eJournals Kolloquium Straßenbau in der Praxis 3/1

Kolloquium Straßenbau in der Praxis
kstr
expert Verlag Tübingen
21
2023
31

Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende

21
2023
Eugen Hilbertz
Makroskopische und mikroskopische Verkehrsmodelle helfen Visionen für die Umsetzung von Maßnahmen zur Mobilitätswende zu realisieren und zu bewerten. Für Planer und für Entscheider ist es wichtig, dass es kein richtig oder falsch gibt, wenn man Ideen entwickelt. Erst durch eine Bewertung dieser Ideen kann eine mögliche Realisierung gestützt werden. Es gibt auch schon Beispielstädte, die man sich in der Realität anschauen kann: Houten (Niederlande), Kopenhagen (Dänemark), Ferrara (Italien), Pontevedra (Spanien), Barcelona (Spanien), Bern-Bümpliz (Schweiz), Curitiba (Brasilien), Singapur, Bogota (Kolumbien)
kstr310241
3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 241 Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende Dipl.-Ing. (FH) Eugen Hilbertz PTV Planung Transport Verkehr GmbH, Karlsruhe Zusammenfassung Makroskopische und mikroskopische Verkehrsmodelle helfen Visionen für die Umsetzung von Maßnahmen zur Mobilitätswende zu realisieren und zu bewerten. Für Planer und für Entscheider ist es wichtig, dass es kein richtig oder falsch gibt, wenn man Ideen entwickelt. Erst durch eine Bewertung dieser Ideen kann eine mögliche Realisierung gestützt werden. Es gibt auch schon Beispielstädte, die man sich in der Realität anschauen kann: Houten (Niederlande), Kopenhagen (Dänemark), Ferrara (Italien), Pontevedra (Spanien), Barcelona (Spanien), Bern-Bümpliz (Schweiz), Curitiba (Brasilien), Singapur, Bogota (Kolumbien) 1. Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende Abb. 1: Realität (Bild: Pixabay Kevan Craft) Wenn wir von digitalen Zwillingen in der makroskopischen oder der mikroskopischen Verkehrsplanung reden, dann gibt es da zwischen Realität und Modell doch sehr große Unterschiede. Ein Modell kann immer nur so gut wie die Datenbasis sein, die den Modellierern zur Verfügung steht. Bei Verkehrsmodellen ist die Datenbasis, was das Verhalten der Verkehrsteilnehmer angeht, meist sehr klein. Abb. 2: Digitaler Zwilling, grob (Bild: Pixabay Clker Free Vector Images) Eine Basis der Verhaltensbefragung sind Haushaltsbefragungen. Diese werden häufig als zufällige Stichproben über alle Haushalte einer Stadt, einer Region oder auch über ganz Deutschland verteilt erhoben. Der Stichprobenumfang liegt dabei häufig in einem Bereich von 1 % bis 1,5 % aller Haushalte. Bei der deutschlandweiten Mobilität in Deutschland (MiD) wurden im Jahr 2016/ 2017 insgesamt 156.000 Haushalte mit gut 316.000 Personen befragt. Das entspricht 0,38 % aller Haushalte. Bei lokalen Haushaltsbefragungen können teilweise auch höhere Anteile an der Bevölkerung befragt werden. Bei einer Großstadt mit über 100.000 Einwohner und geschätzten 50.000 Haushalten würde 1,5 % bedeuten, dass 750 Haushalte mit etwa 1.500 Personen befragt und ausgewertet werden müssen. 242 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende Abb. 3: Digitaler Zwilling, fein (Bild: Pixabay Schmidsi) Die zufällige Stichprobenwahl ist dabei ein wichtiges Kriterium, da sonst die Abschätzungen für Parameter eines digitalen Zwillings falsche Gewichte ergeben können. 2. Makroskopischer Ansatz In makroskopischen Verkehrsmodellen können strategische Planungen erfolgen. Der Prognosehorizont liegt hier häufig bei 15 bis 20 Jahren. Das bedeutet, dass man jetzt Ideen und deren mögliche Auswirkungen untersucht, die erst in 15 bis 20 Jahren umgesetzt sind. Die demografischen und städtebaulichen Entwicklungen in den Städten in diesen Zeiträumen sollen ebenfalls berücksichtigt werden. 2.1 Datengrundlage Abb. 4: Strukturdaten in Bezirken, Umlegungsergebnis (PTV Visum) 2.1.1 Einteilung des Verkehrsmodells in Bezirke Um in einem Verkehrsmodell Daten zu der Bevölkerung und Strukturdaten abbilden zu können, werden die unterschiedlichen Untersuchungsbereiche in Verkehrsbezirke eingeteilt. Die Verkehrsbezirke sollten aus statistischen Gründen ähnlich groß sein und wenigstens 1.000 Einwohner enthalten. 2.1.2 Strukturdaten Die Strukturdaten können für Verkehrsmodelle in der Aggregationsebene Verkehrsbezirk vorliegen. Das bedeutet, dass für jeden Verkehrsbezirk eingetragen ist, wie viele Arbeitsplätze, Schulplätze, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeitmöglichkeiten etc. vorhanden sind. 2.1.3 Nachfragemodell Mit Hilfe eines Nachfragemodells (klassisches Vierstufen-Nachfragemodell, verzahntes Vierstufen-Nachfragemodell EVA, Wegekettenmodell) können nach der Verkehrsverteilung und nach der Moduswahl alle Relationen in Bezug zu ihrer Reiseweiten- und Reisezeitenverteilung analysiert werden. 2.2 Mobilitätswende vs. Verkehrsmittelwende Abb. 5: Wunschlinien Wege. Hier: Wohnen <-> Einkaufen Warum bewegen sich Menschen von A nach B? Was ist der Grund für den Wunsch nach Ortsveränderung? Wir wohnen an einem Platz A und wir arbeiten, gehen zum Einkaufen, besuchen Freizeiteinrichtungen, an einem Ort B. Liegen diese Orte jeweils weit voneinander entfernt, müssen wegen des Wunsches nach Ortsveränderung lange Wege zurückgelegt werden. In den 1980ern/ 1990ern Jahren entstand in der Stadt- und Verkehrsplanung die Idee „Der Stadt der kurzen Wege“. Aktuell beschreibt man das Ziel noch genauer. Die 15-Minuten-Stadt. 15-Minuten, in denen man die meisten aller täglichen Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad oder mit den Verkehrsmitteln des ÖV erreichen kann. Ob es nun 15-Minuten oder 20-Minuten sind, ist dabei nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass man die Möglichkeit für Städte untersucht. Dazu kann man in makroskopischen Verkehrsmodellen Analysen zu den Entfernungen der Quell-Ziel-Relationen durchführen. Wunschlinien, Desire lines, zeigen dabei, wie weit Quellen und Ziele in einer Stadt für verschiedene Aktivitäten auseinander liegen. 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 243 Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende Hierbei werden Ergebnisse aus eigenen Haushaltsbefragungen oder aus regionalen oder auch bundesweiten Befragungen zugrunde gelegt. Mobilitätswende bedeutet in erster Linie eine Veränderung der Entfernungen der jeweiligen Ursachen für den Wunsch nach Ortsveränderung (Quelle-Ziel-Relationen). Dadurch ist zwangsläufig auch eine Veränderung in der Verkehrsmittelwahl möglich. Ein Verlagern von Verkehren des motorisierten Individualverkehrs auf die Verkehrsmittel des öffentlichen Personenverkehrs alleine ist noch keine Mobilitätswende. 2.3 Aktivitäten-/ Agentenbasiertes Modell (ABM) Abb. 6: Tour eines Agenten. Aktivität Einkaufen. Verkehrsmittel Pkw (PTV Visum) Das Aktivitäten-basierte Modell (ABM) ist ein alternativer Ansatz zur Nachfragemodellierung, welcher die Nachfrage in einer Region als Ergebnis vieler individueller Mobilitätsentscheidungen darstellt. In klassischen makroskopischen Nachfragemodellen wird die Bevölkerung zu verhaltenshomogenen Personengruppen zusammengefasst. Für jede Gruppe werden Aktivitätenpaare oder Aktivitätenketten modelliert. Die Berechnung der Nachfrage basiert auf negativem Nutzen der Ortsveränderungen. Diese Modelle werden auch als Wege-basierte bzw. Touren-basierte Nachfragemodelle bezeichnet, da sie sich auf die reine Anzahl der Wege oder Ketten konzentrieren und nicht auf die Bildung von Touren im Kontext von Personen und ihren individuellen Eigenschaften. Die Ergebnisse eines makroskopischen Nachfragemodells sind mehrere Fahrtenmatrizen, die nach Personengruppe, Fahrtzweck und Modus differenziert sind. Im Gegensatz dazu liegt beim Aktivitäten-basierten Modell der Fokus auf der einzelnen Person und ihrer Mobilität. Aktivitäten-basierte Modelle sind mikroskopische Nachfragemodelle, in denen Mobilitätsentscheidungen aller Personen individuell als aufeinanderfolgende diskrete Entscheidungen simuliert werden. Eine solche Wahl kann eine langfristige Entscheidung wie die Wahl des Arbeitsplatzes oder eine kurzfristige wie die Entscheidung über die Anzahl der Touren und Trips sein. Aktivitäten-basierte Modelle sind für einige Bereiche der Nachfragemodellierung beliebt, da sie das Verhalten von Individuen auf sehr intuitive Weise modellieren und das Potenzial haben, einige Aspekte der Mobilität (z.B. neue Modi, Multimodalität, Haushaltsinteraktionen) besser zu berücksichtigen als aggregierte Modelle. Die Individuen werden als „synthetische Bevölkerung“ dargestellt. Die Personen in einer synthetischen Bevölkerung sind keine exakten Reproduktionen der wahren Bevölkerung, sondern werden typischerweise durch Monte-Carlo-Simulationen von Personenmerkmalen (Geschlecht, Alter, Einkommen, Beruf, Wohnort...) auf der Grundlage statistischer demographischer Daten erzeugt. Die Entscheidungen der Personen hängen von den Merkmalen ab, die mit den erzeugten Personen verbunden sind. Als Ergebnis des Modells werden Tagespläne in Form von Abfolgen von Aktivitätsausübungen generiert. Die Tagespläne enthalten Informationen über die Aktivitäten, beispielsweise Startzeiten, Dauer und Standorte, sowie über die Touren einschließlich der Wahl des Modus. 2.3.1 Abbildung von Touren im Aktivitäten-/ Agentbasierten Modell Abb. 7: Tour eines Agenten. Aktivität Einkaufen. Verkehrsmittel ÖV (PTV Visum) Eine Tour beschreibt eine Folge von Trips. Die Touren eines Tagesplans decken die Aktivitäten ab, die eine Person mit diesem Tagesplan ausübt. Beispiel: Wohnen- Arbeit-Wohnen und anschließend Wohnen-Sport-Einkaufen-Wohnen. Beispiel: • Wohnen - keine Aufenthaltszeit, Start 11: 12: 32 • Mit dem ÖV in 10min 32s zur ersten Freizeitaktivität. Ankunft 11: 23: 05 • Freizeit - Aufenthaltsdauer 1h 26min 3s, Start 12: 49: 08 • Mit dem ÖV in 15min 34s zur zweiten Freizeitaktivität. Ankunft 13: 04: 42 • Freizeit - Aufenthaltsdauer 1h 57min 52s, Start 15: 02: 34 • Mit dem ÖV in 21min 59s zur dritten Freizeitaktivität. Ankunft 15: 24: 33 • Freizeit - Aufenthaltsdauer 16min 5s, Start 15: 40: 38 • Mit dem ÖV in 11min 20s zurück zum Wohnen. Ankunft 15: 51: 58 244 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende 2.4 Ergebnisse von makroskopischen Verkehrsmodellen Abb. 8: Verkehrsstrombündel einer Strecke in beiden Fahrtrichtungen (PTV Visum) Die Nachfrage, die aus einem Nachfragemodell berechnet wurde, wird im makroskopischen Verkehrsmodell auf das Angebot umgelegt, bewertet. Eine weitere Analysemöglichkeit sind Verkehrsstrombündelanalysen. Hier werden die Verkehre auf deren Quelle und Ziel untersucht, die einen bestimmten Abschnitt im Netzmodell befahren. Die Ergebnisse werden mit dem Nachfragemodell rückgekoppelt um Verlagerungseffekte zwischen verschiedenen Modi (mIV, mIV-Mitfahrer, ÖV, Fahrrad, Fußgänger) zu bewerten. Auf diese Weise können alle Visionen einer Stadtentwicklung durchgespielt und deren Auswirkungen auf die Verkehrsmittelwahl analysiert werden. 3. Mikroskopischer Ansatz Mit mikroskopischen Simulationsmodellen können Verkehrsabläufe detaillierter dargestellt werden, als mit makroskopischen Verkehrsmodellen. Der Rechenaufwand wird größer je detaillierter das Simulationsmodell abgebildet wird. Mikroskopische Simulationsmodelle können zur detaillierten Untersuchung nach der Vorausplanung in einem strategischen, makroskopischen Verkehrsmodell angewandt werden. Sie dienen auch für Kurzfristprognosen von kleinräumigen Maßnahmen im Verkehrsraum und zur Ermittlung der Qualitätsstufe des Verkehrsablaufs. 3.1 Mikroskopischer Aspekt der Verkehrsmodellierung Abb. 9: Strecken und Flächen für Fahrzeuge und Fußgänger (PTV Vissim) In der öffentlichen Diskussion werden häufig Aufgaben an kleinen, eher überschaubaren Situationen gemessen. Fragen wie: „Wie sieht das dann aus, wenn dort eine Stadtbahn fährt? “ oder: „Wenn dort eine Haltestelle gebaut wird. Passt die überhaupt in den Straßenraum? “ Mit Hilfe einer mikroskopischen Simulation des Verkehrsablaufes können auch kleinräumige Problemstellen erkannt und Lösungsansätze entwickelt werden. Die Daten werden entweder aus einem makroskopischen Verkehrsmodell exportiert oder manuell eingegeben. Als Grundlage können auch Daten aus CAD-Programmen importiert werden. Die Intention ist: „Erst simulieren, dann bauen! “ In einem mikroskopisches Verkehrsmodell können die Verkehrsabläufe realitätsnah abgebildet werden. Verdichtungen eines ÖV-Taktes, neue Radwege, neue Gehwege, modifizierte Fahrbahnen können in allen Ausprägungen untersucht werden. Auch Änderungen in der Lichtsignalsteuerung oder ÖV-Beschleunigungsmaßnahmen können so untersucht werden, bevor sie in der Wirklichkeit umgesetzt werden. Damit besteht die Möglichkeit auch Ansätze zu verfolgen, die einem zunächst unrealistisch oder auch unvorstellbar erscheinen. Auswertungen über Reisezeiten, Qualitätsstufen des Verkehrsablaufes (QSV) werden so für alle Verkehrsteilnehmer sichtbar. Das Fahrverhalten von Fahrzeugen kann auf Basis des Fahrzeugfolgemodells von R. Wiedemann, die Bewegung von Fußgängern auf der Basis des Social-Force-Modells von Helbing und Molnár simuliert werden. 3. Kolloquium Straßenbau - Februar 2023 245 Digitale Zwillinge zur Bewertung von Maßnahmen für die Mobilitätswende 3.1.1 Realisierung im Modell Abb. 10: 3D-Darstellung (Video) eines mikroskopischen Verkehrsmodells (PTV Vissim) Um im mikroskopischen Verkehrsmodell realitätsnähere Bezüge herstellen zu können, ist es möglich zur Veranschaulichung der Ergebnisse eine 3D-Darstellung zur wählen. Zusätzlich zu den relevanten Netzobjekten, die ebenfalls dreidimensional dargestellt werden können, ist es möglich, weitere 3D-Objekte, wie Gebäude, Straßenraummöblierung, Bepflanzung, Beschilderungen oder Lichtsignalmasten einzufügen. Literatur [1] PTV Planung Transport Verkehr GmbH: Handbuch PTV Visum 2023. Karlsruhe. 2022 [2] PTV Planung Transport Verkehr GmbH: Handbuch PTV Vissim 2023. Karlsruhe. 2022 [3] Mobilität in Deutschland - MiD. Ergebnisbericht. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur. Bonn. Dezember 2018. S. 19