Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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Software so dynamisch und flexibel, wie der Bauprozess - Wie Netflix hilft, die Asphaltlogistik zu steuern
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Marcus Müller
Volker Natzschka
Die digitale Transformation im Bauwesen ist in vollem Gange. Dabei entstehen komplexe und heterogene Systemlandschaften, die längst nicht mehr an den Grenzen des eigenen Bauunternehmens halt machen. Diese Landschaften sind die Folge dynamischer und ausdifferenzierter Wertschöpfungspartnerschaften und die Fortsetzung der dem Bauwesen inhärenten Zersplitterung der Leistungserstellung in der digitalen Welt. Resultat davon sind hochindividuelle Prozesslandschaften, die innerhalb des Bauunternehmens zwar standardisiert sind, in verschiedenen Bauunternehmen aber hinsichtlich der eingesetzten vor- und nachgelagerten Systeme, Verfahren und Wertschöpfungsnetzwerken einen Unikatcharakter aufweisen. Eine One-Size-Fits-All Software-Lösung ist dem aktuellen Zeitgeist der Baudigitalisierung nicht mehr gewachsen. Moderne Systeme setzen auf technische und organisatorische Offenheit, gepaart mit performanten Schnittstellenstandards und hochflexiblen Ansätzen moderner Internetkonzerne. So können Lösungen geschaffen werden,
die sich den Bauunternehmen und ihren Prozessen anpassen – und nicht umgekehrt. Dies hilft, Stillstände im Einbau zu minimieren und in Folge Abzüge durch Qualitätsmängel zu vermeiden. Unproduktive Tätigkeiten werden reduziert; Geräte und Personal optimal ausgelastet.
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Digitale Bauprozesse im Straßenbau 500 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Die BPO Lizenznehmer umfassen: 10 Systemsprachen 12 Länder 80 Bauunternehmen Über 70 Millionen Tonnen Asphalt pro Jahr 800 Kolonnen 10.000 Bauleiter und Planer 13.000 Echtzeittage pro Jahr 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 501 Software so dynamisch und flexibel, wie der Bauprozess - Wie Netflix hilft, die Asphaltlogistik zu steuern Dr. Marcus Müller Smart Site Solutions GmbH, Nürtingen, Deutschland Volker Natzschka STRABAG GmbH, Stuttgart, Deutschland Zusammenfassung Die digitale Transformation im Bauwesen ist in vollem Gange. Dabei entstehen komplexe und heterogene Systemlandschaften, die längst nicht mehr an den Grenzen des eigenen Bauunternehmens halt machen. Diese Landschaften sind die Folge dynamischer und ausdifferenzierter Wertschöpfungspartnerschaften und die Fortsetzung der dem Bauwesen inhärenten Zersplitterung der Leistungserstellung in der digitalen Welt. Resultat davon sind hochindividuelle Prozesslandschaften, die innerhalb des Bauunternehmens zwar standardisiert sind, in verschiedenen Bauunternehmen aber hinsichtlich der eingesetzten vor- und nachgelagerten Systeme, Verfahren und Wertschöpfungsnetzwerken einen Unikatcharakter aufweisen. Eine One-Size-Fits-All Software-Lösung ist dem aktuellen Zeitgeist der Baudigitalisierung nicht mehr gewachsen. Moderne Systeme setzen auf technische und organisatorische Offenheit, gepaart mit performanten Schnittstellenstandards und hochflexiblen Ansätzen moderner Internetkonzerne. So können Lösungen geschaffen werden, die sich den Bauunternehmen und ihren Prozessen anpassen - und nicht umgekehrt. Dies hilft, Stillstände im Einbau zu minimieren und in Folge Abzüge durch Qualitätsmängel zu vermeiden. Unproduktive Tätigkeiten werden reduziert; Geräte und Personal optimal ausgelastet. 1. Einleitung Effizientes Bauen verlangt heute mehr denn je ein perfektes Zusammenspiel komplexer Einzelsysteme auch über die Grenzen des eigenen Unternehmens hinaus. Von Bauprojekt zu Bauprojekt ändern sich die Strukturen des Wertschöpfungssystems und damit auch die zu vernetzenden Software-Tools. Dies ist eine grundlegende Charakteristik der Bauwirtschaft, mit der moderne Software- Systeme umgehen können müssen. Spätestens seit dem Aufkommen von Cloud-Software ist die Wichtigkeit standardisierter Schnittstellen und offener Datenformate unbestritten. Heute dringt kaum noch eine neue Software auf den Markt, die nicht nach dem, in der Software-Welt bekannten Paradigma „API First“ (dt. „Schnittstellen zuerst“) entwickelt wurde. Die Internetkonzerne machen es vor. Sie schaffen offene und flexible Schnittstellen, über die sich beliebige Software leicht an die uns allen bekannten Plattformen aus dem Silicon Valley anschließen lassen und sich wechselseitig Funktionen bereitstellen. Manche Systeme sind so integriert, dass wir heute wie selbstverständlich ein mit dem Smartphone gemachtes Foto auf einen Cloud-Speicher laden und von dort in einem Sozialen Netzwerk teilen. Dazu bedarf es jedoch einer modernen Software-Architektur. Seit etwa Mitte der 2000er Jahre lösen zunehmend modular aufgebaute, lose - und somit flexibel - miteinander gekoppelte Systeme starre Software-Monolithen ab. Zwar können auch diese Systeme Schnittstellen bereitstellen, jedoch verbleiben sie im Hinblick auf ihre Flexibilität, Skalierbarkeit und Stabilität meist weit hinter Systemen mit modernen Architekturen zurück. Genau aus diesem Grund haben solche Systeme meist einen One-Size-Fits-All-Ansatz; flexiblen Anforderungen werden sie nur schwer gerecht. Somit gesellen sich zu den One-Size-Fits-All-Systemen immer mehr innovative Lösungsanbieter. Mit entsprechend standardisierten Schnittstellen und einem modularen Aufbau adressieren sie die Anforderungen von dynamischen Wertschöpfungssystemen sehr effizient. Beschleunigt wird diese Entwicklung durch die zunehmende Verfügbarkeit wichtiger Grundlagentechnologien. Diese wurden seit etwa Mitte der 2010er Jahre als Open Source von Unternehmen wie Google, Microsoft, Netflix oder Amazon zur Verfügung gestellt und beschleunigen die Software-Entwicklung wesentlich bzw. sorgen für die notwendige hohe Skalierbarkeit, Kombinierbarkeit und Ausfallsicherheit. Software so dynamisch und flexibel, wie der Bauprozess - Wie Netflix hilft, die Asphaltlogistik zu steuern 502 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 Beispielsweise können hoch belastbare Systeme zur parallelen Steuerung von einer Vielzahl an Baustellen auf Technologien aufgebaut werden, die von Netflix entwickelt wurden, um Millionen von Nutzern stabil mit Streaming-Diensten zu versorgen. Daten werden mit Software verwaltet, die von den Datenspezialisten Google, Amazon oder Microsoft stammt und heute als Open Source auf eigenen Servern betrieben und integriert werden kann. 2. Innovation in der Bauwirtschaft In gleich mehreren Studien belegt die Bauindustrie eher die hinteren Plätze in Sachen Digitalisierung [1, 2]. Die Branche holt aber stark auf. Dies zeigen die Ergebnisse bereits abgeschlossener und aktuell laufender Forschungsprojekte sehr deutlich. Die in Wissenschafts-Praxis-Kooperationen entwickelten Zukunftstechnologien helfen dabei, dringend benötigte Produktivitätszuwächse zu erreichen und demographisch bedingten Kapazitätsengpässen entgegenzuwirken. Während das verarbeitende Gewerbe 85% der insgesamten Forschungs- und Entwicklungsaufwände auf sich vereint, sind es im Baugewerbe gerade einmal 0,12%. Selbst die Land- und Forstwirtschaft hat mit 0,25% einen mehr als doppelt so hohen Anteil an den insgesamten FuE-Aufwänden, wie das Baugewerbe. In der Land- und Forstwirtschaft stiegen die FuE-Aufwände zwischen 2007 und 2017 um das 1,8fache an und im verarbeitenden Gewerbe immerhin um das 1,6fache. Die Bauindustrie spielt mit einem Anstieg um das 1,4fach hier nur im Mittelfeld [3]. Dennoch haben sich in den vergangenen Jahren einige Forschungsprojekte mit Leuchtturmcharakter innerhalb der Baubranche entwickelt. Die in öffentlich geförderten Innovationspartnerschaften umgesetzten Lösungen sind wegweisend für die Digitalisierung der Branche. Nicht zuletzt haben sich ganze Innovations-Ökosysteme gebildet. Diese verschaffen den beteiligten Unternehmen einen wesentlichen Vorsprung und gewährleisten den unmittelbaren Zugang zu einem effizienten Knowhow- Transfer. Die Erforschung der Digitalisierung ganzer Wertschöpfungssysteme im Straßenbau stellt eine besondere Herausforderung dar, da Co-Innovationen auf gleich mehreren Ebenen bewerkstelligt werden. So hat bspw. das Forschungsprojekt SmartSite (BMWi-Programm „Autonomik für Industrie 4.0“, 2013-16, www.smartsite-project.de) Lösungen für (1) die Rückmeldung von Daten in das BIM-Modell, (2) die modellbasierte Steuerung autonom fahrender und im Team agierender Baumaschinen sowie (3) die automatisierte Logistikprozesssteuerung auf Basis der verteilten künstlichen Intelligenz simultan entwickelt und auf Baustellen erprobt [4, 5]. Im SmartSite-Folgeprojekt „Qualitätsstraßenbau Baden- Württemberg 4.0“ (QSBW4.0, Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg, 2017-18) wurden die Forschungsergebnisse strukturiert genutzt und finden sich heute in den verschiedenen Produkten und Dienstleistungen der beteiligten Unternehmen und entstandenen Startups wieder [6, 7]. Das Forschungsprojekt SmartSite zeigt, wie sich Innovationspartnerschaften zwischen Bauindustrie, baubetrieblicher Forschung und Informatikforschung über Jahre hinweg aufbauen, weiterhin stabil existieren und Innovationen von den ersten Forschungsideen über Prototypen bis hin zu neuen marktgängigen Produkten, innovativen Dienstleistungen und neuartigen Ausschreibungskonzepten (QSBW4.0) vorangetrieben werden können. 3. Digitale Wertschöpfungsnetzwerke Papierberge, doppelte oder mehrfache Datenerfassung, zahllose Telefonate, fehlende und verstreute Daten mit hohen Suchaufwänden. Das gehört noch immer genauso zum Alltag vieler Bauleiter und Einbaumannschaften wie Stress, Hektik und das fortwährende „Feuerlöschen“. Sollen diese Probleme gelöst werden, ist ein perfektes Zusammenspiel komplexer Einzelsysteme über Unternehmensgrenzen hinweg nötig. Intelligente Algorithmen automatisieren datenbasiert die Planung und Ausführung und unterstützen so die Beteiligten effizient, ohne dabei durch die Digitalisierung auch noch Zusatzaufwand zu erzeugen. Genau hier setzt das Software-Produkt Smart Site One (SSO) zur dynamischen Echtzeitsteuerung der Asphaltlogistik an. In langjähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit wurden moderne Technologien und innovative Ansätze aus der Informatikforschung mit etabliertem Bauwissen vereint und zur Produktreife gebracht. Im Bauablauf sammelt SSO selbständig alle wichtigen Daten über Sensoren und Schnittstellen. In der Cloud wird der optimale Ablauf der Baustelle vorausberechnet (s. Abb. 1). SSO setzt dazu auf künstliche Intelligenz. Materialproduktion, Transport und Einbau werden so stets zueinander in Einklang gebracht und alle Beteiligten bleiben informiert. Voraussichtliche Ankunftszeiten und -temperaturen, Rundenzeiten, Restmengen sowie Soll-Ist-Vergleiche, Mehr-/ Mindereinbaumengen oder Beladetaktungen und Einbaugeschwindigkeiten (Soll/ Ist) usw. sind immer aktuell und anwenderfreundlich aufbereitet. Dies vermindert Stillstände und Abzüge in Folge von Qualitätseinbußen. Software so dynamisch und flexibel, wie der Bauprozess - Wie Netflix hilft, die Asphaltlogistik zu steuern 2. Kolloquium Straßenbau - September 2021 503 Abb. 1: Smart Site One optimiert die Logistik entlang der gesamten Lieferkette und nutzt dabei IoT-, KI- und Cloud- Technologien. Smart Site One passt sich automatisch den Geschehnissen auf der Baustelle an. Ausfälle von LKW, Veränderungen in der Einbaurichtung oder der Reihenfolge der Einbauabschnitte, veränderte Beladeleistungen, Staugefahren und in der Folge die veränderten Umlaufzeiten und ähnliches erkennt SSO von allein. Ausfälle von Fertigern oder Mischanlagen werden in SSO eingespeist. SSO reagiert auf alle Änderungen dynamisch und in Echtzeit, z.B. mit der Anpassung der Beladetaktung und einer Empfehlung für die optimale Einbaugeschwindigkeit. Dafür sorgen u.a. Stau- und Routing-Services, Wetterdienste sowie Schnittstellen zu Mischanlagen und zur Maschinen-Hardware. Ziel ist es, die Effizienz und Produktivität auf Baustellen durch Automatisierung und Digitalisierung weiter zu steigern. So wird bspw. die Kommunikation mit dem Mischwerk auf den digitalen Kanal verlegt. Dies spart Anrufe und zeitintensive Abstimmungen. Über SSO erfolgen Mischgutabrufe, Vorabinformationen oder die Verweigerung von Materialannahmen, da z.B. das Material zu kalt auf der Baustelle ankommt. Hierfür berechnet SSO die erwartete Ankunftstemperatur und gibt so dem Einbaupolier wichtige Informationen über das ankommende Material. 4. Stillstände werden reduziert Ein Ziel, das mit dem Einsatz von SSO zur Steuerung der Asphaltlogistik verfolgt wird, ist der kontinuierliche, möglichst unterbrechungsfreie Einbau. Um den Effekt von SSO auf die Stillstandzeiten eines Fertigers zu untersuchen, wurden in der aktuell laufenden Asphaltsaison 2020 Vergleichsstudien unternommen. Dazu wurden Baustellen aus fünf Kategorien, von Stadtstraßen bis Autobahnen, ausgewählt. Pro Kategorie wurde je eine konventionell - d.h. ohne SSO - ausgeführte Baustelle (N=5) und mehrere mit SSO ausgeführte Baustellen (N=18) untersucht. Für die SSO-Baustellen lieferte das System alle relevanten Daten. Für die konventionell ausgeführten Baustellen wurden Multimomentaufnahmen zu den Stillstandzeiten durchgeführt. Jede Baustelle lief über mehrere Tage (Summe: 85 Tage) und es wurden Trag-, Binder- und Deckschichten eingebaut. Erhoben wurden die Einbau- und Stillstandzeiten der Kolonne im Asphalteinbau und die Einsatzzeiten als Summe von Einbauzeit und Stillstandzeit. Anschließend wurden die Stillstandzeiten in das prozentuale Verhältnis zu den jeweiligen Einsatzzeiten gesetzt. Pro Kategorie wurden dann die Verhältniszahlen für konventionelle und mit SSO ausgeführten Baustellen verglichen (siehe Tabelle 1). Tab. 1: Stillstände als Relation von Stillstandzeit und Einsatzzeit. Kategorie Konventionell Smart Site One Reduktion Stadtstraße 39,90 % 26,70 % 33,08 % Kreisstraße 22,60 % 15,70 % 30,53 % Landesstraße 18,80 % 14,20 % 24,47 % Bundesstraße 21,40 % 15,50 % 27,57 % Autobahn 18,80 % 11,10 % 40,96 % Arith. Mittel 29,40 % 14,70 % 31,53 % Die Vergleichszahlen zeigen eine im arithmetischen Mittel über alle Baustellen reduzierte Stillstandzeit von 31,53%. Mithin konnten durch den Einsatz von SSO die Stillstände um fast ein Drittel reduziert werden. Eine besonders hohe Reduktion zeigte sich auf Autobahnbaustellen. Hier konnten durch den Einsatz von SSO besonders geringe Stillstandzeiten (in einem Fall sogar nur 2,6%) erzielt werden. Aber auch auf städtischen Straßen zeigt sich eine Reduktion von knapp einem Drittel, während auf Landesstraßen die Reduktion der Stillstandzeiten durch SSO nur knapp ein Viertel umfasst. Dies zeigt, dass insbesondere in verkehrsreichen Umgebungen (Stadt- & Kreisstraßen, Autobahn) die dynamische Logistiksteuerung durch SSO einen großen Vorteil gegenüber dem konventionellen Einbau bringt.