Kolloquium Straßenbau in der Praxis
kstr
expert Verlag Tübingen
21
2023
31
Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte
21
2023
Sonja Cypra
Christian Holldorb
Die Nachhaltigkeitsbewertung hat sich im Hochbau bereits etabliert und erfährt immer mehr Anwendung im Infrastrukturbereich. Speziell im Straßenbau werden bereits ökologische Aspekte teilweise zur Bewertung von Projekten und Varianten eingesetzt. Eine umfassende Nachhaltigkeitsbewertung existiert jedoch im Straßenbau nicht. Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen werden aufgezeigt sowie ausgewählte existierende Bewertungssysteme für Infrastruktur- und Verkehrsprojekte werden dargestellt. Dabei wird der gesamte Lebenszyklus und für den Straßenbau relevante Phasen werden hervorgehoben. Abschließend werden Schlussfolgerungen gezogen und die Anwendung im Hinblick auf den Nutzen und die Herausforderungen aufgezeigt.
kstr310031
3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 31 Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte Dr. Sonja Cypra Steinbeis-Transferzentrum, Infrastrukturmanagement im Verkehrswesen (IMV), Karlsruhe Prof. Dr.-Ing. Christian Holldorb Steinbeis-Transferzentrum, Infrastrukturmanagement im Verkehrswesen (IMV), Karlsruhe Zusammenfassung Die Nachhaltigkeitsbewertung hat sich im Hochbau bereits etabliert und erfährt immer mehr Anwendung im Infrastrukturbereich. Speziell im Straßenbau werden bereits ökologische Aspekte teilweise zur Bewertung von Projekten und Varianten eingesetzt. Eine umfassende Nachhaltigkeitsbewertung existiert jedoch im Straßenbau nicht. Die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen werden aufgezeigt sowie ausgewählte existierende Bewertungssysteme für Infrastruktur- und Verkehrsprojekte werden dargestellt. Dabei wird der gesamte Lebenszyklus und für den Straßenbau relevante Phasen werden hervorgehoben. Abschließend werden Schlussfolgerungen gezogen und die Anwendung im Hinblick auf den Nutzen und die Herausforderungen aufgezeigt. 1. Einführung Das Bedürfnis nach Nachhaltigkeit stellt sowohl die traditionelle Infrastruktur als auch Organisationen (öffentliche Einrichtungen als Auftraggeber wie auch Unternehmen als Auftragnehmer), vor eine Reihe von Herausforderungen. Nachhaltiges Denken und Handeln rückt immer stärker in den öffentlichen Fokus und wird zukünftig auch einen wesentlichen Bestandteil aller Bauprozesse bestimmen, wobei sich der Blick derzeit vielfach vor allem auf die Treibhausgasemissionen richtet. Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie „Perspektiven für Deutschland“ wurde bereits 2002 von der Bundesregierung die Nachhaltigkeit als ein zentrales Prinzip der Politik verankert, bei der neben dem Klimaschutz die umfassenderen Ziele der Nachhaltigkeit aufgegriffen werden. Mittlerweile beinhaltet sie auch die im Jahr 2015 von den Vereinten Nationen beschlossenen 17 Ziele zu einer globalen nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) [Bundesregierung 2022]. Mit dem nationalen Ziel, bis 2045 klimaneutral zu sein, ist der Bausektor als wesentlicher Produzent von Emissionen zusätzlich vor Herausforderungen im ökologischen Bereich gestellt. Ab 2023 gelten erste Anforderungen der EU-Taxonomie-Verordnung, die nachhaltige Kapitalflüsse in nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten leiten soll. Sie stellt somit einen zentralen Baustein des Green Deals der EU dar. [European Commission 2022]. Dabei werden soziale und arbeitsrechtliche Mindeststandards sowie die geforderten Umweltziele (Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zur Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme) bewertet. Nachdem im Hochbau bereits Zertifizierungssysteme entwickelt wurden und breite Anwendung finden, wurden auch Bewertungsverfahren für die Infrastruktur / Verkehrsinfrastruktur entwickelt, die sich allerdings nicht konkret auf den Straßenbau beziehen. Die Schwierigkeit im Bereich von Verkehrsinfrastruktur/ Straßenbau liegt darin, ein System zu entwickeln, das als Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung auf dem Weg einer Nachhaltigkeitsoptimierung über den gesamten Lebenszyklus genutzt werden kann. Der Lebenszyklus wird hierbei maßgeblich von der gewählten Bauweise und der zu erwartenden Verkehrsbelastung bestimmt. Modifikationen oder Innovationen im Straßenbau sind nicht nur hinsichtlich der verwendeten Materialien oder Prozesse zu bewerten, sie können auch über den gesamten Lebenszyklus maßgebliche Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsbewertung haben. So sind neben der Verarbeitung und Anlieferung der unterschiedlichen Materialien oder Zuschlagsstoffe auch eine möglicherweise erhöhte Lebensdauer oder geringere Verschleißeigenschaften (von Fahrbahn oder Fahrzeug) zu betrachten. 2. Nachhaltiges Bauen Ziel des Nachhaltigen Bauens ist, unterschiedliche Interessen von Stakeholdern in Einklang zu bringen und damit die an Bauwerke gestellten, vielseitigen und komplexen Anforderungen bestmöglich zu erfüllen. Diese Bauwerke haben lange Bestand und sind auf diese Weise zukunftssicher. Nachhaltiges Bauen stellt Anforderungen an die ökologische, soziokulturelle und ökonomische Qualität von Bauwerken. Diese drei Bereiche stammen aus der ursprünglichen Definition der Nachhaltigkeit, sie sind die drei so genannten Nachhaltigkeitsdimensionen. Mittlerweile wurde diese Definition durch verschiedene Querschnittsfunktionen wie z.-B die Qualität der Planungs- und Bauprozesse sowie die technische Qualität ergänzt, die teilweise zuvor in den drei Nachhaltigkeitsdimensionen integriert waren (s. exemplarisch Abb. 1). 32 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte Nachhaltigkeit = Qualität + Zukunftsfähigkeit Abb. 1: Definitionen der Nachhaltigkeit [DGNB e.V. 2018; Lemaitre 2022] Die Umsetzung nachhaltiger Bauwerke und damit die Erfüllung ihrer Anforderungen setzt die Nutzung geeigneter Methoden, Daten, Regeln und Werkzeuge voraus. Dazu gehören auch die Bewertungssysteme, die je nach Nutzung und Art des Bauwerks andere Schwerpunkte bilden. 3. Bewertungssysteme in Deutschland In Deutschland existieren im Wesentlichen das Bewertungssystem für Nachhaltiges Bauen (BNB), das vom damaligen Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) entwickelt wurde, und das Gütesiegel für Nachhaltiges Bauen der Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB), das seit einigen Jahren auch international Anwendung findet. Beide haben den gleichen Ursprung und wurden zunächst für den Hochbau entwickelt. Neben dem BNB gibt es seit 2021 mit dem Qualitätssiegel Nachhaltiges Bauen ein staatliches Qualitätssiegel für Gebäude im Rahmen der Bundesförderung für effiziente Gebäude (BEG). Dieses baut auf im Markt existierende Nachhaltigkeitsbewertungssysteme für Bauwerke nicht nur auf, sondern bezieht ihre Ergebnisse ein und lässt sich daher z.-B mit dem DGNB- Zertifikat erreichen bzw. kombinieren. Die DGNB hat für viele Nutzungen im Hochbau, aber auch im Infrastrukturbereich, wie Stadtquartiere, Verkehrsstationen und aktuell in Entwicklung Verkehrsinfrastruktur, das System weiterentwickelt. [BMVBS 2011; DGNB e.V. 2018; DGNB e.V 2020]. Auch internationale Bewertungs- und Zertifizierungssysteme finden in Deutschland Anwendung. Im Hochbau zielt die Nachhaltigkeitsbewertung über die Vergabe des Gütesiegels (Zertifikats) auf den absoluten Vergleich von verschiedenen Gebäuden an unterschiedlichen Standorten, aber auch die absolute Bewertung im Rahmen von vorgegebenen Benchmarks (verschiedene Bewertungsstufen) ab. Auf Basis dieser Zertifikate lassen sich dann für gut bewertete Immobilien unter anderem höhere Werte (z.-B für Verkäufe oder Mieten, aber auch Image) ableiten als für vergleichsweise niedrig oder nicht bewertete Immobilien. Des Weiteren wird jede Dimension / Qualität separat bewertet, was einen Rückschluss auf Stärken und Schwächen der einzelnen Qualitäten ermöglicht. Diese geht dann mit der entsprechenden Gewichtung in das Gesamtergebnis ein. Durch die für eine gute Bewertung notwendige frühe Einbindung in den Planungs- und Bauprozess sowie eine Vorzertifizierung dienen diese Systeme zusätzlich als Optimierungs- und Qualitätssicherungsinstrumente. In der Zwischenzeit haben sich im Infrastrukturbereich ebenfalls Bewertungssysteme entwickelt. 2016 wurde im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) ein Bewertungssystem erarbeitet, mit dem in den Phasen der Entwurfs- und Genehmigungsplanung eine Nachhaltigkeitsbewertung für Bauwerke der Straßeninfrastrukturplanung durchgeführt werden kann. Dieser Ansatz basiert auf dem Gütesiegel der DGNB bzw. dem Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen (BNB). Danach wird die Bewertung in die „Ökologische Qualität“, „Ökonomische Qualität“, „Soziokulturelle und funktionale Qualität“ sowie „Technische Qualität“ und „Prozessqualität“ eingeteilt. Die DGNB hat 2021 begonnen, ein Zertifizierungssystem für Verkehrsinfrastrukturprojekte zu entwickeln, das parallel zur Entwicklung in einem Pilotprojekt angewendet wurde. Der aktuelle Stand der Arbeitsversion umfasst die Themenfelder „Ökologische Qualität“, „Ökonomische Qualität“, „Soziokulturelle und funktionale Qualität“ sowie „Technische Qualität“ und „Prozessqualität“. Es enthält 21 Kriterien, die sich auf diese Themenfelder verteilen und neben dem konkreten Ziel des Kriteriums auch Ziele der EU-Taxonomie enthalten. Des Weiteren finden auch die Themen Agenda 2030, Circular Economy und Innovation Eingang. Bei den Nutzungen wird aktuell in Innerorts- und Außerortsbereiche unterschieden. 4. International existierende Bewertungs- und Zertifizierungssysteme International existieren verschiedene Bewertungs- und Zertifizierungssysteme für Infrastruktur, teilweise auch nur auf die Verkehrsinfrastruktur ausgerichtet (s. Tab. 1). In Teilbereichen, wie z.-B Ökologie, gibt es auch auf den Straßenbau ausgerichtete Bewertungssysteme. Häufig wurden bestehenden Erfahrungen aus dem Hochbau überprüft und angepasst, um eine Anwendung im Infrastrukturbereich zu ermöglichen. So sind das internationale Bewertungssystem CEEQUAL (in aktueller Version nach Zusammenschluss mit BREEAM Infrastructure) und SPeAR aus Großbritannien, das australische Envision und der schweizerische Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) Infrastruktur als einige Beispiele zu nennen, wenn es allgemein um Infrastrukturprojekte geht [CEEQUAL Versin 6 2019; NNBS 2020; Cypra et al. 2020]. Speziell für die Verkehrsinfrastruktur zeigen beispielsweise die Bewertungs- und Zertifizierungssysteme Greenroads und NISTRA (Nachhaltigkeitsindikatoren für Straßeninfrastrukturprojekte) mögliche Umsetzungen [Greenroads 2011; ASTRA 2017]. 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 33 Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte Tab. 1: Bewertungs- und Zertifizierungssysteme für Infrastruktur Für den Straßenbau liegen angepasste Bewertungssysteme für Einzelbereiche der Nachhaltigkeitsbewertung vor. In einigen Staaten wurden die Bewertungen bereits erfolgreich in die Vergabe integriert. • In den Niederlanden wurde eine Methode zur Bewertung von Infrastrukturprojekten entwickelt, die sowohl den Preis als auch qualitative Gesichtspunkte von Angeboten bewertet. Die qualitativen Aspekte können sich auf verschiedene Bereiche beziehen, wie beispielsweise Nachhaltigkeitsaspekte, Projektorganisation oder Öffentlichkeitsarbeit. Diese qualitativen Kriterien werden dann anhand von in den Ausschreibungsunterlagen veröffentlichen Faktoren in Geldeinheiten umgerechnet und fiktiv vom Angebotspreis abgezogen. So kann z.- B der Umweltkostenindikator (Milieukostenindikator, MKI) zur fiktiven Preisreduktion beitragen. Der Umweltkostenindikator enthält elf Umweltindikatoren, u.a. Abiotischer, nicht-energetischer Ressourcenverbrauch (ADP), Treibhauspotenzial (GWP), Ozonschichtabbaupotenzial (ODP), Photochemisches Oxidantienbildungspotenzial (POCP), Versauerungspotenzial (AP), Überdüngungspotenzial (EP). Die Umweltindikatoren werden mit Geldwerten als Gewichtungsfaktoren versehen und zu einem Wert zusammengefasst. Nach einem Vergleich zu Ziel- und Grenzwert erhält jedes Angebot einen „Preis“, der vom Angebotspreis des Anbieters abgezogen wird. • In Norwegen existiert ein Bewertungssystem für den CO 2 -Ausstoß von Straßenbauverfahren. Die Baumaßnahmen werden u.a. auf Basis von Umweltproduktdeklarationen (EPDs) vergeben. Bis 2024 sollen die Angebote in allen Baumaßnahmen auf dieser Grundlage bewertet werden. Die Bewertungen werden ebenfalls monetarisiert. Das Angebot mit den geringsten CO 2 - Werten bleibt unverändert. Alle weiteren Angebote erhalten einen entsprechenden fiktiven Preiszuschlag auf den ursprünglichen Angebotspreis [Nationale Milieu Database 2022; Müller 2020] . • In der Schweiz hat die Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren (KBOB) in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz (NNBS) eine Empfehlung zum nachhaltigen Beschaffen im Infrastrukturbau herausgebracht [KBOB 2020]. Diese soll die Integration von auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Zuschlagskriterien in die Ausschreibungsunterlagen erleichtern. Sie basiert auf dem SNBS und beinhaltet somit ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zuschlagskriterien. Für den Straßenbau kommen u. a. die Minimierung von Emissionen und die Länge der Bauzeit zum Tragen. • In Frankreich finden auf den Straßenbau angepasste Systeme für die Ökobilanzierung Anwendung (SEVE und ECORCE), die sich zum Großteil mit den Umweltindikatoren aus den Niederlanden decken. 34 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte Die international vorhandenen Bewertungssysteme und Datenbanken, z.-B. für die ökologische Bewertung, müssen bei der Übertragung auf den deutschen Markt angepasst und ggf. neu ausgerichtet werden. Auch wurden bereits vor über 20 Jahren erste Ökobilanzen im Verkehrsbereich durchgeführt und im Laufe der Zeit auf verschiedene Bereiche angepasst und optimiert [Lünser 1999]. Kommerzielle Tools, wie z.-B GaBi decken den ökologischen Bereich des Straßenbaus aktuell jedoch nur zum Teil ab, bzw. bilden Daten nur über Durchschnittswerte für Bewertungen in frühen Planungsphasen ab. Die existierenden Bewertungs- und Zertifizierungssysteme unterscheiden sich im Hinblick auf die Anwendung teilweise sehr. Sie umfassen teilweise den gesamten Infrastrukturbereich, wie z.-B Mobilität / Verkehr, Energie, Wasser, Abfall, Kommunikation, Schutzinfrastruktur oder nur den Verkehrsbereich. Teilweise werden nur Teilbereiche der Nachhaltigkeit, wie z.-B Ökologie betrachtet. Der Fokus bei den Systemen liegt entweder auf den frühen Planungsphasen oder auf allen Phasen. Eine Fokussierung ausschließlich auf den Straßenbau gibt es nicht. Lediglich einige Systeme wie der SNBS greifen dieses konkrete Beispiel auf, unterscheiden Planung und Bau und formulieren hierfür mögliche Zuschlagskriterien. [KBOB 2020]. Die Datenverfügbarkeit und -anforderungen variieren stark. Während es für einige Indikatoren gute Grundlagen und Vergleichswerte / Benchmarks gibt, sind diese bei anderen Indikatoren sehr lückenhaft oder fehlen vollständig. Daraus ergibt sich, dass einige Indikatoren quantitativ ausgedrückt und bewertet werden können. Teilweise gibt es eine gute Grundlage für eine mögliche Monetarisierung. Andere Indikatoren müssen jedoch mit Erläuterungsberichten oder Checklisten nachgewiesen werden. Gibt es hier keine Vergleichswerte oder Benchmarks, bieten die Bewertungs- und Zertifizierungssysteme durch die Sammlung verschiedener Daten die Möglichkeit, daraus Vergleichsgrößen zu bilden. 5. Mögliche Kriterien einer Nachhaltigkeitsbewertung im Straßenbau Während international bereits gute Vorbilder für die ökologische Bewertung, teilweise auch erste Ansätze in der umfassenderen Nachhaltigkeitsbewertung, existieren, findet eine solche Bewertung in Deutschland noch nicht statt. Mit der Verbreitung der Umweltproduktdeklaration und die zugrunde liegenden Ökobilanzierung werden die Indikatoren, die diesen zugrunde liegen, im Bereich der Umweltwirkungen in Zukunft zum Standard. Betrachtet man die notwendige Breite einer Nachhaltigkeitsbewertung, wird deutlich, dass viele Indikatoren, insbesondere aus den Bereichen Ökonomische und Soziokulturelle Qualität, bisher viel weniger bis gar nicht Eingang finden. Da sich für die Definition der Nachhaltigkeit die drei Nachhaltigkeitsdimensionen (Dreisäulenmodell) über die Jahre etabliert haben, sollen diese auch die Grundlage für die vorgeschlagene Systematik bilden. Die meisten weiteren in anderen Themenfeldern abgebildeten Kriterien können in diese Struktur integriert werden, indem sie dort Eingang finden, wo sie die maßgebliche Wirkung haben. Lediglich die Prozesse sollen als viertes Themenfeld hinzugefügt werden, da hiermit „übergeordnete“ Themen, wie Innovationen, gebündelt werden und nicht getrennt in die anderen Bereiche eingehen. Begrenzt man den Straßenbau auf konkrete Straßenbaumaßnahmen, sind die Phasen Ausführungsplanung sowie Ausschreibung und Vergabe maßgebend, d.- h. es liegt Baurecht vor, z.-B durch einen Planfeststellungsbeschluss. Themen wie Linienführung, Verkehrsaufkommen oder Verkehrsmittelwahl und daraus abgeleitete Kriterien, wie z.-B die Biodiversität, werden daher nicht betrachtet. In Tab. 2 sind die möglichen Kriterien für eine umfassende Nachhaltigkeitsbewertung im Straßenbau zusammengestellt. Tab. 2: Mögliche Kriterien für eine Nachhaltigkeitsbewertung im Straßenbau und Zuordnung zu vier Themenfeldern Das Kriterium „Energie und Umweltwirkungen“ deckt die typischen Indikatoren einer Ökobilanz bzw. Umweltproduktdeklaration (EPD) ab. Neben diesen Umweltindikatoren sind auch weitere ökologische Kriterien zu berücksichtigen. Im Kriterium „Verantwortungsbewusste Ressourcengewinnung“ geht es einerseits um die Verwendung von Recyclingmaterial sowie andererseits die Lokalität, da sich geringe Transportentfernungen des eingesetzten Materials nicht nur auf das Treibhausgasemission, sondern auch die Belastung der in an Anspruch genommenen Verkehrswege auswirken. Weiterhin sind Umweltschadstoffe und kritische bzw. gefährliche Ma- 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 35 Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte terialien zu identifizieren und ihre Auswirkung auf die Umwelt zu bewerten. Im Kriterium „Wasserkreislaufsysteme“ liegt der Fokus auf der Wassernutzung und dem Abwasseraufkommen. Des Weiteren sind bereits bei der Erstellung des Bauwerks bzw. bei den entsprechenden Baumaßnahmen die Möglichkeiten des Rückbaus der Konstruktion und des Recyclings der eingesetzten Baustoffe am Ende des Lebenszyklus im Kriterium „Rückbau- und Recyclingfreundlichkeit“ zu bewerten. In der Nachhaltigkeitsdimension „Ökonomie“ werden die Kosten und die Resilienz subsummiert. Die Kosten sind als Lebenszykluskosten des Baulastträgers zu betrachten, um auf diese Weise auch die Auswirkungen der betrachteten Baumaßnahme auf notwendige Instandhaltungsmaßnahmen einzubeziehen. Der Lebenszyklus beschränkt sich für Straßenbaumaßnahmen auf die Lebensdauer des Bauteils bzw. der betrachteten Schicht des Oberbaus und schließt keine Wiederherstellung des Bauteils ein. Des Weiteren sind in diesem Kriterium auch die Kosten infolge baubedingter Verkehrsbeeinträchtigungen zu betrachten. Im Rahmen der Resilienz sind Klima- und Umweltrisiken, z.-B. extreme Temperaturereignisse, und Unfallrisiken, z.-B Brandschäden und chemischer Materialangriff durch austretende Stoffe, zu betrachten. Die soziale Dimension umfasst die Kriterien „Straßenverkehrslärm“, „Verkehrsführung während der Bauzeit“ und „Arbeitsplatz während der Bauzeit“. Beim Straßenverkehrslärm kann zwischen Lärmemissionen während der Bauphase, z.-B durch den Umleitungsverkehr infolge der Baustelle, und während der Nutzungsphase unterschieden werden. Im Kriterium „Verkehrsführung während der Bauzeit“ sind alle betroffenen Verkehrsteilnehmer (Kfz, öffentlicher Verkehr sowie Rad- und Fußverkehr) zu berücksichtigen. Hierbei ist auf ein entsprechendes Verkehrsführungskonzept (Umwege, Sicherheit, Barrierefreiheit etc.) zu achten. Beim Kriterium „Arbeitsplatz während der Bauzeit“ sind eine angepasste Arbeitsplatzgestaltung und der Gesundheitsschutz zu betrachten. Dabei ist es durchaus sinnvoll, über die gesetzlichen Mindestvorgaben hinauszugehen und entsprechende Konzepte bzgl. Schichtdienst, Reduktion von Mitarbeiterbelastungen, Sonnenschutz etc. zu entwickeln. Der Schutz vor Aerosolen und Dämpfen hängt einerseits von der Bauweise sowie der Anzahl und Belastung der Mitarbeiter ab. Auch Einbautemperatur und Umgebungstemperatur (Witterung und Bauprozess) sind in diesem Kriterium relevant. Im Rahmen der „Prozesse“ werden die Kriterien „Partizipation“, „Baustelle / Bauprozesse“ sowie „Qualitätssicherung“ berücksichtigt. Bei der „Partizipation“ ist zu bewerten, wie die Anwohner und Verkehrsteilnehmer informiert bzw. involviert werden, z.-B. über Zeitplanung der Bauausführung, Einschränkungen im Alltag etc. Hier bietet sich ein Nachweis durch ein Kommunikationskonzept der Bieter an. Im zweiten Kriterium werden alle Indikatoren zusammengefast, die im Zusammenhang einer Baustelle relevant sind, wie Lärm, Abfall, Wasser, Abwasser, Staub, Flora und Fauna, eingesetzte Fahrzeugflotte und emissionsmindernde Maßnahmen, benötigte Fläche zur Baustelleneinrichtung sowie Bauzeit. So sind hier bzgl. Lärm insbesondere die Vermeidung und Minderung vom Lärmemissionen, z.- B durch Maschinenauswahl, Prozessoptimierung, Bauzeitenauswahl etc. zu verstehen. Die Fläche der Baustelleneinrichtung bezieht sich auf die Gesamtfläche inklusive Lagerfläche, die bei unterschiedlichen Bauphasen oder -zeiten variieren kann. Ziel ist dabei, den Flächenverbrauch zu minimieren. Bei der Bauzeit wirken sich Maßnahmen zur Verkürzung der Bauzeit positiv aus. Alle anderen Indikatoren sollten im Rahmen eines Umwelt(schutz)konzepts berücksichtigt werden. Im Kriterium „Qualitätssicherung“ ist die Anwendung von Datenmodellen positiv zu bewerten. So kann die Anwendung und Weitergabe von Materialpass, BIM-Modellen etc. Eingang finden. Es ist zu berücksichtigen, dass einige Kriterien und Indikatoren auch in anderen Themenfeldern angesiedelt werden könnten. In der Regel werden sie in dem Themenfeld platziert, in dem sie die meisten Auswirkungen haben oder am relevantesten sind. Weiterhin ist zu beachten, dass die vorgeschlagenen Kriterien nicht gleichwertig in eine Gesamtbewertung einfließen, sondern dass die Bedeutung für das Gesamtergebnis über eine Gewichtung der Kriterien erfolgt. Um diese Gesamtbewertung vorzunehmen, sind die je Indikator ermittelten Kenngrößen über Normierungsfunktionen vergleichbar zu machen, wie es z.-B. im Rahmen der Zustandsbewertung gängige Praxis ist. Alternativ zu Gewichtung und Normierung ist auch eine Monetarisierung aller Indikatoren denkbar, wobei der angesetzte Preis je Indikator sowohl Gewichtung des Indikators als auch Normierung beinhaltet, was weniger transparent ist. 6. Fazit Nachdem sich die Anwendung von Nachhaltigkeitsbewertungs- und -zertifizierungssystemen im Hochbau etabliert hat, finden diese auch im Infrastrukturbereich verstärkt Einsatz. Teilweise wurden sie schon vor Jahrzenten entwickelt, haben sich aber im Vergleich zum Hochbau nicht im gleichen Ausmaß verbreitet. Diese Systeme umfassen den gesamten Infrastrukturbereich, wie z.-B Mobilität / Verkehr, Energie, Wasser, Abfall, Kommunikation, Schutzinfrastruktur. Es wurden auch für den Verkehrsbereich spezielle Systeme entwickelt. Der Fokus bei den Systemen liegt entweder auf den frühen Planungsphasen oder auf allen Phasen. Es hat sich gezeigt, dass das Interesse an Bewertungs- und Zertifizierungssystemen groß ist und weiter zunimmt. Die meisten bereits etablierten Systeme verfügen über eine hohe Anzahl an Projekten. Die sich in Entwicklung und Startphase befindlichen Systeme wie z.-B DGNB-Verkehrsinfrastruktur und SBNS- Infrastruktur stoßen bei verschiedenen Akteuren (Bund, Bundesländer / Kantone, Gemeinden und Unternehmen) auf großes Interesse. Die Verwendung reicht dabei von einer Entscheidungsgrundlage, ob und wie das Projekt umgesetzt wird, einen Leitfaden zur Qualitätssicherung bis hin zur tatsächlichen Zertifizierung. Eine Fokussierung ausschließlich auf den Straßenbau gibt es jedoch nicht. Teilbereiche wie z.-B Umweltindikatoren, 36 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Nachhaltiger Straßenbau - Bewertung ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte werden bereits im Straßenbau berücksichtigt und sind in einigen Staaten auch in der Ausschreibung und Vergabe integriert. In Deutschland müssen nun durch den Druck von verschiedenen Seiten wie Politik und Investoren entsprechende Bemühungen und Nachweise folgen. Aus den Erfahrungen in Teilbereichen, aus dem Hochbau und aus internationalen Bemühungen und Umsetzungen können wertvolle Informationen einfließen. Alle Bewertungs- und Zertifizierungssysteme enthalten Kriterien und Indikatoren, die auch bei der Ausschreibung und Vergabe relevant sind. So können hier neben ökologischen Kriterien auch welche aus dem sozialen Bereich, wie z.-B Schulung des Personals, Gesundheit und Sicherheit oder prozessorientierte Angaben stammen. Einige Bundesländer integrieren dies bereits in Ihren Ausschreibungen. Wie mit Innovationen umzugehen ist, stellt eine weitere Herausforderung dar. Dies kann übergeordnet in der Planung eine Rolle spielen, aber ebenso konkreten Angebote bzw. Nebenangebote betreffen. Die vorgestellten Kriterien, untergliedert in vier Themenfelder, können für eine umfassende Nachhaltigkeitsbewertung von Straßenbaumaßnahmen angewendet werden. Inwieweit sie relevant für eine Gesamtbewertung sind, wie sie untereinander gewichtet werden können und welche Datengrundlagen im Detail zugrunde gelegt werden können, kann anhand von Pilotprojekten weiter untersucht werden. Hierbei muss es Ziel sein, einen Kompromiss zwischen Aufwand für die Bewertung einerseits und Aussagekraft der Nachhaltigkeitsbewertung andererseits zu erreichen. Literaturverzeichnis [1] ASTRA - Bundesamt für Strassen Nachhaltigkeits - Indikatoren für STRAsseninfrastrukturprojekte (NISTRA). (2017). Online verfügbar unter: https: / / www.astra.admin.ch/ astra/ de/ home/ fachleute/ dokumente-nationalstrassen/ fachdokumente/ nistra. html, abgerufen am: 29.03.2022. [2] BMVBS - Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.). (2011) Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen, Büro- und Verwaltung. Online verfügbar unter: https: / / www.nachhaltigesbauen.de/ fileadmin/ pdf/ veroeffentlichungen/ Bewertungssystem_Nachhaltiges_Bauen.pdf, abgerufen am: 03.03.2020. [3] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB), www.bmub.bund. de. (2015) Übereinkommen von Paris. Paris. Online verfügbar unter: https: / / www.bmuv.de/ fileadmin/ Daten_BMU/ Download_PDF/ Klimaschutz/ paris_ abkommen_bf.pdf? adb_sid=3f2fa233-444b-4e87a5c4-0277499c4be4, abgerufen am: 15.12.2022. [4] CEEQUAL Version 6, Technical Manual - International Projects. (2019). Online verfügbar unter: https: / / www.ceequal.com/ version-6/ , abgerufen am: 01.12.2021. [5] DGNB - Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. (2018) DGNB System: Kriterienkatalog Gebäude Neubau. Online verfügbar unter: 07.01.2022. [6] DGNB - Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e.V. (2020) DGNB System: Kriterienkatalog Quartiere. Online verfügbar unter: 07.01.2022. [7] FGSV - ForschungsGesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen Richtlinien für integrierte Netzgestaltung (RIN) FGSV-Verlag. Köln, 2008. [8] Lemaitre, C. Nachhaltig ist das neue Normal an der Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen - DGNB e.V. Online verfügbar unter: https: / / www.dgnb.de/ de/ verein/ publikationen/ bestellung/ downloads/ DGNB_Imagepraesentation_2020_ DE.pdf? m=1633447625&, abgerufen am: 15.12.2022. [9] European Commission. (2. Februar 2022) EU-Taxonomie: ergänzender delegierter Klima-Rechtsakt [Press release]. Brussels, Belgium. Online verfügbar unter: https: / / ec.europa.eu/ commission/ presscorner/ detail/ de/ ip_22_711, abgerufen am: 14.12.2022 [10] Greenroads - Manual v1.5. (2011). Online verfügbar unter: https: / / www.greenroads.org/ , abgerufen am: 01.12.2021. [11] KBOB - Koordinationskonferenz der Bau- und Liegenschaftsorgane der öffentlichen Bauherren Nachhaltiges Beschaffen im Bau - Teil Infrastruktur 2021 / 3 (Empfehlung). Bern, 12/ 2020. [12] Lünser, H. Ökobilanzen im Brückenbau: Eine umweltbezogene, ganzheitliche Bewertung. Springer eBook Collection Computer Science and Engineering, Birkhäuser Basel. Basel, 1999. [13] Müller, C. Lebenszykluskosten von Straßen Springer Fachmedien Wiesbaden. Wiesbaden, 2020. [14] Nationale Milieu Database - Stichting NAtional Environmental Database Environmental Performance Assessment Method for Construction Works, Calculation method to determine environmental performance of construction works throughout their service life base on EN 15804, March 2022. [15] Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz (Hrsg.). (2020) SNBS 1.0 Infrastruktur - Kriterienbeschrieb, Bereiche Mobilität/ Transport, Energie, Wasser, Kommunikation, Schutzinfrastruktur. Online verfügbar unter: https: / / www.nnbs.ch/ snbs-infrastruktur, abgerufen am: 01.12.2021. [16] Bundesregierung Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie - Weiterentwicklung 2021. (29. März 2022). Online verfügbar unter: https: / / www.bundesregierung.de/ breg-de/ themen/ nachhaltigkeitspolitik/ nachhaltigkeitsstrategie-2021-1873560, abgerufen am: 29.03.2022.
