Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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Motorradlärm in Baden-Württemberg - Von der subjektiven Belästigung zu belegbaren Grundlagedaten
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Hartmut Ziegler
In Baden-Württemberg wurde von Land und Kommunen die Initiative Motorradlärm gegründet, in der sich beide gemeinsam für Verbesserungen einsetzen. Einen Baustein dabei bildet die Objektivierung der Belastungen durch Motorradlärm. Dazu wurde das Zählstellennetz des Landes hinsichtlich hoher Motorradzahlen analysiert und geeignete Indikatoren für „viel“ Motorradverkehr überprüft und auf ihre Eignung getestet. Aus dieser Bewertung wurden rund 100 besonders hoch belasteten Stellen ausgewählt, an denen kontinuierliche Lärmmessungen über 14 Tage durchgeführt werden. Dazu werden sogenannte Akustikleitpfosten eingesetzt, die über Seitenradartechnik zur Zählung und Klassifizierung des Verkehrs verfügen und zusätzlich den Fahrzeuglärm von Fahrzeugen, die am Leitpfosten direkt vorbeifahren, aufzeichnen. Die Ergebnisse dieser Messungen dienen als Grundlage für weitere Überlegungen, um eine Verminderung des Motorradlärms zu erreichen.
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2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 61 Motorradlärm in Baden-Württemberg - Von der subjektiven Belästigung zu belegbaren Grundlagedaten Dr.-Ing. Hartmut Ziegler DTV-Verkehrsconsult GmbH, 52076 Aachen, Deutschland Zusammenfassung In Baden-Württemberg wurde von Land und Kommunen die Initiative Motorradlärm gegründet, in der sich beide gemeinsam für Verbesserungen einsetzen. Einen Baustein dabei bildet die Objektivierung der Belastungen durch Motorradlärm. Dazu wurde das Zählstellennetz des Landes hinsichtlich hoher Motorradzahlen analysiert und geeignete Indikatoren für „viel“ Motorradverkehr überprüft und auf ihre Eignung getestet. Aus dieser Bewertung wurden rund 100 besonders hoch belasteten Stellen ausgewählt, an denen kontinuierliche Lärmmessungen über 14 Tage durchgeführt werden. Dazu werden sogenannte Akustikleitpfosten eingesetzt, die über Seitenradartechnik zur Zählung und Klassifizierung des Verkehrs verfügen und zusätzlich den Fahrzeuglärm von Fahrzeugen, die am Leitpfosten direkt vorbeifahren, aufzeichnen. Die Ergebnisse dieser Messungen dienen als Grundlage für weitere Überlegungen, um eine Verminderung des Motorradlärms zu erreichen. 1. Ausgangssituation Verkehrslärm belastet. Besonders Motorradlärm ist dabei zu einem breit thematisierten Ärgernis geworden. Vor allem in landschaftliche Gebieten, die für Motorradfahrer attraktive Streckenverläufe aufweisen, steigt der Unmut bei den Bewohnern der Ortschaften und auch bei Erholungssuchenden. All dies sind bekannte Fakten. Diese Lärmbelastungen werden nicht nur durch unzulässige Manipulationen an den Motorrädern hervorgerufen, sondern in erster Linie durch die Fahrweise Ihrer Nutzer. Es bestehen bereits verschiedene kommunikative und praktische Ansätze, gegen diesen Lärm vorzugehen. Dies geschieht z.B. mittels Workshops, Infoterminen oder mittels Dialogdisplays. Über die Wirksamkeit solcher Maßnahmen gibt es unterschiedliche Bewertungen. Das Thema Lärm - und besonders Motorradlärm ist teils stark emotional geprägt, was aufgrund der persönlichen Betroffenheit nachvollziehbar ist. In Baden-Württemberg wurde von Land und Kommunen eine gemeinsame „Initiative Motorradlärm“ gegründet. Der Verkehrsminister des Landes Baden-Württemberg, der Lärmschutzbeauftragte der Landesregierung von Baden-Württemberg und die der Initiative beigetretenen Städte, Gemeinden und Landkreise aus Baden-Württemberg fordern, dass alle Handlungsmöglichkeiten ergriffen werden, um Motorradlärm wirkungsvoll zu reduzieren. Die Initiative Motorradlärm fordert, dass Motorräder leiser werden, dass Motorräder leiser gefahren werden, und dass rücksichtsloses Fahren deutliche Folgen hat. Einen Baustein dabei bildet die Objektivierung der Belastungen durch Motorradlärm. Die Fragen lauten dabei stark vereinfacht: - Wie laut sind die Motorräder? - Wo ist es besonders laut? Diesen Fragestellungen will eine vom Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg beauftragte Untersuchung nachgehen. Dazu wurden drei zentrale Arbeitspositionen definiert: - Ermittlung von verkehrlich hochbelasteten Motorradstrecken - Messung von Verkehrszahlen und Lärmpegeln von Pkw, Lkw und Motorrädern - Bewertung der Messergebnisse Dazu sollten in einem ersten Schritt die durch Motorräder höchstbelasteten Zählstellen im Land ermittelt werden und anschließend dort Verkehrszählungen und Lärmmessungen durchgeführt werden. Bisher waren Lärmmessungen im Verkehrsraum sehr aufwändig und wurden daher eher selten durchgeführt. Mit einer neuen Erhebungstechnik hat sich das insofern geändert, dass vergleichende Messungen mit vergleichsweise geringem Aufwand möglich sind. Damit sind sozusagen flächendeckende Messungen realisierbar. Motorradlärm in Baden-Württemberg - Von der subjektiven Belästigung zu belegbaren Grundlagedaten 62 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 2. Motorradstrecken 2.1 Indikatoren Motorradlärm hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben dem individuellen Fahrzeug und der individuellen Technik, spielen auch die Verkehrsmenge, Topographie, verkehrsregelnde Maßnahmen und natürlich die individuelle Fahrweise eine Rolle. Wo besonders viele Motorräder unterwegs sind, kann es auch besonders laut sein. Dieser Aspekt sollte in einem ersten Schritt analysiert werden. Dies ist relativ leicht möglich, da das Land Baden-Württemberg seit 2010 landesweit und systematisch ein rund 4.500 Zählstellen umfassendes Netz von Erfassungsstellen betreibt, bei der in kontinuierlichen Wochenzählungen der Verkehr gezählt und nach Fahrzeugarten differenziert analysiert werden. Das Verfahren hat unter dem Namen „Verkehrsmonitoring“ mittlerweile bundesweite Verbreitung gefunden. Dieses Zählstellennetz verteilt sich wie folgt auf die verschiedenen Straßenklassen: - Bundesstraßen: 513 - Landesstraßen: 1.770 - Kreis- und Gemeindestraßen: 2.080 Diese Verteilung lässt erkennen, dass Verkehrsmengendaten nicht nur für die hochbelasteten Fernstraßen, sondern tatsächlich flächendeckend auch auf weniger verkehrsbelasteten Straßen vorliegen. Diese sind für Motorradfahrer häufig wesentlich attraktiver als gut ausgebaute und hochbelastete Straßen. Die Frage, wo besonders viele Motorräder unterwegs sind, lässt sich aber gar nicht so eindeutig beantworten, da zunächst der Begriff „viele“ definiert werden muss. Dazu bieten sich verschiedene Kenngrößen an, die entweder gezählt oder berechnet wurden. Im Verkehrswesen wird üblicherweise mit Jahresdurchschnittswerten, dem DTV (Durchschnittlicher täglicher Verkehr) aller Tage eines Jahres gearbeitet. Außer an kontinuierlich das ganze Jahr zählenden Erfassungseinrichtungen liegt dieser Wert aber nicht als Zählwert vor, sondern wird mittels Hochrechnungsverfahren berechnet. Zudem hat er den Nachteil, dass er durch die Durchschnittsbildung verkehrliche Spitzenbelastungen nivelliert. Zielführender scheinen aus den Zählungen direkt ermittelte maximale Tagesbelastungen oder auch maximale Stundenbelastungen zu sein. Diese hängen jedoch stark von den Tagen ab, an denen die Stichprobenzählungen durchgeführt wurden. Bei schlechtem Wetter finden üblicherweise weniger Freizeitfahrten mit Motorrädern statt, als bei gutem Wetter. Für eine erste Analyse standen über 10.000 in den Jahren 2016 bis Frühjahr 2020 durchgeführte Wochenzählungen zur Verfügung, die jeweils ein vollständiges Wochenende mit umfassen. Die drei genannten Kennwerte, DTV, maximaler Tageswert und maximaler Stundenwert, wurden für diese Zählungen jeweils der Größe nach geordnet. In Abbildung 1 sind die Ergebnisse dargestellt. Abb. 1: Anzahl Motorräder Während der Maximalwert des Jahresdurchschnittswerts der ca. 10.000 Zählungen bei rund 1.100 Motorrädern pro Tag liegt, beträgt der maximale Tageswert aus den Zählungen rund 3.700 Motorräder pro Tag. Der maximale Stundenwert beträgt rund 400 Motorräder pro Stunde. Interessant ist bei dieser Auswertung aber auch, dass sich die jeweilige Kennzahl innerhalb der ersten 100 Ränge stark verändert, während der Kurvenverlauf anschließend wesentlich flacher verläuft. Aufgrund dieser Auswertung wurde daher festgelegt, die 100 höchstbelasteten Zählstellen im Land näher zu betrachten. Um jedoch festzulegen, welche der drei Kenngrößen für die Auswahl herangezogen werden sollte, wurde überprüft, ob sich die Rangfolgen der Kriterien eher ähneln oder nicht. Dazu wurde in einem Diagramm zu jeder Messstelle der Rang des maximalen Tageswertes dem des DTV-Wertes gegenübergestellt. Im Fall einer weitgehenden Ähnlichkeit würden die im Diagramm aufgetragenen Punkte dann auf der „Winkelhalbierenden“ liegen. In Abbildung 2 ist jedoch erkennbar, dass dies nicht der Fall ist, sondern vielmehr eine große Streuung vorliegt. Abb. 2: Vergleich Rang DTV / max. Tageswert Ähnlich sieht es auch beim Vergleich der DTV-Werte mit den maximalen Stundenwerten aus. Hingegen zeigt der Motorradlärm in Baden-Württemberg - Von der subjektiven Belästigung zu belegbaren Grundlagedaten 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 63 Vergleich von maximalen Tages und Stundewerten eine wesentlich stärkere Übereinstimmung (Abbildung 3). Abb. 3: Vergleich Rang max. Tages- / Stundenwerte Daher wurde entschieden, dass hochgerechnete DTV- Werte nicht zur Zählstellenauswahl herangezogen werden sollen. Der Vergleich der Rangwerte der 100 Zählstellen mit den höchsten Tageswerten ergab im Durchschnitt Rang 84 bei den maximalen Stundenwerten, während umgekehrt der mittlere Rang der maximalen Tageswerte bei den 100 höchsten maximalen Stundenwerten 113 betrug. Daher wurde für die weiteren Betrachtungen die Rangfolge der maximalen Tageswerte verwendet. Übernimmt man ohne weitere Detailbetrachtung diese Zählstellen, ergibt sich die in Abbildung 3 dargestellte Verteilung auf Straßenklassen und Stadt-/ Landkreise. Abb. 4: Zählstellenverteilung 2.2 Detailbetrachtung Anhand der vorliegenden Zählstellenbeschreibungen wurde deren Eignung untersucht. Dazu wurden Zählstellen, die dauerhaft betrieben werden ebenso ausgeschlossen, wie derzeit nicht mehr betriebene (inaktive) Zählstellen. An dauerhaft betriebenen Zählstellen sollte die Datenerfassung nicht für die Lärmmessung unterbrochen werden. Weiter zeigte die Detailbetrachtung, dass zum Teil ausgewählte Zählstellen dicht nebeneinander auf derselben Straße in Nachbarabschnitten lagen. In diesem Fall wurde geprüft, ob zwischen benachbarten Zählstellen ein größerer Ort oder ein Knotenpunkt mit einer gleich- oder höherrangigen Straße lag. Wenn dies nicht so war, wurde die Zählstelle mit dem niedrigeren Rang aussortiert. Anschließend wurde die Liste mit „Nachrückern“ wieder aufgefüllt. Das so ermittelte Zählstellenkollektiv bildete das Grundgerüst für die geplanten Lärmmessungen. 3. Lärmmessungen 3.1 Messkonzept Im Rahmen des landesweiten Verkehrsmonitorings werden Leitpfostenzählgeräte eingesetzt, die mobil an dafür vorbereiteten Standorten verwendet werden können. Dazu sind an den registrierten Zählstellen Fundamente im Bankett einbetoniert, in denen normale (lange) Leitpfosten eingesteckt sind. Für die Zählungen wird der Leitpfosten lediglich gegen einen nahezu gleich aussehenden Zählleitposten ausgetauscht (Abbildung 5). Abb. 5: Leitpfostenzählgerät (Foto DTV-Verkehrsconsult GmbH) Inzwischen sind Zählleitpfosten auf dem Markt verfügbar, die auch das Vorbeifahrgeräusch eines Fahrzeugs zusätzlich zu den Merkmalen Zeitstempel, Fahrzeugart, Richtung und Geschwindigkeit aufzeichnen. Wie aus dazu früher durchgeführten Untersuchungen des Verkehrsministeriums und des Herstellers nachgewiesen werden konnte, haben die Lärmwerte eine hohe Aussagekraft und ermöglichen zumindest eine vergleichende Bewertung der Lärmsituation an den Messstandorten. Dabei werden die Lärmwerte nur für Fahrzeuge des nahen Fahrstreifens ermittelt und dokumentiert, wohingegen die Standardzählgeräte zwei Fahrstreifen im Gegenrichtungsverkehr komplett erfassen. Damit wird es möglich, ohne großenAufwand Lärmmessungen an Straßen vorzunehmen. Da die geplanten Lärmmessungen nicht der Ermittlung rechtssicherer Belastungspegel dienen, sondern den Vergleich verschiedener Standorte und auch verschiedener Fahrzeugarten ermöglichen sollen, kann der geschilderte Weg eingeschlagen werden.
