Kolloquium Straßenbau in der Praxis
kstr
expert Verlag Tübingen
91
2021
21
Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart
91
2021
Steffen Sesselmann
Annette Albers
Maßnahmen des dynamischen Verkehrsmanagements sind auf Autobahnen und in Großstädten hinreichend bekannt, finden jedoch in Ballungsräumen mit vielen Akteuren bisher kaum Anwendung. Die bestehende Organisation des Straßenwesens ist an etablierte Strukturen der Straßenbaulastträgerschaft und des Betriebs im jeweiligen Zuständigkeitsbereich gebunden. Straßenbaulastträgerübergreifende Verkehrsmanagementstrategien werden bisher nicht bzw. nur einzelfallbezogen zur Lösung gebietsübergreifender, regionaler Verkehrsprobleme umgesetzt. Jedoch können kooperativ geplante und im operativen Betrieb laufende Verkehrsmanagementstrategien zur Verkehrssteuerung, -lenkung und -information auch regionale Verbesserungen erwirken und Zielen wie der Verkehrsverflüssigung, -verlagerung und -reduzierung dienen. Für ein wirksames und raumübergreifendes Verkehrsmanagement ist es daher erforderlich, dass Verkehrsmanagementstrategien und deren Maßnahmen auch über die Stadtgrenzen hinaus mit den Aufgabenträgern in den angrenzenden Gebietskörperschaften abgestimmt und umgesetzt werden.
kstr210053
2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 53 Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart M.Sc. Steffen Sesselmann Trafficon - Traffic Consultants GmbH, München, Deutschland Dr. Annette Albers Verband Region Stuttgart, Stuttgart, Deutschland Zusammenfassung Maßnahmen des dynamischen Verkehrsmanagements sind auf Autobahnen und in Großstädten hinreichend bekannt, finden jedoch in Ballungsräumen mit vielen Akteuren bisher kaum Anwendung. Die bestehende Organisation des Straßenwesens ist an etablierte Strukturen der Straßenbaulastträgerschaft und des Betriebs im jeweiligen Zuständigkeitsbereich gebunden. Straßenbaulastträgerübergreifende Verkehrsmanagementstrategien werden bisher nicht bzw. nur einzelfallbezogen zur Lösung gebietsübergreifender, regionaler Verkehrsprobleme umgesetzt. Jedoch können kooperativ geplante und im operativen Betrieb laufende Verkehrsmanagementstrategien zur Verkehrssteuerung, -lenkung und -information auch regionale Verbesserungen erwirken und Zielen wie der Verkehrsverflüssigung, -verlagerung und -reduzierung dienen. Für ein wirksames und raumübergreifendes Verkehrsmanagement ist es daher erforderlich, dass Verkehrsmanagementstrategien und deren Maßnahmen auch über die Stadtgrenzen hinaus mit den Aufgabenträgern in den angrenzenden Gebietskörperschaften abgestimmt und umgesetzt werden. 1. Ausgangslage und Zielsetzung In Ballungsräumen führen die großen Verkehrsmengen zu erheblichen Verkehrs- und Umweltbelastungen. Zudem entwickeln sich in den hoch ausgelasteten Verkehrsnetzen schon aus kleinen Ereignissen lang andauernde Behinderungen. Insbesondere die größeren Städte und die von hochbelasteten Verbindungsstraßen durchzogenen Kommunen sind durch politische oder auch gesetzliche Vorgaben gefordert, wirksame Maßnahmen zur Verflüssigung oder Vermeidung des Verkehrs sowie zur dauerhaften Reduktion von Umwelt- und Umfeldbelastungen vorzulegen bzw. diese umzusetzen. Um den Situationen hoher Belastungen und deren verkehrlichen Folgen entgegen zu wirken, können im Rahmen des dynamischen Verkehrsmanagements grundsätzlich zahlreiche Möglichkeiten genutzt werden. Die Umsetzung öffentlicher Verkehrsmanagementstrategien ist dabei mittlerweile ein anerkanntes und wirksames Instrument der Verkehrsbeeinflussung. Dazu gehören die Vermeidung von Kfz-Fahrten, die Verlagerung von bereits angetretenen Kfz-Fahrten an P+R-Standorten auf den ÖPNV sowie die Verringerung des Aufkommens im motorisierten Individualverkehr durch eine zeitliche und räumliche Verlagerung. Vor allem vor dem Hintergrund kommunaler Erfordernisse oder geforderter Grenzwerteinhaltungen haben diese Möglichkeiten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Aktuell beschränken sich diese Maßnahmen jedoch mehrheitlich auf den jeweiligen kommunalen Zuständigkeitsbereich. Verkehrsteilnehmer, die aus angrenzenden Regionen in die Ballungsräume pendeln oder diese durchfahren, können mit den vorhandenen räumlich begrenzten Lenkungsstrategien nur schwer erreicht und gesteuert werden. Zudem können auch die angrenzenden Städte und Gemeinden nur bedingt auf diese Strategien reagieren und entsprechende komplementäre Maßnahmen ergreifen. Die bisherigen Verkehrsmanagementstrategien zielen weitgehend auf die jeweiligen lokalen Erfordernisse und Bedürfnisse der einzelnen Akteure ab. Abgestimmte und straßenbaulastträgerübergreifende Strategien werden bisher zur Lösung gebietsübergreifender, regionaler Verkehrsprobleme und einhergehender Umwelt- und Umfeldbelastungen nicht bzw. nur einzelfallbezogen umgesetzt. Zudem verfügen die an die Großstädte angrenzenden Landkreise und deren kreisangehörigen Städte und Gemeinden meist nicht über die Voraussetzungen, entsprechende interkommunal abgestimmte Verkehrsmanagementstrategien umzusetzen. Für eine wirksame und frühzeitige raumübergreifende Verkehrslenkung, -steuerung und -information ist es jedoch erforderlich, dass Maßnahmen und Strategien auch über Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart 54 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 die Stadtgrenzen hinaus mit den Aufgabenträgern in den angrenzenden Gebietskörperschaften abgestimmt und umgesetzt werden können. Daher ist eine Vernetzung der zuständigen Aufgaben- und Verkehrsträger in den Ballungsräumen erforderlich, um den zuständigkeitsübergreifenden Austausch von Daten und Informationen sowie Strategien gemeinsam abstimmen und technisch umsetzen zu können. Die Voraussetzungen für eine Umsetzung der Strategien und Maßnahmen in den umliegenden Landkreisen, Städten und Gemeinden ist auf organisatorischer und technischer Seite bisher kaum oder nur sehr rudimentär gegeben. Es gilt, diese Ansätze systematisch auszuweiten, so dass bereits frühzeitig im Zulauf auf die betroffenen Gebiete auch außerhalb der Stadtgrenzen entsprechende Strategien aktiviert werden können. Mit dem Vorhaben eines straßenbaulastträgerübergreifenden regionalen Verkehrsmanagements kann eine stärkere technische und organisatorische Vernetzung der Akteure im Verkehrsmanagement erreicht werden. Ziel ist es, sowohl auf strategischer Ebene die Planungen zur Verkehrslenkung abzustimmen als auch eine abgestimmte Steuerung der Verkehre im operativen Verkehrsmanagement umzusetzen. Durch die Kooperation und Ausweitung der verkehrlichen Steuerungsmaßnahmen auf angrenzende Gebietskörperschaften können die Wirkungen kommunaler Maßnahmen somit verstärkt werden. 2. Zuständigkeitsübergreifendes Verkehrsmanagement Zur Umsetzung straßenbaulastträgerübergreifender und zwischen den Beteiligten abgestimmter Verkehrsmanagementstrategien ist die Etablierung einer dauerhaften regionalen organisatorischen und technischen Zusammenarbeit der Akteure im zuständigkeitsübergreifenden dynamischen Verkehrsmanagement Voraussetzung. Grundlage ist ein abgestimmtes und koordiniertes Strategiemanagement, die Ertüchtigung strategierelevanter verkehrstechnischer Infrastrukturen der Akteure sowie die technische Vernetzung von Verkehrsmanagementsystemen über Zuständigkeitsgrenzen hinweg. Darauf aufbauend können die Entwicklung, technische Umsetzung und der dauerhafte Betrieb gebietsübergreifender abgestimmter Verkehrsmanagementstrategien erfolgen. Die heutigen hoheitlichen Steuerungskompetenzen der beteiligten Akteure bleiben dabei fortlaufend gewahrt. Für die Konzeption und spätere Umsetzung solcher Verkehrsmanagementstrategien sind zum einen der Aufbau eines Abstimmungs- und Planungsprozesses in Form eines gebietsübergreifenden Facharbeitskreises unter Beteiligung der zuständigen Fachplaner je beteiligter Institution und zum anderen der Aufbau und die Etablierung eines Beirates für die Einbeziehung der kommunalen Entscheidungsebene vorzusehen. Neben der Organisation der Akteure erfolgen Planungen, um Grundlagen für die Strategien und deren Projektierung zu erarbeiten sowie eine Abstimmung zwischen den Beteiligten und ihren Zuständigkeiten zu erwirken. Dies bedeutet die fachliche und politische Mitwirkung der o.g. Akteure, die verkehrslenkende und steuernde Funktionen ausführen. Am Anfang steht die Identifikation von Problemstellen (MIV, ÖV) im strategischen Netz auf Basis verkehrlicher Analysen und Expertennennungen. Regional bedeutsame Situationen, die nicht allein im Wirkungsbereich eines Straßenbaulastträgers liegen (z.B. in den Hauptverkehrszeiten, bei Veranstaltungen, durch Baustellen, Unfall, Umwelt, etc.) werden in Abstimmung mit den Akteuren definiert [1]. Anhand dieser werden geeignete Maßnahmen und Strategien konzipiert und sowohl hinsichtlich der zu erwartenden Wirkungen, Komplexität und Form der Vernetzung als auch in Bezug auf den Umsetzungshorizont und zuständigkeitsübergreifenden Planungsansatz bewertet. Im Rahmen der Planungen ist neben der Strategieentwicklung die detaillierte Konzeption der Vernetzung mit Rollen- und Betreibermodell(en) sowie die Entwicklung geeigneter digitaler Instrumente (Software) für ein strategisch-taktisches und operatives Verkehrsmanagement vorzusehen. Für eine effiziente Vernetzung müssen zum einen die Anforderungen einer Strategie bekannt sein, zum anderem muss die Strategieentwicklung die existierende oder realisierbare Vernetzung berücksichtigen. Bei der Konzeption der Vernetzung werden unter anderem die Erarbeitung von Strategie- und Kooperationsvereinbarungen, auszutauschender Daten und technischer Fragestellungen, wie z.B. Schnittstellen innerhalb von Netzwerken, Datenformate und die einzusetzende Kommunikationstechnik berücksichtigt sowie mit den beteiligten Akteuren abgestimmt [1]. Um verbindliche Strategievereinbarungen zwischen den beteiligten Akteuren im Kontext des operativen Verkehrsmanagements zu treffen, werden die im Ergebnis vorliegenden Verkehrsmanagementstrategien zwischen den Akteuren auf Fach- und Entscheidungsebene abgestimmt und unterzeichnet. Diese beinhalten u.a. die betrieblich-organisatorischen Abläufe beim Strategiemanagement sowie regelmäßige Grundsatzabstimmungen zur Weiterentwicklung der Systeme und Strategien. In Kooperationsvereinbarungen werden zudem Zweck und Organisation der Zusammenarbeit, Regelungen zum Ablauf der Strategieabstimmung und -umsetzung, Datenaustausch sowie zur Kommunikation, Datenüberlassung, Kostenteilung und Vertragsbindung geregelt [1]. 3. Praxisbeispiel Region Stuttgart - Werkstattbericht Die Region Stuttgart, mit ihrer polyzentrischen Struktur und einer daraus resultierenden Vielzahl an hochverdichteten Wohn- und Arbeitsstätten, zeichnet sich durch ein besonders stark ausgelastetes Straßennetz aus. Interkommunale Pendlerströme und ein bedeutender Wirtschaftsverkehr überlagern sich mit starken Strömen des Fernverkehrs. Daraus resultiert insbesondere eine regelmäßige Überlastung des Straßennetzes zu den Spitzenzeiten. Erweiterungen der Verkehrsinfrastruktur sind sowohl im motorisierten Individualverkehr als auch im öffentlichen Verkehr nur punktuell möglich. Demzufolge Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 55 führen hohe Auslastungen und Störungsursachen zu erheblichen Zeitverlusten für die Verkehrsteilnehmer [2]. Die polyzentrale politische Gliederung in insgesamt 179 Kommunen sowie fehlende Schnittstellen und Vernetzungen hindern die Akteure im Verkehrsmanagement (Land, Kreise, Kommunen) bis heute daran, regionsweit aktiv die Ströme in den Netzen zu lenken. Verkehrssteuerungskompetenzen sind räumlich und organisatorisch verteilt und entsprechen nicht dem Bedarf an koordinierten verkehrsgerechten Eingriffen in das betroffene Straßennetz. Einen Lösungsansatz bietet hierfür der Aufbau eines regionalen und zuständigkeitsübergreifenden Verkehrsmanagements unter einem Dach. Der Verband Region Stuttgart hat die Koordinierung und Förderung eines regionalen Verkehrsmanagements und der intermodalen Vernetzung im Zuge des ÖPNV- Paktes 2025 als gesetzliche Aufgabe übernommen. Er hat sich um Mittel aus dem europäischen Fonds für Regionalentwicklung (EFRE) im Landesprogramm Regio- WIN beworben und wurde mit dem Leuchtturmprojekt „Regionale Mobilitätsplattform“ ausgezeichnet [3]. Das Modellprojekt wird aus EFRE-Mitteln sowie dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden- Württemberg gefördert und weist ein Gesamtvolumen von 9,5 Mio. Euro [4] auf. Der Fokus des Projektes liegt auf dem straßengebundenen Verkehr unter Berücksichtigung des ÖPNV. Hierfür wird bis 2022 eine regionale Verkehrsmanagementzentrale in einem Ring um die Landeshauptstadt Stuttgart aufgebaut, die sowohl den organisatorischen als auch operativen Rahmen für das zuständigkeitsübergreifende Verkehrsmanagement definiert. Das Vorgehen zur Entwicklung und Umsetzung straßenbaulastträgerübergreifender Strategien orientiert sich an den Empfehlungen der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) [1]. Abbildung 1: Untersuchungsraum für das Pilotprojekt Regionale Mobilitätsplattform Quelle: Verband Region Stuttgart Um mit den relevanten Akteuren aus Land Baden-Württemberg, Landkreisen, Landeshauptstadt Stuttgart und weiteren Kommunen eine maßgeschneiderte Aufgabenstellung für spätere Investitionen zu erstellen, wurde das Projekt Regionale Mobilitätsplattform in zwei Projektphasen gegliedert. Die Projektphase I (Abschluss im Sommer 2019) umfasste ausschließlich Konzeptionen und Planungen, um Grundlagen für Verkehrsmanagementstrategien und deren Projektierung zu erarbeiten sowie eine Abstimmung zwischen den Beteiligten und ihren Zuständigkeiten zu erwirken. Dies bedeutet die Berücksichtigung und Beteiligung der Straßenbaulastträger auf den Ebenen Bundesfernstraßen bis zu kommunalen Straßen sowie der Straßenverkehrsbehörden und weiterer Organisationen, die verkehrslenkende und -steuernde Funktionen ausführen. Die Projektphase II (Beginn Januar 2020) umfasst vor allem die Ausführungsplanung und Umsetzung von Verkehrsmanagementstrategien im motorisierten Individualverkehr und straßengebundenen ÖPNV sowie die Implementierung der dafür notwendigen verkehrs- und systemtechnischen Infrastruktur. Innerhalb des im Projekt definierten Untersuchungsraumes (siehe Abbildung 1) wurden gemeinsam mit den im Projekt beteiligten Akteuren und auf deren Vorschlag hin in der Projektphase I in monatlich stattfindenden Expertenforen (Facharbeitskreisen) zuständigkeitsübergreifende Verkehrsmanagementstrategien mit dazugehörigen Maßnahmen zur Lösung der zuvor identifizierten regionalen Verkehrsprobleme intensiv ausgearbeitet (siehe Abbildung 2) [2]. Abbildung 2: Regional bedeutsame verkehrliche Problemstellen zu den Hauptverkehrszeiten Quelle: Verband Region Stuttgart Etwa 40 (Teil-)Strategien und mehr als 60 Maßnahmen wurden mit den beteiligten Akteuren in den Expertenforen sowie mit den Entscheidungsträgern des Landes Baden-Württemberg, der Landkreise und Kommunen im Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart 56 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Rahmen des “Beirats Verkehrsmanagment Region Stuttgart” abgestimmt sowie fachlich zur Weiterführung in der Projektphase II beschlossen. Neben der Abstimmung der Strategien zwischen den lokalen Akteuren (Landkreis und Kommune) wurden Abstimmungen mit dem Regierungspräsidium Stuttgart hinsichtlich einer Umsetzung der Strategien mittels Neubau bzw. Ertüchtigung verkehrstechnischer Infrastrukturen geführt. Das insgesamt befürwortende Ergebnis des Abstimmungsprozesses zwischen allen Akteuren zeigt auf, dass die geplanten Verkehrsmanagementstrategien mitsamt erarbeiteten Maßnahmen(-bündel) nur dann ihre verkehrlichen Wirkungen erzielen werden, wenn sich alle Akteure (Straßenbauverwaltung des Landes, Landkreise, Kommunen) auf eine konstruktive Zusammenarbeit verpflichten. Abbildung 3: Ausgewählte Pilotkorridore Quelle: Verband Region Stuttgart In der Region Stuttgart wurden zur Umsetzung der Planungsergebnisse der Projektphase I vier Pilotkorridore (siehe Abbildung 3) aus dem strategischen Straßennetz ausgewählt und Verkehrssteuerungs-, Lenkungs- und Informationsstrategien als Beitrag zur Reduzierung der Umweltbelastungen sowie zur Steigerung der Effizienz der Straßeninfrastrukturen in definierten Verkehrssituationen konzipiert [5]. In der Projektphase II erfolgen somit Kooperationen mit der Straßenverkehrszentrale Baden-Württemberg und der Integrierten Verkehrsleitzentrale der Landeshauptstadt Stuttgart sowie dem Regierungspräsidium Stuttgart, Rems-Murr-Kreis und Landkreis Böblingen. Darüber hinaus beteiligen sich die Städte Ludwigsburg, Waiblingen, Fellbach, Böblingen, Leonberg und Ditzingen. Für die vier Korridore wurden Strategien des dynamischen Verkehrsmanagements mit konkreten Maßnahmen(-bündeln) definiert. Diese beinhalten folgende Maßnahmen für den straßengebundenen Verkehr: • Standortspezifische dynamische Verkehrsinformationen in Form virtueller Infotafeln • Empfehlungen zur Nutzung von P+R-Anlagen entsprechend des aktuellen Auslastungsgrades und der S-Bahn-Anschlüsse • Dynamische Lichtsignalsteuerungen für ein situationsabhängiges Kapazitätsmanagement zur Gewährleistung der Verkehrsqualität in städtischen Straßennetzen • Berücksichtigung des ÖPNV mittels Busbevorrechtigung Um den Verkehr im Bedarfsfall gezielt zentral beeinflussen oder Handlungsvollzüge auf der Basis der vorabgestimmten Strategien empfehlen zu können, bedarf es einer entsprechend ausgestatteten Straßenverkehrstechnik vor Ort (Lichtsignalanlagen, Verkehrskameras, Detektoren, angepasste Signalprogramme, etc.) in den vier Pilotkorridoren, die mit einer regionalen Verkehrsmanagementzentrale vernetzt sind. 3.1 Strategien zu den Hauptverkehrszeiten Während den Hauptverkehrszeiten (morgendliche und abendliche Spitzenstunde) kommt es zu Überlastungen im strategischen Netz der Region Stuttgart. Neben Überlastungen im übergeordneten Straßennetz erfolgen auch Verkehrsbelastungen im nachgeordneten Straßennetz und insbesondere in den innerörtlichen Siedlungsbereichen. Diese werden durch hohe Durchgangs- und Pendlerverkehre stark belastet. Das Handlungsspektrum der konzipierten Strategien zu den Hauptverkehrszeiten setzt sich vor allem aus der Verkehrssteuerung und begleitenden Straßenverkehrsinformation zusammen. Ziel ist es, die Leistungsfähigkeit des übergeordneten und nachgeordneten Straßennetzes zu erhalten sowie die örtlichen Umweltbelastungen durch Verflüssigung des Verkehrs zu reduzieren. Dazu soll der Durchgangsverkehr zu den Hauptverkehrszeiten auf dem großräumigen und überregionalen Straßennetz verbleiben und eine Verlagerung des Kraftfahrzeugverkehrs in die innerstädtischen Siedlungsbereiche vermieden werden (siehe Abbildung 4). Abbildung 4: Pilotkorridor Waiblingen - Fellbach - Stuttgart-Bad CannstattQuelle: Verband Region Stuttgart Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 57 Durch ein situations- und verkehrsabhängiges Kapazitätsmanagement zur Erreichung einer ausreichenden Verkehrsqualität in den Siedungsbereichen, virtuellen dynamischen Straßenverkehrsinformationen an relevanten Entscheidungspunkten im übergeordneten Straßennetz sowie Empfehlungen zur Nutzung von P+R-Anlagen bei noch freien Parkplätzen bzw. der frühen Ankündigung einer Vollbelegung, wird diese Strategie verfolgt. 3.2 Strategien bei nicht planbaren Ereignissen Nicht planbare Ereignisse (z.B. Unfälle, Glätte, etc.) verstärken die bestehenden Überlastungen zu den Hauptverkehrszeiten im regionalen Straßennetz zusätzlich, wenn deren Auswirkungen in die Hauptverkehrszeiten hineinreichen. Ziel ist es, bei Störfällen das strategische Netz möglichst leistungsfähig zu halten und die negativen Auswirkungen auf den Verkehrsfluss zu minimieren. Es gilt, eine zeitliche und räumliche Ausweitung von Verkehrsüberlastungen durch nicht planbare Ereignisse in die morgendliche bzw. abendliche Hauptverkehrszeit hinein zu vermeiden. Daher müssen mögliche freie Kapazitäten in Schwachlastbzw. Nebenverkehrszeiten (z.B. nachts) im gesamten strategischen Netz genutzt werden, um langanhaltende Verkehrsbehinderungen in den durch Unfälle gestörten Netzbereichen zu vermeiden und reduzieren (siehe Abbildung 5). Abbildung 5: Pilotkorridor Waiblingen - Fellbach - Stuttgart-Bad Cannstatt Quelle: Verband Region Stuttgart Im Zuge dessen kann das nachgeordnete Netz situationsbedingt (z.B. bei einem Unfall) zusätzliche Kapazitäten für den Verkehr vom übergeordneten Straßennetz (z.B. Bundesautobahn, Bundesstraße) zur Verfügung stellen, sodass ein geordneter Verkehrsfluss sowohl im überals auch nachgeordneten Straßennetz zügig wiederhergestellt werden kann. 3.3 Kooperation der Akteure im regionalen Verkehrsmanagement Für die Umsetzung der Schaltzustände der entwickelten Verkehrsmanagementstrategien soll eine regionale Verkehrsmanagementzentrale schwerpunktmäßig für die Landkreise und Kommunen im „Ring“ um Stuttgart aufgebaut und anschließend als dauerhafte regionale Zusammenarbeit der Akteure im zuständigkeitsübergreifenden dynamischen Verkehrsmanagement etabliert werden. Sie wird in enger Zusammenarbeit mit den bestehenden Einrichtungen der Straßenverkehrszentrale Baden-Württemberg und der Integrierten Verkehrsleitzentrale der Landeshauptstadt Stuttgart Verkehrsmanagementaufgaben wahrnehmen. Diese regionale Verkehrsmanagementzentrale mit den Systemen zur Verkehrsinformation und Verkehrssteuerung mit einem Zugriff auf die lokale Verkehrstechnik vor Ort, kann auf die Verkehrsstörungen im Straßennetz, abgestimmt mit den beiden bestehenden Zentralen, reagieren (siehe Abbildung 6). Der Aufbau der regionalen Verkehrsmanagementzentrale soll bis Projektende als Pilotvorhaben mit den bisher gewonnenen Interessenten erfolgen. Zeitlich parallel wird der Bund die Unterhaltung und den Betrieb der Bundesautobahnen zentralisieren. Dies wird auch zu einer Neuaufstellung der Straßenverkehrszentrale des Landes führen. In gemeinsamer Abstimmung mit dem Land Baden-Württemberg werden künftige Verkehrsmanagementaufgaben des Landes und der regionalen Ebene perspektivisch zusammengeführt bzw. entwickelt werden. Ausgehend von diesem Pilotprojekt soll das regionale Verkehrsmanagementsystem im Datenverbund bei Erfolg sukzessive auf weitere Bereiche der Region ausgeweitet werden, um so ein flächendeckendes abgestimmtes operatives Verkehrsmanagement in der Region Stuttgart zu erreichen. Ziel ist die Etablierung einer dauerhaften regionalen Zusammenarbeit der Akteure im zuständigkeitsübergreifenden dynamischen Straßenverkehrsmanagement. Abbildung 6: Kooperation im regionalen Verkehrs-management Quelle: Verband Region Stuttgart Um einen effizienten, leistungsfähigen, sicheren, umwelt- und umfeldgerechten sowie wirtschaftlichen Verkehrsablauf zu gewährleisten, vereinbaren die Partner eine kontinuierliche Zusammenarbeit bei der Planung und operativen Umsetzung von Verkehrsmanagementstrategien. Zweck der Kooperation ist es, zuständigkeitsübergreifende Strategien und Maßnahmen gemeinsam Verkehrsmanagementstrategien über Stadtgrenzen hinaus - Ein Werkstattbericht aus der Region Stuttgart 58 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 vorzubereiten, in abgestimmter Form den zuständigen Entscheidungsträgern vorzulegen und die vereinbarten Strategien im operativen Betrieb anzuwenden Im Zuge der künftigen Strategieumsetzung sind hierzu verbindliche Strategievereinbarungen vorgesehen, die Zweck und Organisation der Zusammenarbeit, den Ablauf der Strategieabstimmung und -umsetzung sowie den Datenaustausch regeln. Jede einzelne Verkehrsmanagementstrategie mitsamt Maßnahmen(-bündel) wird in einer detaillierten Strategievereinbarung festgehalten und mit den beteiligten Projektpartnern ausgearbeitet sowie abgestimmt. Die verbindlichen Strategievereinbarungen mitsamt eingeholter verkehrsrechtlicher Anordnungen stellen im Rahmen der zuständigkeitsübergreifenden Kooperationen das zukünftige Handeln der Operatoren im operativen Betrieb sicher. 3.4 Mehrwert und Nutzen für die regionalen Akteure Neben einer kontinuierlichen straßenbaulastträgerübergreifenden Abstimmung und Etablierung eines zentra-len Ansprechpartners im regionalen Verkehrsmanagement ergeben sich sowohl im jeweiligen eigenen Verantwortungsbereich als auch übergreifend Verbesserungen der Umwelt- und Umfeldverträglichkeit mit einer Emissionsminderung in den Siedlungsbereichen durch die situationsbedingte Steuerung des Verkehrs. Der übergeordnete Nutzen für die Beteiligten zielt auf folgende Bereiche ab: • Verbesserte Abstimmung und Koordinierung situationsbedingter Verkehrssteuerungen • Schaffung eines Organisationsrahmens zur Vernetzung der Verkehrssysteme • Schaffung regionaler Grundlagen für die Planung • Differenzierte Informationen zur Echtzeitverkehrslage als Planungs- und Entscheidungsgrundlage • Der operative Nutzen stellt für die Beteiligten die • Situationsbedingte Steuerung des Verkehrsangebots im eigenen Verantwortungsbereich • Verbesserung des Verkehrsflusses mit verbesserter Netzauslastung • Reduzierung von Luftschadstoffemissionen, CO 2 - und Lärmemissionen • Zugang zum Verkehrsmanagementsystem mit Informationen zur Echtzeitverkehrslage und geschalteten Strategien dar. Weiterhin ist es vorgesehen, sich zur Kommunikation der Verkehrsmanagementstrategien des Mobilitäts Daten Marktplatzes (MDM) zu bedienen. Als Deutschlands nationaler Zugangspunkt für Verkehrsdaten gewährleistet der MDM, angesiedelt bei der Bundesanstalt für Straßenwesen, dass Informationen - in diesem Fall z.B. über aktive Strategien diskriminierungsfrei zur Verfügung stehen und im Rahmen der Strategien zu erwartende Schaltzustände bereits von Navigationsanbietern im Routing berücksichtigt werden können [6]. 3.5 Ausblick Neben den vier Pilotkorridoren und der damit verbundenen Umsetzung erster zuständigkeitsübergreifender Initialstrategien sollen in zukünftigen Ausbaustufen des regionalen Verkehrsmanagements weitere Teilnetze nach Bedarf miteinbezogen werden. Alle Beteiligten erhalten die Möglichkeit, an den im Weiteren zu erarbeitenden Projektergebnissen zu partizipieren und aktive Beteiligte im strategisch-taktischen und operativen Verkehrsmanagement zu werden. Dabei geht es um die Aufnahme verkehrsrelevanter Ereignisse (u.a. Baustellen, Veranstaltungen, nicht planbare Störfälle, etc.) in eine gemeinsame regionale Verkehrsinformationsbasis und um die Bereitstellung bzw. den Abruf relevanter Informationen aus dieser. In dem Projekt wurde ein Expertenforum der Fachleute (Facharbeitskreis) mit etwa monatlichen Treffen etabliert, das von den Teilnehmern als Austauschplattform sehr geschätzt wird und fortgeführt werden soll. Im Rahmen der aktuellen Planungen in Projektphase II (Stand Herbst 2020) erfolgt die Detailplanung der in Projektphase I im Entwurf erarbeiteten Strategien mit den beteiligten Projektpartnern bis hin zur Ausführungsreife. Dabei werden auch die erforderlichen verkehrsrechtlichen Anordnungen je Maßnahme bei den zuständigen Straßenverkehrsbehörden eingeholt. Dieser Planungsprozess steht in starker Wechselwirkung und Abstimmung zur Planung der lokalen strategierelevanten Verkehrstechnik (z.B. Anpassung von LSA-Programmen und Aktualisierung von Steuergeräten). Um verbindliche Strategievereinbarungen zwischen den beteiligten Akteuren im Kontext des operativen Verkehrsmanagements zu treffen, werden die im Ergebnis vorliegenden Strategien zwischen den Akteuren auf Fach- und Entscheidungsebene abgestimmt und unterzeichnet. Diese beinhalten u.a. die betrieblich-organisatorischen Abläufe beim Strategiemanagement sowie regelmäßige Grundsatzabstimmungen zur Weiterentwicklung der Systeme und Strategien. Für die auf Basis der in der Ausführungsplanung entwickelten verkehrs- und systemtechnischen Infrastrukturen der regionalen Verkehrsmanagementzentrale wurden die Ausschreibungsunterlagen erstellt und das Ausschreibungsverfahren samt Vergabe eingeleitet. Die Ausschreibungen beinhalten die Lieferung, Erstellung und Versorgung der Systeme. Die spätere Ausschreibung und Vergabe der lokalen Verkehrstechnik erfolgt eigenständig unter der Federführung der beteiligten Projektpartner (Land, Landkreis, Kommune).