Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit
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Jonas Fesser
Jochen Eckart
Eine Folge des Klimawandels ist die Zunahme von Starkregenereignissen. Diese sind mit der Gefahr von Überflutungen und damit einhergehenden Schäden bei sensiblen Nutzungen sowie sensibler Infrastruktur verbunden. Die Dimensionierung der kommunalen Entwässerungssysteme für den Fall seltener Starkregenereignisse ist ökonomisch und ökologisch nicht praktikabel. Die gezielte Mitbenutzung von Verkehrsflächen für eine kontrollierte temporäre Notableitung und Rückhaltung von Starkniederschlägen kann zur Reduzierung der Schäden beitragen. Eine Mitbenutzung eignet sich
besonders für städtische Räume, in welchen freie Flächen zur Retention von Niederschlagswasser knapp sind und die versiegelten Verkehrsflächen einen großen Anteil an der Gesamtfläche einnehmen. Die Ergebnisse aus Literaturanalyse, Unfallanalyse, videobasierter Verkehrskonfliktanalyse und der Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen deuten darauf hin, dass die temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf Straßen bei entsprechenden
Rahmenbedingungen keine negativen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit erwarten lassen.
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2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 191 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit Jonas Fesser Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft Prof. Dr. Jochen Eckart Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft Zusammenfassung Eine Folge des Klimawandels ist die Zunahme von Starkregenereignissen. Diese sind mit der Gefahr von Überflutungen und damit einhergehenden Schäden bei sensiblen Nutzungen sowie sensibler Infrastruktur verbunden. Die Dimensionierung der kommunalen Entwässerungssysteme für den Fall seltener Starkregenereignisse ist ökonomisch und ökologisch nicht praktikabel. Die gezielte Mitbenutzung von Verkehrsflächen für eine kontrollierte temporäre Notableitung und Rückhaltung von Starkniederschlägen kann zur Reduzierung der Schäden beitragen. Eine Mitbenutzung eignet sich besonders für städtische Räume, in welchen freie Flächen zur Retention von Niederschlagswasser knapp sind und die versiegelten Verkehrsflächen einen großen Anteil an der Gesamtfläche einnehmen. Die Ergebnisse aus Literaturanalyse, Unfallanalyse, videobasierter Verkehrskonfliktanalyse und der Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen deuten darauf hin, dass die temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf Straßen bei entsprechenden Rahmenbedingungen keine negativen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit erwarten lassen. 1. Einleitung Im Zuge des Klimawandels ist in Mitteleuropa, bedingt durch Konvektion, mit vermehrt auftretenden Starkregenereignissen zu rechnen ist (Deutschländer & Mächel 2017, IPCC 2013). Für Kommunen stellt dies ein Problem dar. Ihre Entwässerungssysteme sind nicht für seltene Starkregenereignisse bemessen, wodurch im Falle deren Auftretens die Gefahr von Überflutungen mit den daraus resultierenden Schäden besteht. Vor allem in dicht besiedelten städtischen Gebieten ist das Schadenspotenzial im Falle eines Starkregenereignisses enorm, da durch deren hohen Versiegelungsgrad große Mengen an Wasser zum Abfluss gebracht werden und sensible Nutzungen und Infrastrukturen oftmals nicht ausreichend vor Überflutungen geschützt sind. Die Erweiterung der Kapazität der konventionellen Entwässerungsinfrastruktur stellt für viele Kommunen aus ökologischer und ökonomischer Perspektive keine realistische Lösung dar. Ein Lösungsansatz bildet die dezentrale Regenwasserbewirtschaftung, bei der das Niederschlagswasser lokal zurückgehalten, verdunstet, versickert und nur verzögert abgeleitet wird. Diese dezentrale Regenwasserbewirtschaftung entlastet die Kanalisation und kann vor Ort z.B. der Bewässerung von Grünflächen oder dem lokalen Mikroklima durch Verdunstung dienen. Von Benden (2014), Valée & Benden (2010), Waldhoff et al. (2012), Günthert & Faltermaier (2016), Riegel et al. (2013) und TU Kaiserslautern & Pecher (2011) wird zudem eine geplante Mitbenutzung von Verkehrsflächen für eine kontrollierte temporäre Notableitung und Rückhaltung von Starkniederschlägen vorgeschlagen. Die temporäre Mitbenutzung von Verkehrsflächen kann ein kostengünstiges und bisher ungenutztes Konzept zur Adaptation an Starkniederschläge und damit die Folgen des Klimawandels darstellen. Sie bildet dabei einen Baustein neben anderen für die dezentrale Kleinrückhaltung von Starkniederschlägen in urbanen Gebieten. Eine Definition dieses Konzeptes für die Mitbenutzung von (Verkehrs-)Flächen für die Bewirtschaftung von Starkregenereignissen bietet das (KompetenzNetzwerk Hamburg Wasser 2010): „Mitbenutzte Flächen, wie beispielsweise Verkehrsflächen, […] unterliegen einer Hauptnutzung und werden im Starkregenfall zur temporären Zwischenspeicherung und/ oder zum Transport von Abflussspitzen für den Überflutungsschutz […] genutzt. Bei den hier genannten extremen Regen handelt es sich um Ereignisse, die 192 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit […] für Straßen in der Regel seltener als alle 10 Jahre auftreten. Die Mitbenutzung von Flächen ist daher nicht der Normalfall, sondern die Ausnahme. Zudem ist die Entleerungszeit auf etwa 12 bis maximal 24 Stunden angesetzt, so dass innerhalb kürzester Zeit die Hauptnutzung wieder erfolgen kann.“ Erste praktische Konzepte für die schadensarme und kontrollierte oberirdische Notableitung sowie Rückhaltung von Starkniederschlägen auf Straßen werden bereits im Hochschulstadtteil Lübeck oder dem Klima-Boulevard in Bremen-Findorf angewandt (BBSR 2015). Im Ergebnis kann die Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf Verkehrsflächen helfen, Schäden durch unkontrollierte Überflutungen zu reduzieren und Kosten für die Erweiterung des bisherigen Entwässerungssystems zu vermeiden. Die erforderlichen siedlungswasserwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine solche Mitbenutzung von Verkehrsflächen wurden von Benden (2014), Valée & Benden (2010), Waldhoff et al. (2012), Günthert & Faltermaier (2016) und Riegel et al. (2013) in den letzten Jahren entwickelt. So eigenen sich Straßenräume mit großzügigen Platzverhältnissen sowie angrenzende Freiflächen oder Vorfluter zur Ableitung des Wassers. Um den Straßenraum als Fließweg sowie zur Rückhaltung zu nutzen reichen meist einfache bautechnische Anpassungen wie großzügig dimensionierte Rinnensysteme, Hochborde oder Schwellen aus. Mit deren Hilfe wird das oberflächige Niederschlagswasser gelenkt und von schutzwürdigen Nutzungen ferngehalten. Das planmäßige Ableiten und Rückhalten von Starkniederschlägen im Straßenraum ist jedoch auf Bedenken im Hinblick auf die Verkehrssicherheit und Verkehrssicherungspflicht zu überprüfen. 2. Analyse der Auswirkungen von Starkregenereignissen auf die Verkehrssicherheit Um die Auswirkungen von Starkregenereignissen auf den städtischen Straßenverkehr und damit die Verkehrssicherheit zu untersuchen werden drei Analyseschritte genutzt. Zunächst wird die Literatur zu den Auswirkungen von (Stark-)Regenereignissen auf die Verkehrssicherheit ausgewertet. Anschließend wird das Unfallgeschehen der Stadt Karlsruhe hinsichtlich des Einflusses von Starkregenereignissen untersucht. Abschließend werden mittels einer videobasierten Verkehrskonfliktanalyse von Starkregenereignissen ausgehende Gefahren für den städtischen Straßenverkehr sowie das Verhalten der Verkehrsteilnehmer im Falle einer Überflutung des Straßenraumes analysiert. 2.1 Literaturanalyse zur Auswirkung von (Stark-) Regenereignissen auf die Verkehrssicherheit Die Fachliteratur ist sich weitgehend einig, dass Regen und nasse Fahrbahn die Unfallrate sowie die Anzahl der Unfälle erhöht. Der Anstieg der Unfallrate wird auf die Kombination geringer Reibungsbeiwerte durch die nassen Straßenverhältnisse und die beeinträchtigte Sicht durch Regen, Spritzwasser oder Nebel zurückgeführt (Theofilatos & Yannis 2014; Smith 1982; Scott 1986; Andrey & Yagar 1993; Fridstrøm et al. 1995; Caliendo et al. 2007; Levine et al. 1995; Edwards 1996; Chang & Chen 2005; Koetse & Rietveld 2009; Brodsky & Hakkert 1988; Chung et al. 2005; Eisenberg 2004; Jones et al. 1991; Satterthwaite 1976; Shankar et al. 1995; Bergel- Hayata et al. 2013; Fridstrom & Ingebrigtsen 1991; Keay & Simmonds 2006; Hermans et al. 2006). Es existieren jedoch auch vereinzelt Studien, die zu einem anderen Ergebnis kommen. So stellen Haghighi-Talab (1973) keinen Unterschied bei der Unfallrate während moderaten und schweren Regenfällen fest. George & Theofilatos (2014) sowie Karlaftis & Yannis (2010) kommen bei einer Langezeituntersuchung in Athen sogar zu dem Ergebnis, dass sich mit zunehmender Regenintensität die Anzahl an Unfällen reduziert. Für die Unfallschwere bei Regen und nasser Fahrbahn sind die Aussagen der Fachliteratur nicht eindeutig. Theofilatos & Yannis (2014), Caliendo et al. (2007) und El-Basyouny & Kwon (2012) weisen nach, dass bei Niederschlägen und nasser Fahrbahn die Anzahl der schweren Unfälle stärker zunimmt als die Anzahl leichter Unfälle. Andere Studien wie die von Koetse & Rietveld (2009), Khattak et al. (1998) und Edwards (1998) gehen hingegen von einer Abnahme der Schwere der Unfälle bei Niederschlägen und nasser Fahrbahn aus. In der Fachliteratur besteht Einigkeit darüber, dass es bei Starkregenereignissen im Vergleich zu normalen Regenereignissen zu einer größeren Reduktion der durchschnittlichen Geschwindigkeit kommt. So lässt sich bei leichten Niederschlägen eine Reduktion der durchschnittlichen Geschwindigkeit zwischen 8km/ h und 19,5 km/ h feststellen, während bei stärkeren Niederschlägen die Reduktion zwischen 8 km/ h und 31 km/ h beträgt (Unrau & Andrey 2006; Brilon & Ponzlet 1996; Akin et al. 2011; Kyte et al. 2000). Edwards (1999), Chung et al. (2006) und Lam et al. (2013) gehen jedoch davon aus, dass die Fahrer die verlängerte Bremsweite bei Nässe unterschätzen und ihre Geschwindigkeit nicht ausreichend reduzieren. Die meisten Untersuchungen zur mangelnden Kompensation beziehen sich allerdings auf Außerortsstraßen mit einem hohen Geschwindigkeitsniveau. Aus diesem Grund ist unklar, ob die Erfahrungen auf innerstädtische Straßen übertragen werden können. Dies gilt insbesondere deshalb, da auf Außerortsstraßen aufgrund des hohen Geschwindigkeitsniveaus die Gefahr von Aquaplaning, also dem Kontrollverlust über das Fahrzeug durch dessen Aufschwimmen, besteht. Da Aquaplaning erst bei Geschwindigkeiten über 60 km/ h auftreten kann (Gallaway et al. 1979) spielt dies für städtische Straßen keine bzw. maximal eine untergeordnete Rolle. Die bisher genannten Auswirkungen von Niederschlagsereignissen auf die Verkehrssicherheit beziehen sich auf 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 193 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit Wasserfilmdicken auf der Fahrbahn von maximal 1 cm. Für die im Rahmen von temporärer Notableitung und Rückhaltung von Starkniederschlägen auf Straßen diskutierten Wassertiefen von 5 bis 20 cm liegen in der Fachliteratur hingegen keine Aussagen zum Gefährdungspotential vor. Untersuchungen zu den Todesursachen bei Hochwasserereignissen zeigen, dass in Europa bei Hochwasserereignissen 27 % aller ertrunkenen Personen auf Ertrinkungsopfer in Fahrzeugen entfallen. In den USA liegt deren Anteil bei 63 % (Jonkman & Kelman 2005; Kellar & Schmidlin 2012; Yale et al. 2003). Bereits bei Wassertiefen ab 40 cm und einer Strömung von 1,5 m/ s können Fahrzeuge weggeschwemmt werden (Shu et al. 2011). In diesem Fall besteht die Gefahr, dass die Fahrzeuge in tieferes Wasser geschwemmt werden und sich die Fahrzeugführenden nicht mehr befreien können. Bei zu Fuß Gehenden, insbesondere wenn es sich dabei um Kinder oder ältere Personen handelt, besteht bereits ab einem Wasserstand von 20 cm und einer Strömungsgeschwindigkeit von 1,5 m/ s eine erhöhte Sturzgefahr (Shu et al. 2011). 2.2 Unfallanalyse für Starkregenereignissen in der Stadt Karlsruhe Für die Stadt Karlsruhe werden die durch Starkregenereignisse verursachten Unfälle auf städtischen Straßen für den Zeitraum Januar 2012 bis September 2016 identifiziert und ausgewertet (Dormann et al. 2017). Insgesamt wurden in dem betrachteten Zeitraum 21.210 Unfälle erfasst. Von diesen Unfällen ereigneten sich 3.395 Unfälle auf nassen Fahrbahnen. Um herauszufinden ob diese Unfälle auf nassen Fahrbahnen durch Starkregenereignisses verursacht wurden, werden die Daten von drei Karlsruher Wetterstationen herangezogen. Im Untersuchungszeitraum wurden an den Wetterstationen 13 Starkregenereignisse an 11 Tagen erfasst. An den Tagen mit Starkregenereignissen fanden 118 Unfälle statt, was einen Durchschnitt von 10,7 Unfälle pro Tag ergibt. Dieser Durchschnitt entspricht dem 5-Jahresdurchschnitt von 11,5 Unfällen pro Tag in Karlsruhe. Zur Klärung der Frage, ob die Unfälle in Zusammenhang mit einem der Starkregenereignisse stehen wird geschaut, welche Unfälle in einem Zeitraum zwischen 15 Minuten vor und 15 Minuten nach einem Starkregenereignis aufgetreten sind. Darüber hinaus wird analysiert ob die Unfälle auch tatsächlich dort stattgefunden haben, wo das Starkregenereignis von den Wetterstationen aufgezeichnet wurde. Am Ende des Ausschlussverfahrens bleibt ein Unfall übrig, welcher zeitgleich mit einem lokalen Starkregenereignis stattgefunden hat. Eine Durchsicht dieses Unfallberichtes ergibt, dass es sich um einen Unfall handelt, bei dem ein ausparkendes Fahrzeug ein anderes parkendes Fahrzeug leicht beschädigt hat. Die Beschreibung des Unfallgeschehens legt nahe, dass der Unfallvorgang nicht in Zusammenhang mit dem Starkregenereignis steht. Für konvektive Starkregenereignisse lassen sich für den betrachteten Zeitraum in Karlsruhe damit keine negativen Auswirkungen auf das Unfallgeschehen belegen. 2.3 Videobasierte Verkehrskonfliktanalyse von überfluteten städtischen Straßen Starkregenereignisse treten selten auf und lassen sich zeitlich und räumlich nur schwer vorhersagen. Aus diesem Grund ist eine systematische Analyse des Verkehrsablaufs auf durch Starkregenereignisse überfluteten Straßen nur schwer möglich. Jedoch sind im Internet zahlreiche Videos von Medien oder Passanten verfügbar, welche das Verkehrsgeschehen auf überfluteten städtischen Straßen während und nach Starkregenereignissen zeigen. In drei verschiedenen Studien (Mettmann et al. 2016; Hölsch 2018; Fesser 2019) wurde nach solchen Videos im Internet gesucht und diese im Hinblick auf die Auswirkungen von Überflutung des städtischen Straßenraums auf die Verkehrssicherheit ausgewertet. Hierzu wird der Ansatz der Verkehrskonfliktanalyse genutzt. Die Videos werden nach Konflikten untersucht, in denen sich Verkehrsteilnehmende räumlich und zeitlich so annähern, dass Kollisionen nur durch eine entsprechende Reaktion der verwickelten Verkehrsteilnehmenden bzw. durch kritische Fahrmanöver derer vermieden werden können (Schnabel & Lohse 2011). Da bei temporär überfluteten Straßen nur kurze Beobachtungszeiträume zur Verfügung stehen, bieten sich die vergleichsweise häufig auftretenden Konflikte als Indikator zur Beurteilung der Verkehrssicherheit mehr an, als die alleinige Betrachtung von Unfällen, welche sehr selten auftreten. Ein gehäuftes Auftreten von Konflikten deutet auf mangelnde Verkehrssicherheit hin, auch wenn in dem betrachteten Zeitraum selbst keine Unfälle verzeichnet wurden. Somit können im Gegensatz zur klassischen Unfallanalyse mit der Verkehrskonfliktanalyse auch für die selten auftretenden Überflutungsereignisse im Straßenraum Aussagen zur Verkehrssicherheit getätigt werden. Das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden, die auftretenden Konflikte sowie die Randbedingungen werden anhand eines strukturierten Kriterienkatalogs ausgewertet. Um die auftretenden Konflikte hinsichtlich eines Zusammenhangs mit der Überflutungssituation zu analysieren wird zwischen Standardkonflikten, welche unabhängig von der Überflutungssituation auftreten, und Konflikten aufgrund von Wasser auf der Fahrbahn unterschieden. Die Basis für die Kategorisierung der Konflikte bilden die Konflikttypen des FGSV Merkblattes zur örtlichen Unfalluntersuchung in Unfallkommissionen (M Uko) (FGSV 2012). Von diesen werden als Standardkonflikttypen kategorisiert: Konflikte durch Einbiegen/ Kreuzen (z.B. bevorrechtigtes Fahrzeug von links), Konflikte durch ruhenden Verkehr (z.B. Ausweichen in den Gegenverkehr), Konflikte im Längsverkehr (z.B. Auffahren, Spurwechsel nach rechts, Begegnende) und sonstige Konflikte (z.B. Rückwärtsfahren, Wenden). Neben den 194 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit diesen Standardkonflikttypen aus dem M Uko werden weitere für Überflutungen typische Konflikttypen definiert, wie z.B. das Liegenbleiben (Fahrzeuge durch Wasserschlag liegengeblieben), Wenden (wegen Wasser auf der Fahrbahn) oder Ausweichen (vor überfluteten Stellen). Die schwere der Konflikte wird in Anlehnung an den Standard der Verkehrskonflikttechnik erfasst, welcher auf der Konflikttheorie nach Hyden (1977) basiert. Als Interaktion werden demnach Konflikte eingeordnet, bei denen Verkehrsteilnehmende untereinander agieren und sich abstimmen, besondere Fahrmanöver aber noch nicht notwendig sind. Bei leichten Konflikten handelt es sich um Konflikte, bei denen die zeitlichen und räumlichen Abstände zwischen den beteiligten Verkehrsteilnehmenden noch groß genug für eine kontrollierte Reaktion sind, die jedoch bereits über ein normales Fahrmanöver hinausgeht. Bei schweren Konflikten werden Unfälle hingegen nur noch dadurch vermieden, dass die beteiligten Verkehrsteilnehmenden starke, nur noch bedingt kontrollierbare Fahrmanöver durchführen. Im Falle eines Unfalls liegt letztlich eine Kollision von Verkehrsteilnehmenden untereinander oder ein Alleinunfall vor. Abbildung 1: Konflikttypen und Konfliktschweren bei Überflutungen (eigene Darstellung) Von den 48 in den Videos identifizierten Konflikten sind 39 spezifische für Überflutungssituationen (Abbildung 1). Am häufigsten sind Alleinunfälle durch liegengebliebene Fahrzeuge infolge eines Wasserschlages. Dies steht im Widerspruch zu der von Hyden (1977) aufgestellten Konflikttheorie, wonach Unfälle die am seltensten auftretende Konfliktschwere darstellen. Die hohe Anzahl an Fahrzeugen, welche in einen überfluteten Bereich einfahren und mit einem Wasserschlag liegen bleiben zeigt, dass die Verkehrsteilnehmenden teilweise nicht einschätzen können, wann das Durchfahren eines überfluteten Fahrbahnbereiches gefahrlos möglich ist. Lediglich zwei Unfälle sind nicht auf einen Wasserschlag an einem Kfz zurückzuführen. Dabei handelt es sich um Unfälle mit geringem Sachschaden. So fährt z.B. ein wendendes Fahrzeug rückwärts gegen eine Laterne. Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Konflikttyp und der Wassertiefe (eigene Darstellung) Die beobachteten Unfälle und Konflikte durch Wasser auf der Fahrbahn treten vor allem bei Wasserständen über 20 cm auf (Abbildung 2). Die Wattiefe von Personenkraftwagen liegt im Regelfall zwischen 30 und 50 cm (Kramer et al. 2016) wodurch mit zunehmender Wassertiefe vermehrt Alleinunfälle aufgrund von Wasserschlägen zu verzeichnen sind. Abbildung 3: Prozentuale Konflikthäufigkeit in Abhängigkeit von der Wassertiefe (Fesser 2019) Auch die prozentuale Konflikthäufigkeit steigt mit zunehmender Wassertiefe der Überflutung und reicht von 4 % bei Wassertiefen zwischen 10 cm und 20 cm über 35 % bei Wassertiefen zwischen 30 cm und 40 cm bis zu 100 % für Wassertiefen über 50 cm (Abbildung 3). Erklären lässt sich das durch die zunehmende Anzahl von Alleinunfällen mit steigender Wassertiefe. Wellenbildung erhöht dabei die Gefahr für einen Wasserschlag auch unterhalb der Wattiefe eines Kfz. 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 195 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit Abbildung 4: Aufteilung nach Verkehrsmitteln (eigene Darstellung) 80 % der betrachteten Konflikte und Unfälle entfallen auf Pkw, 6 % auf Fahrräder und 4 % auf Lkw (Abbildung 4). Während sämtliche Konflikte mit den Konfliktschweren leichter Konflikt, schwerer Konflikt und Unfall auf Pkw und Lkw entfallen, sind besonders vulnerable Verkehrsteilnehmende wie Radfahrende in den betrachteten Videos lediglich in Interaktionen verwickelt. Abbildung 5: gefahrene Geschwindigkeiten bei Überflutungssituationen (eigene Darstellung) 90 % der Verkehrsteilnehmenden sind in den analysierten Videos mit einer Geschwindigkeit von maximal 40 km/ h unterwegs (Abbildung 5). Nach (Gallaway et al. 1979, Reed et al. 1984) tritt Aquaplaning selbst bei hohen Wasserfilmdicken erst ab einer Geschwindigkeit von über 60 km/ h auf, so dass Aquaplaning bei den betrachteten innerstädtischen Situationen nicht beobachtet wurde. Das niedrige Geschwindigkeitsniveau hat zur Folge, dass abgesehen von den Alleinunfällen liegenbleibender Fahrzeuge, überwiegend nur leichte Interaktionen beobachtet wurden. 93 % der Verkehrsteilnehmenden sind mit einer angepassten Geschwindigkeit unterwegs. Die Geschwindigkeit wird als angepasst bewertet, wenn durch diese keine Gefährdung des Verkehrsteilnehmenden selbst (z. B. durch einen Kontrollverlust über das Fahrzeug) oder für andere Verkehrsteilnehmende (z. B. Beeinträchtigung der Sicht entgegenkommender Verkehrsteilnehmender durch Spritzwasser) besteht. Bei den analysierten Situationen lässt sich beobachten, dass unsichere und besonders vorsichtige Verkehrsteilnehmende oftmals durch nachfolgende Fahrzeuge zum Weiterfahren gedrängt werden. Zudem sind Verkehrsteilnehmende zu beobachten, die ihr Kraftfahrzeug auf die Gegenfahrbahn oder über baulich von der Fahrbahn getrennte Geh- und Radwege lenken, um so überflutete Fahrbahnbereiche zu umfahren. Bei einem solchen Ausweichen bzw. beim Umfahren einer Überflutungsstelle ist ein Schwarmverhalten festzustellen. Führt ein Verkehrsteilnehmender ein solches Ausweichmanöver durch, folgen häufig weitere Verkehrsteilnehmende dem Beispiel. Ausweichmanöver sind insbesondere bei Wasserständen über 20 cm Wasserhöhe zu beobachten. Bei Wasserständen unter 20 cm fahren die Verkehrsteilnehmenden hingegen meist direkt durch den überfluteten Fahrbahnbereich. 3. Rechtliche Rahmenbedingungen für eine temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkregenereignissen auf Straßen Eine wesentliche rechtliche Anforderung für eine temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkregenereignissen auf Straßen bildet die Verkehrssicherungspflicht (Benden 2014). Diese besagt, dass Verkehrsteilnehmende vor den Gefahren zu schützen sind, welche ihnen bei zweckentsprechender Benutzung öffentlicher Verkehrsflächen aus deren Zustand entstehen (König et al. 2011). Die Verkehrssicherungspflicht trifft dabei denjenigen, der die Gefahr geschaffen hat oder für sie verantwortlich ist (Rotermund & Krafft 2008). Bei öffentlichen Verkehrsflächen liegt die Verkehrssicherungspflicht somit in der Regel beim Baulastträger (Staab 2003). Die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht hat Schadensersatzansprüche gegenüber dem Straßenbaulastträger zur Folge. Der genaue Umfang der Verkehrssicherungspflicht ist nicht gesetzlich geregelt, sondern ergibt sich vielmehr aus einer umfangreichen Rechtsprechung wie dem BGH 1970, BGH 1994, OLG Bamberg 1970, OLG Bamberg 1990, OLG Düsseldorf 1995, OLG Hamm 1999, OLG Mannheim 1966 (Staab 2003). Im Grundsatz richtet sich die Verkehrssicherungspflicht nach dem Verkehrsbedürfnis und ist daher für Hauptverkehrsstraßen höher als für gering befahrene Wohnwege (Heß 2008). Aus Sicht der Verkehrssicherheit sind Sicherungsmaßnahmen erforderlich, die ein verständiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren (BGH 1994). Die Verkehrsteilnehmer haben sich auf die gegebenen erkennbaren Straßenverhältnisse einzustellen ( Rotermund & Krafft 2008). Einen Anspruch auf völlig gefahrlose und gute Verkehrs- 196 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit wege gibt es nicht (Staab 2003). Bei planerische bewusst geschaffenen möglichen Gefahrenlagen, wie dies bei der Mitbenutzung von Verkehrsflächen für die Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen der Fall ist, werden jedoch besonders strenge Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht gelegt (König 2011). Dabei sind die Anforderungen der Verkehrssicherungspflicht für die Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf Verkehrsflächen mit denen für verkehrsberuhigende Einbauten im Straßenraum vergleichbar. So sind nach der Rechtsprechung des BGH 1991 geschwindigkeitsdämpfende Maßnahmen und auch Hindernisse mit der Verkehrssicherungspflicht vereinbar, so lange diese nicht selbst zur Quelle einer Verkehrsgefährdung werden indem sie trotz verkehrsgerechten Verhaltens des Fahrenden dessen Fahrzeug beschädigen (Götker NZV 1995; Berz & Burmann 2017). Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf tiefergelegte Fahrzeuge gelegt. So verlangen das OLG München sowie das OLG Hamm, dass von Maßnahmen wie z.B. Aufpflasterungen keine Gefahren für tiefergelegte Fahrzeuge bei Einhaltung der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit ausgeht (Götker NZV 1995). Zudem ist bei Beschädigung tiefergelegter Fahrzeuge eine Mithaftung des Fahrenden zu prüfen (OLG Köln 1992). So sollte der Fahrende eines tiefergelegten Fahrzeuges um die besondere Gefährdung des Fahrzeuges durch Bodenschwellen und ähnliche Hindernisse wissen und es kann von ihm verlangt werden, dass er diese besonders vorsichtig (auch langsamer als die zulässige Höchstgeschwindigkeit) überfährt (OLG Düsseldorf 1996). Der Fahrende muss sich vergewissern, ob das Hindernis gefahrlos überfahren werden kann und muss ggf. umkehren (OLG Celle MDR 2000). Erst wenn das Überfahren des Hindernisses auch bei Schrittgeschwindigkeit für den Fahrenden nicht erkennbar zu Schäden führt wird von einer Unabwendbarkeit ausgegangen (OLG Hamm NJW 1993). Bei der Mitbenutzung von Verkehrsflächen für die Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen sind ausreichende Vorsorgemaßnahmen vorzusehen und die Verkehrsteilnehmenden vor den eventuellen Beeinträchtigungen zu warnen (Werner 2012). Vorsorgemaßnahmen in für die Mitbenutzung vorgesehenen Straßen können die Gewährleistung darstellen, dass bestimmte Wasserstände nicht überschritten werden, keine verdeckten Hindernisse bestehen oder die zulässige Höchstgeschwindigkeit reduziert wird. Durch diese Vorsorgemaßnahmen versucht der Straßenbaulastträger aktiv die Gefahr zu reduzieren und im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglichst lange die, wenn auch eingeschränkte, Nutzbarkeit der Straße zu gewährleisten. Strengere Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht gelten dabei vor allem für Kinder. Allerdings darf in angemessenem Maß auf die Aufsichtspflichten und die soziale Kontrolle durch die Nutzenden vertraut werden (Scheid et al. 2018). Zudem ist mit Gefahrenzeichen auf die Mitbenutzung der Straße für die Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen hinzuweisen. So können mit dem Verkehrszeichen 101 „Achtung Gefahrenstelle“ die Verkehrsteilnehmenden gewarnt und zur Vorsicht aufgefordert werden. Vor Überflutungen, die nicht sicher passiert werden können, sollte durch das Verkehrszeichen 2014 „Fahrbahn überflutet“ hingewiesen und die Straße gesperrt werden (Rotermund / Krafft 2008; OLG Hamm 1999). Zudem sollte der Straßenzustand regelmäßig überwacht werden (BGH 1970). So ist nach Überflutungen die Fahrbahn von eventuellen schmierigen Rückständen zu reinigen. 4. Anforderungen an die Gestaltung städtischer Straßen für eine gezielte temporäre Rückhaltung und Ableitung von Starkniederschlägen Auf Grundlage der Ergebnisse aus der Literaturanalyse, der Unfallanalyse, der videobasierten Verkehrskonfliktanalyse und der Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen lässt sich eine erste Einschätzung zu den Auswirkungen einer gezielten temporären Rückhaltung und Ableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen treffen. Nach den bisherigen Erkenntnissen ist bei der Einhaltung nachfolgender Rahmenbedingungen von einer geringen Gefährdung der Verkehrsteilnehmenden auszugehen: - Wasserstandshöhe: Die Wasserstandshöhe auf der Fahrbahn ist auf maximal 15 bis 20 cm zu begrenzen, um der Gefahr eines Wasserschlags für Kraftfahrzeuge vorzubeugen. Bei Wasserständen über 20 cm steigt für Kraftfahrzeuge die Gefahr eines Wasserschlags deutlich, weshalb der überflutete Fahrbahnabschnitt in diesem Fall für den Kfz-Verkehr gesperrt werden sollte. Es ist außerdem darauf zu achten, dass Wasserstände über 40 cm vermieden werden, da vor allem in Verbindung mit strömendem Wasser die Gefahr des Ertrinkens in weggeschwemmten Fahrzeugen besteht. Zudem wird durch Wasserstände von maximal 15 bis 20 cm die Sturzgefahr von zu Fuß Gehenden reduziert. Wenn möglich ist ein Notüberlauf von der Fahrbahn in schadensarme Freiräume vorzusehen, um den maximalen Wasserstand zu begrenzen. - Fließgeschwindigkeiten: Hohe Fließgeschwindigkeiten des Regenwassers sind zu vermeiden, da durch sie die Sturzgefahr von zu Fuß Gehenden und Radfahrenden steigt und die Gefahr eines Wasserschlages für Kraftfahrzeuge durch Auftürmen des Wassers vor diesen zunimmt. - Geschwindigkeit: Es sollten Straßen mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von maximal 50 km/ h, besser sogar nur 30 km/ h, für die gezielte temporäre Rückhaltung und Ableitung von Niederschlagswasser gewählt werden. Durch zulässige Höchstgeschwindigkeiten unter 50 km/ h wird die Gefahr von Unfällen durch Aquaplaning ausgeschlossen. Zudem ist bei geringen Geschwindigkeiten die Konfliktschwere meist deutlich geringer. 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 197 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit - Verkehrsstärke: Bei hohen Verkehrsstärken werden unsichere Verkehrsteilnehmende durch nachfolgende Fahrzeuge häufig unter Druck gesetzt, was die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Konflikten erhöht. Straßen mit einer geringen Verkehrsstärke bieten sich somit eher für eine gezielte temporäre Rückhaltung an als Straßen mit einer hohen Verkehrsbelastung. - Information der Verkehrsteilnehmenden über die Überflutungssituation: Die Verkehrsteilnehmenden müssen rechtzeitig auf die Überflutungssituation hingewiesen werden. Zudem sind Information über den Wasserstand und zur Frage hilfreich, ob dieser ohne Fahrzeugschaden durchfahren werden kann. - Sichtbarkeit/ Erkennbarkeit: Der überflutete Fahrbahnbereich muss für die Verkehrsteilnehmenden gut einsehbar sein, damit diese rechtzeitig reagieren können. - Hindernisse: Der für einen gezielten temporären Einstau vorgesehene Straßenabschnitt muss frei von Hindernissen sein, welche durch das Wasser verdeckt werden können und somit eine Gefahr für die Verkehrsteilnehmenden darstellen. Der Gefahr weggeschwemmter Gullideckel ist vorzubeugen. - Platzverhältnisse: Für eine gezielte Rückhaltung und Ableitung muss ein Straßenraum ausreichend Platz aufweisen, damit Verkehrsteilnehmende problemlos halten und auf die Situation reagieren können. Straßenabschnitte mit einem geringen Platzangebot, wie etwa Unterführungen, eigenen sich nicht für eine gezielte Rückhaltung und Ableitung. Der für die temporäre Rückhaltung vorgesehene Straßenabschnitt sollte übersichtlich sein, um Interaktionen und leichte Konflikte durch Wenden, Rangieren oder Ausweichen von Fahrzeugen zu vermeiden. - Umfahrungsmöglichkeit: Für den für eine gezielte temporäre Rückhaltung und Notableitung vorgesehenen Straßenabschnitt sollte eine Umfahrungsmöglichkeit für vorsichtige Verkehrsteilnehmende besitzen. Darüber hinaus ermöglicht dies die Sperrung des überfluteten Straßenabschnittes und die Umleitung des Verkehrs im Falle von Wasserständen auf der Fahrbahn von über 20 cm. - Rettungswesen: Bei Hauptrouten für Feuerwehr und Rettungsdienst ist deren Durchfahrbarkeit für diese Dienste des Rettungswesens jederzeit sicherzustellen und im Zweifelsfall auf eine Gestaltung des Straßenraums für eine temporäre Rückhaltung und Notabtleitung zu verzichten. - Barrierefreiheit: Auch bei für die gezielte temporäre Rückhaltung vorgesehenen Straßenräumen sind die Anforderungen der Barrierefreiheit zu berücksichtigen. Konflikte mit der Barrierefreiheit können sich bei hohen Bordsteinen für ein großes Rückhaltevolumen ergeben. Es sind aber auch Synergien vorstellbar z.B. durch Fahrbahnschwellen, die eine barrierefreie Querung ermöglichen und als Kaskade für die Rückhaltung des Starkregens dienen können. Die Anforderungen sind im Einzelfall zu lösen. - Schutz des Fuß- und Radverkehrs: Eine Gefährdung des Fuß- und Radverkehrs durch vor überfluteten Straßenabschnitten ausweichende Kraftfahrzeuge ist zu vermeiden. - Umfeldnutzungen: Schutzwürdige Nutzungen wie Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser oder Altenheime in der Nähe eines Standorts für eine gezielte temporäre Rückhaltung von Starkregen erhöhen die Gefahr, dass sich Kinder und weitere schutzwürdige Personen im Straßenraum aufhalten. Deren erhöhte Vulnerabilität bei Überflutungssituationen sollte berücksichtigt und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen umgesetzt werden. 5. Methode zur Bewertung eines potenziellen Standorts Um die Eignung eines aus wasserwirtschaftlicher Sicht für eine temporäre Rückhaltung und Notableitung geeigneten Straßenabschnitts aus Sicht der Verkehrssicherheit zu analysieren wird eine sechsstufige Bewertungsmethodik vorgeschlagen. Im ersten Schritt wird die Verkehrssicherheit an den potenziellen Standorten bei normalen Witterungsverhältnissen und in ihrer jetzigen Gestaltung bewertet. Dazu werden die Unfallsituation an diesem analysiert und eine Verkehrskonfliktanalyse durchgeführt. Im zweiten Schritt wird die Verkehrssicherheit an den potenziellen Standorten in ihrer jetzigen Gestaltung bei Auftreten eines Starkregenereignisses bewertet. Die Bewertung kann dabei mithilfe eines an den Empfehlungen für das Sicherheitsaudit von Straßen (ESAS) orientierten Anforderungskataloges erfolgen, welcher die für die Gestaltung des Straßenraums für eine gezielte temporäre Rückhaltung und Ableitung von Starkniederschlägen aus Sicht der Verkehrssicherheit identifizierten Anforderungen abfragt (Fesser 2019). Dabei wird geprüft, ob die in Schritt 1 durchgeführte Analyse der Unfallsituation oder die Verkehrskonfliktanalyse Defizite aufgedeckt haben, welche bei einem Starkregenereignis eine Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellen können. In Schritt 3 werden, aufbauend auf den Ergebnissen aus den ersten beiden Verfahrensschritten, für die potenziellen Standorte möglichst verkehrssichere Varianten für eine Rückhaltung von Regenwasser bei Starkregenereignissen entwickelt. Vorhandene Defizite in Bezug auf die Verkehrssicherheit sollen dabei sowohl für die Normalsituation als auch für die Situation eines Starkregenereignisses möglichst beseitigt werden. In Schritt 4 wird die an den potenziellen Standorten nach deren Umgestaltung entsprechend der Entwürfe aus Schritt 3 zu erwartende Verkehrssicherheit unter normalen Witterungsverhältnissen bewertet. Dazu werden die im ersten Verfahrensschritt ermittelten Mängel herangezogen und überprüft, ob diese nach der Umgestaltung der potenziellen Standorte für eine temporäre 198 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen auf städtischen Straßen - Rahmenbedingungen hinsichtlich der Verkehrssicherheit Rückhaltung immer noch bestehen würden. Außerdem wird untersucht, ob durch die Umgestaltung der Standorte neue Sicherheitsdefizite entstehen. In Schritt 5 erfolgt die Untersuchung der Verkehrssicherheit für die umgestalteten potenziellen Standorte mithilfe deren Entwürfe im Falle eines Starkregenereignisses. Die Basis für die Bewertung bildet wiederrum die bereits in Schritt 2 dargestellte Methodik. Abbildung 6: Ablauf der Bewertungsmethode zur Untersuchung der Eignung eines potenziellen Standorts für eine gezielte temporäre Rückhaltung von Starkregenereignissen aus Sicht der Verkehrssicherheit (Fesser 2019) Im abschließenden Schritt 6 wird anhand eines Vergleiches der Vorher-Nachher-Situation bewertet, wie sich die Verkehrssicherheit durch die Umgestaltung der potenziellen Standorte entwickelt. Die Ergebnisse ermöglich letztlich eine Abschätzung darüber, ob sich ein potenzieller Standort aus Sicht der Verkehrssicherheit für eine gezielte temporäre Rückhaltung und Ableitung von Niederschlagswasser bei Starkregenereignissen eignet. 6. Fazit und Ausblick Werden die vorgestellten Anforderungen bei der Auswahl und Gestaltung eines Straßenraums für eine gezielte temporäre Rückhaltung und Ableitung von Niederschlagswasser im Falle eines Starkregenereignisses berücksichtigt, ist nach den bisherigen Erkenntnissen keine Verschlechterung der Verkehrssicherheit zu erwarten. Basierend auf den dargestellten Rahmenbedingungen werden im F+E-Vorhaben BlueGreenStreets geeignete Standorte für Pilotvorhaben für die Mitbenutzung von Straßen für die Rückhaltung und Ableitung von Starkniederschlägen identifiziert. In diesen Pilotvorhaben wird untersucht, ob sich die bisherigen Erkenntnisse geringer Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit bestätigt lassen. Quellen [1] Akin, D.; Sisiopiku, V.P.; Skabardonis, A., 2011, Impacts of Weather on Traffic Flow Characteristics of Urban Freeways in Istanbul, Procedia - Social and Behavioral Sciences, Volume 16, S. 89-99 [2] Andrey, J.; Yagar, S., 1993, Accident Analysis & Prevention, Volume 25, Issue 4, S. 465-472 [3] Andrey, J.; Mills, B.; Vandermolen, J., 2001, Weather Information and Road Safety. 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