Kolloquium Straßenbau in der Praxis
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expert Verlag Tübingen
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2025
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Die Chancen einer modernen Vergabepraxis
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2025
Luigi Paolo Ceci
Obwohl die rechtlichen Grundlagen vorliegen und die Bauwirtschaft eine Schlüsselrolle im Klimaschutz einnimmt, werden Vergabeverfahren bisher nur unzureichend als Instrument für die Förderung von klimafreundlichen Lösungen eingesetzt. Diesem Umstand liegen strukturelle Hindernisse zugrunde: Zum einen stellt die Unsicherheit bei der Datenerfassung und -auswertung eine zentrale Herausforderung dar. Zudem erfordert die Integration von Umweltkriterien in Ausschreibungen zusätzliche Ressourcen in Form von Zeit und Fachwissen. Gleichzeitig bestehen Bedenken, dass die dadurch entstehenden Mehrkosten dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit widersprechen könnten. Dieser Beitrag zeigt anhand von Praxisprojekten, welche Chancen die Verwendung von CO₂e-Emissionen als Wertungskriterium eröffnen und wie auf diese Weise aktiv ein Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden kann.
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4. Kolloquium Straßenbau in der Praxis - Februar 2025 131 Die Chancen einer modernen Vergabepraxis Berücksichtigung der CO 2 e-Emissionen als Wertungskriterium Luigi Paolo Ceci, M. Eng. SUSTRAVIA GmbH, Biberach an der Riß Zusammenfassung Obwohl die rechtlichen Grundlagen vorliegen und die Bauwirtschaft eine Schlüsselrolle im Klimaschutz einnimmt, werden Vergabeverfahren bisher nur unzureichend als Instrument für die Förderung von klimafreundlichen Lösungen eingesetzt. Diesem Umstand liegen strukturelle Hindernisse zugrunde: Zum einen stellt die Unsicherheit bei der Datenerfassung und -auswertung eine zentrale Herausforderung dar. Zudem erfordert die Integration von Umweltkriterien in Ausschreibungen zusätzliche Ressourcen in Form von Zeit und Fachwissen. Gleichzeitig bestehen Bedenken, dass die dadurch entstehenden Mehrkosten dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit widersprechen könnten. Dieser Beitrag zeigt anhand von Praxisprojekten, welche Chancen die Verwendung von CO₂e-Emissionen als Wertungskriterium eröffnen und wie auf diese Weise aktiv ein Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden kann. 1. Ausgangssituation Bauindustrie und Klimaschutz Die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre ist ein zentraler Indikator für den Zustand unseres Klimasystems. Wissenschaftliche Studien definieren einen Wert von 350 ppm (parts per million) als planetare Grenze. Dieser Wert markiert den Übergang in einen kritischen Zustand, bei dessen Überschreitung das Klima irreversible Veränderungen erfahren kann [1]. Mit einer derzeitigen Konzentration von etwa 420 ppm (Stand 2024) und einem beschleunigenden Anstieg von rund 3-ppm pro Jahr entfernen wir uns kontinuierlich von dieser planetaren Grenze [2]. Die Bauwirtschaft trägt aufgrund ihres hohen Energiebedarfs und der Verwendung fossiler Grundstoffe etwa zu 40 % der globalen CO 2 -Emissionen bei. Diese Zahlen verdeutlichen den enormen Hebel, den die Baubranche für den Klimaschutz bewegen kann [3]. Verantwortung und rechtliche Verpflichtung „Klimaschutz ist wichtig, der Handlungsbedarf groß und die Rechtslage eindeutig“ - so bringt es das Impulspapier „Klimaverträglich Bauen“ auf den Punkt [4]. Das Impulspapier untersucht umfassend, wie diese Verpflichtungen rechtlich korrekt und praktisch umsetzbar in öffentliche Beschaffungsverfahren integriert werden können. So verpflichtet das Bundesverfassungsgericht den Staat, Maßnahmen zur Senkung der Treibhausgasemissionen zu ergreifen, um die Lebensqualität und Freiheit zukünftiger Generationen zu schützen [5]. Das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) sieht bis 2030 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 42 % sowie bis 2045 die Erreichung der Netto-Treibhausgasneutralität vor [6]. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für Vergabeverfahren sind insbesondere in der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/ A) und in der Vergabeverordnung (VgV) definiert. § 16 VOB/ A ermöglicht den Einsatz von Nachhaltigkeitskriterien als Zuschlagskriterium [7]. § 59 Abs. 3 VgV schreibt vor, dass diese Kriterien einheitlich, transparent und objektiv überprüf bar sein müssen. Zudem sind sie nichtdiskriminierend auszugestalten und müssen mit vertretbarem Aufwand umsetzbar sein [8]. Strukturelle Hindernisse Trotz der bestehenden rechtlichen Grundlagen und der Bedeutung des Klimaschutzes wird das Potenzial von Vergabeverfahren zur Förderung des Klimaschutzes bislang nur begrenzt genutzt. Dies kann auf verschiedene strukturelle Herausforderungen zurückgeführt werden, die in mehreren Bereichen auftreten. Ein wichtiger Aspekt ist die Komplexität der Datenerfassung und -auswertung, insbesondere bei der Bewertung von CO₂e-Emissionen. Einheitliche Tools und Standards sind nicht flächendeckend etabliert, was die Vergleichbarkeit von Daten und die Überprüfung von Kriterien erschwert. Darüber hinaus erfordert die Integration von Nachhaltigkeitskriterien zusätzliche Ressourcen, etwa in Form von Zeit, finanziellem Aufwand oder spezifischem Fachwissen. Ein weiterer Punkt ist die Herausforderung, ökologische Kriterien in Einklang mit wirtschaftlichen Grundsätzen zu bringen. Zwar zeigen Analysen, dass die Berücksichtigung von Klimafolgekosten langfristig wirtschaftliche Vorteile bringen kann, doch werden diese Zusammenhänge in der Planung und Umsetzung noch nicht flächendeckend integriert [9] [10]. 2. Technische Lösung Anforderungen Um CO₂e-Emissionen als Wertungskriterium zielführend in Vergabeverfahren zu integrieren, sind technische Lösungen erforderlich, die rechtliche und praktische Anforderungen gleichermaßen erfüllen. 132 4. Kolloquium Straßenbau in der Praxis - Februar 2025 Die Chancen einer modernen Vergabepraxis Ein zentrales Element ist die transparente und standardisierte Berechnung von CO₂e-Emissionen, die einheitlich und objektiv überprüf bar sein muss. Dabei müssen Berechnungsmodelle so gestaltet sein, dass sie nicht manipulierbar sind und eine klare Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Angeboten gewährleisten. Weiterhin sollte die Fehleranfälligkeit bei der Dateneingabe und -verarbeitung minimiert werden, da diese einen direkten Einfluss auf die Qualität des Wettbewerbs hat. Wie die Abbildung 1 zeigt, steigt die Fehlerquote proportional zur Anzahl der Angaben der Bieter, während die Differenzierung im Wettbewerb ab einem gewissen Punkt stagniert. Abbildung 1: Differenzierung versus Fehlerquote Um diesem Effekt entgegenzuwirken, sind automatisierte Validierungen und Plausibilitätsprüfungen hilfreich, um fehlerhafte oder widersprüchliche Angaben frühzeitig zu erkennen und korrigieren zu können. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Verfügbarkeit der Daten für alle Beteiligten, wodurch eine gleichberechtigte Teilnahme am Wettbewerb ermöglicht wird. Zudem ist es wichtig, dass diese Systeme mit einem angemessenen Aufwand bedienbar sind, sodass sie auch bei komplexen Projekten praktikabel bleiben. Abschließend muss die Nachverfolgbarkeit und Dokumentation gewährleistet sein. Diese Angaben müssen nicht nur präzise, sondern auch einfach und unkompliziert geprüft werden können. Systeme, die keine umfassende Automatisierung und Datenvalidierung bieten, laufen Gefahr, sowohl die Nachverfolgbarkeit als auch die Effizienz des Prozesses zu beeinträchtigen. Bewertung des Bauprojektes Im Straßenbau hat die Wahl der Baustoffe sowie des Asphaltmischwerks einen entscheidenden Einfluss auf die Gesamtbilanz der Treibhausgasemissionen. Da für Asphaltmischgüter bisher keine Umweltproduktdeklarationen (EPD) verfügbar sind, ist die Anwendung einheitlicher Berechnungsverfahren notwendig, um faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. In Zusammenarbeit mit der Autobahn GmbH wurde hierfür eine Web-App entwickelt und angewendet, die eine transparente Bewertung des Treibhauspotenzials ermöglicht. Diese Lösung unterstützt Bieter dabei, ihre CO₂e- Angaben nachvollziehbar und korrekt zu berechnen, indem sie die dafür erforderlichen Informationen zielgerichtet abfragt und auf bereits vorhandene Daten zurückgreift. Der aktuelle CO₂e-Wert wird direkt anhand der gegebenen Parameter berechnet und ermöglicht eine unmittelbare Optimierung durch gezielte Anpassungen im Herstellungs- und Transportprozess. So lässt sich beispielsweise durch den Austausch von Braunkohle als Energieträger im Asphaltmischwerk oder den Einsatz von HVO-betriebenen LKW für den Transport eine signifikante Reduzierung validieren. Die Web-App beinhaltet eine automatisierte Plausibilitätsprüfung: Widersprüchliche oder fehlerhafte Eingaben werden unmittelbar erkannt, sodass die Bieter umgehend zu notwendigen Korrekturen angeleitet werden. Dadurch sinkt die Fehlerquote signifikant, wodurch belastbare und qualitativ hochwertige Angebote ermöglicht werden. Mithilfe von Texterkennung und einer bestehenden Datengrundlage der Emissionswerte lassen sich die Angaben zu Baustoffen und Transporten automatisiert anhand der Lieferscheine überprüfen. Auf diese Weise erfolgt die Nachbilanzierung vollständig innerhalb der Web-App, was eine effiziente und präzise Dokumentation sicherstellt. Bewertung der Verfügbarkeit Bei der Bewertung von Infrastrukturmaßnahmen kann es zusätzlich sinnvoll sein, neben dem Materialeinsatz und den direkten Emissionen während der Bauphase auch die langfristigen Auswirkungen auf den Verkehrsfluss einzubeziehen. Die deutsche Verkehrsinfra- 4. Kolloquium Straßenbau in der Praxis - Februar 2025 133 Die Chancen einer modernen Vergabepraxis struktur steht dabei vor einem zunehmend komplexen Dilemma: Alternde Bauwerke und notwendige Sanierungsarbeiten führen zu einer kontinuierlichen Verringerung der nutzbaren Kapazitäten, während ein stetig wachsendes Verkehrsauf kommen das Netz zusätzlich unter Druck setzt. Diese Dynamik hat weitreichende negative Konsequenzen, die sich in steigenden Stauauf kommen und erhöhten CO₂e-Emissionen manifestieren. Eine ganzheitliche Bewertung setzt dafür eine umfangreiche Datengrundlage voraus, um die Relationen zwischen Infrastrukturkapazität, Verkehrsauf kommen, Umlagerungseffekten und den damit verbundenen zusätzlichen CO 2 e-Emissionen korrekt abzubilden. In Zusammenarbeit mit dem Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen wurde hierzu eine neue Analysemethode entwickelt, die Echtzeit-Verkehrsdaten nutzt, um die Auswirkungen von Baumaßnahmen umfassend zu bewerten. Auf diese Weise können Folgen für Verkehrsfluss und Emissionen quantifiziert werden. Dadurch können in der Planungsphase die voraussichtlichen Verkehrseffekte prognostiziert werden und nach Abschluss der Baumaßnahme ermöglicht der direkte Vergleich des Zustands vor und nach der Umsetzung eine transparente Bewertung des Nutzens. 3. Chancen Erste Pilotanwendungen zeigen, dass sich CO₂e- Emissionen erfolgreich als Wertungskriterium in Ausschreibungen integrieren lassen. Die fortschreitende Digitalisierung erleichtert dabei die Datenerfassung und -auswertung, verringert den Zeitaufwand erheblich und ermöglicht allen Beteiligten eine gleichberechtigte Teilnahme am Wettbewerb. Dadurch können langfristig fundiertere Investitionsentscheidungen getroffen werden: Ökologisch nachhaltige Bauweisen lassen sich gezielter fördern und zugleich wirtschaftlich überzeugend begründen, da Klimafolgekosten und Einsparpotenziale transparent dargestellt werden. Diese Entwicklung steigert nicht nur die Akzeptanz von Vergabeverfahren, sondern trägt auch zu stabileren und planbareren Projektverläufen bei. Die Berücksichtigung von CO₂e-Emissionen als Wertungskriterium eröffnet der Bauindustrie die Chance, langfristig Innovationen voranzutreiben, die das Klima schützen. Literatur [1] J. Hansen, et al. (2008). Target Atmospheric e: Where Should Humanity Aim? Open Atmospheric Science Journal, 2, 217-231. [2] Umweltbundesamt (2024): Atmosphärische Treibhausgas-Konzentrationen. URL: https: / / www.umweltbundesamt.de/ daten/ klima/ atmosphaerischetreibhausgas-konzentrationen#kohlendioxid- [3] United Nations Environment Programme (2022). 2022 Global Status Report for Buildings and Construction: Towards a Zero-emission, Efficient and Resilient Buildings and Construction Sector. [4] M. Püstow, T. Göhlert, J. Gielen, J. Tenner & E. Pawelczyk (2023). Klimaverträglich bauen mit einem Schattenpreis für CO 2 -Emissionen: Wie die öffentliche Hand Bauprojekte ausschreiben kann, um ihre Klimaschutzziele zu erreichen - ein Impulspapier. KPMG Law für den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie e.V., Berlin. [5] Bundesverfassungsgericht (2021). Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021, 1 BvR 2656/ 18. [6] Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) vom 12. Dezember 2019, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 18. August 2021. [7] Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/ A), Fassung 2019. [8] Vergabeverordnung (VgV) vom 12. April 2016. [9] Umweltbundesamt (2021): Methodenkonvention 3.1 zur Ermittlung von Umweltkosten - Kostensätze. URL: https: / / www.umweltbundesamt.de/ publikationen/ methodenkonvention-umweltkosten [10] Europäische Kommission (2021): Technical guidance on the climate proofing of infrastructure in the period 2021-2027. Official Journal of the European Union, C 373/ 1.
