eJournals Kolloquium Straßenbau in der Praxis 2/1

Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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Was kommt nach 5D? Digitalisierung über den Lebenszyklus

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Christof Gipperich
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2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 463 Was kommt nach 5D? Digitalisierung über den Lebenszyklus Prof. Dr. Christof Gipperich Hochschule Biberach 1. Einleitung Obwohl vor dem Hintergrund des Stufenplans der Bundesregierung zu Building Information Modeling (BIM) eine breite Einführung der Technologie ab 2021 im Straßenbau zu erwarten wäre, müssen wir feststellen, dass der Straßenbau, insbesondere der kommunale Straßenbau, anderen Bereichen der Baubranche deutlich hinterher hängt. Die bestehenden Hindernisse lassen sich in technologische Aspekte und strukturelle Aspekte aufteilen. Technologisch betrachtet sind die gebräuchlichen CAD-Softwareprodukte wenig intuitiv. Die Softwareanwendungen hinken dem Entwicklungsstand des Hochbaus hinterher. Softwarearchitekturen oder geschlossene Softwarelösungen, mit denen die notwendigen Anwendungsfälle im Straßenbau wirklich störungsfrei und für den Planer wirklich komfortabel abgedeckt werden können, sind am Was kommt nach 5D? Digitalisierung über den Lebenszyklus 464 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Markt z. Z. nicht zu finden. Zudem stehen viel zu wenig frei im Netz verfügbare Bauteile und Baugruppen zur Verfügung. Die strukturellen Hürden erscheinen jedoch deutlich höher. Hintergrund sind die i.d.R. jahrelangen, nicht selten sogar jahrzehntelangen Vorlaufzeiten der Projekte. Die Planungen sind mit Technologien aufgesetzt, die Jahrzehnte alt sind und kaum Bezug zur BIM-Denke aufweisen. Gleiches müssen wir leider auch für die Prozesse feststellen, in denen die Strukturen der Bauherren, der Fachplaner und der ausführenden Unternehmen denken und arbeiten, u.a. der mangelhafte Wille zur Vernetzung zum Wissensaustausch (die eigentlichen Treiber der Digitalisierung) und zur Innovation. Oft fehlen das Streben und der Wille, dass Machbare umzusetzen, sich auf neues Terrain zu wagen, Geübtes und Gewohntes fallen zu lassen und Neues zu wagen. Die Vergaberichtlinien der öffentlichen Hand und deren Handhabung in der Praxis sind hier das Paradebeispiel. Die VOB/ A steht in krassem Kontrast zur kollaborativen Arbeitsmethodik nach BIM. Die haushaltsrechtlich begründeten kleinteiligen Vergaben von Planungs- und Bauleistungen widersprechen den in der BIM-Methode geforderten und produktivitätserhöhenden ganzheitlichen Lebenszyklus- und Wertschöpfungskettenbetrachtungen. Allerdings ist auch festzustellen, dass bei den Softwareprodukten aktuell große Fortschritte gemacht werden und eine 5D-Anwendung im Straßenbau, mit ein paar Einschränkungen, zumindest kein unüberwindliches technologisches Problem mehr darstellt. Das haben wir an der Hochschule Biberach im Rahmen einer Semestergruppenarbeit (Bachelor 7. Semester) analysiert, in der insgesamt 23 Programme der Kategorien CAD, Terminplanung, Kostenplanung, Modelchecker / 5D Baumanagement, Visualisierung und Simulation getestet in einer agilen Matrix bewertet wurden. Unten dargestellt ist eine Softwarearchitektur, welche auf der Basis der verbreiteten CAD-Anwendung card1 hin zu einer BIM-5D- Lösung eingesetzt werden könnte und sich aus Sicht der Hochschule als eine praxistaugliche Lösung darstellt. Andere Lösungsansätze für eine BIM 5D Softwarearchitektur sind je nach Gewichtung der unterschiedlichen Vor- und Nachteile sinnvoll, wobei sich als größter Kritikpunkt die Fehleranfälligkeit und der Informationsverlust bei der Datenübergabe, vor allem aber der notwendige Arbeitsaufwand zur Datenübergabe bei s.g. „open BIM“-Lösungen herauskristallisiert. Hier sind geschlossene Lösungen, s.g. „closed BIM“-Lösungen derzeit anwendungsfreundlicher, auch wenn diese Entwicklung aus marktwirtschaftlicher Sicht ausgesprochen kritisch zu betrachten ist, im Trend möglicherweise aber gar nicht mehr zu stoppen ist. Abbildung 1: Beispielhafte BIM 5D Softwarearchitektur (Hochschule Biberach) Die Erzeugung und Nutzung von digitalen Bauwerksmodellen nimmt also auch im Straßenbau langsam aber sicher Fahrt auf. Die exemplarisch aufgeführten Hindernisse werden in den nächsten Jahren überwunden werden, wahrscheinlich schneller als wir erwarten. Die Mühlen mahlen zwar langsam, aber die Zeit ist jetzt reif. Wesentlicher Treiber wird vermutlich der Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung bei den Bauingenieuren sein, die national betrachtet und auf Sicht gar nicht mehr beeinflussbar ist. Immer mehr Infrastruktur, denken Sie an die notwendigen Erneuerungsarbeiten, an den Ausbau der digitalen Infrastruktur oder die Energiewende, muss mit immer weniger und immer älteren Ingenieuren geschaffen werden. Junge Ingenieure zieht es übrigens schon seit Jahren in den Hochbau. Davon kann ich authentisch von der Hochschule berichten. Denn im Hochbau geht zunehmend die „digitale Post“ ab, es entstehen moderne und zeitgemäße Arbeitsplätze, die immer weniger mit Maßstab, Massen ziehen und Aufmaßblättern zu tun haben. BIM 5D im aktuellen Verständnis (dreidimensionale CAD-Daten erweitert und Termin und Kosteninformationen) wird zunehmend Standard sein. 2. Was kommt nach BIM 5D? Der Beginn einer spannenden Reise Mit der Planung und der Erstellung von 5D-Modellen als digitaler Zwilling sind wir aber erst am Anfang einer zunehmend dynamischen Entwicklung. Denn der Bau und der Unterhalt/ Betrieb sind bisher kaum von der Digitalisierung erfasst, obwohl sie oft mehr als 90 % der Wertschöpfung im Lebenszyklus ausmachen. Im Umfeld der Hochschule Biberach arbeiten wir mit Lösungsansätzen, die weit über CAD-Lösungen hinausgehen und sich u.a. aus Kollaborationen mit der Gaming-Industrie ergeben. 2.1 Beispiel 1: Digitale Bürgerbeteiligung Immer wieder kommt es zu politischen Diskursen und Widerständen gegen Infrastrukturprojekte. Ein Grund ist die nicht funktionierende Einbeziehung der Bürger in den Beteiligungsprozessen. Denn der Großteil der Bür- Was kommt nach 5D? Digitalisierung über den Lebenszyklus 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 465 ger kann sich die Planungen und die damit verbundenen Vor- oder Nachteile der Projekte nicht oder nur schwer vorstellen. 14 Masterstudierende der Hochschule Biberach haben im Sommersemester 2020 einen Prototyp einer digitalen Bürgerbeteiligung am Beispiel Marktplatz Biberach erarbeitet. Abbildung 2: Marktplatz Biberach real (Stadt Biberach) und virtuell (Hochschule Biberach) Hintergrund ist die durchaus kontroverse Diskussion über einen autofreien Marktplatz, der sicherlich aus umweltpolitischen Gründen beachtenswert ist und bei vielen Bürgern auf Wohlwollen stößt, weil damit der Marktplatz an Freizeit- und Erlebniswert gewinnt. Dementgegen stehen aber durchaus ebenfalls ernst zu nehmende Befürchtungen der Einzelhändler, dass ein autofreier Marktplatz ohne Parkraum unmittelbar vor den Geschäften die Umsätze der Einzelhändler negativ beeinflussen kann. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es heute nicht möglich, eine eindeutige Bewertung der Vor- und Nachteile vorzunehmen. Das ist und bleibt eine politische und damit demokratisch zu legitimierende Entscheidung. Dabei haben sich die Studierenden im Projekt verschiedenster Technologien bedient u.a. aus der Gaming-Welt. • Zunächst wurde der Marktplatz photogrammetrisch aufgenommen. • Anschließend wurden drei Mobilitätskonzepte für den Marktplatz erarbeitet und die notwendigen baulichen Maßnahmen in CAD mit verschiedenen Softwareprodukten modelliert. • Das photogrammetrische Modell und die CAD-Modelle wurden durch das Unternehmen LocLab aus Darmstadt in einem s.g. „Player“ zusammengeführt. Abbildung 3: Marktplatz Biberach CAD Anwendung Blender (Hochschule Biberach) Die Bürger können nunmehr ihren Marktplatz mit den unterschiedlichen Mobilitätskonzepten in einem Gaming-Umfeld virtuell bemustern, also mit sehr hoher Immersion im virtuellen Raum über den Marktplatz spazieren und dabei zwischen den o.g. Konzepten jederzeit umschalten. Abbildung 4: Mobilitätskonzepte Marktplatz Biberach (Hochschule Biberach) „Sahnehäubchen“ ist ein Konfigurator, mit dem sich der Bürger im Player seinen individuell gestalteten Favoriten bauen kann. Die Software wurde durch die Studierenden zudem bereits so vorbereitet, dass interessierte Bürger ihre favorisierte Marktplatzgestaltung per E-Mail hochladen können und so eine digital gestützte Bürgerbefragung möglich wird. Über den QR-Code in Abbildung 5 bzw. über den Link kommen Sie zur Homepage der Hochschule Biberach und können den Player downloaden, eine auch über Was kommt nach 5D? Digitalisierung über den Lebenszyklus 466 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Smartphone nutzbare Browseranwendung nutzen oder vorbereitete virtuelle Rundgänge streamen. https: / / www.hochschule-biberach.de/ digitaler-marktplatz Abbildung 5: QR-Code und Link zum Player „Digitaler Marktplatz“ (Hochschule Biberach) 2.2 Beispiel 2: Bauprozess- und Betriebsplanung Der Bau und der Unterhalt/ Betrieb sind bisher kaum von der Digitalisierung unter dem Synonym „BIM“ erfasst, obwohl sie i.d.R. mehr als 90 % der Wertschöpfung im Lebenszyklus ausmachen. Abbildung 6: BIM und Lebenszykluskosten (eigene Darstellung) Beschränken wir uns nur auf die Produktion eines Bauwerkes, also das Planen Bauen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass auch hier der maßgebliche Teil der Wertschöpfung durch BIM nicht erfasst wird. Denn bei BIM geht es um das Planen. Die eigentliche Kernkompetenz der Bauunternehmen, die Bauproduktion oder besser die Bauprozesse, werden zurzeit noch nicht abgebildet. Das mag auch der Grund sein, warum sich BIM gerade bei den Bauunternehmen so schleppend durchsetzt. Aktuell ist BIM keine wirkliche 5D-Planung, weil die Bauprozesse nicht digital geplant werden. Digital ermittelte Massen werden mit analogen s.g. „Aufwandswerten“ in Kalkulation und Terminplanung vermischt. Deshalb kann BIM aktuell auch nur die „halbe Wahrheit“ bei den Baukosten, nämlich die massebezogenen Kosten digital und mit zeitgemäßer Genauigkeit erfassen. In der nachfolgenden Graphik sind die wirklich digital ermittelten Kosten- und Terminanteile grün dargestellt, die herkömmlich analog mit Schätz- und Erfahrungswerten ermittelten Anteile in orange dargestellt. Abbildung 7: Herkömmliches BIM-5D. Digital und analog ermittelte Kosten und Terminanteile (eigene Darstellung) Soweit wir s.g. Simulationen in verschiedenen Softwareprodukten sehen, handelt es sich durchweg um händisch erzeugte Verknüpfungen von herkömmlich erzeugten Balkenplänen mit dem Bauwerksmodell, also um Visualisierungen des Terminplans oder nachträglich ebenfalls auf der Basis von Balkenplänen oder den s.g. Phasenplänen erzeugte Videos. Die Planungsumgebung der Bauprozessplanung ist herkömmlich aber immer analog. In einem hochschulnahen Startup wird z.Z. eine Software entwickelt, die eine ganz neuartige intuitive und interaktive Bauprozessplanung ermöglicht und sich dabei wiederum auf Werkzeuge der Gaming Industrie abstützt. Ausgangsbasis der Planungen ist immer das digitale Bauwerksmodell, d.h. die Bauprozessplanung ist wie alles bei BIM objektorientiert. Das Model wird zusammen mit Umgebungsdaten in die Software geladen, die Gamer bezeichnen das als „in die Welt holen“ und meinen damit ihre virtuelle Welt. Für etwas ältere Semester entsteht dadurch so etwas wie ein digitaler Sandkasten, in dem wir virtuell solange mit Baugeräten etc. spielen können, bis wir den richtigen Bauablauf und Bauprozess gefunden haben. Wir planen also tatsächlich erst, bevor wir bauen. Ist der BIM-Sandkasten betriebsbereit, wird zunächst die Baureihenfolge festgelegt. Das ist die herkömmliche Bauablaufplanung, die wir aus der Balkenplanerstellung kennen. Allerdings machen wir das in der Prozessplanung Bau vorzugsweise mit VR und Controller. In Abbildung 9 finden sich zwei Videolinks, die die Bauablaufplanung und die Bauprozessplanung zeigen. Was kommt nach 5D? Digitalisierung über den Lebenszyklus 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 467 Abbildung 8: Workflow digitale Prozessplanung Bau am Beispiel der Software dproB (Building Information Innovator GmbH) In der Bauprozessplanung bauen wir jetzt tatsächlich. Wir positionieren Geräte, lassen sie fahren und drehen, führen Hubprozesse durch, Laden und Entladen u.v.a.m. Je nach Anwendungsfall (rail, road ….) müssen heute noch unterschiedliche Geräte konfiguriert werden, weil die Gerätehersteller i.d.R. noch keine digitalen Modelle der Baugeräte bereitstellen. Auch das ist hoffentlich nur noch eine Frage der Zeit. Mit dieser Bauprozessplanung erkennen wir zum einen die „Baubarkeit“ von bestimmten Bauwerken bzw. die dazu notwendigen Aufwendungen (denken Sie an komplexe innerstädtische Infrastruktur) und erkennen, wie verschiedene Bauprozesse ineinandergreifen (denken sie an die letzten Wochen eines komplexen Hochbaus). Vor allem gelingt es uns mit der digitalen Prozessplanung Bau endlich ein Verständnis für den vollständigen Bauprozess zu gewinnen und damit für Termine und Baukosten. Denn sind wir einmal ehrlich: Bei etwas komplexeren Baustellen kommen wir schlicht an die Kapazitätsgrenzen unseres Gehirns, weil uns die Abspeicherungsmöglichkeiten und resultierend auch die Kommunikationsmedien fehlen. Haben Sie sich einmal den Bauprozess einer fünfjährigen innerstädtischen Tunnelbaustelle von Ihrem erfahrenen Arbeitsvorbereiter und Terminplaner im Detail erläutern lassen? Wenn Sie nach einem halben anstrengenden Tag verstanden haben, wie das nächste halbe Jahr im groben nach den Vorstellungen des Planers abläuft, können sie sich auf die Schulter klopfen. Die gleichen Bauprozesse wie der Planer haben Sie dabei noch lange nicht im Kopf. Abbildung 9: digitale Bauablaufplanung und Bauprozessplanung (Building Information Innovator GmbH) Neben dem Vorteil der immersiven digitalen Planung und Kommunikation ergeben sich die maßgeblichen Wirtschaftlichkeitseffekte durch Produktivitätszuwächse, in dem wir den Gedanken der Planung mit BIM auf die Bauproduktionsplanung übertragen. Auch wenn viele Architekten und Bauingenieure noch darauf schwören, dass es sich bei Bauwerken um die s.g. Losgröße 1 handeln muss, also immer wieder besonders speziell an die Bedürfnisse des Bauherrn angepasste Einzelfertigungen, so wissen wir doch aus der Realität des digitalen Planens, dass wir uns über copy and paste, so gut es möglich ist, aus „Altplanungen“ bedienen (so wie wir in Word auch nicht immer wieder neu schreiben), wo es geht Objekte oder Bauteilfamilien aus dem Netz oder dem firmeneigenen Server laden u.v.a.m., um den Planungsaufwand zu reduzieren und Performance zu bekommen. Erst das macht die digitale Planung gegenüber der herkömmlichen Planung effektiv. Das führt aber zwangsläufig auch zu gewissen Standardisierungen. Abbildung 10: Standardisierung von Bauwerksplanungen, Bauabläufen und Bau-prozessen (eigene Darstellung) Deshalb basieren wie die Bauwerksplanung auch die Bauabläufe und Bauprozesse möglichst weitgehend auf digital hinterlegten objektorientierten Standards, den s.g. Sequenzen. So kann u.a. das Wissen der Baufirmen zum ersten Mal digital gespeichert werden. Erfahrene Baufachlaute können Ihr Wissen digital archivieren. Standardisierte digitale erfasste Prozesse öffnen zudem die Möglichkeit eines effektiven KVP-Prozesses, weil immer nur die sich am besten in der Praxis bewährte Sequenz digital in einer Datenbank archiviert ist. Viele Erfahrungen aus anderen Branchen (denken Sie an die Plattformtechnologie beim Automobilbau) zeigen, dass die Standardisierung und Digitalisierung der Bauplanungen, der Bauabläufe und Bauprozesse die entscheidende Grundlage für eine effektive Vernetzung von Wertschöpfungsketten und damit verbundenen sprunghaften Produktivitätssteigerungen ist. Für den Bau zeigen das einige inzwischen verfügbare Studien z.B. von McKinsey auf. Gemeinsam mit verschiedenen Industriepartnern als Early Adopter wurde bereits ein s.g. „Stable MVP“ zur