eJournals Kolloquium Straßenbau in der Praxis 3/1

Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
21
2023
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Straßenverkehrsinfrastruktur: digital, klimafreundlich, sicher

21
2023
Markus Oeser
Karl-Josef Höhnscheid
Alle entwickelten und stark industrialisierten Länder verfügen über ein gut ausgebautes Straßennetz. Der Straßenverkehr ist das Rückgrat des gesamten Verkehrs. Gleichwohl hat die starke Fokussierung auf den Straßenverkehr und der Ausbau der Straßeninfrastrukturen in vielen Ländern der Erde zu Konsequenzen und Konflikten geführt, die nicht länger ignoriert werden dürfen. Die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Straßenwesens einerseits und die ebenso notwendige Reduktion der mit dem Straßenverkehr verbundenen negativen Konsequenzen andererseits verlangen einen umfassenden, multidisziplinären Ansatz, der ingenieurwissenschaftliche, verhaltenswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Aspekte vereint. Diese können schwerpunktartig unterschiedlichen Themenbereichen zugeordnet werden, von denen die Themen nachhaltiger Energieeinsatz, nachhaltiges Bauen, prädiktives Infrastrukturmanagement, proaktive Verkehrssicherheit und umweltfreundliches Verkehrswesen hier kurz vorgestellt werden.
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3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 25 Straßenverkehrsinfrastruktur: digital, klimafreundlich, sicher PräsProf. Univ.-Prof. Dr.-Ing. habil. Markus Oeser Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach Dr. Karl-Josef Höhnscheid Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach Zusammenfassung Alle entwickelten und stark industrialisierten Länder verfügen über ein gut ausgebautes Straßennetz. Der Straßenverkehr ist das Rückgrat des gesamten Verkehrs. Gleichwohl hat die starke Fokussierung auf den Straßenverkehr und der Ausbau der Straßeninfrastrukturen in vielen Ländern der Erde zu Konsequenzen und Konflikten geführt, die nicht länger ignoriert werden dürfen. Die Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Straßenwesens einerseits und die ebenso notwendige Reduktion der mit dem Straßenverkehr verbundenen negativen Konsequenzen andererseits verlangen einen umfassenden, multidisziplinären Ansatz, der ingenieurwissenschaftliche, verhaltenswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Aspekte vereint. Diese können schwerpunktartig unterschiedlichen Themenbereichen zugeordnet werden, von denen die Themen nachhaltiger Energieeinsatz, nachhaltiges Bauen, prädiktives Infrastrukturmanagement, proaktive Verkehrssicherheit und umweltfreundliches Verkehrswesen hier kurz vorgestellt werden. 1. Einführung Der Straßenverkehr und die Straßeninfrastruktur geraten zunehmend unter Druck. Einerseits führen die starken Beanspruchungen der Brücken und Straßen zu einer erhöhten strukturellen Ermüdung und zum verfrühten Erreichen der Designlebensdauer. Andererseits ist die Straßeninfrastruktur vom Klimawandel besonders betroffen, da heiße Sommer, starker Regen, Stürme oder Hochwasser direkt auf diese Strukturen einwirken. Neben den verkehrlichen und klimatischen Einwirkungen hat der Straßenbau und -verkehr auch mit erheblichem gesellschaftlichem Druck zu kämpfen. Einerseits gehen die Genehmigung und der Baufortschritt von Infrastrukturmaßnahmen vielen Menschen in unserem Land nicht schnell genug, sie beklagen mangelnde Verfügbarkeit und lange Staus. Andererseits wird von manchen Menschen dem motorisierten Individualverkehr und der zugehörigen Infrastruktur in weiten Bereichen die Nachhaltigkeit und damit Zukunftsfähigkeit abgesprochen. Zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Lagern entwickelt sich ein „Freund-Feind-Denken“, das von zunehmender Aggressivität geprägt ist, häufig auf Vorurteilen beruht und in wertend-moralischen Urteilen gegenüber dem jeweils anders Denkenden endet. Das sind keine guten Voraussetzungen. Deshalb ist es Zeit für eine sachliche Debatte. Dazu zwei Perspektiven auf die Straße und den Straßenverkehr: Warum ist es eigentlich so, dass ausnahmslos alle entwickelten und stark industrialisierten Länder unserer Welt über ein gut ausgebautes Straßennetz verfügen? Haben die Entscheidungsträger all dieser Länder etwa die gleiche und vermeintlich falsche Entscheidung getroffen, indem sie vor allem auf straßengebundene Mobilität für den Personen- und Güterverkehr fokussierten? Um diese Entscheidung besser zu verstehen, lohnt es sich die Charakteristiken der Straße und des Straßenverkehrs einmal näher zu betrachten. Die Straße ist die Infrastruktur für alle! Während die anderen Verkehrsinfrastrukturen nur mit sehr speziellen Verkehrsmitteln benutzt werden können, stehen die Straßen, Plätze und Wege einer riesigen Bandbreite an Verkehrsmitteln und Verkehrsarten zur Verfügung, ganz gleich, ob sie zu Fuß, mit dem Rad, dem Auto, dem Bus, dem Krankenwagen, dem Baufahrzeug oder dem Lieferwagen unterwegs sind. Jede Haustür, jede Schule, jedes Krankenhaus, jedes Geschäft und jede Firma sind an eine Straße angeschlossen. Das Straßennetz bildet die Matrix, in die die anderen Verkehrsinfrastrukturen eingebunden sind. Es existiert praktisch keine Wegekette ohne Straße. So gesehen sind Verkehrsinfrastrukturen - wie die Bahn, die Wasserwege und die Flughäfen - Inseln, die oft nur über das Straßennetz mit den Start- und Zielorten des Personen- und Güterverkehrs verbunden sind. Die aktiven Mobilitätsformen, die sich glücklicherweise wachsender Beliebtheit erfreuen, finden nahezu ausnahmslos auf dem Straßen- und Wegenetz statt. Straßen sind leicht nutzbar, auf ihnen lassen sich Güter- und Personentransporte meist ohne Umladen bzw. Umsteigen direkt vom Startzum Zielort realisieren. Das Straßennetz hat eine hohe inhärente Resilienz. Lokale Störungen können in fast allen Fällen einfach umfahren werden. Straßen sind robust und deshalb oft die einzigen Verbindungen, die noch verfügbar sind oder zügig reaktiviert werden können, wenn extreme Wetterereignisse aufziehen. Kurz gesagt, es gibt viele gute Gründe für ein gut ausgebautes und intaktes Straßennetz. Die starke Fokussierung auf den Straßenverkehr und der Ausbau der Straßeninfrastrukturen haben in vielen Ländern der Erde jedoch zu Konsequenzen geführt, die nicht länger ignoriert werden dürfen. Ein Blick in das Tabellenwerk „Verkehr in Zahlen“ [1] zeigt für Deutschland, dass im letzten Vor-Corona-Jahr (2019) 81,7 % der für den Verkehr verwendeten Energie auf den Straßenver- 26 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Straßenverkehrsinfrastruktur: digital, klimafreundlich, sicher kehr entfiel. Auf dem Straßennetz wurden im Jahr 2019 zwar 85,1 % der Personenverkehrsleistung und 71,4 % der Güterverkehrsleistung realisiert, jedoch bleibt der motorisierte Straßenverkehr im Hinblick auf die energetische Effizienz weit hinter dem Schienenverkehr zurück. Zudem wird die für den Straßenverkehr benötigte Energie (618 TWh in 2019) noch vorrangig aus fossilen Kraftstoffen bereitgestellt und belastet damit unser Klima. Durch eine optimale Verknüpfung von Straße und Schiene können die Stärken des jeweiligen Systems aktiviert werden. Erforderlich dafür ist die Schaffung von intermodalen Schnittstellen mit einem zielgerichteten Ausbau des Schienen- und Straßensystems und beispielsweise eine konsequente Verlagerung des Güterverkehrs über lange Strecken von der Straße auf die Schiene. Zwar lassen sich Straßen - durch die geringeren Anforderungen an Steigung und Kurvenradien - recht gut an die jeweilige Geländelinie anpassen, dennoch ist der Bau von Straßen flächen-, energie- und ressourcenintensiv. Asphalt und Beton bestehen zum überwiegenden Teil aus mineralischen Rohstoffen. Für den Asphaltstraßenbau und die Erhaltung von Straßen mit Asphaltdecke wurden im letzten Vor-Corona-Jahr (2019) im Bundesfernstraßennetz ca. 2,65 Mio. m³ Asphalt und 1,56 Mio. m³ ungebundene Materialien eingesetzt [2]. Hierfür waren ca. 7,6 Mio. Tonnen mineralische Rohstoffe erforderlich. Hinzu kommen die Rohstoffe für die Straßen mit Betondecke, die Ingenieurbauwerke - wie Brücken und Tunnel - und die Straßen des nachgeordneten Netzes. Um den Bedarf an neuen Rohstoffen zu reduzieren, muss noch stärker als bisher auf den Einsatz von rezyklierten Baustoffen gesetzt werden. Der Asphaltstraßenbau ist hierfür ein sehr gutes Beispiel, denn hier steigt die Recyclingquote seit nunmehr 30 Jahren und liegt derzeit bei 84 % [2]. Das System Straße ist derzeit noch nicht gut für die Aufnahme von aktiven Mobilitätsformen vorbereitet. Ein Blick auf die Unfallzahlen des Jahres 2022 im Vergleich zum bereits mehrfach erwähnten letzten Vor-Corona-Jahr (2019) zeigt zwar einen Rückgang der Anzahl der Getöteten [3], beim Radverkehr verzeichnen ist aber leider ein Zuwachs zu verzeichnen. Das liegt unter anderem daran, dass das Zusammenspiel der konventionellen und aktiven Verkehre noch nicht gut genug funktioniert und dass das Straßennetz besonders in urbanen Bereichen nicht genug Fläche für die aktiven Mobilitätsformen bereitstellt. Die oben erwähnten Punkte sind nur ein Ausschnitt einer Vielzahl von Herausforderungen mit welchen der Straßenbau und der Straßenverkehr aktuell konfrontiert sind. Im Wesentlichen geht es dabei um die Erhöhung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit des Verkehrsträgers Straße. 2. Mögliche Lösungsansätze Die Lösung des oben dargelegten Konflikts zwischen der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit des Straßenverkehrs und der Straßenverkehrsinfrastruktur einerseits und der ebenso notwendigen Reduktion der mit dem Straßenverkehr verbundenen negativen Konsequenzen andererseits, verlangt einen umfassenden, multidisziplinären Ansatz, der ingenieur-, verhaltens- und naturwissenschaftliche Aspekte vereint. Diese können schwerpunktartig fünf Themenbereichen zugeordnet werden: 2.1 Nachhaltiger Energieeinsatz Eine leistungsfähige Straßeninfrastruktur stellt primär einen verlässlichen Transport von Personen und Gütern sicher. In diesem Zusammenhang hat die Straßenverkehrsinfrastruktur ihren Beitrag zur Ermöglichung eines energieeffizienten und -suffizienten Personen- und Güterverkehrs zu leisten. Die energetische Funktionalisierung der Infrastruktur kann hier einen entscheidenden Beitrag erbringen. Der nachhaltige Betrieb der Infrastruktur beinhaltet weiterhin die Hebung der Potenziale zur Erzeugung von erneuerbarer Energie entlang der Infrastruktur insbesondere im Zusammenhang mit der effizienten, lokalen Nutzung der erzeugten Energie. Dies umfasst auch eine weitgehend klimaneutrale Gestaltung des Betriebsdienstes. Die weitreichenden Transformationsprozesse benötigen eine entsprechende neutrale wissenschaftliche Begleitung, auf deren Basis letztendlich eine zielgerichtete Operationalisierung ermöglicht wird. Voraussetzung hierfür ist eine frühzeitige Einordnung von Zielkonflikten und die darauf auf bauende Anpassung technischer Regelwerke sowie die Bewertung unterschiedlicher Innovationspfade und Hochlaufszenarien verschiedener Technologien. 2.2 Nachhaltiges Bauen Das Herstellen und Betreiben der gebauten Umwelt gehört zu den weltweit größten Energie- und Rohstoffkonsumenten und ist somit in besonderer Weise auf diese Ressourcen angewiesen. Im Unterschied zu anderen Branchen konnte weder der ökologische Fußabdruck noch der Ressourcenverbrauch in den vergangenen Jahren reduziert werden, weshalb hier dringender Handlungsbedarf besteht. Zukünftig gilt es, die Bewertung von Projekten der Straßeninfrastruktur nicht mehr allein auf wirtschaftliche Kennwerte zu stützen, sondern Nachhaltigkeitsbewertungen für alle Phasen des Lebenszyklus zu entwickeln. Auf diese Weise sollen u.a. Minderungen der THG-Emissionen (z. B. durch die Verwendung umweltfreundlicherer Energieträger bei der Herstellung von Asphalt) oder reduzierte Ressourcenverbräuche (z. B. durch verringerte Auf baudicken aufgrund hoher Material- oder Einbauqualität) in die Gesamtbewertung von Bau- und Erhaltungsmaßnahmen eingehen. Gleichzeitig sind bautechnische Entwicklungen, die einen Beitrag zur Steigerung der Nachhaltigkeit liefern können, zu unterstützen. Diese bautechnischen und bewertenden Verfahren dienen Planern, der Verwaltung und der Baupraxis zur Auswahl und Anwendung nachhaltiger Lösungen für die Straßeninfrastruktur. Flankiert wird dieser Prozess von wirkungs- und anwendungsorientierter Forschung zu Nachhaltigkeitsaspekten unter Berücksichtigung von Kreislaufwirtschaft, Energieeffizienz und Schonung von 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 27 Straßenverkehrsinfrastruktur: digital, klimafreundlich, sicher Ressourcen sowie zur Steigerung der Resilienz der Straßeninfrastruktur gegenüber dem Klimawandel. Einen maßgebenden Beitrag zur Erreichung dieser Ziele kann die Digitalisierung leisten. Mit neuen digitalen Arbeitsmethoden, wie dem Building Information Modelling (BIM) [4], können Planungs-, Genehmigungs- und (Bau-)Prozessabläufe optimiert werden. Mit Hilfe Digitaler Zwillinge werden Bauwerke ganzheitlich erfasst und der gesamte Lebenszyklus bis hin zum Rückbau und zur Wiederverwendung der Baustoffe betrachtet. 2.3 Prädiktives Infrastrukturmanagement Die bauliche Infrastruktur (Fahrbahn, Bauwerke) im Bundesfernstraßennetz weist Defizite infolge der gestiegenen Verkehrsbelastung, des hohen Alters der Bauwerke, eines Rückstaus der Erhaltungsmaßnahmen sowie konstruktiver Mängel auf. Diese führen teilweise schon heute zu Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit und damit Verfügbarkeit der Straßen. Um den Herausforderungen effizient zu begegnen, ist ein agiles Infrastrukturmanagement erforderlich, in dessen Rahmen Veränderungen frühzeitig wahrgenommen werden und so adäquat im Sinne eines prädiktiven Lebenszyklusmanagements agiert werden kann. Eine moderne Bauwerksdiagnostik bzw. Zustandserfassung und -bewertung (ZEB) in Verbindung mit digitalen Arbeitsmethoden - wie beispielsweise VR-AR-Ansätze in der Bauwerksprüfung - [5], Prognoseinstrumenten und innovativen bautechnischen Lösungen ermöglicht in diesem Zusammenhang eine systematische Planung von optimierten Maßnahmen im Lebenszyklus der Bauwerke auf Objekt- und Netzebene. Veränderungen im Lebenszyklus der Straßeninfrastrukturen können hierbei aktiv in Entscheidungsfindungen einbezogen werden. Mit den innovativen Methoden eines agilen Infrastrukturmanagements kann eine Reduzierung ungeplanter Sperrungen und folglich eine Verbesserung der Verfügbarkeit der Straßeninfrastruktur erreicht werden. Modernisierungsund/ oder Ersatzmaßnahmen werden planbarer. Negative Auswirkungen können, beispielsweise durch eine Reduktion der gesamtwirtschaftlichen Kosten, vermindert werden. Mit prädiktiven Ansätzen und optimierten (bau-) technischen Lösungen kann auch die Resilienz der Straßeninfrastruktur verbessert und ein wichtiger Beitrag zur nachhaltigen Straßeninfrastruktur geleistet werden. 2.4 Proaktive Verkehrssicherheit Eine sichere Verkehrsteilnahme aller stellt das zentrale Ziel der Verkehrspolitik dar. Die bislang erzielten Erfolge der Verkehrssicherheitsarbeit gilt es auch unter veränderten Rahmenbedingungen zu bewahren und neue Potentiale zu erschließen, die sich aus den technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz für Maßnahmen ergeben. Die Prävention und damit ein proaktives Sicherheitsmanagement spielt in der Verkehrssicherheitsarbeit bei Aufklärung, Ausbildung und Überwachung seit jeher eine große Rolle. Besonderes Augenmerk ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels auf die Zunahme des Anteils älterer Verkehrsteilnehmender und auf die Beförderung aktiver Mobilitätsformen zu richten. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen ist es erforderlich, auf die jeweils adressierten Personen und Verkehrsarten zugeschnittene Lösungen zu entwickeln. Sowohl proaktive als auch reaktive Verfahren mit Hilfe der Digitalisierung zu optimieren und effizienter zu gestalten, ist eine zentrale Zukunftsaufgabe. Unfallbelastete und/ oder risikobehaftete Stellen im Straßennetz zu identifizieren und zielgerichtet geeignete Maßnahmen zu entwickeln, stellt eine Daueraufgabe für die Forschung dar. Hierbei gilt es, vor allem Maßnahmen zu entwickeln und zu optimieren, die der Entstehung von Unfällen vorbeugen. Hinsichtlich der Verfahren des Infrastruktursicherheitsmanagements werden proaktive Ansätze, die auf einer Risikobewertung basieren, zunehmend gegenüber den traditionellen reaktiven Verfahren an Bedeutung gewinnen. Sich verändernde Fahrzeugflotten bedeuten neue Herausforderungen für die Ausstattung von Straßen, so können sich beispielsweise Anprallszenarien verändern, die ggf. Anpassungen der Straßenausstattung erfordern. Für die Akzeptanz derartiger proaktiver Risikobewertungen sind wissenschaftlich fundierte Grundlagen notwendig. Zur Beförderung aktiver Mobilitätsformen müssen neue planerische und bautechnische Ansätze entwickelt werden, sodass alle Bevölkerungsgruppen sicher zu Fuß und mit dem Rad / Pedelec etc. unterwegs sein können. Denn damit ist sowohl dem Klimaschutz als auch dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung durch ein sportlich-aktives Leben von frühster Kindheit bis ins hohe Alter auf sicheren Wegen Genüge getan. Eine besondere Herausforderung ist dabei die Integration der hierfür erforderlichen Verkehrsflächen in die urbanen und ruralen Verkehrsräume. 2.5 Umweltfreundliches Verkehrswesen Vorrausschauende Untersuchungen und innovative Ansätze zur Reduktion von Emissionen und Immissionen von Geräuschen, Luftschadstoffen und Licht helfen, Verkehr und Verkehrsinfrastruktur nachhaltig und sicher sowie straßennahe Wohnstandorte lebenswerter zu gestalten. Hierzu soll, insbesondere vor dem Hintergrund steigender Emissions- und Immissionsminderungsziele auf europäischer Ebene, nachprüf bar erreicht werden, Infrastruktur und Fahrzeuge in allen Betriebszuständen möglichst geräusch- und luftschadstoffarm betreiben zu können. „Sehen und gesehen werden“ aber auch „hören und gehört werden“ sind Voraussetzungen für eine sichere Mobilität insbesondere im Zusammenhang mit der Förderung neuer und aktiver Mobilitätsformen. Dem stehen Energieverbrauch, Lärm und die Auswirkungen des künstlichen Lichtes auf den Menschen und die Natur entgegen. Der technische Fortschritt sehr leistungsfähiger und dabei nachhaltiger Materialien und Systeme sowie innova- 28 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Straßenverkehrsinfrastruktur: digital, klimafreundlich, sicher tive Ideen aus der Licht- und Akustikforschung ermöglicht hierbei die Minderung von Zielkonflikten. Die ortsnahe höchstmögliche (Wieder-)Verwendung von Ausbaustoffen, auch ausgebauten Böden, bietet einen großen Beitrag zu Klimaschutz und Ressourcenschonung. Um Emissionen aus Baustoffen und Ersatzbaustoffen zu minimieren, sind geeignete Bauweisen anzuwenden. Für diese und für multifunktionale Bauwerke aus naturnahen Materialien lassen sich mit Demonstratoren für bautechnische und ökologische Forschung die Einsatzgrenzen praxisnah erproben. Eine leistungsfähige Straßenentwässerung sorgt für Verkehrssicherheit, aber auch für die Erhaltung der Qualität von Oberflächengewässern, Grundwasser und Trinkwasser, um Mensch und Umwelt vor schädlichen Stoffeinwirkungen zu schützen. Der Erkenntnisgewinn über den Abbau in Böden und Gewässern sowie den Transport und die Minimierung von Einträgen in die Weltmeere steht dabei im Fokus. Eine geeignete Pflege des Straßenbegleitgrün kann Biodiversität fördern und Lebensräume (wieder-) vernetzen. Auf Ausgleichs- und Kompensationsflächen können Synergien zwischen Natur- und Klimaschutz genutzt werden, z. B. durch Anlage oder Renaturierung von Mooren. Es gilt, diese Potenziale durch Entwicklung innovativer Methoden und Konzepte und unter Berücksichtigung digitaler Tools auszuschöpfen. Naturschutzrechtliche Fragestellungen beinhalten auch den die Straßeninfrastruktur umgebenden Naturraum. Hier sind die bestehenden Ansätze eines Building Information Modeling (BIM) um eine neue Dimension zu erweitern (z. B. durch Landscape Information Modelling). Geeignete Indikatoren unterstützen die transparente Verfolgung der Entwicklung im Sinne der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. 3. Ausblick Der vermeintliche Konflikt zwischen Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit und Verbesserung der Nachhaltigkeit des Verkehrssystems Straße ist lösbar. Im Artikel wurde dabei vor allem die Perspektive der Verkehrsinfrastruktur eingenommen. Das Potential an Lösungen erstreckt sich jedoch weit über die Infrastruktur hinaus. In der stärkeren Verkopplung zwischen Infrastruktur und Fahrzeug und in der ganzheitlichen Betrachtung des Systems Infrastruktur-Fahrzeug-Mensch liegen noch weithin ungenutzte Lösungsmöglichkeiten. Zudem müssen die einzelnen Verkehrsträger Straße, Bahn, Luft und Wasser übergreifend erfasst werden. Jeder Verkehrsträger muss entlang seiner Stärken aktiviert und ein integriertes Mobilitätssystem entwickelt werden. Es bedarf hierzu eines multidisziplinären Ansatzes, der forschungsseitig durch entsprechende Schwerpunktsetzungen flankiert werden muss, eines leidenschaftlichen Diskurses zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und einer neuen Kultur des einander verstehen Wollens und Handelns. Jeder muss sich bewegen damit die Mobilität der Zukunft gelingt! Literatur [1] Verkehr in Zahlen 021/ 2022, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.), Berlin. [2] Zander, U. Der Weg in die Nachhaltigkeit, Deutscher Straßen- und Verkehrskongress, 5. Bis 7. Oktober 2022, Dortmund. [3] Schönebeck, S.; Schepers, A.; Pöppel-Decker, M.; Färber, N.; Fitschen, A. Voraussichtliche Entwicklung von Unfallanzahlen und Jahresfahrleistungen in Deutschland - Ergebnisse 2022, Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach. [4] Meister, A.; Scholz, F.; Banemann, S. Masterplan BIM Bundesfernstraßen - Digitalisierung des Planens, Bauens, Erhaltens und Betreibens im Bundesfernstraßenbau mit der Methode Building Information Modeling (BIM), Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.), Berlin. [5] Hill, M.; Bahlau, S.; Butenhof, F.; Degener, L.; Klein, F.; Kukushkin, A.; Lambracht, C.; Mertens, M. Bauwerksprüfung mittels 3D-Bauwerksmodellen und erweiterter/ virtueller Realität, BASt-Bericht B 185, 2022, Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg.), Bergisch Gladbach.