Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV
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Edgar Theurer
Der nachfolgende Beitrag zeigt, das Bushaltestellen für einen barrierefreien ÖPNV auf Basis der aktuellen gesetzlichen Vorgaben in nahezu jeder Situation möglich sind. Dafür bedarf es einer verantwortungsvollen Erstellung einer Prioritätsreihung zum Umbau der unzähligen noch nicht barrierefreien Haltestellen und einer Verankerung dieser Priorisierung in entsprechend verpflichtenden Planwerken. Die Beachtung einer überschaubaren Anzahl an Planungsvoraussetzungen gesetzlicher und technischer Normen sowie eigener Vorgaben unter Einsatz der entsprechenden am Markt befindlichen Produkte lassen Haltestellen entstehen, die dem Nutzer die notwendigen Voraussetzungen bieten, den Bus selbständig und ohne fremde Hilfe zu besteigen und wieder zu verlassen. Bei sorgfältiger Umsetzung der Planung durch detailgenaue, maßhaltige Bauausführung entsteht gebaute Umwelt, die den Anforderungen an Barrierefreiheit entspricht. Beispiele umgesetzter Projekte aus der Planungspraxis in Pforzheim geben einen Überblick, wie barrierefreie Haltestellen im Stadtbild aussehen und optimal funktionieren können.
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3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 85 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Priorisierung bei der Umsetzung, Wesentliches bei Planung und Ausführung, Hinweise aus der Praxis Dipl.-Ing. Bau (FH) - BDB - Edgar Theurer Grünflächen- und Tiefbauamt, Stadt Pforzheim Zusammenfassung Der nachfolgende Beitrag zeigt, das Bushaltestellen für einen barrierefreien ÖPNV auf Basis der aktuellen gesetzlichen Vorgaben in nahezu jeder Situation möglich sind. Dafür bedarf es einer verantwortungsvollen Erstellung einer Prioritätsreihung zum Umbau der unzähligen noch nicht barrierefreien Haltestellen und einer Verankerung dieser Priorisierung in entsprechend verpflichtenden Planwerken. Die Beachtung einer überschaubaren Anzahl an Planungsvoraussetzungen gesetzlicher und technischer Normen sowie eigener Vorgaben unter Einsatz der entsprechenden am Markt befindlichen Produkte lassen Haltestellen entstehen, die dem Nutzer die notwendigen Voraussetzungen bieten, den Bus selbständig und ohne fremde Hilfe zu besteigen und wieder zu verlassen. Bei sorgfältiger Umsetzung der Planung durch detailgenaue, maßhaltige Bauausführung entsteht gebaute Umwelt, die den Anforderungen an Barrierefreiheit entspricht. Beispiele umgesetzter Projekte aus der Planungspraxis in Pforzheim geben einen Überblick, wie barrierefreie Haltestellen im Stadtbild aussehen und optimal funktionieren können. 1. Inhaltsübersicht Zur Bearbeitung der Thematik „Bushaltestellen für einen barrierefreien ÖPNV“ sind die folgenden 5 Aspekte zu betrachten: - Vorgaben - Priorisierung beim Ausbau - Planungsgrundlagen - Beispiele gebauter Anlagen - Ausführungsprobleme 2. Vorgaben Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehrsraum wird durch eine umfangreiche Gesetzgebung vorgegeben. Beginnend bei UN- und Behindertenrechtskonventionen über die Forderung im Grundgesetz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ und dem Behindertengleichstellungsgesetz §8 „Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr“ führt der Weg zur konkretesten Forderung, dem §8, Abs. 3 des PBefG (Personenbeförderungsgesetz). In diesem wird das Ziel vorgegeben „… für die Nutzung des ÖPNV bis zum 01.01.2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen …“. Dies betrifft „in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkte“ Menschen. Die baulichen Details regeln dann entsprechende DIN, wie im Wesentlichen die DIN 18040-3: 2014-12 (Barrierefreies Bauen - Planungsgrundlagen - Teil 3: Öffentlicher Verkehrs- und Freiraum), die DIN 32984: 2020-12 (Bodenindikatoren im öffentlichen Raum) sowie die DIN 32975: 2009-12 (Gestaltung visueller Informationen im öffentlichen Raum zur barrierefreien Nutzung). Die Vorgabe des PBefG, vollständige Barrierefreiheit bis zum 1. Januar 2022 umzusetzen, war ein ambitioniertes Ziel. Gut 1 Jahr später kann wohl festgestellt werden, dass dieses Ziel nicht erreicht wurde. Kennen Sie eine - zumindest größere - Kommune, die sämtliche Haltestellen barrierefrei umgebaut hat? Damit hat sich die Sache aber nicht erledigt, die Bemühungen müssen im Gegenteil intensiviert werden. Bei vielen Kommunen stellt sich in Folge dessen immer drängender die Frage „wo fangen wir überhaupt an, bei der Fülle der Haltestellen, die es - noch umzubauen gilt? “ Wurden zu Beginn pragmatisch die Haltestellen angepackt, die aus irgendwelchen Gründen „sowieso“ in Baumaßnahmen involviert waren so gilt es nun, ein klares Handlungskonzept, eine Prioritätenreihung, zu erarbeiten um die Gesetzesvorgabe planvoll zu erfüllen. 3. Priorisierung beim Ausbau Die Stadt Pforzheim hat folgendes Procedere zur Umsetzung der Barrierefreiheit bei Bushaltestellen beschlossen: Es wird eine Prioritätenliste anhand mehrerer Kriterien aufgestellt. Diese Liste wird im parallel neu erstellten Nahverkehrsplan (NVP) als Handlungsvorgabe beschlossen. Abweichungen von dieser Liste sind nur möglich, wenn einzelne Haltestellen im Rahmen von aktuellen Baumaßnahmen direkt betroffen sind (Straßenunterhaltung, Leitungsbau, Hochbauten im direkten Umfeld, …) bzw. in deren Baufelder mit einbezogen werden können. Jegliche weitere Abweichung bedarf eines expliziten Beschlusses im Rahmen von NVP-Belangen. Diese Liste besteht in Form einer Excel-Tabelle, die als Anlage VI zum NVP 2021 beschlossen wurde. Ein Ausschnitt daraus ist unten dargestellt. 86 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 1: Ausschnitt Anlage VI zum NVP 2021 der Stadt Pforzheim - Priorisierung Haltestellen für barrierefreien Ausbau Die Liste umfasst sämtliche Haltestellen auf der Stadtgemarkung Pforzheim, das sind aktuell 279 Positionen (i.d.R. Haltestellenpaare). Zur Priorisierung werden die nachfolgend aufgeführten Kriterien herangezogen und in Bewertungspunkte umgesetzt: - Einsteiger an der Haltestelle pro Jahr pro 1000 Einsteiger 1 Punkt - Zuschlag für Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen etc. im Haltestellenumfeld pro Objekt 50 Zusatzpunkte - Zuschlag für Verkehrsknotenpunkte (des ÖPNV) in der Nähe pro Knotenpunkt 50 Zusatzpunkte - Zuschlag für besondere Einrichtungen wie Verwaltung, Kultur, Freizeit, Friedhöfe etc. im Haltestellenumfeld pro Einrichtung 30 Zusatzpunkte Aus der Gesamtpunktzahl von Fahrgastpunkten und Zusatzpunkten wird die Reihung der Haltestellen ermittelt. 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 87 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 2: Kriterien für Priorisierungsfestlegung In einer Auswerteübersicht am Kopf der Tabelle wird jeweils der aktuelle Sachstand hinsichtlich des Zielerreichungsgrades in Pforzheim dargestellt. Ausgewertet wird hinsichtlich Prozentzahl der betroffenen Einsteiger pro Jahr und hinsichtlich der Prozentzahl nach erreichten Prioritätspunkten. In der Praxis zeigt sich derzeit kein signifikanter Unterschied dieser beiden Auswertekriterien. Final entscheidend ist das Auswertekriterium der erreichten Prioritätspunkte. Aktuell stehen wir in Pforzheim somit bei einem Zielerreichungsgrad hinsichtlich der Vorgaben des PBefG von knapp 25 %. Das ist - aus unserer Sicht angesichts von 235 umzubauenden Haltestellen - kein allzu schlechter Wert. Der NVP definiert auch Haltestellen, die nicht zum Umbau vorgesehen werden. Dies sind zum einen Haltestellen, deren Umbau aus technischen Gründen unmöglich ist und die auch nicht durch geringfügige Standortverlagerungen einer Umbaumöglichkeit zugeführt werden können. Dieses Kriterium (in Pforzheim bisher an 1 Haltestelle aufgetreten) ergibt sich erst im Rahmen konkreter Um- oder Ausbauplanungen, kann also nicht in der Liste vorab schon berücksichtigt werden. Haltestellen mit einer Fahrgastfrequenz von weniger als 4.500 Einsteigern pro Jahr werden dagegen bereits im NVP von einem (zwingenden) Umbau ausgenommen. Die Spanne an Haltestellen, in der sich unsere Planungsüberlegungen abspielen, zeigt die nachfolgende Darstellung. Die beiden Haltestellen Leopoldplatz und Leopoldstraße - im Stadtbild und Liniengefüge in unmittelbarer Nachbarschaft und dadurch im Zusammenhang zu behandeln - repräsentieren bereits knapp 5.500 von insgesamt 20.000 Prioritätspunkten, also ca. 25 %. Gelänge es, diese beiden Haltestellen im Zusammenhang barrierefrei umzubauen, könnten wir unseren Zielerreichungsgrad auf einen Schlag verdoppeln und mit 50 % eine sehr hohe Umsetzungsquote bewirken. Schon die nächste laut Liste anstehende Umbaumaßnahme „Waisenhausplatz“ brächte nur einen Zuwachs von gut 3 %. 88 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 3: Spanne der Umbaudringlichkeit laut Prioritätsreihung Mit dieser Prioritätenfestlegungstabelle haben wir ein probates, allgemein anerkanntes, Werkzeug zur Beurteilung der Umbaudringlichkeit und konfliktarmen (nicht -freien) Argumentation, wann und warum welche Haltestelle zum Umbau ansteht. Die bisher damit gemachten Erfahrungen bestätigen die Richtigkeit unserer Vorgehensweise. 4. Planungsgrundlagen Die Aufgabe barrierefreier Bushaltestellen ist es, das Ein- und Aussteigen ohne unüberwindbare Hindernisse zu ermöglichen. Die Selbständigkeit des in seiner Mobilität eingeschränkten Fahrgastes steht im Vordergrund. Eine Mithilfe des Busfahrers (oder anderer Fahrgäste) durch das Ausklappen der in jedem Bus vorhandenen Klapprampe (Vorgabe in unserem NVP) ist nur im Notfall vorgesehen. Die Ausstattungsstandards barrierefreier Bushaltestellen sind im NVP verbindlich geregelt. Ebenso sind dort die Fälle geregelt, in denen keine Barrierefreiheit angestrebt wird (s.o.). Damit ist eine einheitliche Vorgehensweise in der gesamten Stadt (und dem durch den NVP ebenfalls abgedeckten Verbundgebiet) gewährleistet, was dem Fahrgast Einheitlichkeit und Begreif barkeit zumindest verbundweit gewährleistet. Betrachten wir nun diese Planungsgrundlagen der Stadt Pforzheim näher: Standardhaltestelle im Stadtgebiet ist die 20 m lange, barrierefreie Fahrbahnrandhaltestelle. Abb. 4: Standard Fahrbahnrandhaltestelle 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 89 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 5: Systemplan barrierefreie Fahrbahnrandhaltestelle Auf einer Länge von 20 m wird ein Bussonderbord (eingebürgerter Sprachgebrauch „Kasseler Sonderbord“, da in Kassel zuerst so eingesetzt) mit Anschlag 18 cm eingebaut. Der Übergang zum Normalbord / Gehweg erfolgt durch Übergangssteine in entsprechender Länge, die sich aus der maximalen Rampenneigung von 6% ergibt. Die Sonderbordlänge von 20 m deckt alle gängigen Bustypen ab, die aktuell am Markt sind. Beim Einsatz von Doppelgelenkbussen bzw. anderen Sondertypen ist diese Länge entsprechend anzupassen. Am Haltestellenanfang befindet sich ein durch Bodenindikatoren markiertes Einstiegsfeld, bestehend aus Rippenplatten mit Rippenrichtung parallel zum Bordstein. Das 1,20 m breite und 0,60 m tiefe Einstiegfeld wird über die gesamte Gehwegbreite durch einen 60 cm breiten Auffindestreifen ebenfalls aus Rippenplatten parallel zum Bordstein ergänzt, der ein Auffinden des Einstiegsfeldes gewährleistet. Einstiegsfeld und Auffindestreifen werden durch ein Kontrastfeld eingerahmt, dass die optische und taktile Erkennbarkeit des Einstiegsfeldes / Auffindestreifens steigert. In der Regel sind Einstiegsfeld und Auffindestreifen in weißen Elementen ausgeführt, das Kontrastfeld dann schwarz. Je nach Umgebung kann das aber auch invers ausgeführt werden. Das Kontrastfeld besteht aus Betonplatten mit scharfer Kante, explizit ohne jedwede Fase. Die Bushaltestelle selbst hat eine Tiefe ab Bordsteinvorderkante von mindestens 2,50 m um vollkommen barrierefreie Bewegungsabläufe (Rangieren mit Rollstuhl) zu gewährleisten. Idealer Weise wird die Haltestelle mit einem Fahrgastunterstand als Witterungsschutz ausgestattet und mit einer Dynamischen Fahrgastinformationsanlage (DFI) ergänzt. Unbedingtes Muss ist das Haltestellenschild (H-Schild) als verkehrsrechtliche Kenntlichmachung der Haltestelle. Ist aus örtlichen Gründen kein mindestens 18 m langer (Standardgelenkbus) Sonderbord möglich ist die Sonderbordlänge auf 8 m zu beschränken. Damit sind der Einstieg und der erste Ausstieg des Fahrzeuges abgedeckt, ebenso sämtliche Solofahrzeuge. Zwischenlängen sind zu vermeiden, da dann ggfls. die Übergangsrampe von 18 cm Bordhöhe auf Normalhöhe genau an einer Bustüre zu liegen kommt und der Fahrgast in der Schräge stolpert oder anderweitig zu Schaden kommt. Sind auch 8 m Sonderbordlänge nicht möglich beschränkt sich diese auf eine Länge von 2 - 3 m in der Position der ersten Ausstiegstüre der Busse. Dann ist zumindest die Erreichbarkeit der Mehrzweckfläche (Rollstuhl, Rollator, Kinderwagen, …) im Bus direkt und barrierefrei möglich. Abb. 6: Fahrbahnrandhaltestelle Abb. 7: Einstiegsfeld Fahrbahnrandhaltestelle 90 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 8: durchgehende Bordsteinkante VERWENDEN Abb. 9: zurückspringende BordsteinkanteVERMEIDEN Die Baustoffindustrie bietet 2 unterschiedliche Arten von Bussonderborden an. Es gibt die Ausführung in gerader Bordsteinflucht mit vorspringendem Fuß des Bordes (oben links) und die Ausführung mit rückspringender Bordsteinkante und Fuß des Bordes in Bordsteinflucht (oben rechts): Der Fuß des Sonderbordes ist als Kehle ausgebildet, die bei einem tangentialen Anfahren auf Berührung durch das Busvorderrad den Bus selbst - ohne Zutun des Fahrers optimal an die Bordsteinkante heranzieht. Der Fahrer muss die Kante lediglich gestreckt tangential anfahren und dann das Lenkrad loslassen. Dieses gestreckt tangentiale Anfahren wird durch die durchgehende Bordsteinkante leicht möglich, da ohne weitere Lenkbewegung machbar. Bei der zurückspringenden Bordsteinkante muss der Rücksprung zuerst aktiv angelenkt werden bevor die Bordsteinform ihre Wirkung entfalten kann. Dem Vorteil des leichten Anfahrens der durchgehenden Kante steht im Bau der Nachteil entgegen, dass die durchgehende Bordsteinkante einen Versatz der Fahrbahndeckenkante bedingt, die im Einbau schwieriger zu bewerkstelligen ist. Der Betrieb einer Bushaltestelle ist sehr langfristig angelegt, deshalb können kurzfristige Einbauerschwernisse keine Dominanz gegenüber den Erfordernissen des täglichen Betriebes haben. Aus diesem Grund ist die zurückspringende Bordsteinkante zu vermeiden! Zur Frage der Bordsteinhöhe des Bussonderbordes - warum gerade 18 cm Anschlag? Die Spanne der von der Baustoffindustrie angebotenen Sonderbordsteine beginnt bei einer Bordhöhe von 16 cm und geht bis zu 24 cm und mehr. Ziel der Sonderborde ist es, den Spalt zwischen Bustüre und Bordsteinkante zu minimieren und gleichzeitig den Höhenversprung zwischen Busfahrzeugboden und Höhe des Bushaltestellenbelages (OK Gehweg) möglichst gering zu halten - idealerweise einen Ausstieg ohne Höhenversatz und Spalt zu ermöglichen. Die dabei auftretende Spanne an Möglichkeiten veranschaulicht die nachfolgende Grafik: 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 91 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Reststufenhöhe Restspaltbreite 100 mm 50 mm 0 50 mm 100 mm vollständig barrierefrei ( maximal 50 x 50 mm ) bedingt barrierefrei ( maximal 100 x 50 mm oder 50 x 100 mm ) mit Erschwernissen oder fremder Hilfe nicht barrierefrei Abb. 10: Verhältnis Reststufenhöhe und Restspaltbreite - Einsatzoptionen Sonderbordsteinhöhen Anzustreben ist eine bauliche Lösung im grünen Bereich, maximal im gelben Sektor. Eine Bordsteinhöhe von 18 cm stellt dabei den aktuell besten Kompromiss dar. 16 cm Anschlag sind nicht barrierefrei, da die Reststufenhöhe bei aktueller Bustechnik immer im roten Bereich liegen wird. Höhen über 18 cm führen beim Einsatz von Bussen mit Außenschwingtüren häufig zu einem Aufsetzen der offenen Türe auf dem Bordstein und damit zu Beschädigungen am Bus bis hin zum Blockieren der Buselektronik im Betrieb. Außenschwingtüren kommen i.d.R. bei Überlandbussen zum Einsatz. Das hat zur Konsequenz, dass Bordsteinhöhen von über 18 cm nur dann zum Einsatz kommen können, wenn es sich um Stadtlinienbetrieb handelt und der Einsatz von Bussen mit Außenschwingtüren sicher ausgeschlossen werden kann. In der Praxis kommen - wie mehrere Umfragen in deutschen Kommunen ergaben - in nahezu 80 % aller Kommunen Sonderborde mit einer Anschlaghöhe von 18 cm zum Einsatz. Die Praxis spricht hier eine eindeutige Sprache! Einsatz der Bodenindikatoren: Die Einstiegsfelder an Bushaltestellen werden durch Bodenindikatoren nach DIN 32984 ausgebildet. Einstiegfeld und Auffindestreifen bilden Rippenplatten mit 50 mm Rippenabstand, Rippenrichtung parallel zur Bordsteinkante. Diese Indikatoren werden eingerahmt durch ein Kontrastfeld von Betonplatten mit scharfer Kante ohne jegliche Fase. Abb. 11: Kontrast Einstiegsfeld - Kontrastfeld weiß - basalt Abb. 12: Begleitplatten ohne Fase Durch den Farbkontrast (weiß zu basalt oder invers) und den taktilen Unterschied zwischen Rippenplatten und absolut ebenem Kontrastfeld ist der Einstiegsbereich (die erste Bustüre) auch für blinde Menschen oder solche mit einer Sehbeeinträchtigung eindeutig erkennbar. Nach DIN sind die Rippenplatten so einzubauen, dass die Rippenplatten „taleben“ zur umgebenden Fläche ausgeführt werden, die Rippen also über den Belag herausragen. In der Praxis führt dies zu Problemen mit dem Winterdienst, bei maschineller Schneeräumung werden die Rippen beschädigt und teilweise abgetragen. Deshalb empfehlen wir praxisorientiert den Einbau der Rippenplatten „bergeben“ sofern die Fläche bewittert (Schneefall) und maschinell geräumt wird. Im unbewitterten Bereich (unter Dach) wird „taleben“ eingebaut. Fahrgastinformationsanlagen: Zusätzlich zu den absolut notwendigen Ausstattungsdetails kann an entsprechend frequentierten Haltestellen auch eine Dynamische Fahrgastinformationsanlage (DFI) eingerichtet werden. Über einen Monitor werden die aktuellen Fahrplandaten (i.d.R. Echtzeitangaben) angezeigt. 92 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Zusätzlich wird der Bildschirminhalt über einen gut erkennbaren Taster abruf bar vorgelesen. Diese sog. TTS- Ansage - „text-to-speech“ - dient dem 2-Sinne-Prinzip. Menschen, die die Information nicht sehen können, können diese dann auf Anforderung hören. Bei entsprechender weiterer Ausrüstung können die Fahrplandaten auch über eine App direkt auf ein Smartphone abgerufen und dem Nutzer in einer für ihn verständlichen Form kommuniziert werden. Die elektronische Kommunikation kann bis hin zu Wegeführung innerhalb komplexer Haltestellenanlagen, wie z.B. zentralen Omnibusbahnhöfen, ausgebaut werden. Auch die direkte Kommunikation mit dem Bus ist möglich, so dass bei Einfahrt des Busses in die entsprechende Haltestelle bereits das Fahrziel des Busses, die Liniennummer etc. durchgegeben wird oder dem Fahrer signalisiert wird, dass dort ein blinder Fahrgast wartet. Damit können weitere Barrieren im öffentlichen Personennahverkehr abgebaut werden. Abb. 13: DFI-Anzeiger an einer Doppelhaltestelle Abb. 14: TTS-Taster zur Fahrplanansage Formen von Bushaltestellen: Barrierefreie Bushaltestellen können im Wesentlichen in 4 Standardformen angelegt werden, weitere örtlich angepasste Ausführungen sind denkbar. Abb. 15: Haltestellenformen 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 93 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Die Haltestelle am Fahrbahnrand sowie das Haltestellenkap sind Bauformen, die vom bedienenden Bus ohne starkes Einlenken bzw. ohne Verlassen der Fahrspur in gestreckter Form angefahren werden können. Haltestellen am Fahrbahnrand in Längsparkstreifen und Busbuchten erfordern ein Verlassen der Fahrspur des Busses und ein Einschwenken an die Bordsteinkante der Haltestelle. Um den Bus in gestreckter Form an die Bordsteinkante anzudocken erfordert es fahrerisches Können und eine entsprechende Entwicklungslänge der Haltestellenanlage. Bei einer Haltestelle innerhalb eines Längsparkstreifens kann schon 1 falsch (im freizuhaltenden Abschnitt) geparktes Fahrzeug eine gestreckte Anfahrt unmöglich machen. Abb. 16: Verhältnis Entwicklungslänge zu Nutzlänge bei einer barrierefreien Busbucht Die große Entwicklungslänge einer Busbucht (Gesamtlänge der baulichen Anlage 88,70 m) steht in krassem Missverhältnis zur Nutzlänge. Das Verhältnis Buslänge zu Haltestellenlänge beträgt 1 : 4,8, gegenüber 1 : 1,4 bei einer Fahrbahnrandhaltestelle. Dieser enorme Platzbedarf steht im bebauten Bereich selten uneingeschränkt zur Verfügung. Deshalb kommen Busbuchten sowie Haltestellen am Fahrbahnrand innerhalb von Längsparkstreifen als Haltestellenform nur in begründeten Ausnahmefällen (z.B. unmittelbar hinter einem signalgeregelten Knotenpunkt) in Betracht. Abgesehen von den baulichen Nachteilen führt das Ausfahren aus einer Busbucht durch das notwendige Einfädeln in den fließenden Verkehr zu Verzögerungen im Ablauf und unnötigen Wartezeiten. Fahrbahnrandhaltestellen und Buskaps sind somit auch ein Mittel zur Busbeschleunigung. 5. Beispiele für barrierefreie Bushaltestellen Im Folgenden einige gebaute Beispiele von Bushaltestellen in unterschiedlichen Formen und Ausstattungsgraden im Stadtgebiet von Pforzheim: Abb. 17: Fahrbahnrandhaltestelle Hängsteig ohne Fahrgastunterstand (Ausstiegshaltestelle „stadtauswärts“) Grundform einer 20 m langen Fahrbahnrandhaltestelle mit Grundausstattung. Da die Haltestelle in Fahrtrichtung „stadtauswärts“ bedient wird hat sie keinen Fahrgastunterstand. Ein Warten auf den Bus findet nur äußerst selten statt, meist wird nur ausgestiegen und direkt zum Ziel gegangen. Deshalb findet sich dort auch i.d.R. kein Abfallbehälter. Für die Anlage der Haltestelle wurden einige Längsparkplätze in einer Parktasche zwischen Grünflächen neben dem Gehweg zur Haltestelle umgebaut (helles, neues Pflaster). Der Auffindestreifen zum Einstiegsfeld führt über den Gehweg bis zur Gehweghinterkante und ist damit für in Längsrichtung passierende Menschen auffindbar. 94 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 18: Fahrbahnrandhaltestelle Hängsteig mit Fahrgastunterstand (Einstiegshaltestelle „stadteinwärts“) Das gegenüberliegende Pendant zur vorherigen Haltestelle. In diesem Fall handelt es sich um eine Haltestelle in Fahrtrichtung „stadteinwärts“, dort warten also Fahrgäste auf den Bus, der sie ins Stadtzentrum bzw. zur zentralen Umsteigehaltestelle bringen soll. Für diese Wartezeit ist ein Fahrgastunterstand als Witterungsschutz erforderlich, ebenso ein Abfallbehälter für die Entsorgung von Abfällen vor Fahrtantritt („schnelle Zigarette vor der langen Fahrt“). Anlage in ehem. Parktasche wie Gegenseite, siehe oben. Beispiel einer Ausstiegshaltestelle an einer mehrspurigen Hauptverkehrsstraße. Der Bus hält in der rechten Richtungsfahrbahn am Straßenrand und kann nach dem Fahrgastwechsel unmittelbar wieder anfahren und auf der Anhaltespur seine Fahrt fortsetzen. Kein Fahrgastunterstand notwendig. Abb. 19: Fahrbahnrandhaltestelle Ostendstraße, Ausstiegshaltestelle in Vorstadt ohne Fahrgastunterstand Abb. 20: Fahrbahnrandhaltestelle Benckiserstraße, Haltestelle im Stadtkern mit Fahrgastunterstand Fahrbahnrandhaltestelle im Stadtkern. Durch die notwendige Integration in den Gebäudebestand war eine Entwässerung des Gehweges mittels Rinne im Gehbereich notwendig. Der Fahrgastunterstand hat keine Seitenwände, die in den Gehbereich hineinragen und den Längsverkehr behindern würden. Der Gelenkbus hält in optimal gestreckter Form entlang des Sonderbordes. Die Außenschwenktüren öffnen knapp über der Bordsteinkante mit minimalem Restspalt und Restkante zum Busboden. Die Einstiegstüre des Busses ist direkt am Einstiegsfeld der Haltestelle zum Stehen gekommen. 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 95 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 21 und 22: Fahrbahnrandhaltestelle Brötzinger Brücke, Haltestelle vor Straßenknoten am Ende einer Busspur Fahrbahnrandhaltestelle im Zufahrtsbereich zu einem hochfrequentierten Knoten. Um den dort häufigen Stau zu umfahren ist eine Busspur angelegt an deren Ende unmittelbar vor dem Knoten die Haltestelle positioniert ist. Der Bus verlässt die Haltestelle in den Knoten durch ein voreilendes Permissivsignal = Busbeschleunigung. Abb. 23: Fahrbahnrandhaltestelle Marktplatz, Doppelhaltestelle mit Blindenleitsystem und DFI Stark frequentierte Haltestelle im Stadtkern mit hohem Busaufkommen. Dadurch wurden 2 Haltepositionen notwendig deren Einstiegsfelder durch einen Leitstreifen verbunden sind. Durch die hohe Busfrequenz ist eine DFI-Anlage mit TTS sinnvoll. Die Fahrbahn vor dem Sonderbord wurde als Betonfahrbahn ausgeführt um die Spurrinnenbildung durch den spurgeführten Verkehr mit hoher Bus- = Schwerverkehrsbelastung zu verhindern. Wenn baulich alle Voraussetzungen für Barrierefreiheit erfüllt sind kommt es - nicht unwesentlich - auf das Können und das Wollen des Busfahrers an, eine Haltestelle so anzufahren, dass der Ein- und Ausstieg dann auch tatsächlich barrierefrei erfolgen kann. Um das zu erreichen bedarf es intensiver und wiederkehrender Schulung des Fahrpersonals! Ist auch diese Hürde überwunden und der Busfahrer „hat`s drauf“ ist schon fast der Idealzustand erreicht. In ihrer Mobilität eingeschränkte Fahrgäste können den Bus selbständig und ohne fremde Hilfe besteigen und wieder verlassen. Das Ziel des § 8 Personenbeförderungsgesetz, die Nutzung des ÖPNV ist vollständig barrierefrei, ist zumindest an dieser Haltestelle vollumfänglich erfüllt. 96 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 24-28: Fahrbahnrandhaltestelle Turnplatz, ideale Anfahrt der Haltestelle, Bus in optimaler Position 6. Ausführungsprobleme Leider gibt es - trotz bestmöglicher Planung einer Haltestelle - immer wieder Probleme bei der baulichen Umsetzung der Maßnahme. Die Verantwortlichen auf der Baustelle sind sich oft der Notwendigkeit einer absolut maßhaltigen, detailgenauen Ausführung der Planung nicht bewusst. Der Sinn der Maßnahme, Schaffung von Barrierefreiheit, wird verkannt, es wird gebaut „wie eben schon immer gemacht“. Auf die Einhaltung exakter Abstände, Höhen und dergleichen wird kein vorrangiger Wert gelegt - schließlich ist man das aus dem Tief bau so eher nicht gewohnt. Die Praxis zeigt, dass es lohnt, bei der Startbesprechung auf der Baustelle durch den Planer / Bauleiter des Auftraggebers explizit auf die Notwendigkeit exakter Einhaltung von Planmaßen und Detailgenauigkeit hinzuweisen und schon zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf die Konsequenzen hinzuweisen, die bei Nichtbeachtung / Nichteinhaltung der Planungsdetails zu erwarten sind. Es wird sich in der Branche schnell herumsprechen, dass die Bauherrenvertreter einer Kommune keine Toleranzen in der Ausführung zulassen, nach kurzer Zeit steigt die Qualität der Ausführung spürbar und nachhaltig an. Auf zwei sehr häufig zu beobachtende Probleme soll hier noch eingegangen werden: Abb. 29: Fahrbahndecke zu hoch eingebaut Beim Einbau des Fahrbahnbelages ist hier eine Höhendifferenz zwischen Fuß des Bussonderbordes und der Fahrbahndecke entstanden. Die Einbaubohle des Fertigers wurde nicht auf das Niveau des Bordsteinfusses abgesenkt. Durch den Höhenversatz von 2 cm wird aus einer geplanten Einstiegshöhe von 18 cm über OK Fahrbahn eine Einstiegshöhe von nur noch 16 cm, damit ist die Bushaltestelle nicht mehr barrierefrei und der Zweck des Umbaus konterkariert. 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 97 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Abb. 31 und 32: „Sägezahnkante“ durch fehlerhaften Einbau der Sonderborde Hier hilft nur: Abb. 30: Fahrbahndecke zu hoch eingebaut - Korrekturnotwendigkeit Eine teure Notwendigkeit, die mit etwas Sorgfalt beim Deckeneinbau hätte vermieden werden können. 98 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Bushaltestellen für barrierefreien ÖPNV Beim Versetzen der Sonderborde wurde nicht darauf geachtet, dass sich die Vorderkante aller Steine in einer exakten Flucht befindet. Die entstandene „Sägezahnkante“ führt zu Beschädigungen an den Busreifen: In entsprechenden Schulungen werden die Busfahrer angehalten, mit dem Vorderrad möglichst nahe - im Idealfall „auf Berührung“ - tangential an die Bordsteinflanke anzufahren damit die Sonderborde ihre Spurführungseigenschaften im Sinne einer optimalen Positionierung des Busses ohne Restspalt bestmöglich entfalten können. Streift nun das Vorderrad an den Steinversätzen entlang schält die scharfe Kante des vergüteten Sonderbordbetons die Reifenflanken ab und führt zu gefährlichen Reifenschäden bis hin zur kompletten Reifenzerstörung bei oftmaligem Anfahren = Abschälen. Auch hier gibt es nur eine Konsequenz: Wiederum ein hoher Kostenaufwand, der durch Sorgfalt beim Versetzen der Sonderborde vollumfänglich hätte vermieden werden können. Aber ebenso fehlendes Problembewusstsein, was so eine „leichte Maßabweichung“ in der Praxis anrichten kann. Erkenntnisgewinn - teuer erkauft! Abb. 33 und 34: „Sägezahnkante“ durch fehlerhaften Einbau der Sonderborde - Korrekturnotwendigkeit 7. Resümee Werden bei der Planung und Umsetzung von „Bushaltestellen für einen barrierefreien ÖPNV“ die 4 Aspekte - Vorgaben - Priorisierung beim Ausbau - Planungsgrundlagen - Ausführungsprobleme mit der notwendigen Sorgfalt und Präzision beachtet und in gebaute Umwelt umgesetzt ist es ohne große Probleme möglich, die baulichen Voraussetzungen für einen barrierefreien Busverkehr zu schaffen. Die - Beispiele gebauter Anlagen zeigen, dass es in nahezu jeder örtlichen Situation möglich ist, Bushaltestellen barrierefrei zu errichten bzw. umzubauen. Die Voraussetzungen sind also gegeben, gesetzliche Vorgaben, Planungswerkzeuge, technische Hilfsmittel und Produkte stehen zur Verfügung. Barrierefreiheit im ÖPNV hier speziell an Bushaltestellen ist in letzter Konsequenz eine Frage des Wollens, nicht des Könnens. Den Termin des §8 Personenbeförderungsgesetz zum 1. Januar vergangenen Jahres haben wir wohl - in der Mehrzahl der Fälle - verpasst. Verpassen wir nicht die Chance, die Vorgaben des Paragraphen in absehbarer Zeit doch noch zu realisieren! Tatsächlich geht es nicht um die Erfüllung der Vorgaben eines Paragraphen, sondern um die Belange von in ihrer Mobilität eingeschränkten Mitmenschen. Diese bestmöglich abzudecken sollte unser aller Ziel sein.
