Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung
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Edgar Theurer
Die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum bietet viele Möglichkeiten, mobilitätseingeschränkten Menschen den Aufenthalt und die Interaktion mit ihrer Umwelt zu erleichtern.
Vielfältige bauliche Maßnahmen erleichtern die Benutzung des ÖPNV, das Queren von Straßen, erleichtern Wege, erhöhen die Sicherheit und geben Hinweise auf Gefahrenstellen.
Vielfältige bauliche Maßnahmen bieten aber auch vielfältige Möglichkeiten, das Gegenteil von Schutz und Sicherheit zu erreichen, indem durch Planungsfehler und nachlässige Bauausführung erst Gefahrenstellen geschaffen werden.
Die nachfolgenden Seiten sollen Beispiele aufzeigen - positive wie negative – und damit sensibilisieren, sich der Verantwortung bewusst zu sein, die ein Umgang mit der Materie mit sich bringt. Das Umsetzen von Barrierefreiheit ist leider selten konfliktfrei, erfordert von den Verantwortlichen Durchhaltevermögen und Detailkenntnis, schafft aber im Ergebnis Lebensqualität, Unabhängigkeit und Teilhabe. Was könnte es schöneres geben?
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2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 171 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Hinweise aus der Praxis Edgar Theurer Dipl.-Ing. Bau (FH) -BDB-, Grünflächen- und Tiefbauamt, Stadt Pforzheim, Baden-Württemberg Zusammenfassung Die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum bietet viele Möglichkeiten, mobilitätseingeschränkten Menschen den Aufenthalt und die Interaktion mit ihrer Umwelt zu erleichtern. Vielfältige bauliche Maßnahmen erleichtern die Benutzung des ÖPNV, das Queren von Straßen, erleichtern Wege, erhöhen die Sicherheit und geben Hinweise auf Gefahrenstellen. Vielfältige bauliche Maßnahmen bieten aber auch vielfältige Möglichkeiten, das Gegenteil von Schutz und Sicherheit zu erreichen, indem durch Planungsfehler und nachlässige Bauausführung erst Gefahrenstellen geschaffen werden. Die nachfolgenden Seiten sollen Beispiele aufzeigen positive wie negative - und damit sensibilisieren, sich der Verantwortung bewusst zu sein, die ein Umgang mit der Materie mit sich bringt. Das Umsetzen von Barrierefreiheit ist leider selten konfliktfrei, erfordert von den Verantwortlichen Durchhaltevermögen und Detailkenntnis, schafft aber im Ergebnis Lebensqualität, Unabhängigkeit und Teilhabe. Was könnte es schöneres geben? Vorab bemerkt … … Barrierefreiheit nützt uns allen. Nicht nur dem viel zitierten Rollstuhlfahrer! Bild 1 172 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung 1. Grundlagen 1.1 Barrierefreiheit - warum? Ziel der Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum ist die Inklusion sämtlicher Teilnehmer am Verkehr bzw. Nutzer des Verkehrsraums - Chancengleichheit für Alle. Bild 2 Dieses Ziel hat sich erst im Verlauf vieler Jahre entwickelt. Wollte man früher „Behinderte“ getrennt von den übrigen Menschen „behandeln“, so war man sich rasch einig, sie zumindest zu integrieren. Aber auch das war immer noch eine Sonderbehandlung. Inklusion heißt eben Teilhabe, Selbstbestimmung, Chancengleichheit, keine Sonderbehandlung (außer den notwendigen besonderen Maßnahmen im Verkehrs-raum, das zu erreichen). 1.2 Arten von Einschränkungen (difu 2014) Körperliche Behinderungen bewegungsbehinderte Menschen wahrnehmungsbehinderte Menschen sprachbehinderte Menschen kleine / große Menschen, Übergewichtige Geistige Behinderungen geistige Einschränkungen (Analphabeten, …) psychische Behinderung (Klaustrophobie, …) Alterseinschränkungen Junge / Alte Temporäre Einschränkung Schwangere, Menschen mit Gepäck / Hund / Kindern, Kranke Sprachunkundige, Ortsunkundige, … 7,3 Mio. Schwerbehinderte (mit Ausweis) = 9% d. dt. Bevölkerung Zahl mobilitätsbehinderter Personen weitaus höher: 20% bis 30% der Bevölkerung Ein Hinweis meinerseits bei Schulungen von Busfahrern, an denen ich ab und zu teilnehme, lautet: „Gehen sie davon aus, dass in jedem Bus, den sie lenken, mindestens 5 Menschen mitfahren, die in ihrer Mobilität irgendwie eingeschränkt sind, ohne dass es gleich erkennbar ist.“ Bewusstsein schaffen! Das Thema ist letztendlich allgegenwärtig, leider noch nicht im Sinne der Abhilfe. 1.3 gesetzliche Grundlagen Barrierefreiheit bzw. Inklusion basiert auf einer umfangreichen gesetzlichen Grundlage. Eine Auswahl hiervon: Grundgesetz: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. BGG Behindertengleichstellungsgesetz: § 8 Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz UN-Konvention BRK Behindertenrechtskonvention LGG-BW Behindertengleichstellungsgesetz LBO Landesbauordnung DIN 18040 - 1-3, DIN 32984, ... konkreteste Festlegung aktuell § 8 Abs. 3 PBefG (Personenbeförderungsgesetz / Nahverkehrsplan) Ziel: „…, für die Nutzung des ÖPNV bis zum 01.01.2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. …“ Dies betrifft „in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkte“ Menschen. Der 1. Januar 2022 ist kein Jahr mehr entfernt, was haben wir, was haben Sie dazu bereits geschaffen? Dieses konkrete Datum lag immer „weit in der Zukunft“, nun kommt es erschreckend schnell näher. Ich kenne keine Kommune, die das Ziel vollumfänglich zeitgerecht erreichen wird - lasse mich aber gerne eines Besseren belehren. Nichts desto trotz gilt es aber den Umbau - nicht nur von Bushaltestellen - voranzutreiben und zu intensivieren. Schaffung von Barrierefreiheit ist gesellschaftlicher Konsens, nicht nur gesetzliche Vorgabe. 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 173 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung 2. Details 2.1 Blindenleitsysteme 2.1.1 Aufgaben von Blindenleitsystemen (BLS) - Auffinden / Beachten - Leiten - Sperren - Orientierung Fühlen, nicht Sehen Auffinden / Beachten (Richtungswechsel) Aufmerksamkeitsfeld („Achtung, es ändert sich was“) Ausführung als Noppenfelder nicht mehr zeitgemäß - Kugelsegmente, orthogonal Bild 3 nur noch verwenden - Kegelstümpfe diagonal angeordnet taktil wesentlich besser erkennbar Bild 4 einheitliches Noppenbild beachten Bild 5 genügend große Felder anordnen (DIN) Bild 6 Leitsysteme können auch gefräst werden Noppen sind dann eben rechteckig Bild 7 174 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Leiten (Längsführung) Richtungsfeld („hier entlang“) Ausführung als Rippenfelder Rippenplatten, Rippen in Gehrichtung Rippenabstand 50 mm Bild 8 Ebenfalls in gefräster Form möglich, z.B. in denkmalgeschützten Belägen, in denen keine Leitplatten eingelegt werden dürfen. Bild 9 Bei Richtungsänderungen mit einem Winkel größer 45° Aufmerksamkeitsfeld notwendig, kleinere Richtungsänderungen auch in Bogenform möglich (nur bei Fräsungen). Bild 10 Bild 11 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 175 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Sperren (Längsführung) Sperrfeld („hier geht`s nicht weiter“) Ausführung als Rippenfelder Rippenplatten, Rippen quer zur Gehrichtung Rippenabstand 38 mm Bild 12 Bild 13 Bild 14 2.1.2 Maßvorgaben bei Blindenleitsystemen (BLS) maßgeblich ist ausschließlich DIN 32984 möglichst Querungsstelle mit differenzierter Bordhöhe „höhengetrennt“ notfalls Querungsstelle mit einheitlicher Bordhöhe „höhengleich“ Detail Querungsstelle Quelle: DIN 32984 Bild 15 Standards Stadt Pforzheim höhengetrennt 0 cm Rollstuhl / Kinderwagen 6 cm Blinde 176 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 16 Bild 17 diese Lösung nur im Ausnahmefall: falls höhengetrennte Querung technisch nicht möglich 3 cm Anschlag Bild 18 Vielfältige Detailausbildungen denkbar, aber immer auf Basis der DIN 32984 Bild 19 Bild 20 Bild 21 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 177 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 22 Spezialfall „ungesicherte Querungsstelle“ (keine Ampel o.ä.) Bild 23 Auffindefeld an Gehweghinterkante kein durchgehender Leitstreifen zum Bordstein Bild 24 2.1.3 Ausführungsdetails bei Blindenleitsystemen (BLS) wichtig: maßhaltig - kantenfrei - ebenflächig maßhaltig Bild 25 Rollstuhlabsenkung Blindenkante = 0 cm EXAKT ! ! = 6 cm kantenfrei Bild 26 keine Kanten und Stolperecken SO NICHT ! ! ebenflächig 178 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 27 keine Fasen und Absätze extra so in Ausschreibung angeben ABSOLUT EBEN ! ! DIN 18318 = 2 mm Fugen richtig positionieren / Schnitte richtig setzen: Bild 28 Bild 29 Der zusätzliche Schnitt ist auszuschreiben und zu vergüten. 2.2 barrierefreie Bushaltestellen 2.2.1 Aufgaben von barrierefreien Bushaltestellen Ein- und Aussteigen ohne unüberwindbare Hindernisse → Selbständigkeit Fahrerhilfe nur im Notfall - aber immer vorhanden 2.2.2 Maßvorgaben bei barrierefreien Bushaltestellen Bild 30 Bild 31 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 179 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 32 2.2.3 Ausführungsdetails bei barrierefreien Bushaltestellen Bild 33 OHNE Fase absolut planeben Hinweis: Betonplatten ohne Fase sind keine Lagerware Lieferzeiten beachten, evtl. Mindestmengen i.d.R. Angebot mit „Mikrofase“ nein explizit „OHNE Fase“ ausschreiben Bild 34 Kontrast durch Farben basalt / weiß Rippen PARALLEL zur Busbordkante idealerweise: überdacht = „taleben“ im Freien = „bergeben“ (sonst Schäden durch maschinelle Schneeräumung) Bild 35 2.2.4 kein Standard, aber manchmal nötig: Bild 36 Basteln, um überhaupt etwas zu erreichen Bodenindikatoren kann man auch kleben, allerdings gibt es die nicht immer in normgerechten Maßen Bild 37 180 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 38 Anwendungsfall: Leitsysteme auf Brückenkonstruktionen = kein Pflastereinbau möglich → Notlösung! 3. Beispiele 3.1 Bereich des ÖPNV ZOB Pforzheim vollständig barrierefreie Verkehrsanlage Einstiegsfeld Bild 39 Querung der Busfahrbahnen / Leitstreifen Bild 40 Blindenleitstreifen in Nutzung Bild 41 Fahrbahnrandhaltestellen im Stadtgebiet hier in Kombination mit Busspur Bild 42 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 181 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 43 Bild 44 Ausnahmefall Busbucht möglichst vermeiden Bild 45 Busbuchten haben eine große Entwicklungslänge … Faktor Buslänge : Haltestellenlänge = 1 : 4,8 (bei Fahrbahnrandhaltestelle / Buskap = 1 : 1,4) Bild 46 … oder sind schlecht anfahrbar und erfordern Einfädeln in den fließenden Verkehr. (Stichwort Busbeschleunigung) Busbuchten sind in dicht bebauten Innerortslagen nahezu nirgends normgerecht zu realisieren. Anwendung nur dann, wenn Haltestelle unmittelbar hinter einer signalisierten Kreuzung / Einmündung angeordnet werden muss (Vermeidung von Rückstau in den Knoten). 182 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 50 3.2 Bereich Straßenquerungen an signalisierten Fußgängerüberwegen „gesicherte Querung“ mit differenzierter Bordhöhe + 0 cm für Rollstuhl, Rollator etc. + 6 cm für Blinde Beispiel für „Fahrer hat‘s drauf” = Idealzustand Bild 47 kleiner Spalt - geringe Stufe (Kneeling) Bild 48 perfekt angedockt (Anfahren bis Bordberührung, dann Lenkrad loslassen und in Idealposition ziehen lassen) Bild 49 Übung macht den Meister - attraktiver ÖPNV 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 183 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 51 Bild 52 Bild 53 an Querungshilfen „ungesicherte Querung“ Bild 54 Bild 55 Bild 56 3.3 2-Sinne-Prinzip Blindenakustik an Fußgängerüberwegen Tock, tock, … 184 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 57 Vorlesetaster an Dynamischen Fahrgastinfoanlagen TTS „text-to-speech“ Sehen oder/ und Hören Bild 58 Bild 59 3.4 auch das ist Barrierefreiheit Barrierefreie Baustellen 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 185 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 60 Bild 61 „kleiner Keil, große Hilfe! “ Bild 62 … und dann noch die Baustelle aufräumen. 186 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung 4. Such den Fehler! Beispiele was alles schief gehen kann … ! Bild 63 „Wer einen Meterstab hat sollte ihn benutzen! “ 4,5 cm sind eben nicht 6,0 cm → rausreißen - nochmal machen Bild 64 da fehlt die Fortsetzung bis zur Gehweghinterkante Bild 65 Stolperkante wegen fehlendem Schnitt Bild 66 keine 6 cm … 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 187 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 67 … da passt Garnichts! Flucht der Rippenplatten stimmt nicht … Bild 68 … Schnur spannen hilft! Bild 69 Schnur spannen kann jeder! was soll der Pflasterstreifen hier? Bild 70 Bushaltestellen immer als Gerade 188 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum: Planung, Ausführung, Fehlervermeidung Bild 71 Anschluss des Leitstreifens an die Treppe fehlt Bild 72 und 73 Beispiel, wie es sein sollte. Besser noch wären Kegelst ümpfe in Diagonalanordnung, hier leider noch eine veraltete Version mit Kugelsegmenten in Orthogon alanordnung. Busbuchten zu Fahrbahnrandhaltestellen zurückbauen oder richtlinienkonform deutlich verlängern → gestreckt anfahrbar