strukturen in Inferenzen. Insofern ist eine Übertragung des inferenziellen Vokabulars zur Analyse von diskursiver Intentionalität respektive intentionaler Verben nicht automatisch möglich. Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich die Begriffe der inferenziellen Analyse der propositionalen Struktur in das Vokabular zur Analyse subsentenzialer sprachlicher Zeichen übersetzen lassen. Dabei kommt es zwar zu einer konzeptionellen Verschiebung, die aber inferenzielle Gliederungen auf subsentenzialer Ebene präzise analysieren kann und sich nicht in semantischen Gehalten erschöpft. Die inferenzielle Gliederung von subsentenzialen Gehalten, also auch von prädikativen Relationen von intentionalen Verben, lässt sich dennoch mithilfe einer inferenziellen Struktur modellieren. Die unterschiedlichen subsentenzialen semantischen Gehalte und Signifikanzen sind dabei Derivate der kommunikativen und diskursiven Praxis und deren Festlegungen und Berechtigungen, sodass auch die subsentenzialen Gehalte von diskursiven Normen bestimmt sind. Im Folgenden soll daher die These eingelöst werden, dass es auf subsentenzialer Ebene Äquivalenzstrukturen zur Festlegungs- und Berechtigungsstruktur diskursiver Praktiken gibt, die die inferenziellen Gehalte subsentenzialer Zeichen bestimmen und analysiert werden können. 1 Die verschiedenen subsentenzialen inferenziellen Relationen (EMSIFs, EMSIBs und EMSIIs), die hier vorgestellt werden sollen, dienen also der Konkretisierung für linguistische Analysen. Mithilfe dieser Konzepte lässt sich die Qualität der unterschiedlichen subsentenzialen inferenziellen Relationen spezifizieren, die im Weiteren auch in der Analyse diskursiver Intentionalität Anwendung finden wird: Die unterschiedlichen zeichentheoretischen Strukturen und Signifikanzen intentionaler Verben werdem, da diese nicht als strikt semantisch gelten sollen, über unterschiedliche subsentenziale inferenzielle Relationen erklärt (cf. Kapitel 12). Dass es sich dabei nicht um semantische Gehalte handelt, sondern die unterschiedlichen subsentenzialen Gliederungen Konsequenzen für diskursive Praktiken haben, zeigt sich pragmatisch auch an der Unterscheidung von Zuschreibung und Attribuierung: Zuschreibungen basieren auf subsentenzialen Festlegungen, Attribuierung lediglich entsprechenden Berechtigungen (cf. Kapitel 13). Dies wirkt sich auf die Gültigkeit und Inaspruchnahme von Zuschreibungen bzw. Attribuierungen aus, sodass z. B. Zuschreibungen nicht auf gleiche Weise diskursiv tilgbar sind wie Attribuierungen. Insofern tragen subsentenziale inferenzielle Relationen nicht nur zur Signifikanz von Verben bei, sondern auch zur Gültigkeit diskursiver Normen in sozial-kommunikativen Praktiken. 1 Das Verhältnis zwischen den Äußerungsbzw. Propositionsstrukturen und den subsentenzialen Strukturen ist allein hinsichtlich ihrer logischen Form äquivalent. Insbesondere im Rahmen inferenzieller Prozesse findet sich ein wesentlicher Unterschied: Während propositionale Gehalte tatsächlich in Schlussfolgerungsverhältnissen stehen, tragen subsentenziale inferenzielle Relationen nur zur Inferenzbildung bei. 11 EMSIFs, EMSIIs, EMSIBs 193 Laut Robert Brandom sind diejenigen konstitutiven strukturellen Einheiten, welche subsentenziale semantische Gehalte bestimmen, die einfachen materialen substitutionsinferenziellen Festlegungen (cf. EV: 529 f.), die er kurz EMSIFs nennt. Was auf der Ebene der propositionalen Gehalte für festlegungserhaltende inferenzielle Relationen gilt, reproduziert sich auf subsentenzialer Ebene, sodass unterschiedliche subsentenziale Einheiten ihre Qualitäten zur Äußerungseinheit beitragen. Die lässt sich anhand von Substitutionsprozessen veranschaulichen: (1) I 1 : (PAUL MASON IST DER AUTOR VON POSTKAPITALISMUS) (2) I 1 : PAUL MASON IST ANHÄNGER VON MANCHESTER UNITED (3) I 1 : DER AUTOR VON POSTKAPITALISMUS IST ANHÄNGER VON MANCHESTER UNITED 2 Die Nominalphrasen von (2) und (3) können hier wechselseitig substituiert werden, weil die Verbalphrase (als Prädikat) einen inferenziell gegliederten Rahmen bildet, der kraft EMSIF die Substituierbarkeit garantiert. Wenn I 1 (2) behauptet, legt sich I 1 auf subsentenzialer Ebene auch auf die Identität mit dem Gehalt der Nominalphrase von (3) fest, weil die Äußerung der Nominalphrase von (2) eine einfache materiale substitutions-inferenzielle Festlegung auf den Gehalt der Nominalphrase von (3) impliziert. 3 Entsprechend sind Substitutionsinferenzen erst möglich, wenn zwei oder mehr semantische Gehalte durch EMSIFs miteinander relationiert sind. (1) ist die konditionale Bedingung für die Substitutionsinferenz von (2) und (3). Während Substitutionsinferenzen also konkrete inferenzielle Prozesse darstellen und die Transformationsprozesse semantischer Gehalte mitbestimmen, ermöglicht die inferenzielle Gliederung auf subsentenzialer Ebene der EMSIFs erst die Substitution. EMSIFs sind also spezifische subsentenziale inferenzielle Relationen, die für die Konstitution eines inferenziellen Gehalts im Rahmen diskursiver Praktiken hinreichend sind. EMSIFs stellen in Robert Brandoms Expressiver Vernunft die wesentlichen Einheiten subsentenzialer semantischer Gehalte dar. Während sich propositionale Gehalte noch über festlegungserhaltende, berechtigungserhaltende und inkompatible inferenzielle Relationen bestimmen, definiert Brandom für die subsentenzialen Gehalte allein EMSIFs, die den spezifischen Gehalt von singulären Termini und Prädikaten bestimmten. EMSIFs strukturieren also semantische Gehalte subsentenzialer Zeichen, sodass gilt, dass die Semantik eines spezifischen sprachlichen Zeichens die Menge aller es betreffenden EMSIFs ist. Weil EMSIFs ähnlich wie Festlegungen eine flexible Kategorie darstellen und durch diskursive Normen der Praxis angeleitet werden, können sich spezifische semantische Gehalte eines sprachlichen Zeichens je nach Praxis durchaus unterscheiden. Trotz der Flexibilität der kategorialen Analyse der EMSIFs, die eine Mannigfaltigkeit von semantischen Gehalten in unterschiedlichen diskursiven Praktiken gewähren, bleibt die Kategorie für die Analyse von diskursiven Praktiken und ihren sprachlichen Zeichen 2 Hier und im Folgenden verwende ich Majuskeln immer dann, wenn es nicht um die explizite sprachliche Form, z. B. von Äußerungen, sondern um ihr semiotisch-kognitiven und inferenziellen Aspekte geht. 3 Das Verhältnis ändert sich bei intensionalen Sätzen, aber hier geht es noch nicht um singuläre Termini in ihrer Bezugsfunktion. Sobald singuläre Termini z. B. im Konstituentensatz formuliert werden, sind sie nicht mehr ohne Weiteres substituierbar und bekommen damit einen prädikativen Charakter. 194 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben unzureichend. EMSIFs erklären zwar die implizierten (und teilweise auch implikatierten) inferenziellen Gehalte, doch gibt ein Fokus auf EMSIFs die Dynamik der Festlegungs- und Berechtigungsstruktur auf propositionaler Ebene auf. In Hinsicht auf die Analysierbarkeit von diskursiven Praktiken zeigt sich aber, dass inferenzielle Gehalte weder für Interlokutoren noch für Analysierende hinreichend mit EMSIFs erfasst bzw. analysiert werden können. Gehalte stehen oftmals nicht transparent in einem Implikationsverhältnis zur geäußerten kommunikativen Einheit, sondern es kann angenommen werden, dass sprachliche Zeichen eher eine Menge an ambigen und latenten Gehalten involvieren, die von den Interlokutoren eher vermutet werden können. Die Konturen inferenzieller Gehalte sind damit keineswegs klar. Im Folgenden soll also ein inferenzielles Vokabular für subsentenziale Gehalte entwickelt werden, welches sich an der inferenziellen Gliederung propositionaler Strukturen orientiert, aber auch latente und ambige Gehalte analysierbar machen kann. Um die diffusen Grenzen inferenzieller Gehalte modellieren zu können, ist es zunächst notwendig, sich die inferenzielle Strukturbeschaffenheit der EMSIFs zu vergegenwärtigen und entlang der Struktureigenschaften zu spezifizieren. Nach der Erfassung der Strukturbeschaffenheit der EMSIFs lässt sich folgender propositionaler Gehalt hinsichtlich seiner subsentenzialen inferenziellen Struktur aufgliedern und es lassen sich so prädikative Strukturen offenlegen: (4) I 1 : CHARLOTTA IST MENSCHLICH (5) MENSCHLICH (X) (6) ZWEI ARME UND BEINE (X) (7) SPRECHEND (X) (8) STERBLICH (X) Der propositionale Gehalt (4) lässt sich formal als (5) notieren, strukturiert sich aber zugleich entlang spezifischer subsentenzialer inferenzieller Gehalte: Die prädikativen Strukturen in (6) bis (8) veranschaulichen hier mögliche subsentenziale inferenzielle Strukturen (als EMSIFs), auf die sich Interlokutor I 1 festlegt (bzw. festgelegt werden kann), wenn (4) geäußert wird. Entsprechend der subsentenzialen inferenziellen Relationen können die prädikativen Strukturen von (6) bis (8) in die prädikative Struktur von (5) hineinsubstituiert werden. Die Bestimmung der subsentenzialen inferenziellen Gehalte von (4) bzw. (5) mithilfe von EMSIFs erinnert zunächst an traditionelle Implikationsverhältnisse im Rahmen semantischer Analysen und Deskriptionen. EMSIFs gehen allerdings über eine Analyse von semantischen Gehalten hinaus. Weil EMSIFs nicht nur semantische Gehalte (im engeren Sinne) erfassen, sondern inferenzielle Relationen bereitstellen, lässt sich mit ihnen auch normative und pragmatische Signifikanz analysieren. Sie tragen also nicht nur zur Konstitution von semantischen Gehalten, sondern auch von sprachlichen Handlungen bei. Eine Analyse von sprachlichen Zeichen mithilfe von EMSIFs kann sowohl den inferenziellen Charakter subsentenzialer semantischer Gehalte als auch pragmatische Signifikanz von sprachlichen Handlungen explizieren. Weil, so die These, sich semantische Gehalte, normative und pragmatische Signifikanzen aber nicht nur über EMSIFs, sondern auch über andere inferenzielle Relationen auszeichnen, soll dieses weitere Vokabular nun etabliert werden. 11 EMSIFs, EMSIIs, EMSIBs 195 Robert Brandom modelliert in Between Saying and Doing die inferenzielle Semantik propositionaler Gehalte mithilfe einer Inkompatibilitätssemantik, während sich propositionale Gehalt in Expressive Vernunft noch um Festlegungen und Berechtigungen anordnen. 4 Statt vorwiegend festlegungserhaltende und berechtigungserhaltende inferenzielle Relationen auf Ebene der propositionalen Gehalte und EMSIFs auf subsentenzialer Ebene zu fokussieren, steht Brandoms Inkompatibilitätssemantik unter folgendem Leitprinzip: Here is a semantic suggestion: represent the propositional content expressed by a sentence with the set of sentences that express propositions incompatible with it. More generally, we can associate with each set of sentences, as its semantic interpretant, the set of sets of sentences that are incompatible with it. (BDS: 123, Hervorh. im Original) Propositionale und semantische Gehalte konstituieren sich demnach über ihre Inkompatibilitätsrelationen. Zwar argumentiert Brandom weiterhin mithilfe von Festlegungen und Berechtigungen (cf. z. B. BSD: 122), ordnet diese aber allein einer normativen Pragmatik zu, sodass diese Voraussetzungen der Inkompatibilitätsrelationen inferenzieller Semantik sind. Damit stünden normative Pragmatik und inferenzielle Semantik weiterhin in einem Erklärungsverhältnis zueinander, doch ließen sich semantische Effekte in der Inkompatibilitätssemantik allein über unvereinbare semantische Relationen modellieren. Inkompatibilität beschreibt Brandom folgendermaßen: Incompatibility of p and q: If S is committed to p, then S is not entitled to q. (BDS: 129, Hervorh. im Original) Die propositionale Relation der Inkompatibilität, die sich auf Interlokutoren bezieht, bleibt hier konditional (if … , then … ), doch verschiebt Brandom theoretische Verantwortlichkeiten: Aus der pragmatischen Festlegungs- und Berechtigungsstruktur [commitment and entitlement] folgt eine inkompatible semantische Relation. Die Definition der propositionalen Relation der Inkompatibilität lässt sich damit folgendermaßen darstellen: (9) I 1 : CHARLOTTA SCHLÄFT (Festlegung auf p) (10) I 1 : CHARLOTTA KORRIGIERT ABSCHLUSSARBEITEN (Berechtigung zu q) (11) I 1 : SCHLÄFT - KORRIGIERT ABSCHLUSSARBEITEN (INKOMP) Diese Darstellung der inferenziellen Relationen erfasst die handlungslogische Inkompatibilität der Festlegungs- und Berechtigungsstruktur der Handlungsdeskriptionen von schlafen und Abschlussarbeiten korrigieren. Jemand kann nicht gleichzeitig auf beide Handlungsdeskriptionen festgelegt sein: Die spezifische Inkompatibilität der propositionalen Gehalte von (9) und (10) erklärt sich mithilfe der Inkompatibilitätsrelation (11): 4 Diese Kehrtwende ist aus der Perspektive seines Frühwerks nur bedingt nachzuvollziehen. Auch wenn sich Between Saying and Doing (2008) weiterhin mit dem formalen Vokabular deontischer Kontoführungspraktiken beschäftigt, findet sich doch eine Abwendung von der vorrangig Kantianischen Tradition der Expressiven Vernunft (2000) hin zu einer vor allem durch Hegel geprägten Theorie, wie auch aktuellere Publikationen (cf. WI, AST) belegen. Sein Konzept der Inkompatibilität erinnert an die “ reine einfache Negativität ” (Hegel: 1970: 23, Hervorh. im Original). Wenn Brandom davon ausgeht, dass Inkompatibilitäten bedeutungskonstitutiv sind, dann erinnert dies an Hegels Formulierung, dass die “ Erscheinung das Existierende [ist], vermittelt durch seine Negation, welche sein Bestehen ausmacht ” (Hegel 1986 b: 150). 196 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben Wer sich auf (9) festlegt, der ist nicht berechtigt, (10) zu äußern, weil (9) und (10) inkompatibel sind. Die Beschreibung der Inkompatibilität propositionaler Gehalte legt nahe, dieses Imkompatibilitätsprinzip auch auf subsentenziale inferenzielle Relationen zu übertragen und damit die Inkompatibilität propositionaler Gehalte auch auf subsentenzialer Ebene zu suchen. Hierzu lässt sich strukturäquivalent zu EMSIFs die subsentenziale Einheit der einfachen materialen substitutions-inferenziellen Inkompatibilitäten (EMSIIs) einführen. Damit wird theoretisches Vokabular der Inkompatibilitätsstrukturen nicht allein auf Ebene der propositionalen Struktur verortet, sondern auch auf Ebene von prädikativen Relationen, welche sowohl semantische Gehalte als auch normative und pragmatische Signifikanzen umfassen. Kurz: EMSIIs sind diejenigen subsentenzialen inferenziellen Relationen, welche spezifische semantische Gehalte, normative und pragmatische Signifikanzen diskursiv tilgen oder blockieren können. EMSIIs dienen der Erfassung eines materialen Verhältnisses zwischen subsentenzialen inferenziellen Gehalten und können erklären, welche semantischen Gehalte, normativen und pragmatischen Signifikanzen im Rahmen von diskursiven Praktiken nicht in Festlegungs- und Berechtigungsstrukturen beurteilt werden können. EMSIIs blockieren daher auch Substitutionen und unterbinden spezifische inferenzielle propositionale Folgegehalte. EMSIIs können die nicht gesetzten und nicht substituierten inferenziellen Gehalte modellieren und damit erklären, warum spezifische semantische und auch propositionale Gehalte in der diskursiven Praxis nicht auftreten, aber doch (in ihrer Inkompatibilitätsrelation) latent vorhanden sind. Der Status von Inkompatibilität in der Festlegungs- und Berechtigungsstruktur von Interlokutoren lässt sich also um folgende EMSII-Definition erweitern: (EMSII): Wenn I 1 festgelegt auf EMSII (als Element eines propositionalen Gehalts), dann ist I 1 nicht berechtigt zu EMSIF (als Element eines propositionalen Gehalts). Die subsentenziale Inkompatibilität der EMSIIs strukturiert somit die Festlegungs- und Berechtigungsstruktur der Interlokutoren, indem sie die materialen Bedingungen der Substitution und Inferenz modifiziert. Die Einführung der Inkompatibilität der propositionalen und subsentenzialen Strukturen hat den Vorteil, dass sich die Analyse von semantischen Gehalten und pragmatischen Signifikanzen nicht nur entlang von positiven Festlegungs- und Berechtigungsstrukturen, sondern ein inferenzielles Vorhandensein von Negativität impliziert, was bis zu Unsagbarkeiten tendiert. Entgegen der Inkompatibilitätssemantik Brandoms impliziert die hier favorisierte inferenzielle Semantik nicht nur entlang von Inkompatibilitäten bzw. EMSII, sondern impliziert (auf gleichberechtigte Weise) EMSIFs, die die Festlegungs- und Berechtigungsstruktur ebenfalls modifizieren. Die strukturelle Symmetrie des theoretischen Vokabulars der EMSIIs und EMSIFs erfolgt dabei aus folgenden Gründen: Zwar stellt Brandoms Inkompatibilitätssemantik sowohl deontologisch als auch epistemologisch eine Korrektur der Festlegungs- und Berechtigungssemantik der Expressiven Vernunft (2000) dar, doch erlaubt die Implikation von EMSIFs und anderen substitutions-inferenziellen Relationen im Rahmen einer sprachwissenschaftlichen und pragmatischen Analyse eine feinere Unterscheidung hinsichtlich der Funktionen sprachlicher Zeichen. Anstatt also den philosophischen Grundlagendisziplinen zu folgen, ermöglicht eine sprachtheoretische Perspektive 11 EMSIFs, EMSIIs, EMSIBs 197 auf subsentenziale inferenzielle Relationen ein Modell von semantischen Gehalten und Folgegehalten sowie normativen und pragmatischen Signifikanzen, das für linguistische Analysen nutzbar ist. Für eine sprachwissenschaftliche Perspektive ist es zunächst hinreichend, zu fragen und zu modellieren, inwiefern EMSIFs und EMSIIs die semantischen Gehalte und pragmatischen Signifikanzen von Substantiven, Verben, Adjektiven, Präpositionen etc. auf inferenzielle Art und Weise konstituieren bzw. eine Analyse und Deskription dieser ermöglichen. EMSIFs und EMSIIs sind hinsichtlich ihrer Struktureigenschaften eigentümlich konkret: EMSIFs umfassen eher deduktiv motivierte Gehalte und stehen damit Implikationen sehr nahe. EMSIIs hingegen erfassen diejenigen Gehalte, die sich spezifischen inferenziellen Prozessen entziehen, weil sie eben nicht inferiert werden können bzw. sollen. Damit scheinen beide theoretischen Begriffe inferenzielle Gehalte zu analysieren, die entweder eine klare Zugehörigkeit eines inferenziellen Gehalts zu einem sprachlichen Zeichen einerseits oder eine eindeutige Unvereinbarkeit andererseits erfassen. Das Verhältnis zwischen sprachlichen Zeichen und semantischen Gehalten, normativen und pragmatischen Signifikanzen in diskursiven Praktiken ist aber keinesfalls so eindeutig und häufig eher durch Vagheit bestimmt. Das ist eine linguistische Binsenweisheit und schlägt sich schon im Konzept der fuzzy boundaries nieder. Die Darstellung inferenzieller Vagheit ist in der Reflexion subsentenzialer inferenzieller Relationen bisher ausgeblieben. Innerhalb des normativen Sprachpragmatismus modelliert Brandom keine subsentenziale inferenzielle Relation, die die Vagheit inferenzieller Gehalte zu erklären sucht. Dabei ermöglicht eine subsentenziale kategoriale Analyse der propositionalen Kategorie der Berechtigung die Einführung von einfachen materialen substitutions-inferenziellen Berechtigungen (EMSIBs), welche den Beitrag von subsentenzialen Strukturen zur Berechtigung erklären. EMSIBs sind also subsentenziale inferenzielle Relationen, die für semantische Gehalte, normative und pragmatische Signifikanzen zwar notwendig, aber nicht hinreichend sind und damit im Moment ihrer Signifikation einen gewissen Grad an Vagheit aufweisen. Berechtigungen stellen diskurslogisch eine Übergangskategorie zwischen zwei Festlegungen dar. Im Moment der Festlegung entsteht (kraft anderer Festlegungen und Berechtigungen) eine Potenz an Berechtigungen, deren inferenzielle Gehalte sich in der diskursiven Folgepraxis in Festlegungen oder Inkompatibilitäten transformieren können, aber nicht müssen. Berechtigungen implizieren also die notwendige Ambiguität der Erfüllung der inferenziellen Gehalte, die zur Modellierung von semantischer, pragmatischer und normativer Vagheit notwendig ist. Robert Brandom verweist darauf, dass sich Induktionen auf berechtigungserhaltende inferenzielle Relationen stützen (cf. EV: 255). Der Moment der spezifischen empirischen Erkenntnis berechtigt zur Festlegung auf eine entsprechende Regel bzw. allgemeine Erkenntnis, wobei die Festlegung selbst noch nicht stattgefunden hat. Allerdings ist es weniger die Relation zwischen Spezifik und Allgemeinheit, die die berechtigungsstrukturelle Eigenschaft von Induktion ausmacht, sondern vielmehr der Aspekt der Vagheit und der Temporalität. Daraus folgt, dass zwar Induktionen der diskursiven Praxis auf berechtigungserhaltenden inferenziellen Relationen beruhen, aber nicht alle berechtigungserhaltenden inferenziellen Relationen auch induktive Relationen sind. Tatsächlich 198 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben implizieren auch abduktive Inferenzen berechtigungserhaltende inferenzielle Relationen, da sich die Vagheit der Konklusion nicht nur auf Allgemeinheiten (Regeln und Gesetze), sondern auch auf spezifische Sachverhalte (Fälle) beziehen kann. Die abduzierte Hilfshypothese, welche sich inferenziell auf den Fall auswirkt, ist in der Erkenntnis selbst noch ambig, da deren Gültigkeit über die Substitution anderer Hilfshypothesen jederzeit angezweifelt werden kann, ohne dass der Fall getilgt wird. Kurz: Abduktionen sind Inferenzen auf Basis eines latenten Sets an EMSIBs, während Induktionen tatsächlich relevante und realisierte inferenzielle Relationen auf Basis von Berechtigungen sind. Es zeigt sich also, dass die Vagheit, welche sich in der Ambiguität der Erfüllung äußert, die konstitutive Bedingung der Berechtigung (und damit auch der EMSIBs) ist, aber zugleich als Faktor der Erfüllung die EMSIBs mitstrukturiert. Die Ambiguität der Erfüllung zu einem Zeitpunkt t 2 lässt sich für eine Modellierung der EMSIBs nutzen, indem vage inferenzielle Gehalte hinsichtlich ihrer signifikativen Erfüllungsbedingungen untersucht werden: (12) I 1 : PETER FÄLLT HIN (t 2 ) (13) I 1 : PETER STOLPERT (t 1 ) (14) I 1 : PETER WIRD GESTO ß EN (t 1 ) (15) I 1 : DIE ERDE BEBT (t 1 ) Die subsentenziale inferenzielle Struktur von (12) demonstriert eine Ereignisdeskription, die kraft der im Verb implizierten prädikativen Struktur evoziert wird. Ereignisdeskription und Ereignissequenz sind hier gegenläufig dargestellt, um die Ambiguität der inferenziellen Relation von (12) zu t 2 zu demonstrieren. Denn (13), (14) und (15) sind zu t 2 verschiedene Erklärungen des in (12) dargestellten Ereignisses und können als EMSIB-Relationen modelliert werden: Aus (12) folgen weder (13), (14) noch (15) notwendigerweise als Ereigniserklärungen. Dennoch schränkt die Ereignisdeskription (12) mögliche Ereigniserklärungen ein bzw. plausibilisiert sie auf Basis des gewählten Verbs. Welche spezifische inferenzielle Relation zur Erklärung von (12) führt, ist aber zu t 2 noch ambig. Die Erklärung kann allerdings in der weiteren diskursiven Praxis explizit gemacht werden. EMSIBs sind also subsentenziale sprachliche Strukturen, die noch darauf warten, durch andere Zeichen erfüllt zu werden. Sie implizieren damit eine latente Signifikanz, die aber mithilfe anderer subsentenzialer inferenzieller Relationen (EMSIFs oder EMSIIs) tatsächlich auf Inferenzketten einwirken kann. Ihnen fehlt allerdings, so könnte man sagen, die “ Festlegung als Hilfshypothese ” (EV: 662), um vollwertige Signifikanzen zu entwickeln. Aus Latenz und Vagheit der EMSIBs folgt jedoch nicht, dass sie im Rahmen der diskursiven Praxis effektlos wären und mangelhafte theoretische Substitute für EMSIFs und EMSIIs seien. Tatsächlich eröffnen EMSIBs gerade einen semantischen und pragmatischen Kontingenzraum. Insbesondere eine sprachliche Handlung wie nachfragen orientiert sich subsentenzial an der Struktur der EMSIBs, sodass die Festlegungs- und Berechtigungsstruktur hinsichtlich ihrer latenten subsentenzialen Gehalte untersucht und zu den Erfüllungsbedingungen von EMSIBs Stellung genommen werden kann (cf. Kapitel 14.1). EMSIFs, EMSIBs und EMSIIs stellen damit das logische Äquivalent zu Festlegungen, Berechtigungen und Inkompatibilitäten in Brandoms inferenzieller Semantik dar. Sie fokussieren allerdings nicht eine propositionale Ebene, sondern den subsentenzialen Beitrag sprachlicher Zeichen zu dieser Ebene. Die eröffnet andere Möglichkeit linguis- 11 EMSIFs, EMSIIs, EMSIBs 199 tischer Analysen (cf. Kapitel 14 - 16): Ohne die Textebene und deren inferenzielle Gliederung außer Acht zu lassen, kann der Beitrag sprachlicher Zeichen zur Inferenzbildung untersucht werden. Für die hier angestrebte Analyse heißt das: Mit dem theoretischen Vokabular der EMSIFs, EMSIIs und EMSIBs zur Analyse von subsentenzialen inferenziellen Strukturen und Gliederungen, insbesondere prädikativen Relationen und siginfikativen Strukturen, steht nun ein Vokabular bereit, um inferenzielle Aspekte intentionaler Verben zu erfassen. Weil mit diesem theoretischen Vokabular nicht nur semantische Gehalte analysiert, sondern auch andere inferenziell gegliederte Aspekte diskursiver Praktiken erfasst werden kann (hier insbesondere normative und pragmatische Signifikanz), bietet es sich für eine Analyse an. Nicht nur dort, wo es um eine inferenzielle Gliederung sprachlicher Zeichen, sondern auch dort, wo es um deren Verhältnis und Projektion auf andere gehaltvolle Aspekte diskursiver Praktiken geht, entwickelt das theoretische Vokabular explanatorisches Potenzial. Also auch an der Schnittstelle von sprachlichen Zeichen und Handlungen. 200 II Diskursive Intentionalität, intentionale Relationen und intentionale Verben