lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
32128
lendemains 128 Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters 32. Jahrgang 2007 128 Gunter Narr Verlag Tübingen Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters 086807 Lendemains 128 14.11.2007 13: 31 Uhr Seite 1 (Blau Auszug) lendemains 128 Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters 32. Jahrgang 2007 128 Gunter Narr Verlag Tübingen Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters 086807 Lendemains 128 14.11.2007 13: 31 Uhr Seite 1 (Rot Auszug) Etudes comparées sur la France / Vergleichende Frankreichforschung Ökonomie . Politik . Geschichte . Kultur . Literatur . Medien . Sprache 1975 gegründet von Evelyne Sinnassamy und Michael Nerlich Herausgegeben von / édité par Wolfgang Asholt, Hans Manfred Bock, Alain Montandon, Michael Nerlich, Margarete Zimmermann. Wissenschaftlicher Beirat / comité scientifique: Réda Bensmaïa . Tom Conley . Michael Erbe . Gunter Gebauer . Wlad Godzich . Gerhard Goebel . Roland Höhne . Alain Lance . Jean-Louis Leutrat . Manfred Naumann . Marc Quaghebeur . Evelyne Sinnassamy . Jenaro Talens . Joachim Umlauf . Pierre Vaisse . Michel Vovelle . Harald Weinrich . Friedrich Wolfzettel L’esperance de l’endemain Ce sont mes festes. Rutebeuf Redaktion/ Rédaction: François Beilecke, Corine Defrance, Andrea Grewe, Wolfgang Klein, Katja Marmetschke Sekretariat/ Secrétariat: Nathalie Crombée Umschlaggestaltung/ Maquette couverture: Redaktion/ Rédaction Titelbild: Volksbühne Berlin: Bernard-Marie Koltès: Kampf des Negers und der Hunde, Inszenierung Dimiter Gotscheff, Szenenphoto: © Thomas Aurin LENDEMAINS erscheint vierteljährlich mit je 2 Einzelheften und 1 Doppelheft und ist direkt vom Verlag und durch jede Buchhandlung zu beziehen. Das Einzelheft kostet 16,00 €/ SFr 27,80, das Doppelheft 32,00 €/ SFr 51,50; der Abonnementspreis (vier Heftnummern) beträgt für Privatpersonen 48,00 €/ SFr 76,00 (für Schüler und Studenten sowie Arbeitslose 38,00 €/ SFr 60,00 - bitte Kopie des entsprechenden Ausweises beifügen) und für Institutionen 54,00 €/ SFr 85,50 pro Jahr zuzüglich Porto- und Versandkosten. Abonnementsrechnungen sind innerhalb von vier Wochen nach ihrer Ausstellung zu begleichen. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn nicht bis zum 30. September des laufenden Jahres eine Kündigung zum Jahresende beim Verlag eingegangen ist. Änderungen der Anschrift sind dem Verlag unverzüglich mitzuteilen. Anschrift Verlag/ Vertrieb: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, Fon: 07071/ 9797-0, Fax: 07071/ 979711. Lendemains, revue trimestrielle (prix du numéro 16,00 €, du numéro double 32,00 €; abonnement annuel normal - quatre numéros - 48,00 € + frais d’envoi; étudiants et chômeurs - s.v.p. ajouter copie des pièces justificatives - 38,00 €; abonnement d’une institution 54,00 €) peut être commandée / abonnée à Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, tél.: 07071/ 9797-0, fax: 07071/ 979711. ISSN 0170-3803 Die in LENDEMAINS veröffentlichten Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder und nicht notwendigerweise die der Herausgeber und der Redaktion. / Les articles publiés dans LENDEMAINS ne reflètent pas obligatoirement l’opinion des éditeurs ou de la rédaction. Redaktionelle Post und Manuskripte für den Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaft/ Courrier destiné à la rédaction ainsi que manuscrits pour le ressort lettres et arts: Prof. Dr. Wolfgang Asholt, Universität Osnabrück, Romanistik, FB 7, D-49069 Osnabrück, e-mail: washolt@uos.de; Sekr. Tel.: 0541 969 4058, e-mail: ncrombee@uos.de. Korrespondenz für den Bereich der Politik und der Sozialwissenschaften/ Correspondance destinée au ressort politique et sciences sociales: Prof. Dr. Hans Manfred Bock, Universität Kassel, FB 5, Nora Platiel-Straße 1, D-34109 Kassel, hansmanfredbock@web.de Druck: Gulde, Tübingen Verarbeitung: Nädele, Nehren Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.narr.de · E-Mail: info@narr.de Les études réunies dans ce volume s’intéressent à l’apport créatif des écrivains dits ‹ migrants › à la littérature ‹ française › contemporaine. A partir de concepts post-coloniaux, elles interrogent des textes littéraires de langue française issus d’un contexte migratoire. Elles visent à relever le potentiel créatif inhérent à une situation de contact culturel et analysent les stratégies narratives qui inscrivent la migration dans le texte littéraire. Avec des contributions de : Verena Berger · Christina Bertelmann · Denise Brahimi · Jacques Chevrier · Danielle Dumontet · Doris G. Eibl · Susanne Gehrmann · Myriam Geiser · Mechtild Gilzmer · Fritz Peter Kirsch · Hans-Jürgen Lüsebrink · Claudia Martinek · Ursula Mathis-Moser · Birgit Mertz-Baumgartner · Véronique Porra · Julia Pröll · Monika Schmitz-Emans · Sylvia Schreiber · Mirjam Tautz Ursula Mathis-Moser Birgit Mertz-Baumgartner (Hg.) La littérature ‹française› contemporaine Contact de cultures et créativité édition lendemains, Band 4 2007, 274 Seiten, €[D] 49,00/ Sfr 77,50 ISBN 978-3-8233-6354-5 086807 Lendemains 128 14.11.2007 13: 31 Uhr Seite 2 (Schwarz/ Black Auszug) Editorial ................................................................................................................. 3 Dossier Andrea Grewe (ed.) Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters Andrea Grewe: Einleitung ..................................................................................... 4 Susanne Hartwig: Le culte du signifiant et la chaosmogonie du signifié. Le théâtre de Valère Novarina ............................................................................ 10 Andrea Grewe: L’art de la comédie à l’âge du postdramatique. Le théâtre de Yasmina Reza............................................................................... 22 Noëlle Renaude: par courtesy ............................................................................ 42 Patrice Pavis: Die Inszenierung zeitgenössischer Theaterstücke....................... 52 Irina Szodruch: Texttransfer: Zur Rezeption französischer Gegenwartsdramatik in Deutschland .................................................................. 69 Actuelles Jorge Semprún: Philosophie als Überlebenswissenschaft Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Potsdam................. 80 Discussion Hans Ulrich Gumbrecht: Wie könnte man nicht einverstanden sein? Beistimmender Widerspruch zu Ottmar Ette........................................................ 89 Klaus-Michael Bodgal: Lebenskunst, nicht Lebenswissenschaft ......................... 92 Toni Tholen: Die Literaturwissenschaft und das Leben. Bemerkungen anlässlich einer anhebenden Debatte im Jahr der Geisteswissenschaften ......... 98 Pablo Valdivia Orozco: Lebensform und Narrative Form: Zur Epistemologie des Vollzugs und zum Lebensbegriff der Literaturwissenschaften .................... 109 Forum Martin Vialon: In memoriam Martin Hellweg (1908 - 2006). Philosophischer Romanist, Kritiker Martin Heideggers und Theoretiker des Sozialismus (Teil 1) .......................................................... 122 In memoriam Konrad Schoell: Renate Baader (1937 - 2007) ................................................ 141 Comptes rendus St. Bung/ M. Zimmermann: Garçonnes à la mode im Berlin und Paris der zwanziger Jahre (Th. Schüller)................................................................................... 143 Manuskripte sind in doppelter Ausführung in Maschinenschrift (einseitig beschrieben, 30 Zeilen à 60 Anschläge) unter Beachtung der Lendemains-Normen einzureichen, die bei der Redaktion angefordert werden können. Manuskripte von Besprechungen sollen den Umfang von drei Seiten nicht überschreiten. Auf Computer hergestellte Manuskripte können als Diskette eingereicht werden, ein Ausdruck und die genaue Angabe des verwendeten Textverarbeitungsprogramms sind beizulegen. Prière d’envoyer les typoscripts (30 lignes à 60 frappes par page) en double exemplaire et de respecter les normes de Lendemains (on peut se les procurer auprès de la rédaction). Les typoscripts pour les comptes rendus ne doivent pas dépasser trois pages. Les textes écrits sur ordinateur peuvent être envoyés sur disquettes, avec une version imprimée du texte et l’indication précise du programme de traitement de textes employé. 3 Nach Dossiers, die 2002 der Gegenwartslyrik (Nr. 105/ 106, koordiniert von Constanze Baethge) und dem Gegenwartsroman (Nr. 107/ 108, koordiniert von Dominique Viart) gewidmet waren, können wir unseren Lesern nun ein Dossier zum Gegenwartstheater vorlegen, das unser Redaktionsmitglied Andrea Grewe zusammengestellt hat. Das französische Gegenwartstheater wird, von Autoren wie Yasmina Reza, Eric-Emmanuel Schmitt abgesehen, in Deutschland weitgehend ignoriert: vielleicht trägt das perspektivenreiche Dossier dazu bei, dies zu ändern; Noëlle Renaude gilt für ihren Text besonderer Dank. Daneben erfährt die Debatte um die „Programmschrift“ von Ottmar Ette (Heft 125) eine Fortsetzung, die zeigt wie wichtig eine solche Diskussion ist. Besonders freuen wir uns, dass nicht nur Romanisten reagiert haben, und von Hans Ulrich Gumbrecht ein Blick von außen auf die deutschen Verhältnisse geworfen wird. In diesen Zusammenhang gehört auch die eindrucksvolle Rede, die Jorge Semprún anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Potsdam am 25. Mai dieses Jahres gehalten hat. Semprún, den so viel Tragisches aber auch in die Zukunft Weisendes mit Deutschland verbindet, dem Suhrkamp- Verlag und Michi Strausfeld als Übersetzerin sei dafür auch im Namen unserer Leserinnen und Leser herzlich gedankt. Wolfgang Asholt * Hans Manfred Bock Après les dossiers parus en 2002 et consacrés, l’un à la poésie contemporaine (N° 105/ 106) coordonné par Constanze Baethge, l’autre au roman contemporain (N° 107/ 108), coordonné par Dominique Viart, nous présentons aujourd’hui à nos lecteurs un dossier consacré au théâtre contemporain que notre membre du comité de rédaction, Andrea Grewe, a constitué. Le théâtre contemporain français, mis à part des auteurs comme Yasmina Reza ou Eric- Emmanuel Schmitt, est en grande partie ignoré en Allemagne: Peut-être ce dossier qui envisage la question sous des perspectives variées contribuera-t-il à changer cela - que Noëlle Renaude soit vivement remerciée pour son texte. En outre, le débat lancé de Ottmar Ette par son texte programmatique (N° 125) provoque encore des réactions qui prouvent l’importance d’une telle discussion. Nous sommes particulièrement heureux que les romanistes n’aient pas été les seuls à y réagir et que, avec Hans Ulrich Gumbrecht, nous ayons un regard de l’extérieur porté sur la situation allemande. Dans ce contexte se situe aussi l’impressionnant discours que Jorge Semprún a fait à l’occasion de la réception de son titre de Docteur honoris causa à l’Université de Potsdam le 25 mai de cette année. Que soit remerciés ici, également au nom des lectrices et des lecteurs de notre revue, Jorge Semprún, lié à l’Allemagne par tant d’expériences tragiques, mais également par tant d’ouvertures vers l’avenir, ainsi que les éditions Suhrkamp et la traductrice Michi Strausfeld. 4 Andrea Grewe (ed.) Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters Andrea Grewe Einleitung Der Beginn des neuen Jahrhunderts und die Magie der Zahl 2000 haben auch die Theaterwissenschaft in Frankreich animiert, Rückschau zu halten und Bilanz zu ziehen. Im Jahre 2004 ist unter der Leitung Michel Azamas eine dreibändige Anthologie erschienen, die einen Rückblick auf die französischsprachige Dramenproduktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternimmt. 1 Und 2007 ist der Band Le théâtre en France de 1968 à 2000 des englischen Theaterwissenschaftlers David Bradby herausgekommen. 2 Eine im Vergleich zu diesen Mammutunternehmen eher bescheidene, nichtsdestoweniger nützliche Momentaufnahme des aktuellen Zustands der französischen Dramatik liefert des Weiteren Patricia Duquenet-Krämer mit ihrem Beitrag „Le théâtre contemporain en France: défier la mise en scène? “, der in einer dem Theater in der Romania gewidmeten Nummer der romanistischen Zeitschrift Grenzgänge publiziert worden ist. 3 Eine kritische Bilanz der Entwicklung der Regie hat zudem 2005 die Zeitschrift Théâtre Aujourd’hui unternommen. 4 Versucht man, diese Darstellungen knapp zu resümieren, so ergibt sich folgendes Bild der französischen Theaterentwicklung in den letzten fünfzig Jahren: Nach der Ära des Nouveau Théâtre in den fünfziger und sechziger Jahren, die noch von der Hochschätzung des Texts gekennzeichnet ist, beginnt mit dem Symboljahr 1968 auch im Theater eine neue Zeit, die im Zeichen der création collective und des Regietheaters steht. Während Ariane Mnouchkine und die Schauspieler des Théâtre du Soleil in den siebziger Jahren im Kollektiv politische Spektakel wie 1789 (1970), 1793 (1972) und L’âge d’or (1975) erarbeiten, unterziehen Regisseure wie Roger Planchon, Jacques Lassalle, Jean-Pierre Vincent, Patrice Chéreau und Antoine Vitez das klassische Erbe einer (ideologie-)kritischen Lektüre. Die Dominanz von création collective und Regietheater aber lässt den Theatertext und seinen Autor in eine tiefe Krise geraten. ‘Theater’ wird in dieser Phase zunehmend synonym mit spectacle, einem Theaterereignis, das von einem Schauspielerkollektiv oder einem Regieteam geschaffen wird, in dem neben der Regie Bühnenbild, Kostüme, Licht und Ton zu einem ‘Gesamtkunstwerk’ beitragen, in dem der Text eine eher untergeordnete Rolle spielt. Nur wenige Dramatiker aus dieser Phase wie etwa Michel Vinaver (*1927), der heute zu den Übervätern der 5 zeitgenössischen Dramatik zählt, haben sich im Theater dauerhaft behaupten können. 5 Erst in den achtziger Jahren setzt eine Renaissance des Dramentextes ein. Ihre Symbolfigur ist Bernard-Marie Koltès (1948-1989), dessen Stücke wie Combat de nègre et de chiens (1983), Quai Ouest (1986), Dans la solitude des champs de coton (1987) und Retour au désert (1988) in den Inszenierungen durch Patrice Chéreau zu den kraftvollen und einflussreichen Zeugnissen eines neuen Texttheaters werden, das nicht nur der Sprache wieder poetische Kraft verleiht, sondern sich auch produktiv mit alten Formen und Stoffen wie der Tragödie und dem Mythos auseinander setzt. Symptomatisch für diese neuerliche Aufwertung des Dramentexts ist auch die Zusammenarbeit Ariane Mnouchkines mit Hélène Cixous (*1937), die in den achtziger Jahren mit den beiden großen epischen Stücken L’histoire terrible mais inachevée de Norodom Sihanoui, roi du Cambodge (1985) und L’Indiade ou l’Inde de leurs rêves (1987) von Cixous einsetzt. Aber auch einige ältere Autoren und Autorinnen, darunter Samuel Beckett, Nathalie Sarraute und Marguerite Duras kehren nun noch einmal mit ihren Stücken auf die Bühnen zurück. In den neunziger Jahren führt dieser „retour du texte“ 6 zu einer regelrechten Explosion in der Textproduktion, die bis heute anhält und praktisch in jeder Saison mit neuen Namen junger Dramatiker und Dramatikerinnen überrascht. Unter den Autoren, die derzeit das französische Theater prägen, wären hier - als Altersgenossen von Koltès - zunächst zu nennen Valère Novarina (*1947), Philippe Minyana (*1947), Noëlle Renaude (*1949) und Eugène Durif (*1950); sodann die Vertreter einer ‘mittleren’ Generation wie François Bon (*1953), Didier-Georges Gabily (1955-1996), Jean-Luc Lagarce (1957-1995), Yasmina Reza (*1959), Catherine Anne (*1960) und Eric-Emmanuel Schmitt (*1960); und schließlich die ‘Jungen’ wie Olivier Py (*1965), Marie NDiaye (*1967), Laurent Gaudé (*1972) und Fabrice Melquiot (*1972). Nicht ganz unbeteiligt an dieser Explosion kreativer Kräfte ist sicherlich auch die französische Theaterpolitik. Seit der Nachkriegszeit hat die Politik der Décentralisation kontinuierlich zu einer Vermehrung der Theater sowohl in der Provinz als auch in der banlieue rund um Paris geführt. Die Schaffung der Centres dramatiques nationaux in den siebziger Jahren sowie der Centres dramatiques régionaux in den achtiger Jahren hat die Zahl fester Produktions- und Aufführungsstätten kontinuierlich erhöht und ein breites Netz an Bühnen geschaffen, die einen ‘Markt’ für neue Stücke darstellen. 7 Eine besondere Rolle für die Verbreitung neuer Stücke spielen dabei vor allem zwei Institutionen: Im 1971 von Lucien und Micheline Attoun gegründeten Théâtre ouvert in Paris, das 1988 als Centre dramatique national de Création anerkannt worden ist, werden systematisch Stücke junger Dramatiker und Dramatikerinnen in szenischen Lesungen oder auch regelrechten Inszenierungen vorgestellt und als sog. ‘tapuscripts’ veröffentlicht; 2004 ist dem Théâtre ouvert außerdem eine Ecole Pratique des Auteurs de Théâtre angegliedert worden. Seit 2001 ist auf Initiative einer Autorenvereinigung darüber hinaus auch das (private) Théâtre du Rond- 6 Point zu einem Ort für die Pflege des zeitgenössischen Repertoires geworden. Unter der Leitung von Jean-Michel Ribes, der selbst Theaterautor ist, widmet sich das Théâtre du Rond-Point ausschließlich der Inszenierung zeitgenössischer Autoren. Schreibwerkstätten und Stipendien, etwa für einen Aufenthalt in der Chartreuse in Villeneuve-lez-Avignon, sind weitere Mittel, um die Entstehung neuer Texte zu stimulieren. Befördert wird die öffentliche Auseinandersetzung mit der Gegenwartsdramatik außerdem dadurch, dass die Leitung von Theatern zunehmend einer jüngeren Generation von Theaterleuten anvertraut wird, die - wie einst Molière - Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter und Dramatiker in Personalunion sind: Dies gilt etwa für die Autorin, Schauspielerin und Regisseurin Catherine Anne, die seit 2002 das Théâtre de l’Est Parisien leitet, aber auch für den erfolgreichen Autor, Schauspieler und Regisseur Olivier Py, der zunächst Direktor des Centre dramatique national in Orléans war und 2007 zum Leiter des Pariser Odéon, einem der acht französischen Nationaltheater, berufen worden ist. Doch nicht nur das théâtre public bietet den Autoren einen Markt. Von besonderer Bedeutung für zeitgenössische Autoren ist auch der Bereich des théâtre privé, wie das Beispiel Eric-Emmanuel Schmitts und Yasmina Rezas zeigt, die weltweit erfolgreich sind, in Frankreich aber nur in Privattheatern gespielt werden. 8 Wenn sich auch, wie Bradby betont, in den letzten Jahrzehnten der Unterschied zwischen théâtre public und théâtre privé abgeschwächt hat - auch das Privattheater erhält staatliche Subventionen - so wird es doch immer noch als Erbe des Boulevardtheaters betrachtet, das ausschließlich am kommerziellen Erfolg interessiert ist, den es vor allem durch die Verpflichtung von Starschauspielern zu erreichen sucht. Seine Autoren aber sind damit künstlerisch disqualifiziert: „A quelques exceptions près, le jeune auteur se voit condamné à allier son destin à celui du théâtre public s’il veut être pris au sérieux“. 9 Die Tatsache, dass es in Deutschland die Trennung von public und privé nicht gibt und Autoren wie Schmitt und Reza daher wie jeder Klassiker und jeder experimentelle junge Autor auch in öffentlichen Theatern, und zwar auch an renommierten Bühnen und von bekannten Regisseuren, inszeniert werden, führt möglicherweise dazu, dass im Ausland ein anderer, unvoreingenommenerer Blick auf ihr Theater auch von Seiten der Literatur- und Theaterwissenschaft möglich ist. Diesen Reichtum der augenblicklichen französischen Theaterlandschaft in einem Dossier umfassend darzustellen, ist fast unmöglich. Durch die Konzentration auf zwei äußerst unterschiedliche Werkästhetiken, die durch ein konkretes Textbeispiel ergänzt werden, sowie die Thematisierung der Probleme, die die aktuelle Dramatik sowohl dem Theater als auch dem Publikum bereitet, sollen statt dessen die dominierenden Tendenzen und die Herausforderungen, die sie ans ‘System’ stellen, exemplarisch beleuchtet werden. Charakteristisch für die augenblickliche Situation ist einerseits, dass an jene Auflösung der traditionellen Formen des Theaters heute wieder angeknüpft wird, die nach ersten Ansätzen im frühen 20. Jahrhundert von Autoren wie Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Robert Pinget, Nathalie Sarraute und anderen in den 7 fünfziger und sechziger Jahren betrieben worden ist. Als typisch für das zeitgenössische Drama beschreibt Jean-Pierre Ryngaert ein „éclatement des formes“, das die zentralen Kategorien des Dramas - Handlung, Figur und Dialog, aber auch Zeit und Raum - wenn nicht gänzlich, so doch zumindest in ihrem traditionellen Verständnis aufgelöst hat. 10 Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass das für ein klassisch-aristotelisches Dramenverständnis fundamentale Konzept der Mimesis obsolet geworden ist. 11 So ist das zeitgenössische Theater gekennzeichnet von einem „abandon de tout projet de mimèsis, comme si le théâtre renonçait à lutter sur un terrain qui ne serait plus le sien, tandis qu’il réinvestirait de manière encore plus décisive les champs du langage et de la parole“. 12 In den Mittelpunkt des Interesses rückt statt dessen nun die Sprache, das Wort: Charakteristisch für die Entwicklung des französischen Gegenwartstheaters ist daher das sog. théâtre de la parole, in dem das Wort nicht mehr im Dienst der Handlung steht, sondern selbst Handlung wird, wie Michel Vinaver es formuliert hat. 13 Damit einher geht eine Verwischung der Grenzen zwischen den traditionellen Gattungen, so dass das Drama verstärkt auch poetische und narrative Elemente aufweist. Seine extremste Form erreicht dieses théâtre de la parole zweifellos im Werk Valère Novarinas, das, wie der Beitrag der Romanistin Susanne Hartwig (Universität Passau) in diesem Dossier zeigt, weder Figuren noch Handlung noch Dialoge mehr kennt, sondern mittels der Sprache und ihrer Artikulation durch Stimme und Körper des Schauspielers eine autonome Welt erschafft. Auf andere, aber nicht minder radikale Weise stellt auch Noëlle Renaude die Form des ‘alten’ Theaters in Frage. Ihr Interesse an der Wirklichkeit schaffenden Kraft der Sprache und ihr Spiel mit sprachlichen Versatzstücken illustriert auch der Text par courtesy, den sie uns zur Erstveröffentlichung überlassen hat und der traditionelle Theaterkonventionen außer Kraft setzt. Treffend definiert Bradby ihre Arbeit für das Theater denn auch als ein „écrire contre le théâtre“. 14 Neben dieser in der französischen Gegenwartsdramatik sehr stark ausgeprägten Tendenz zur Unterminierung der traditionellen Formen gibt es jedoch auch die gegenläufige Tendenz einer schöpferischen Bezugnahme auf die Tradition, die an ältere Modelle anknüpft, um sie in charakteristischer Weise zu verändern. 15 Denis Guénoun, der diese Strömung im Werk von Bernard-Marie Koltès, Jean-Luc Lagarce und sogar bei Valère Novarina, vor allem aber bei Yasmina Reza feststellt, sieht hierin einen Ausweg aus der Sackgasse, in die seiner Ansicht nach die Fortsetzung eines experimentell-avantgardistischen Schreibens um jeden Preis zu führen droht. 16 Komplementär zu den Beispielen einer experimentellen écriture dramatique bei Novarina und Renaude stellt die Romanistin Andrea Grewe (Universität Osnabrück) diese Strömung im Folgenden am Beispiel von Yasmina Rezas Stück Une pièce espagnole vor. Der Bruch mit dem Illusionstheater konfrontiert aber nicht nur das Publikum mit neuen Anforderungen, er stellt auch eine Herausforderung an das Theater selbst dar, an Schauspieler und Regisseure. Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen die Gegenwartsdramatik das Theater konfrontiert, wird von einigen Kritikern denn 8 auch bereits eine Krise der Regie beschworen, deren Goldenes Zeitalter als vergangen angesehen wird. 17 An einer Reihe rezenter Inszenierungen zeitgenössischer Stücke untersucht der Theaterwissenschaftler Patrice Pavis (Université Paris 8), wie die Regie heute mit den Herausforderungen durch die neuen Texte fertig zu werden versucht. Pointiert fragt er in seinem Beitrag danach, ob es angesichts der formalen Gemeinsamkeiten zeitgenössischer Dramen auch eine spezifische Form ihrer Inszenierung geben könne. Die letzte Frage schließlich, die in diesem Dossier behandelt werden soll, ist die der Rezeption der zeitgenössischen französischen Dramatik in Deutschland. Denn gerade hinsichtlich ihrer Aufnahme hierzulande sind die Unterschiede zwischen den beiden Richtungen der französischen Gegenwartsdramatik beträchtlich. Während Koltès und Yasmina Reza auf den deutschsprachigen Bühnen omnipräsent sind, ist 2006 zum ersten Mal ein Text Valère Novarinas in deutscher Übersetzung an einem hiesigen Theater, dem Schauspielhaus Düsseldorf, inszeniert worden. Von der Presse allgemein gelobt, stieß die Aufführung beim Publikum eher auf Ablehnung. 18 In Frankreich dagegen ist Valère Novarina 2006 mit dem Stück L’espace furieux ins Repertoire der Comédie-Française aufgenommen worden; beim Festival d’Avignon 2007 wurde sein Stück L’acte inconnu in der Cour d’Honneur des Papstpalastes aufgeführt, dem Hauptspielort des Festivals. Irina Szodruch, Dramaturgin an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, geht in ihrem Beitrag zum „Texttransfer“ diesen Unausgewogenheiten der Rezeptionsprozesse in Frankreich und Deutschland nach. 1 Michel Azama (ed.): De Godot à Zucco. Anthologie des auteurs dramatiques de langue française 1950 - 2000, 3 vols., Paris, Editions Théâtrales, 2004. Die drei Bände ordnen die Stücke unter folgenden Stichworten: vol. 1: Continuité et renouvellements; vol. 2: Récits de vie: Le moi et l’intime; vol. 3: Le bruit du monde. 2 David Bradby: Le théâtre en France de 1968 à 2000, en collaboration avec Annabel Poincheval, Paris, Champion, 2007. Der Band bildet den letzten der auf 13 Bände angelegten, von Charles Mazouer herausgegebenen Geschichte des französischen Theaters vom Mittelalter bis heute. 3 Patricia Duquenet-Krämer: „Le théâtre contemporain en France: défier la mise en scène? “, in: Grenzgänge IX, 18, 2002, 68-93. 4 Cf. Théâtre Aujourd’hui,10, 2005. 5 Mit seiner Bestandsaufnahme zu den Publikationsmöglichkeiten von Dramentexten, Le compte rendu d’Avignon: des mille maux dont souffre l’édition théâtrale et des trente-sept remèdes pour l’en soulager (Arles, Actes Sud, 1987), wie auch mit der von ihm herausgegebenen Sammlung exemplarischer Dramenanalysen, Ecritures dramatiques. Essais d’analyses de textes de théâtre (Arles, Actes Sud, 1993), hat Vinaver auch als Theoretiker zur Revalorisierung des Theatertexts beigetragen. 6 „Théâtre: Le retour du texte? “ lautet das Thema der Zeitschrift Littérature (138, Juin 2005), in deren Editorial die Herausgeber Martin Mégevand, Jean-Marie Thomasseau 9 und Jean Verrier feststellen: „Depuis quelques années toutefois […] le balancier donne l’impression d’être reparti dans l’autre sens. L’importance du texte de théâtre, et partant de l’auteur, semble à nouveau s’affirmer, ne serait-ce que dans le développement soudain des lectures publiques et l’importance prise dans la vie théâtrale contemporaine par des auteurs comme Michel Vinaver, pour qui la mise en scène court toujours le risque d’être une ‘mise en trop’, et Valère Novarina pour qui le texte redevient le pivot de la création théâtrale“. (3sq.) 7 Für eine umfassende Darstellung der französischen Theaterpolitik in den letzten Jahrzehnten sei auf Bradbys Theatergeschichte verwiesen, die im Anhang auch einen historischen Überblick über alle öffentlichen Theater einschließlich ihres Förderstatus und ihrer jeweiligen Leiter enthält (Bradby, Le théâtre en France, 671-693). 8 Yasmina Rezas Conversations après un enterrement ist allerdings 1987 am Théâtre Paris-Villette und La traversée de l’hiver 1989 am Théâtre national de la Colline uraufgeführt worden, worin sich eine Zuordnung ihres Werks zum ‘seriösen’ Theater zeigt, die sich erst mit dem Erfolg von „Art“ geändert hat. 9 Bradby, Le théâtre en France, 578. 10 Cf. Jean-Pierre Ryngaert: „Ecritures théâtrales contemporaines: état des lieux“, in: Pratiques, 119-120, Décembre 2003, 109-118, 110, sowie id.: Lire le théâtre contemporain, Paris, Albin Michel, 2 2005 (Paris, Dunod, 1 1993). Zum Status der Figur im zeitgenössischen Theater cf. Jean-Pierre Ryngaert/ Julie Sermon: Le personnage théâtral: décomposition, recomposition, Paris, Editions Théâtrales, 2006. 11 Cf. die entsprechenden Stichwörter in Jean-Pierre Sarrazac (ed.): Poétique du drame moderne et contemporain. Lexique d’une recherche, Louvain-la-Neuve, Etudes théâtrales 22, 2001: Fable (crise de la); Mimèsis (crise de la); Personnage (crise du). 12 Ryngaert, „Ecritures théâtrales“, 113. 13 Ibid., 116. 14 Bradby, Le théâtre en France, 629. 15 Cf. dazu den ersten Band von Azamas Anthologie De Godot à Zucco, der unter dem Stichwort „Héritage et évolution“ zahlreiche Beispiele für diese Tendenz aufführt. 16 Denis Guénoun: Avez-vous lu Reza? Une invitation philosophique, Paris, Albin Michel, 2005, 256sq. 17 Cf. Bradby, Le théâtre en France, 580sq. 18 Cf. Andrea Grewe: „Eine Herausforderung: Valère Novarinas Brief an die Schauspieler. Eine Überforderung. Philip Tiedemann inszeniert im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses“, in: Jürgen Grimm/ Roland Ißler (eds.): Theater über Tage 2006. Jahrbuch für das Theater im Ruhrgebiet, Münster, Rhema, 2006, 257-263. 10 Susanne Hartwig Le culte du signifiant et la chaosmogonie du signifié Le théâtre de Valère Novarina Si on crache toutes ses pensées par terre, d’où vient qu’elles tombent rien qu’en paroles? (Le Discours aux animaux) 1 Quand on écrit sur le théâtre de Valère Novarina, on est tenté de procéder comme lui, par impressions, par impulsions, par associations libres, pour rendre justice à cette ‘cure du Verbe’ à laquelle le spectateur est forcé, tôt ou tard, de se livrer à l’aveuglette. Plutôt qu’un théâtre de la parole - qualification qu’on applique souvent en bloc au théâtre français contemporain - c’est un spectacle de la sensualité, un ‘Théâtre des oreilles’, comme dit l’auteur. 2 Bien que la perception d’une telle œuvre soit hautement individuelle, étant donné la multitude d’associations que chaque spectateur invente à son gré, il existe, semble-t-il, du moins un point commun de toutes les interprétations possibles, pour ainsi dire une ligne de fuite de toutes les lectures: elles doivent reconnaître qu’il s’agit d’un culte du signifiant dans les deux sens de l’expression: culte rendu au signifiant, c’est-à-dire hommage au pouvoir de la parole et de la sonorité, et culte provenant du signifiant, l’acte de signifier créant le monde dans un rite de passage du chaos au cosmos. L’enjeu des textes novariniens n’est donc pas la fonction référentielle du langage, mais la matière elle-même, la ‘chair’ des mots, l’incarnation de la langue „matièrenelle“, 3 et au même temps son pouvoir performatif; c’est pourquoi on est très loin des jeux structuralistes avec la surface du texte. Il est difficile de parler dans l’abstraction du théâtre de Novarina sans se perdre dans une foule de négations de termes traditionnels, comme on voit, par exemple, dans la caractérisation de Vous qui habitez le temps de Patrice Pavis: [...] aucune histoire, aucune action, aucune logique des événements et des dialogues, aucun personnage et donc aucun sens, aucune direction de la parole. Les quatorze parties pourraient être interverties, puisqu’il n’y a nulle continuité temporelle ou thématique entre elles; les répliques seraient facilement déplaçables d’un locuteur à l’autre, puisque la parole ne l’engage pas en tant qu’actant.4 Au lieu de proposer une trame et une idée directrice qui puissent être dégagées moyennant une analyse cognitive, Novarina arrange l’action scénique de manière que le spectateur puisse faire une expérience singulière au-delà d’une interprétation concrète. Pour ainsi dire, il détruit les repères traditionnels du drame - provoquant ainsi le chaos - pour mieux faire émerger quelque chose de nouveau qui se présente sur scène, mais qui ne se représente pas: un cosmos de la parole. 11 Outils dramatiques traditionnels Dans le théâtre de Novarina, les éléments traditionnels du théâtre - temps, lieu, personnage, action - apparaissent seulement pour mieux disparaître ensuite. Bien que l’auteur pourvoie, par exemple, chaque voix qui parle d’un nom propre et qu’il indique souvent minutieusement le lieu de l’action et le temps, il n’y a, dans ses œuvres, ni histoire ni personnage ni dialogue au sens strict du terme. Les textes jouent seulement avec l’exactitude que suggèrent les chiffres et les noms propres. Ainsi, maintes phrases commencent d’une façon faussement réaliste pour se perdre ensuite dans une litanie labyrinthique qui ressemble à une invocation. L’apparente précision dans l’indication du lieu et du temps souligne en réalité le caractère a-référentiel du langage. Voici deux exemples: [C]’est le trente-sept octobre mille neuf cent soixante-dix-neuf virgule quatre. (Le Drame de la vie)5 L’action a lieu dans l’Usine Kuhlman, dans L’Ugine Coulement, dans l’Ugrine Ulema, dans l’Usline Culema. L’action a lieu dans un Stade d’Action. L’action a lieu dans un mélodrome de cent mètres sur cent mètres sur cent mètres sur cent mètres sur cent mètres sur cent mètres sur cent mètres. (Le Drame de la vie)6 Ici, on touche littéralement (verbalement! ) la septième dimension. L’exagération même rend la précision ridicule. Dans Le Drame de la vie, on est confronté avec 2587 noms sur plus de 500 pages, mais aucun d’eux ne représente une personne. Novarina joue avec les mots en privilégiant le son avant le sens. Force est de constater que tous les éléments de son théâtre y contribuent. Les didascalies, par exemple, loin d’éclairer un sens qui se cache, renforcent le sentiment du spectateur de se perdre dans un déluge de mots. Selon l’auteur, les indications scéniques „décrivent un lieu d’utopie et finissent par dresser un théâtre impracticable“, elles „brûlent du même feu que les répliques.“ 7 Ainsi, Le Drame de la vie commence par deux phrases d’Adam après lesquelles le texte indique: Il sort. Entrent l’Homme de Pontalambin, l’Homme de Lambi, Jean Membret, Sapolin, l’Homme de Saporléolimasse, Bandru, l’Homme de Pontagre, Bomberre, l’Homme de l’Hostie, Bandre, Le Jeune de Bombière, les Hommes de l’Equipe Logique, Landrube, Sapor Landret [...]8 Et ainsi de suite ... Novarina énumère plus de cent noms, génériques et individuels, parfois très fantaisistes. La quasi-didascalie termine avec la phrase: „Ils embrassent le Trou de Science et sortent. Entre un chien qui dit: „L’homme n’est pas né“, après quoi il sort. 9 On voit clairement jusqu’à quel point de telles indications scéniques forment une partie intégrale du lyrisme de la pièce. Dans un entretien avec Jean-Marie Thomasseau, Novarina cite quelques didascalies de Vous qui habitez le temps („On apporte le tombeau du monde“, „Un homme entre en sortant“, „Se répand l’ouragan des noms“), pour expliquer ensuite: Les didascalies sont alors comme des pierres, des énigmes laissées là, des cailloux d’antimatière dramatique, des panneaux indiquant un impossible passage à l’acte. Re- 12 présentation interdite. Ces ordres, condensés jusqu’à devenir inexécutables, les acteurs les reçoivent, comme des impulsions: parfois je vois surgir une danse par Laurence Mayor, une grimace mystérieuse de Dominique Pinon, de Valérie Vinci un bond animal - tous suscités par l’une de ces petites phrases laissées là en italique et en marge du texte.10 Pour lire Novarina, avertit Pavis, mieux vaut oublier les catégories traditionnelles de la dramaturgie, 11 fait qui n’étonne guère étant donné que le théâtre novarinien est un prototype de ce que Wirth appelle une „dramaturgie du discours“ dans laquelle le dialogue n’est plus possible qu’entre le texte en bloc et le spectateur, le discours n’étant „ni monologique ni dialogique“, mais „à la fois monolithique et pulvérisé.“ 12 Les phrases par lesquelles commencent les textes n’ont rien d’une exposition: A DAM . - D’où vient qu’on parle? Que la Viande s’exprime? (Le Drame de la vie)13 L E V EILLEUR . - Mais silence, le voici (Vous qui habitez le temps)14 ‘Voyez’ dit Jean; ‘Soyez attentifs! ’ ajouta Jacques, ‘S’arrêtera-t-elle? ’ demanda Pierre [...] (La Chair de l’homme)15 Le spectateur s’attend déjà à ce que les parties finales des textes n’ont rien de concluant non plus. Dans Le Drame de la vie, par exemple, la dernière réplique est une énumération de noms propres sur 22 pages qui répond à la question de savoir „le nom de ceux qui vous ont précédés“ („vous“, c’est le personnage d’Adam). 16 A la fin de La Chair de l’homme, le personnage nommé L’enfant traversant répond à la question de savoir au bord de combien de fleuves il s’est assis pour laisser couler ses larmes avec une liste de noms de 17 pages et demie qui se termine sur la phrase „au bord de l’Oncion je me suis assis et j’ai laissé couler mes larmes.“ 17 La fin est aléatoire, et le texte entier produit systématiquement de la contingence. Quand on regarde l’œuvre novarinienne dans son ensemble, on a l’impression de voir un seul et même texte qui se régénère sans cesse, toujours le même commencement qui est une création et toujours la même fin ouverte, une immense litanie, une métamorphose filée. Jean-Pierre Sarrazac parle d’un „théâtre ininterrompu“ inventé par Novarina. 18 Beaucoup de syntagmes semblent d’abord cacher un sens qui se dissout cependant très rapidement dans un fleuve de sons parsemés de quelques fragments intelligibles: Aucune vie vaut plus la peine qu’on la raconte sauf la mienne si elle est courte. La sienne par exemple. Sept huit soixante-treize, huit huit. J’ai vécu dans Jean qui porte, j’ai vécu dans l’Homme de Trop, j’ai vécu enfant, j’ai vécu en femme huit, j’ai survécu mon survivant, j’ai persécu l’enfant Ulban, j’ai vivu d’aises et d’incapacité. Redites son nom avant de parler! Un jour, j’ai bien failli être le lendemain dénommé l’Homme qui vous quitte la veille. Car je vivais dans l’Homme de Rien qui passe sa vie avant qu’elle soit. (Le Discours aux animaux)19 L’absence quasi totale de cohérence logique entre les phrases et parfois, entre les mots, confère au texte son caractère flou. Les répliques regorgent de traces d’un 13 message (surtout des réflexions sur le monde et sur l’écriture) qui cependant se dérobe toujours. Le texte réveille l’imagination du spectateur sans lui livrer son secret. On constate aussi l’absence totale d’un jeu illusionniste. Les mots ne racontent pas d’histoire, pour fragmentaire soit-elle, puisqu’ils sont toujours hors contexte et leur polysémie latente n’encontre aucun frein dans une situation communicative précise, ce qui mène à une prolifération du sens. Selon Novarina, „le langage agit dans tous les sens et surtout par le vide, par les mots qu’il ne dit pas: par le mot fantôme qui est invisible justement parce que c’est la clé de voûte de l’édifice respiré de la phrase.“ 20 Les myriades de personnages plutôt abstraits évoqués par Novarina surgissent et disparaissent sans motivation préalable. Il y a des subdivisions textuelles qui ressemblent à des répliques délimitées, mais elles n’indiquent aucune individualité de la voix qui parle; elles marquent plutôt les „unités de souffle“ (Claudel), 21 des ‘unités respiratoires’ qui produisent le rythme haché du texte en lui conférant son tempo particulier: La femme aux chiffres L’extérieur est à l’extérieur de l’extérieur. L’intérieur n’est à l’extérieur de rien. L’intérieur est à l’extérieur de l’intérieur. L’extérieur n’est pas à l’extérieur de lui. L’intérieur n’est pas à l’intérieur de l’extérieur. L’intérieur n’est pas à l’extérieur de l’extérieur. L’intérieur n’est pas à l’intérieur de rien. L’intérieur est à l’intérieur de lui. (Vous qui habitez le temps)22 Voilà une belle litanie qui oscille entre son et sens en accélérant et ralentissant au gré de la respiration. La division des pièces théâtrales en actes ou parties va dans le même sens: c’est un rythme créé à la surface du texte auquel ne correspond aucune subdivision d’une histoire racontée. Pour ainsi dire, l’acte novarinien est l’unité respiratoire maximale. On s’approche à la poésie pure où les frontières génériques se brouillent. Novarina dit qu’il n’a jamais su s’il écrivait pour le théâtre ou pour le livre. En plus, il ne fait pas de différence fondamentale entre lecteur et spectateur, car „au théâtre, c’est par action hallucinatoire du langage que tout apparaît.“ 23 On pourrait parler d’un prototype de déconstruction des oppositions binaires traditionnelles. Selon Novarina, „[o]n voit au théâtre non quelque chose de représenté mais quelque chose qui opère.“ 24 La tâche qui incombe au spectateur est donc claire: faire une expérience au lieu de démêler une pensée, chercher plutôt que trouver. C’est la parole qui parle et qui se parle, la parole comme partie intégrante de l’univers. C’est donc elle seule la force agissante du drame, et en même temps le personnage principal, l’action principale, le lieu principal - Novarina parle d’une „logodynamique“, la parole opérant l’espace 25 - et le temps. La seule réalité, c’est la parole. 14 Décrire le monde vs. créer le monde Le trait le plus saillant du théâtre novarinien est la virtuosité inépuisable avec laquelle l’auteur manie les mots: avant tout, les multiples innovations langagières, les néologismes, mais aussi les glissements de sens dans les jeux de mots, les substitutions des sons, l’utilisation des dialectes et des langues étrangères, la répétition obsessionnelle des sons, des cris et les déformations de mots: Apocopes abruptes, racines improbables, aphérèses hirsutes, néologismes divers, mots-valise facétieux, contrepèteries désopilantes, anagrammes penaudes, argots revêches, archaïsmes vrais ou affabulés, mots usuels galvanisés par un préfixe inédit, pseudo-philologie, prétendues restaurations, latin fabriqué ou avéré, citations inventées de toutes pièces, étymologies fantaisistes, bris de phrases, lambeaux de mots, éructations grotesques, cacardements de toute sorte, distorsions insoupçonnées constituent son ordinaire.26 Novarina aime les séries de mots et les énumérations régies souvent par la présence d’une même lettre ou d’une même sonorité ou simplement du rythme. Ainsi, le texte s’approche de la musique, surtout de l’art de la fugue, ce jeu où les thèmes reviennent avec des variations. Et cependant, la disposition des mots n’est jamais aléatoire. Novarina se montre revêche à tout changement, comme raconte le metteur en scène Claude Buchvald: [...] si l’acteur veut opérer une coupe à son initiative, il doit appeler Valère, même pour une virgule. Le texte est ainsi conçu par lui comme un véritable objet d’art longuement travaillé, à ne retoucher qu’avec d’infinies précautions.27 En revanche, le mouvement au niveau du signifié provoqué par les sauts langagiers est tout le contraire d’un sens figé. Novarina compare son travail avec la peinture à la fresque, „vite, travailler la matière avant que quelque chose se fige! “ 28 Pour lui, dans le théâtre, tout est „en germination, saisi au surgissement même.“ 29 Il n’est donc pas surprenant qu’il y ait beaucoup d’allusions explicites à l’acte créateur. Ainsi, Le Drame de la vie commence avec l’entrée d’Adam dans une scène vide. 30 Au premier abord, il est surprenant que la phrase typique novarinienne soit l’affirmation (souvent même sous l’aspect d’une maxime), comme si la tâche du langage était toujours de décrire le monde. Souvent, Novarina adopte même un ton scientifique, qui n’est, cependant, que superficiel. Voici deux exemples: Voici le seize juin mille neuf cent quarante-huit: au son de l’accordéon élastique, l’Homme de Vectant sort sa rengaine de graine d’œuf qui dit en langage espérant que l’homme de dehors pousse toujours son cri de dedans. (Le Drame de la vie)31 Nous sommes fermés dans un carré faisant mille centimoches de tour de rien, plus des virgules monométriques qui nous assaillent de part en part. (Le Discours aux animaux)32 Le jeu avec une syntaxe correcte et un contenu du non-sens rappelle les fameuses phrases à la „colourless green ideas sleep furiously“ de Noam Chomsky. La 15 syntaxe fonctionne toujours tandis que le contenu s’évapore, elle n’est qu’une pose, une forme de théâtralité toute particulière de Novarina: communication de la non-communication (ou de la plus-que-communication? ) qui se situe aux antipodes d’un usage instrumental de la langue. Novarina explique: La langue est notre terre, notre chair. L’acteur la porte comme l’hallucinante matière humaine devant soi. Le langage est matière humaine et matière des choses: des forces, un jeu d’énergies. Pas du tout un outil à notre service.33 Novarina parle d’un passage qu’ouvre la parole: „De l’un à l’autre, elle est notre passage à travers les mots.“ 34 La présentation de la matière langagière va de pair avec des réflexions sur cette matière: les mots parlent de l’acte de parler et jouent avec la conscience de l’énonciation: Combien de fois trois ai-je respiré un chiffre visible, coupable en deux? Ce va être la sept cent dix mille billardième fois et à la fin de cette phrase qui va sonner le la, la septième trois trimillardième de huit de huit de ut que je reste là. (Le Discours aux animaux)35 Le recours fréquent au métalangage concentre les textes sur le thème principal: l’acte de parler, ce qui est la performance à l’état pur puisque c’est la parole qui est à l’origine de la parole. Selon Novarina, l’essence de la parole, du logos, est son pouvoir créateur: Loin de décrire un monde préexistant, les mots construisent le monde en le nommant, le monde est appelé par le langage. Au lieu d’un simple instrument de la communication, le langage est l’appel, la scène le lieu de l’émergence du monde. L’importance conférée à la respiration humaine rappelle constamment au spectateur que la parole n’est qu’une voix qui renvoie au souffle originel. Selon Novarina, esprit et souffle forment un seul et même concept. 36 La fameuse Lettre aux acteurs commence avec les phrases: „J’écris par les oreilles. Pour les acteurs pneumatiques“, 37 et Novarina y décrit son idéal de l’acteur: Pas tout couper, tout découper en tranches intelligentes, en tranches intelligibles - comme le veut la diction habituelle française d’aujourd’hui où le travail de l’acteur consiste à découper son texte en salami, à souligner certains mots, les charger d’intentions, à refaire en somme l’exercice de segmentation de la parole qu’on apprend à l’école [...] le jeu consistant à chercher le mot important, à souligner un membre de phrase [...] la parole forme plutôt quelque chose comme un tube d’air, un tuyau à sphincters, une colonne à échappée irrégulière, à spasmes, à vanne, à flots coupés, à fuite, à pression. (Lettre aux acteurs)38 Selon Novarina, le personnage n’est pas un individu, mais littéralement un porteparole, l’incarnation du souffle verbal, un être traversé par la parole, qui ne figure rien ni imite rien, qui est un corps vidé de sa substance, illuminé par le passage de la parole. L’acteur est agi, le langage „prend homme.“ 39 Novarina invente le néologisme de l’anthropoglyphe. 40 16 Il s’en suit que l’acteur est la source d’un excès fécond et productif, et c’est le plaisir provoqué par la matière sonore elle-même qui atteint son paroxysme dans les listes interminables de noms: Quand on dit un texte avec une telle énergie respiratoire, lorsqu’on se lance dans douze pages d’énumération ou des listes infinies de verbes, on entre dans une action qui malmène le corps mais qui aussi le porte et l’exalte. Si ce travail physique ne s’opère pas, le sens n’apparaît pas. Le sens procède du fait que de ce corps tellement secoué, tellement maltraité, tellement agi, tellement meurtri par moment (je me souviens par exemple de Daniel Znyk me disant: „Mais il veut me tuer! “) s’extrait comme une substance épurée.41 L’excès des sons dépasse l’acteur, le mène dans une situation corporelle limite touchant à une expérience transcendantale, car „[l]e vide mystique ne se fonde pas sur le refus mais sur l’excès.“ 42 Pour Novarina, l’acteur Louis de Funès incarne le mieux cette esthétique de la dépense avec sa formidable énergie du corps. Le paradoxe et l’illumination „Faut-il rire, pleurer, danser, s’accabler, s’effondrer? “ demande Philippe Sollers, dans son introduction au Drame de la vie. 43 La réponse à cette question se trouve dans la question même: ce qu’il faut faire c’est précisement poser des questions, s’étonner. Sorites postmodernes: A partir de quel moment un son devient-il parole? Jusqu’où peut-on décontextualiser la parole sans détruire son pouvoir de signifier? Ce que recherche Novarina à travers les mots, c’est justement ce qui les dépasse: „Nous sommes jouets des mots, soumis à leurs mouvements erratiques.“ 44 Le spectateur qui fait l’expérience sensible de l’effort articulatoire, assiste à l’épiphanie de l’énergie du verbe. Chaque mot dispose d’une vibration particulière, l’entendement ne provenant pas du savoir, mais du sentir: „Mâcher et manger le texte. Le spectateur aveugle doit entendre croquer et déglutir, se demander ce que ça mange, là-bas, sur ce plateau“ (Lettre aux acteurs). 45 En effet, Novarina construit un spectacle corporel qui affecte le spectateur-auditeur tel que les fameux serpents qu’évoque Antonin Artaud dans son Théâtre de la cruauté, car il entre en résonance avec la parole incarnée dans une voix: „L’intelligence est un phénomène acoustique. C’est par joie interne, par une réjouissance de dedans et un épanouissement que le langage se fait compréhensible.“ 46 Ainsi, le spectacle se transforme en voyage initiatique. „Entre l’homme à qui il n’est rien arrivé. Il est sorti avant d’entrer“ (Le Discours aux animaux) 47 - les phrases novariniennes invitent à la contemplation proche d’une illumination qui ne provient pas d’un effort intellectuel, et la dépossession de l’intelligence rend la clarté et la plénitude, une plénitude qui touche au vide et vice versa. 17 En faisant appel à l’indicible, la parole espère justement dépasser la négativité pour affirmer un sens. Le Koan novarinien fait appel à la parole pour entendre ce qu’elle ne peut dire, pour dire l’indicible non pas comme une idée symboliste évanescente ou absurde, mais comme un travail sur le langage et le monde.48 Le scénographe Philippe Marioge parle même d’un „système concerté pour faire cohabiter les oppositions et les contraires“ chez Novarina, pour travailler avec des tensions. 49 Justement, Novarina appelle sa compagnie L’Union des contraires. La densité de la matière verbale rend impossible une interprétation psychologique ou symbolique quelconque. Le choix des mots loufoques, la répétition et la déformation ludiques du son, l’éclatement de la syntaxe - „[...] un mentonnier de bois au trou phosphorescent tenant attachés ses trois parents et un bâtonnier de bois au bout phosphorescent rappelé soudainement par les allumettes à la craquelure“ (Vous qui habitez le temps) 50 - frôlent souvent le comique de sorte qu’on doit „savoir pleurer et rire en même temps“, comme dit l’actrice Roséliane Goldstein. 51 Cette indécidabilité est donc une autre manière d’unir les contraires. Novarina explique: Le rire, c’est un spasme respiratoire, un renversement qui nous permet de ne pas mourir de contradictions: il touche les limites de la raison, éprouve la fin du langage, tombe et s’agenouille devant le paradoxe, reconnaît les limites de l’esprit humain. Je ne l’ai jamais ressenti comme satanique mais thérapeutique: il soigne, il nous lave [...].52 Bien que les textes ressemblent beaucoup à ce que Sigmund Freud appelle la „libre association“, le but n’est pas le même: Novarina ne cherche pas à atteindre les formations de l’inconscient, mais un état de transe à travers le rythme et le tempo qui permet l’accès à la matière même. Il ne s’agit pas d’une coopération du spectateur dans la concrétisation d’un sens, mais d’une communion. Novarina développe donc sa dramaturgie sur le modèle du théâtre sacrificiel: Corps et voix de l’auteur sont exhibés aux yeux des voyeurs. C’est précisément ce caractère rituel et charnel qui différencie le théâtre novarinien de l’écriture automatique des surréalistes et du non-sens du théâtre de l’absurde. C’est moins un exercice du non-savoir que plutôt la célébration du mystère du signifiant opposé au signifié. Conclusion: Chaosmologie La mémoire du spectateur, que retient-elle? Une impression indéfinissable d’effets acoustiques et visuels et d’un matériel sonore? Le théâtre de Novarina qui n’émet aucune opinion sur le monde extérieur, il ne prend pas parti dans les conflits actuels, les questions brûlantes politiques et sociales. Son thème est toujours la langue elle-même, et il explore toujours la frontière entre parole et son, symbole et bruit, espace naturel et espace culturel. La scène est donc un champ de bataille entre le sens et le non-sens, la mise en scène d’une lutte sans vainqueurs ni vaincus, sans synthèse ni perspective privilégiée. Les textes sont pour autant décons- 18 tructivistes parce qu’ils brouillent sans cesse les frontières entre spectateur/ auditeur et auteur/ acteur et parce qu’ils échappent à toute classification générique et à la narration. En revanche, ils construisent un monde idéosyncratique à partir des sons et des vibrations. On peut donc parler d’un théâtre de résonances. Puisque l’être humain a accès au monde grâce au langage qui le représente (car, selon la philosophie novarinienne, la parole précède les choses), le spectateur assiste d’abord à la destructuration, la ‘chaotisation’ du monde, et puis à la réstructuration d’un monde nouveau. Novarina explique: Dans l’écoute attentive de la peinture, dans la vue, sur scène, du périlleux exercice de la parole, nous refaisons l’expérience effrayante du chaos, nous sommes décomposés. Le théâtre est un lieu de perdition. Le lieu de la défaite humaine, le lieu où nous venons ensemble nous déconstruire.53 On se perd pour se sauver: chaos et cosmos, systole et diastole. C’est ici qu’il faut chercher l’engagement d’un théâtre qui, au premier abord, semble être de l’art pour l’art pur. Le voyage dans le chaos permet au lecteur/ spectateur de se libérer de la forme afin d’obtenir quelque chose de complètement imprévisible qui ressemble à ce que Novarina dit sur la peinture de Jérôme Bosch: [Il] déstabilise en nous l’assise du langage, sonne l’alerte dans les zones de Broca. Même perception soudaine et simultanée de l’ordre et du chaos, même sensation fulgurante devant certains travaux de Dubuffet: Panique dans la matière! panique dans la matière! 54 D’où qu’on regarde l’œuvre novarinienne, on se rend toujours compte de sa théâtralité caractéristique. Les textes dépassent la lecture silencieuse, parce qu’ils ont besoin d’une action scénique, parce qu’ils demandent à prendre corps et nécessitent une représentation qui rend les mots présents. Novarina décrit le théâtre comme ‘enclos logoscopique“ où on s’assemble pour voir le langage, pour „saisir encore une fois le langage sur le vif.“ 55 On est tenté de parler d’un lieu ‘synesthétique’ par excellence. Dans les mises en scène, Novarina multiplie les lieux de spectacles et les efforts physiques qui portent la même charge d’énergie comme la densité verbale. Il mêle les numéros de cirque, de danse, de chant, de combat, de voltige intercalés (fondés sur la théâtralité du théâtre forain) avec les textes parlés. Sur la scène comme dans l’écriture, il évite la gestuelle codifiée et l’esprit ordonnateur de sorte qu’il faut parler plutôt de configurations que de décor. Il explique: On expérimente au théâtre une autre façon de penser, une pensée dramatique - qui ne se manifeste à peu près que là. Qui ne se manifeste qu’au théâtre et dans la liturgie: la liturgie, c’est aussi des actions à faire pour que les choses arrivent en vrai. Il n’y a au théâtre ni représentation ni simulacre.56 L’éphiphanie de l’indicible à travers la parole est un événement du hic et nunc de par sa nature. Philippe Marioge l’explique de la façon suivante: Avec Valère, le principe de base est de ne pas chercher à faire entrer le spectateur dans une fiction, dans un système illusionniste, mais à montrer qu’on est „ici et mainte- 19 nant“, à l’heure actuelle de la représentation, sur le plateau du théâtre, comme au cirque. Du coup, on a chaque fois utilisé la nudité de l’architecture du théâtre. Tout se passe au théâtre. Et dans ce théâtre, il y a une parole qui circule, des acteurs qui entrent et par lesquels passe la parole proférée.57 Avec la mise en scène de la parole, Novarina oscille constamment entre écriture et oralité, le durable et l’éphémère, la surface de contact entre les contraires étant l’acteur, le médium de contact, la parole. Pour Novarina, le langage „présente le monde naissant - il nous fait prendre conscience tout à la fois que ‘le premier instant dure toujours’ et que nous partons avec.“ 58 Puisque le théâtre est le lieu du présent éternel du verbe. Repères biographiques Valère Novarina est né en 1947 à Chêne-Bougeries, de Manon Trolliet, comédienne, et de Maurice Novarina, architecte. Il étudie la philosophie et la philologie à la Sorbonne et rédige un mémoire sur Antonin Artaud. Il veut devenir acteur mais y renonce rapidement. Sa première pièce, L’Atelier volant (écrite entre 1968 et 1970) est mise en scène par Jean-Pierre Sarrazac en 1974. Son premier livre paraît en 1984, Le Drame de la vie, rédigé de 1975 à 1982. Novarina écrit trois types de textes: les œuvres directement théâtrales (comme L’Atelier volant, 1989, Vous qui habitez le temps, 1989 ou L’Opérette imaginaire, 1998), un „théâtre utopique“ (la notion est de Novarina) constitué par des romans dialogués ou par une poésie théâtrale (comme Le Drame de la vie, 1984, Le Discours aux animaux, 1987 ou La Chair de l’homme, 1995, trois textes qui ont été créés aussi sur scène) et les textes théoriques dont les plus connus sont Pour Louis de Funès, Lettre aux acteurs et Le Théâtre des oreilles (les trois textes parus en 1989 sous le titre Le Théâtre des paroles). Les premiers textes, tout en mettant déjà l’accent sur la parole, ont encore recours soit aux personnages soit à un lexique reconnaissable tandis que la prolifération des personnages et des jeux avec la langue, si caractéristiques pour l’esthétique novarinienne, se remarquent pour la première fois avec netteté dans Le Drame de la vie. Novarina met en scène plusieurs de ses textes au Festival d’Avignon et à Paris. Sa première apparition à Avignon sont dix-huit scènes du Drame de la vie en 1986. Novarina est aussi dessinateur et peintre. Plusieurs de ses performances mêlent les „actions“ de dessin et de peinture et les textes parlés, parfois même la musique et la vidéo. Une exposition regroupant les 2587 personnages du Drame de la vie et un ensemble de photographies, retraçant son parcours de metteur en scène et de plasticien, a lieu au Musée des Beaux-Arts et d’Archéologie de Besançon en 2004. Avec L’Espace furieux (publié en 1997, adaptation de Je suis, publié en 1991), Novarina entre au répertoire de la Comédie-Française. Il a montré ses pièces sur plusieurs scènes internationales et son œuvre a été traduite en allemand, anglais, catalan, espagnol, italien, portugais, roumain, russe et suédois. 59 20 1 Valère Novarina: Le Discours aux animaux, Paris, P.O.L., 1987, 1. 2 Le premier livre consacré entièrement à Valère Novarina parut en 2001 sous la direction d’Alain Berset (Valère Novarina, théatres du verbe, Paris, Corti). Les publications les plus récentes sur le théâtre novarinien sont d’Olivier Dubouclez (Valère Novarina. La physique du drame, Paris, Les Presses du réel, 2005), de Nicolas Tremblay (La bouche théâtrale. Etudes de l’œuvre de Valère Novarina, sous la direction de Nicolas Tremblay, Montréal, XYZ Ed., 2005), de Pierre Jourde (La voix de Valère Novarina, sous la direction de Pierre Jourde, Paris, L’Harmattan, 2004) et de Louis Dieuzayde (Le théâtre de Valère Novarina, sous la direction de Louis Dieuzayde, Aix-en-Provence, PUP, 2004). Cf. aussi le film Ce dont on ne peut parler, c’est cela qu’il faut dire, de Raphaël O’Byrne (2002). 3 Valère Novarina: Le Théâtre des paroles, Paris, P.O.L., 1989, 59. 4 Patrice Pavis: Le théâtre contemporain. Analyse des textes de Sarraute à Vinaver, Paris, Nathan, 2002, 123. 5 Valère Novarina: Le Drame de la vie, Paris, Gallimard, 2003, 17. 6 Ibid., 17. 7 Jean-Marie Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, in: Europe, août/ septembre 2002, 162-175, 171. 8 Le Drame de la vie, 15. 9 Ibid., 17. 10 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 171. 11 Pavis: Le théâtre contemporain, 123. 12 Patrice Pavis: Dictionnaire du Théâtre, Paris, Dunod, 1996, 217. 13 Le Drame de la vie, 15. Ce texte a été créé en 1986 au Théâtre Municipal, dans le cadre du Festival d’Avignon, mise en scène de Valère Novarina. 14 Valère Novarina: Vous qui habitez le temps, Paris, P.O.L., 1989. 15 Valère Novarina: La Chair de l’homme, Paris, P.O.L., 1995, 7. Ce texte a été créé en 1995 au Tinel de la Chartreuse de Villeneuve, dans le cadre du Festival d’Avignon, mise en scène de Valère Novarina. 16 Le Drame de la vie, 393-415. 17 La Chair de l’homme, 508-526. 18 Céline Hersant: „L’Atelier volant ou le théâtre de l’origine. Entretien avec Jean-Pierre Sarrazac“, in: Europe, août/ septembre 2002, 117-124, 122. 19 Le Discours aux animaux, 10. 20 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 172. 21 Cf. Pavis: Le théâtre contemporain, 12. 22 Vous qui habitez le temps, 9. 23 „Valère Novarina. ‘La parole opère l’espace’. Propos recueillis par Gilles Costaz“, in: Magazine littéraire, 400, 2001, 98-103, 98. 24 Ibid., 101. 25 Ibid., 99. 26 Philippe Di Meo: „Le langage comme cosmogonie“, in: Europe, août/ septembre 2002, 54- 58, 57. Cf. l’analyse détaillée du vocabulaire chez Pavis: Le théâtre contemporain, 124- 127. 27 Jean-Marie Thomasseau: „Une voix de plein air. Entretien avec Claude Buchvald“, in: Europe, août/ septembre 2002, 79-85, 84. 28 „Valère Novarina. ‘La parole opère l’espace’“, 102. 29 Ibid., 98. 30 Le Drame de la vie, 15. 21 31 Ibid., 147. 32 Le Discours aux animaux, 8. 33 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 170. 34 Valère Novarina: Pendant la matière, P.O.L. 1991, 52. Cf. sur la peinture dans les spectacles novariniens Romaric Daurier: „‘Autrer’. Perspectives pratiques de Valère Novarina“, in: Europe, août/ septembre 2002, 97-106. 35 Le Discours aux animaux, 9. 36 Cf. les explications sur le mot grecque pneuma dans „Valère Novarina. ‘La parole opère l’espace’“, 100. 37 Le Théâtre des paroles, 9. 38 Ibid., 10. 39 „Valère Novarina. ‘La parole opère l’espace’“, 101. 40 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 171. 41 Thomasseau: „Une voix de plein air. Entretien avec Claude Buchvald“, 81. 42 Jean-Marie Pradier: „L’anima(l) ou la kénôse de Dieu“, in: Europe, août/ septembre 2002, 35-45, 41. 43 Le Drame de la vie, 10. 44 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 170. 45 Le Théâtre de paroles, 9. 46 „Valère Novarina. ‘La parole opère l’espace’“, 99. 47 Le Discours aux animaux, 8-9. 48 Pavis: Le théâtre contemporain, 134. 49 Jean-Marie Thomasseau: „Le jardiniste. Entretien avec Philippe Marioge“, in: Europe, août/ septembre 2002, 86-91, 88. 50 Vous qui habitez le temps, 12. 51 Jean-Marie Thomasseau: „Au gré du souffle. Entretien avec Roséliane Goldstein“, in: Europe, août/ septembre 2002, 69-74, 74. 52 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 167. 53 Ibid., 169. 54 Ibid., 168. 55 Ibid., 164. 56 Ibid., 174. 57 Thomasseau: „Le jardiniste. Entretien avec Philippe Marioge“, 88. 58 Thomasseau: „Valère Novarina. L’homme hors de lui“, 170. 59 Cf. le site de l’auteur: http: / / www.novarina.com. Cf. aussi le dossier dédié à Novarina dans la revue théâtrale espagnole Primer acto 292 (III/ 2002), 15-52, et la bibliographie dans Valère Novarina, théâtres du verbe, ouvrage publié sous la direction d’Alain Berset, Paris, Corti, 2001, 351-365. Resümee: Susanne Hartwig, Der Kult des Signifikanten und die Chaosmogonie des Sinns stellt die Ästhetik des Gegenwartsautors Valère Novarina unter dem Aspekt eines ‘Wortkulttheaters’ vor. In diesem greifen traditionelle Kategorien des Dramas nur noch ex negativo, da für Novarina die Sprache keine primär beschreibende, sondern eine performative Aufgabe hat: Sie schafft die Welt in einem immer wieder erneuerten schöpferischen Akt. Zugleich führen die Wort- und Satzfragmente, die oftmals in reine Klänge übergehen, über die Ordnungsfunktion der Sprache hinaus, weshalb Novarinas Theater als kontinuierliche ‘Chaosmologie’ angesehen werden kann, deren Ziel neuartige Erfahrungen des Zuschauers jenseits seiner kognitiven Fähigkeiten sind. 22 Andrea Grewe L’art de la comédie à l’âge du postdramatique Le théâtre de Yasmina Reza Assez longtemps la critique théâtrale aussi bien que la critique universitaire se sont montrées réticentes face au théâtre de Yasmina Reza. 1 En 1999, cinq ans après le succès mondial de „Art“, Marc Weitzmann, dans Les Inrockuptibles, devait constater: „Yasmina Reza reste en France isolée, voire ignorée de la presse culturelle“. 2 Et encore en 2005, le même critique, cette fois-ci dans Le Monde, a observé à propos des pièces créées après „Art“: „Ses pièces suivantes, Trois versions de la vie, et, surtout, Une pièce espagnole seront, si l’on peut dire, passés à tabac dans la presse française.“ 3 Et cela bien que, auprès du public, le succès du théâtre de Reza soit énorme. Traduite en 35 langues, son œuvre dramatique a obtenu de nombreux prix en France et à l’étranger et est montée par des metteurs en scène reconnus, tels que Luc Bondy qui a mis en scène Trois versions de la vie au Burgtheater de Vienne ou Jürgen Gosch qui a récemment remporté un vif succès avec Le dieu du carnage (all. Der Gott des Gemetzels) au Schauspielhaus Zürich. 4 A première vue, le jugement de la critique universitaire n’est guère plus favorable que celui de la critique théâtrale. Yasmina Reza y est considérée comme une auteur habile du théâtre commercial qui sait répondre aux attentes d’un public bourgeois qui a en horreur les recherches d’avant-garde. Ainsi, David Bradby, dans son ouvrage récent Le théâtre en France de 1968 à 2000, range Reza parmi les auteurs „qui prennent la relève de l’ancien boulevard, fournissant des textes intelligents mais sans recherche aucune, dans lesquels un public bourgeois aisé peut se reconnaître; pour ceux qui, comme Yasmina Reza […] sont en mesure de fournir de tels textes les récompenses sont de taille“. 5 Au fur et à mesure qu’une lecture attentive des textes mêmes progresse, le jugement sur la forme - mais aussi sur le contenu - du théâtre de Reza est devenu plus nuancé. Ainsi, en 2002, Patrice Pavis, dans une analyse détaillée de „Art“ a souligné „la qualité dramaturgique et textuelle d’une œuvre qui mérite toute notre attention et fait partie de plein droit de notre corpus de pièces réputées difficiles et innovatrices“. 6 En 2004, le ‘Centre de Recherches sur l’Histoire du Théâtre’ de la Sorbonne a organisé une rencontre de réflexion consacrée aux ‘Dramaturgies de Yasmina Reza’ qui réunissait, sous la direction de Denis Guénoun, des universitaires, des metteurs en scène et des critiques de théâtre pour se pencher sur le ‘mystère’ de cette dramaturgie. Que ce fût en effet d’abord la forme du théâtre de Reza qui ait suscité l’intérêt de la critique, c’est ce que montrent aussi d’autres études qui y ont été consacrées entre-temps. Ainsi Sieghild Bogumil, dans un article sur le théâtre 23 contemporain des dramaturges femmes, a relevé „une théâtralité nouvelle“ dans l’œuvre de Reza qui se manifesterait surtout dans l’usage innovateur de la technique narrative du stream of consciousness sur scène. 7 Pareillement, Anne Ubersfeld a attiré l’attention sur l’emploi et les formes d’un nouveau type de soliloque dans le théâtre contemporain, et notamment chez Reza, qu’elle appelle ‘quasi-monologue’. 8 Les deux contributions mettent ainsi en relief une particularité du théâtre de Reza qui consiste dans l’insertion de monologues ou soliloques dans le dialogue, interrompant ainsi l’action pour un instant et créant un second niveau de jeu. Le fonctionnement de cette pratique, que Reza utilise systématiquement à partir de „Art“, a été étudié aussi par Barbara Métais-Chastanier qui y voit surtout l’effet de l’influence du cinéma sur le théâtre contemporain qui aurait adapté la technique cinématographique du montage. 9 Une approche différente pour saisir l’actualité et l’originalité de l’écriture dramatique de Reza a été tentée par Cornelia Klettke qui en souligne le caractère moderne voire postmoderne en insistant surtout sur l’„écriture-simulacre“ de Reza qui serait caractérisée par l’intertextualité et l’intermédialité et se distinguerait par là d’un théâtre mimétique traditionnel. 10 La reconnaissance la plus complète est pourtant due à Denis Guénoun qui, dans son essai paru en 2005 et intitulé Avez-vous lu Reza? , analyse aussi bien la portée philosophique que la complexité formelle de son œuvre dramatique et narrative et n’hésite pas à y voir une contribution originale au renouvellement du théâtre actuel en France. 11 En défendant le théâtre de Reza contre le reproche répandu du ‘néoboulevardier’, Guénoun souligne le défi relevé par ce théâtre qui, selon lui, cherche à fonder une nouvelle comédie, sans pour autant tomber dans la régression esthétique et idéologique qu’on reproche souvent à un théâtre qui fait rire. Pour l’apprécier à sa juste valeur, il conseille donc tout simplement de le lire attentivement. 12 C’est ce que je me propose de faire dans l’analyse suivante qui sera consacrée à Une pièce espagnole qui a été créée en 2004 par Luc Bondy au Théâtre de la Madeleine à Paris et qui a connu un très grand succès aussi en Allemagne, où Jürgen Gosch a mis en scène Ein spanisches Stück pour le Schauspielhaus Hamburg en 2005. Malgré sa structure complexe et sa thématique métaréflexive, la pièce n’a pas, jusqu’à maintenant, obtenu de la critique l’attention qu’elle mérite. Dans mon analyse, je chercherai d’abord à dégager la structure complexe de l’œuvre et sa thématique pour cerner ensuite de plus près la conception esthétique qu’on peut en déduire. Un jeu à trois niveaux Une pièce espagnole, dont le titre ressemble plutôt à un sous-titre ou à l’indication du genre dramatique, se compose de 28 unités numérotées. Ces 28 scènes sans entracte ne montrent pas seulement une action linéaire, mais représentent trois niveaux différents d’action ou de jeu qui s’emboîtent, à la manière des poupées 24 russes, les uns dans les autres. Un premier niveau qui donne le titre à toute la pièce est constitué par les fragments d’une histoire de famille qui a pour protagonistes Pilar et ses deux filles adultes, Aurelia et Nuria, Fernan, le nouvel amant de Pilar, et Mariano, le mari d’Aurelia. Un deuxième niveau résulte d’un acte de distanciation qui détruit l’illusion mimétique. Car les acteurs qui interprètent les cinq personnages quittent régulièrement leur rôle pour réfléchir sur la pièce, leur travail, la fonction de l’auteur et du metteur en scène et le théâtre en général. Les scènes de la Pièce espagnole ‘interne’ dans lesquelles le spectateur assiste à quelques moments de la vie de Pilar et de ses filles, alternent donc avec d’autres scènes dans lesquelles les acteurs qui jouent ces personnages rompent avec l’illusion du jeu pour le commenter. Comme le titre l’annonce déjà, Une pièce espagnole n’est donc pas une pièce qui cherche exclusivement à produire l’illusion mimétique; il s’agit, au contraire, du ‘théâtre dans le théâtre’ qui étale son caractère théâtral, ludique. Cette forme dramatique ancienne qui fait infailliblement penser au théâtre baroque, notamment espagnol (Calderòn), mais aussi français (Rotrou et le Corneille de l’Illusion comique), est encore renforcée par l’ajout d’un troisième niveau de jeu, car Aurelia, la fille aînée de Pilar dans la pièce interne, est, comme sa sœur cadette Nuria, actrice et en train de répéter une pièce des années 70, appelée la „pièce bulgare“. Dans trois scènes de la Pièce espagnole interne, elle répète, avec l’aide de son mari Mariano, des scènes centrales de cette „pièce bulgare“ qui raconte l’histoire d’une professeur de piano qui est tombée amoureuse de son élève, un homme marié et plus âgé qu’elle avec lequel elle travaille un morceau de Mendelssohn. D’une manière extrême, Une pièce espagnole affiche donc l’autoréflexivité et la métathéâtralité. A première vue, l’emboîtement de ces trois niveaux de jeu - des acteurs qui jouent des personnages qui répètent une autre pièce - peut paraître difficile à saisir par le spectateur et susceptible de semer la confusion. Regardée de plus près, la structure de la pièce se révèle pourtant obéir à des principes très précis. Comme toujours dans le théâtre de Reza, Une pièce espagnole se distingue par une construction raffinée et extrêmement réfléchie d’une clarté et d’une précision quasi mathématiques qui sous-tendent le chaos apparent. Dans une exposition qui comprend les scènes 1 à 10, les personnages de la pièce interne de même que les acteurs qui les interprètent sont présentés: le spectateur assiste à la „scène de séduction“ entre Fernan et Pilar (sc. 2), aux tristes scènes de ménage d’Aurelia et de Mariano (sc. 4, 6) et il apprend les problèmes de la vedette de cinéma Nuria (sc. 8). Entre ces scènes de la pièce interne qui présentent toujours deux personnages sur scène, des scènes monologiques sont intercalées où les acteurs commentent le jeu dans des ‘confessions’, ‘entretiens’ ou ‘dialogues’ appelés ‘imaginaires’ (sc. 1, 3, 5, 7, 9). Dans la dernière scène de l’exposition (sc. 10), Aurelia répète pour la première fois la „pièce bulgare“, introduisant ainsi le troisième niveau de jeu. Après cette scène, tous les éléments de la pièce sont ‘exposés’. L’exposition, qui se compose de scènes assez courtes, est suivie par une partie centrale (sc. 11 à 24) qui, au niveau de la pièce interne, contient deux grandes 25 scènes d’ensemble où tous les personnages de la Pièce espagnole sont rassemblés sur scène (sc. 13 et 15; sc. 23 et 24). Dans la première de ces deux scènes d’ensemble le nœud de l’action suivante est noué, car ici le nouvel amant de la mère est présenté aux membres de la famille. Dans la seconde de ces scènes, qui est la plus longue de la pièce, la rencontre de famille arrive à son point culminant et vire à la catastrophe. Les tensions entre les différents personnages, qui minent l’harmonie familiale dès le début, mènent à une crise générale: offenses verbales, gifles, crises de nerfs, attaques de panique. Après cette grande éruption nerveuse, ce séisme psychique, tout s’apaise et la pièce finit doucement avec quatre scènes courtes à un ou deux personnages sans que les problèmes psychologiques et existentiels aient trouvé une solution. Lors de la prochaine rencontre de famille tout reprendra, la fin de la pièce reste ouverte. La structure complexe d’Une pièce espagnole s’explique donc par la superposition de principes de construction différents. D’une part, tout au long de la pièce, des scènes de commentaire alternent avec des scènes de jeu. De l’autre, ce principe dualiste est combiné avec une structure ternaire qui reprend, au niveau de l’intrigue de la pièce interne et de la disposition des scènes, le schéma classique d’exposition, nœud et dénouement. Cette tripartition s’observe d’abord au niveau de l’action de la Pièce espagnole interne, qui comprend les trois étapes de la présentation des personnages, de la grande brouille familiale et de l’apaisement final. Elle se reflète ensuite dans le genre même des scènes, qui sont des scènes en solo ou en duo dans la première et la dernière partie tandis que la partie centrale est caractérisée par les grandes scènes d’ensemble. La division en trois parties est en plus accentuée par les trois scènes dans lesquelles Aurelia répète la „pièce bulgare“. Leur distribution au long de la pièce dans les scènes 10, 14 et 28, c’està-dire à la fin de l’exposition, juste au milieu et à la fin de la pièce, souligne l’importance qui revient à la „pièce bulgare“. Avec ses deux aspects centraux - la plainte élégiaque d’une femme amoureuse et les réflexions concernant l’exécution du prélude de Mendelssohn qui rappellent de loin le théâtre de Marguerite Duras - elle ajoute encore une autre ‘voix’, une autre tonalité à la pièce dont elle renforce en plus le caractère métathéâtral. Au fond, Une pièce espagnole montre donc la même structure qu’“Art“ qui repose sur la même tripartition avec la grande scène de la confrontation entre les trois amis au milieu. De même, la technique d’interrompre le flux de l’action par l’insertion de soliloques dans les scènes dialogiques qui a d’abord été pratiquée dans „Art“, est reprise et perfectionnée dans Une pièce espagnole où ce n’est pourtant plus le personnage même qui parle, mais l’acteur qui interprète le personnage. L’effet de cette pratique est un isolement, un retour de l’acteur sur soi-même qui crée une sorte de solitude autour de lui, même si ces ‘confessions’, ‘entretiens’ ou ‘dialogues’, de par leur nature communicative, semblent s’adresser à un interlocuteur. Celui-ci reste, pourtant, ‘imaginaire’. On peut se demander s’il est à identifier avec le spectateur qui est condamné à rester muet. 26 Deux constatations contradictoires s’imposent donc suite à cette première analyse formelle. D’une part, Une pièce espagnole est construite d’après des règles précises qui lui confèrent une structure très rigide, presque géométrique qui, dans son abstraction, fait penser à une composition musicale où alternent, d’une manière réfléchie, les solos, les duos et les ensembles. 13 De l’autre, la pièce est caractérisée par une extrême hétérogénéité au niveau de la dramaturgie et de l’écriture. La remarque de Patrice Pavis à propos de „Art“ qui y constate un mélange de plusieurs dramaturgies et écritures, vaut à plus forte raison encore pour Une pièce espagnole où nous trouvons à côté d’une dramaturgie mimétique dans la pièce interne une dramaturgie a-mimétique qui crée une distance du spectateur par rapport aux personnages de la pièce interne. 14 La combinaison de la Pièce espagnole et de la „pièce bulgare“ produit de son côté le mélange d’une comédie avec un drame, d’un ton plutôt ‘léger’, ‘ironique’, voire satirique, avec le pastiche d’un ton pathétique aux accents tragiques. Tout souci ‘classique’ d’unité et de cohérence semble abandonné: si unité il y a, ce n’est ni l’unité d’action ni l’unité spatio-temporelle, mais exclusivement l’unité du lieu de la représentation et du temps de la représentation. Comme l’a constaté Denis Guénoun, Une pièce espagnole marque donc, par rapport aux pièces précédentes, le point où l’écriture de Reza „se brutalise“. 15 Car, grâce au collage des trois niveaux différents de jeu, l’histoire du groupe de famille qui constitue l’action traditionnelle de la pièce que le spectateur, suivant l’illusion mimétique, est habitué à considérer comme une sorte de ‘réalité’, doit être perçue comme ‘du théâtre’, comme ‘pur jeu’, tandis que le niveau des acteurs qui réfléchissent sur leur condition devient la seule ‘vraie réalité’. Il en résulte que la ‘condition de l’acteur’, l’‘être acteur’ s’impose comme la condition humaine même. La ‘vie’ devient ‘du théâtre’ ou, autrement dit, le théâtre est la vie. C’est la réflexion de ce jeu dialectique entre ‘vie’ et ‘théâtre’ qui est au centre même d’Une pièce espagnole. Vie vs. théâtre - le ‘rôle’ comme mise en forme du vide Dans Une pièce espagnole, où la structure du ‘théâtre dans le théâtre’ suggère immédiatement la métaphore de la vie comme théâtre, la question du rapport entre ‘vie’ et ‘théâtre’ est posée dès la première scène, dans laquelle l’acteur qui joue Fernan proclame l’incompatibilité entre ‘vie’ et ‘théâtre’: „Les qualités humaines habituelles dans le monde normal sont contraires au bien de l’acteur“. 16 C’est cette opposition entre ‘vie’ et ‘théâtre’ qui revient tel un leitmotiv dans les répliques des acteurs qui, en réfléchissant sur leur métier, en pèsent les avantages et les désavantages. En général ils préfèrent le ‘théâtre’ à la ‘vie’. C’est encore l’acteur qui joue Fernan qui donne le ton: Je me flatte, n’est-ce pas, de n’être, dans la vie réelle, ni bon ni ennuyeux [à la différence du personnage qu’il joue]. Bien que je ne puisse dire exactement en quoi consiste la vie réelle. Quand tu quittes un personnage et ses alentours, tu as plus de nostalgie que si tu avais quitté un lieu réel. La vie réelle est lente et vide. (14) 27 L’actrice qui joue Nuria exprime une insatisfaction similaire à l’égard de la vie réelle: „On veut très fort vivre une chose, qui est à / portée de main, et puis le temps passe, / un jour il est trop tard, / […] au fur et à mesure du temps, des mondes qu’on / aurait voulu habiter, s’en vont, / à la dérive“. (36) Pour elle aussi, le rôle joué au théâtre a un degré supérieur de ‘réalité’ ou de ‘vérité’ par rapport à la vie réelle. Ainsi, dans la vie réelle, elle ne sait pas comment se présenter, quoi dire: „Dans les vrais interviews, on ne peut pas jouer / comme on veut, on finit par transiger, / on a la trouille“ (35); sur scène par contre, elle trouve parfaitement le ton qui convient au rôle qu’elle doit interpréter. A propos d’une réplique de Sonia dans Oncle Vania de Tchekhov, elle déclare: „Je savais dire ça, / je savais comment il fallait le dire, / mieux que personne, / les personnages sont ceux que nous sommes, / mieux que nous“. (35sq.) Tandis que la vie réelle se caractérise donc, pour elle, par l’expérience de l’incomplet, de l’inassouvi et de l’incertain, par le manque d’une ‘forme’ précise, le théâtre lui fournit, avec le rôle, un cadre précis qu’elle sait remplir. D’une manière plus radicale encore, cette expérience est formulée par l’acteur qui joue Mariano et qui définit les acteurs comme „des êtres égoïstes, / inconstants, / veules, / des vides ambulants, / des riens“. (81) Pour exister, ils ont, par conséquent, besoin d’un rôle, du théâtre, de spectateurs. Dans la Pièce espagnole interne, il est manifeste que cette expérience du vide de l’existence par rapport à la plénitude du rôle n’est pas limitée aux acteurs, qu’elle n’est pas une déformation professionnelle, mais qu’elle est intimement liée à la condition humaine même. Dans la Pièce espagnole interne, la ‘vie’ des personnages est, d’une façon plus radicale encore, caractérisée par un manque de forme total, la perte de toute stabilité et l’abandon de tout ordre. Ici, les personnages perdent progressivement toute maîtrise d'eux-mêmes et sont ravagés par les émotions et les angoisses qu’ils n’arrivent plus à dominer. La rencontre de famille se présente ainsi comme une suite de crises hystériques: commençant avec la scène 15 quand Nuria s’affole à l’idée que ses robes choisies pour la soirée des ‘Goyas’ sont „hideuses“ (67), l’hystérie augmente encore avec la dispute entre Pilar et Aurelia, dans la scène 24, où la fille offense ouvertement la mère qui lui donne alors, en réaction, des gifles; 17 et elle arrive à son comble un peu plus tard avec la grande crise d’angoisse d’Aurelia. A ce moment-là, la confusion générale est telle que Pilar, qui se considère comme une „femme qui a toujours été la plus équilibrée“ (109), se déclare prête à devenir folle et que même Fernan qui, jusquelà, semblait imperturbable, commence à s’irriter contre Nuria et Aurelia. D’une manière précise, Nuria décrit le genre d’humeur qui règne dans la famille et provoque la catastrophe lors des réunions de famille: Nous sommes des gens d’une grande nervosité, vous l’avez noté, nous sommes vite exaspérés, n’importe quoi peut nous exaspérer, même une guirlande, même un cake surgelé, nous ne sommes pas assez heureux peut-être d’une façon générale pour nous tenir gaiement ensemble, nous ne savons pas créer une atmosphère légère, nous ne savons pas nous détendre, nous ne connaissons pas ce mot, nous n’avons jamais 28 été détendus, je veux dire lorsque nous sommes ensemble, en famille, il n’y a aucun repos, on finit toujours exténués, à bout. (101) Avec une grande justesse, Nuria évoque ici l’atmosphère nerveuse, la tension montante qui caractérise les rencontres de famille et mène infailliblement à une sorte d’explosion des sentiments qui ressemble à une ‘décharge électrique’. Ce qui est signifiant aussi, c’est le contraste extrême entre le motif banal, ridicule qui déclenche cette explosion („un cake surgelé“) et la dimension existentielle du conflit. Les conventions et les règles qui régissent normalement la vie en société - la politesse, le respect, l’autorité - tout est alors envahi par le torrent des émotions incontrôlables comme le décrit encore Nuria: Vous [i. e. Fernan] êtes venu gentiment nous rencontrer mais nous n’avons pas su maintenir les apparences les plus élémentaires, nous ne savons même pas maintenir les apparences parce que nous ne sommes pas assez heureux sans doute quand nous arrivons, pour maintenir les apparences les plus élémentaires, on s’en fout. (102) Ce qui se manifeste dans ce comportement, c’est un désordre psychique, l’absence d’une structure psychique forte et rassurante qui pourrait fournir un soutien contre les forces destructrices qui s’emparent des personnages et les dominent totalement. Sous la pression des sentiments négatifs (jalousie, rivalité, complexes d’infériorité, peur d’être abandonné etc.), l’ordre social cède, se dissout, et il ne reste que des individus isolés qui, dans leur égoïsme, ne connaissent plus d’égards envers personne et ne se soucient plus de l’image qu’ils donnent. Comme l’explique Nuria, cette dissolution de l’ordre social est due à un sentiment individuel de malheur, à une expérience subjective de l’absurdité de l’existence telle qu’elle est exprimée le mieux par Aurelia dans sa grande scène d’angoisse. Malgré son existence réglée de ménagère accomplie, elle a l’impression de ‘tomber’, d’être sans appui, de manquer de soutien: „Je vais tomber, je vais tomber. […] Le sol glisse! […] Je me dissous! “ (107) L’angoisse qui s’empare d’elle ici est plus qu’une crise nerveuse passagère, elle est plutôt l’expression d’une angoisse existentielle, ‘métaphysique’ provoquée par l’absence de tout ‘ordre’ qui pourrait donner de la stabilité à sa vie. Ce qu’elle craint, c’est le vide de son existence car tout est anéanti par le temps qui passe immanquablement et détruit tout: Ma vie n’a aucun relief, aucun relief, le temps est vide… […] et le temps passe, pas seulement passe comme on dit avec cette fatalité mièvre, on dit le temps passe et je vois des feuilles mortes planant dans l’air, le monde se plie à cette amertume, et l’automne! et l’hiver! et le printemps! moi le temps me fout en l’air, me démolit, le temps me démolit, il est trop tard, je ne ferai rien de ma vie. (108sq.) Les symptômes qu’Aurelia montre ici sont ceux d’une dépression ou, mieux, ceux de la ‘mélancolie moderne’ dans laquelle s’exprime une vision pessimiste et désespérée du monde qui a trouvé son expression philosophique au XIX e siècle notamment dans la philosophie négative de Friedrich Nietzsche et de son maître Arthur Schopenhauer dont la pensée n’est pas étrangère à Yasmina Reza. 18 C’est 29 surtout la notion de la fuite du temps et de l’impossibilité du bonheur, que nous trouvons chez Aurelia et chez l’actrice qui joue Nuria, qui fait penser à Schopenhauer. Celui-ci conçoit la vie humaine comme une poursuite éternelle et vaine du bonheur, dictée par la ‘volonté’, qui laisse l’homme à jamais inassouvi et ne finit qu’avec la mort. L’idée de l’absurdité de l’existence humaine, présente déjà dans la philosophie de Schopenhauer, se radicalise encore chez Nietzsche qui, en proclamant la ‘mort de Dieu’, souligne l’absence de tout ordre métaphysique et, avec cela, de tout ‘sens’. Le critique d’art Jean Clair, qui a analysé la représentation de la mélancolie dans la peinture moderne des années 20 et 30 du XX e siècle, décrit l’éclatement de tout ordre comme le trait caractéristique de la mélancolie moderne: La mélancolie moderne est ainsi une mélancolie radicale: elle est le pressentiment qu’aucune mathesis universalis ne peut plus réordonner et rassembler les disjecta membra du réel. Elle est la conscience de l’homme d’aujourd’hui qu’aucune loi d’ensemble ne peut plus rabouter les éclats dispersés du visible et, par leur ordonnancement, nous délivrer le sens de leur présence.19 L’impression corporelle de tomber, de se trouver sur un sol instable exprimée par Aurelia traduit physiquement l’expérience de l’ordre éclaté, du néant, de ce qu’on appelle, depuis Nietzsche, ‘la transcendance vide’. La déstabilisation psychique ou mentale qui résulte de cette découverte se manifeste dans la ‘chute’ qui est typique aussi du cas du dépressif, comme l’a montré la psychanalyse moderne depuis Freud. 20 C’est cette expérience extrêmement déstabilisante de l’absurdité de l’existence qui aboutit aussi au sentiment de la vanité de tout effort et fait sembler absurde tout lien social, tout acte social vers l’autre, car ‘rien’ n’a plus de sens. On ‘se fout’, par conséquent, de tout et de tous. L’égocentrisme et le mépris des autres dont Aurelia, Nuria et Mariano font preuve, autrement dit, leur misanthropie, sont d’autres attributs traditionnels du tempérament mélancolique tout comme l’hypocondrie dans laquelle se traduit l’obsession de la mort et de la décomposition physique. 21 Dans l’œuvre de Reza, les misanthropes atrabilaires comme Marc dans „Art“ ou les intellectuels hypocondriaques comme Parsky dans L’homme du hasard et Adam Haberberg dans le roman éponyme sont nombreux. 22 Un mécontentement profond ou l’impression d’une vie ratée sont des expériences que beaucoup de personnages de Reza partagent avec Aurelia et Mariano. Profondément ennuyé par son existence bourgeoise, mal satisfait par son existence professionnelle, énervé par sa femme et sa fille, Mariano représente parfaitement la ‘dissolution’ et la perte de toute ‘forme’ dont ces personnages sont menacés. Pour remplir le vide qu’il ressent, il recourt à l’alcool, ce qui aggrave encore sa tendance à perdre toute ‘tenue’ physique aussi bien que morale. A Fernan il déclare: „Je me détruis quand je ne bois pas. Et non le contraire. Je bois pour ne pas me détruire. Boire me tient ensemble, voyez-vous. Boire me colmate“. (89) Ce n’est pas par hasard que l’acteur de Mariano évoque, en s’adressant à l’auteur de la pièce espagnole, la fin pitoyable et misérable qui menace les hommes: 30 Vous gagneriez à tuer vos personnages Olmo, / avant qu’ils ne se délitent, / finissent aussi lamentablement que les gens / réels, / chacun dans son coin, / mourant à petit feu, / avec des rêves cons, / abandonnés en route / comme des pelures, / des rêves cons, / et puis plus de rêve du tout. (120sq.) Ce que l’acteur de Mariano résume ici, c’est l’existence du personnage qu’il joue et qui, ivre, seul, traqué par l’idée d’une fin marquée par la folie comme celle de son ami Sergio Morati, s’adresse finalement à sa femme pour qu’elle l’aide à retrouver un peu de ‘forme’: „Donne-moi un coup de main Aurelia, / recompose ton petit mari, / je ne suis pas si mal quand même pour cinquante ans“. (119) La ‘vie’ des personnages de la Pièce espagnole interne confirme donc la conception pessimiste de la vie proférée par les acteurs. Vide de tout support (métaphysique) qui pourrait donner une ‘forme’, un soutien à leur existence, la vie se présente comme un processus permanent de décomposition où rien ne résiste à la destruction par le temps, où aucun projet ne prend forme et où la sensation subjective de n’être bon à rien entraîne avec lui en même temps la détérioration totale de la vie sociale, renforçant ainsi encore la solitude de l’individu. En même temps, ce désespoir, cette mélancolie des personnages de la Pièce espagnole ont aussi un caractère profondément ambigu. Si nous ne nous laissons pas prendre par l’illusion mimétique de cette histoire, mais y voyons un jeu, une pièce de théâtre comme cela est suggéré par la présence du premier niveau de jeu des acteurs, nous pouvons aussi voir dans le comportement d’Aurelia, de Nuria et de Mariano non pas l’expression d’un malaise existentiel, de la ‘nausée’, mais des rôles, une ‘mise en scène’ du désespoir. Une telle lecture est suggérée dès le début par l’acteur qui joue Fernan car celui-ci souligne expressément le caractère théâtral de la première scène de la Pièce espagnole qu’il qualifie de „scène de séduction“ entre Fernan et Pilar et dont il explique l’effet particulier sur les spectateurs. Car, au second degré, la signification de cette scène ne réside pas dans la séduction mutuelle du couple - c’est la signification première au niveau de l’histoire - mais dans la séduction des spectateurs par l’actrice qui joue Pilar, sur laquelle toute l’attention se concentre: „J’ai une grande scène de séduction dans cette pièce, il n’y a que moi qui parle. / Ma partenaire ne dit pas un mot, pour ainsi dire, et rafle la mise, / elle n’ouvre pas la bouche et on ne voit qu’elle. Je lui sers la scène sur un plateau d’argent“. (14sq.) La remarque de l’acteur de Fernan ouvre, pour ainsi dire, un second niveau de compréhension au spectateur qui cesse de voir seulement l’histoire et commence à se rendre compte des effets mis en jeu par les acteurs. Le collage qui fait s’entrelacer une scène de commentaire et une scène dramatique dédouble par là le regard et la perception du spectateur. L’immédiateté, l’authenticité de la scène est ainsi détruite. Le caractère théâtral de la catastrophe familiale est mis en relief par d’autres éléments encore. Ainsi, Fernan est présenté par Mariano comme un spectateur ahuri mais aussi fasciné par le spectacle d’horreur que lui fournissent la mère et ses filles: „Il est enchanté, il échappe à l’ennui mortel, vous êtes au théâtre Fernan, vous qui aimez le théâtre“. (109sq.) De cette façon, notre perception de l’histoire est profondément transformée: la 31 crise d’angoisse d’Aurelia n’est plus l’expression d’un trouble existentiel, mais apparaît comme une ‘grande scène de théâtre’ où l’actrice qu’est Aurelia peut montrer ce dont elle est capable. Les crises hystériques des filles nous paraissent ainsi d’une part comme des morceaux de choix qui permettent aux actrices de briller, et de l’autre comme des armes dans une lutte qu’elles se livrent pour attirer l’attention des autres sur elles-mêmes. L’effet de ce dédoublement du regard du spectateur est que le désespoir affiché par les personnages perd son poids existentiel et devient une attitude qu’ils prennent. Leur nihilisme, leur désespoir est un ‘rôle’ qu’ils jouent, du ‘théâtre’. Le terme de rôle implique alors qu’il ne s’agit pas d’un comportement ‘vrai’ et ‘authentique’ mais d’un ‘rôle’ assumé pour certaines raisons. Cette impression est renforcée par d’autres éléments. Ainsi, le nihilisme que les personnages affichent manque d’un élément important quand on le compare à la philosophie de Nietzsche ou à l’existentialisme moderne. Il y manque tout effort pour surmonter le désespoir, tout élan de donner soi-même un sens à la vie et une structure, une forme au chaos. Ainsi, le nihilisme des personnages semble plutôt une excuse pour leur propre inaptitude, leur faiblesse, voire leur ‘paresse’. Le désespoir, chez eux, ressemble à une attitude qui leur épargne tout effort pour créer, de leur propres forces, les conditions d’une vie réussie, voire heureuse. Que le désespoir des personnages ne soit pas trop à prendre au sérieux, est en outre suggéré par le caractère ridicule des motifs qui déclenchent ces crises et qui garantissent que, pour le spectateur, leur ‘tragédie’ reste une ‘comédie’, voire même une farce. Tandis que pour Nuria la crise est provoquée par le jugement négatif des autres sur ses robes du soir, pour Aurelia l’idée d’une vie ratée se rattache à l’image de leur appartement où „tout est moche, les prises sont de travers, les éclairages, les peintures, le plancher, tout est moche“. (108) Le caractère banal du motif du désespoir aussi bien que les moyens pour le surmonter - „une tranche de cake“, „du valium“ (110) - donnent un aspect plutôt grotesque à cette manifestation d’une angoisse existentielle. L’effet grotesque ou tragicomique est en plus provoqué par le langage des personnages, surtout le langage d’Aurelia, lequel, appartenant à un registre familier („Ça y est, elle chiale“, 110), détruit efficacement tout effet tragique. L’impression d’assister malgré tout à une comédie est due à un autre fait encore. La comédie, de par sa définition, finit ‘bien’, sa fin est ‘heureuse’, ce qui veut dire, pour prendre l’exemple de la comédie de Molière, que l’ordre social après avoir été gravement menacé est restauré, que l’harmonie sociale et familiale est rétablie, ce qui se traduit normalement dans l’union finale des jeunes gens qui s’aiment. C’est ce qui se produit précisément à la fin d’Une pièce espagnole, avec la seule différence que ce ne sont pas les jeunes mais les vieux qui se marient, des ‘vieux’ qui se sentent pourtant ‘jeunes’: Pilar: Tu es si jeune. Tu es si enthousiaste. Fernan: Nous sommes jeunes et enthousiastes et nous allons mener grand train, voudrais-tu m’épouser? 32 Pilar: Qu’est-ce que tu dis Fernan? ... Répète-le, répète-le, je ne suis pas sûre d’avoir entendu… (117) Avec le couple de Fernan et Pilar, la pièce propose en effet une conception de la vie et une manière de vivre contraires à celle propagée par les jeunes dont l’existence met en doute la possibilité de la vie commune, de la famille, du couple. Aurelia est bien consciente de la différence profonde qui la distingue elle-même, ainsi que sa sœur et son mari, de Fernan qui dit de lui-même: Fernan: Je suis triste. Tout ça est triste. Je trouve triste que votre sœur ait un amant. Je suis triste que les choses aient si peu de consistance. Le temps file au jour le jour, on peut se moquer de tout. Je suis encore de la vieille école. Aurelia: Vous n’êtes pas de la vieille école Fernan, vous êtes d’une école enviable qui suppose que l’existence mène quelque part, vous êtes mal tombé chez nous. (100) Cette conviction ‘enviable’ de Fernan selon laquelle la vie aurait un sens mène entre autres à une attitude différente à l’égard de l’ordre social. Tandis qu’Aurelia ne voit dans la vie qu’un processus permanent de destruction et de dissolution causé par le ‘temps’ qui sape aussi les fondements de la vie sociale, Fernan, et avec lui, Pilar, restent attachés à l’idée de la communauté et sont, par conséquent, occupés par le maintien de certaines règles qui paraissent indispensables à son fonctionnement. C’est particulièrement évident dans le cas de Fernan qui, en tant que gérant d’immeuble, est sans cesse confronté aux conflits entre les locataires qui mettent en danger la paix sociale. Pendant plusieurs scènes (sc. 15, 17), Mariano et lui ne cessent de discuter un conflit absurde et ridicule dans l’immeuble où habitent Aurelia et Mariano qui annonce, comme en sourdine et dans le registre grotesque, l’escalade des tensions familiales. La prise de position de Fernan est significative: „L’important est de ne pas se laisser entraîner dans la spirale passionnelle“. (71) A la différence des ‘jeunes’ qui ‘s’en foutent’ de la paix en famille et donnent libre cours à leurs sentiments et, surtout, à leurs agressions, il cherche à endiguer les passions et à empêcher l’éclatement des forces destructrices. Le cas de Pilar est similaire. Elle est convaincue que le maintien de certaines traditions est indispensable quand on veut conserver la vie commune. Elle déplore donc que ses filles „se fichent des mariages, des communions, elles se fichent des anniversaires […] elles se fichent de Noël, elles se fichent de tout“. (85sq.) En effet, ce sont les fêtes qui sont à l’origine même de la communauté parce qu’elles donnent un rythme temporel commun à la vie des individus. Le mépris de ces rites et le refus de ‘transmettre’ quelque chose aux générations futures aboutit par contre à l’isolement et à la détérioration du social. 23 Toutes ridicules que puissent paraître la ‘foi’ de Fernan dans le règlement intérieur de l’immeuble ou la plainte de Pilar qu’on ne fête plus Noël, ces attitudes traduisent, d’une manière indirecte, ce que la vieille génération a peut-être su garder encore tandis que la jeune génération l’a définitivement perdu: c’est-à-dire au moins les avatars d’une foi ‘métaphysique’, d’une foi dans le ‘bon ordre’ des choses. 24 33 Tout respectueux qu’ils sont des règles qui régissent la vie sociale, Fernan et Pilar n’hésitent pourtant pas non plus à rompre avec certaines normes et conventions. Au lieu de se conformer aux images stéréotypées que les jeunes se font du comportement adéquat de la vieille génération, ils réclament pour eux le droit à une nouvelle vie. 25 Tandis que les jeunes se cantonnent dans leurs ‘rôles’ de mélancoliques ou paranoïaques de sorte que leur existence ressemble à la ‘roue d’Ixion’ dont parle Schopenhauer 26 et semble, dans sa monotonie, proche de la mort, Fernan et Pilar représentent l’éternel renouveau de la vie, la joie de vivre et l’amour de la vie. Fernan décrit l’élan, l’énergie que la rencontre avec Pilar lui a donnés: On me disait un veuf de ton âge a la vie devant lui, tes enfants sont grands, je pensais quelle vie? Je n’ai plus rien à défendre, plus rien à construire, et puis cette femme est arrivée, je me suis assis chez elle, elle m’a fait manger, elle m’a fait une piperade de poivrons grillés, un demi-cochonnet rôti avec une purée de pommes de terre, un roulé à l’ananas… (75) C’est littéralement l’appétit de la vie qui revient à Fernan lorsqu’il rencontre cette femme qui lui donne à manger, telle une mère. 27 Le repas qui est évoqué avec volupté dans ses détails succulents devient ici image même de la vie, de l’énergie vitale qui est opposée aux idées abstraites sur l’absurdité de la vie exprimées par les jeunes. Dans sa matérialité la nourriture symbolise l’attachement à une terre qui ne s’effondre pas. Et le plaisir physique qu’elle procure est promesse du plaisir amoureux qui suivra. 28 Avec Fernan et Pilar, la pièce présente donc l’espoir du bonheur, de la vie en commun, de l’amour partagé. A la solitude ‘tragique’ des jeunes, à leur vision pessimiste de l’existence et à leur nihilisme abstrait s’oppose ainsi l’heureuse fin de la comédie avec son consentement aux plaisirs et avec sa promesse du paradis terrestre. A l’angoisse ‘métaphysique’ des jeunes est opposé le matérialisme typique de la comédie qui se réjouit des simples plaisirs physiques. Tandis que la référence au corps est exclue de la tragédie où l’on ne mange pas, la comédie est le lieu du ‘bas corporel’ comme l’a rappelé Guénoun à propos de Conversations après un enterrement en se référant à Bakhtine. 29 On peut y voir, avec Guénoun, une „ouverture à l’ordinaire“ 30 ou, aussi, un écho de la philosophie de Nietzsche qui prône aussi, notamment dans Also sprach Zarathustra, l’amour de la terre et du corps. Non moins important me paraît le fait que l’ordre traditionnel de la comédie qui prévoit l’union des jeunes est renversé dans Une pièce espagnole qui finit avec l’union des vieux. On a donc à faire avec un ‘monde à l’envers’ qui montre un ‘ordre carnavalesque’ où la vie l’emporte sur la mort - pour reprendre encore une expression de Bakhtine - car Fernan et Pilar rompent avec les ‘rôles’ qui leur sont assignés. Aussi bien au niveau de la ‘vie sociale’ des personnages qu’au niveau esthétique nous sommes, avec l’histoire de Fernan et Pilar, confrontés à un bouleversement de l’ordre traditionnel. Pour finir, je voudrais donc poser la question de 34 savoir si cette pièce, qui réfléchit tant sur l’importance et la signification du ‘rôle’ dans la vie et sur le rapport entre ‘rôle’ et ‘réalité’, ne contient pas aussi une réflexion poétologique sur le rapport entre la ‘forme’ / le ‘rôle’ et l’art et sur la place qu’y occupe la mélancolie. Une poétique cachée - L’art et la mise en question du ‘rôle’ L’analyse formelle d’Une pièce espagnole a montré la structure extrêmement claire de l’œuvre même. Il faut donc constater qu’il y a une opposition entre la vie chaotique des personnages de la Pièce espagnole interne et les principes de construction de l’œuvre. Tandis que le monde des personnages est régi par le chaos et le manque d’ordre, la pièce même est construite de manière rigoureuse et montre une structure géométrique parfaite. Elle répond ainsi à un besoin d’ordre et de stabilité qui n’est pas satisfait par la vie, ce qui cause la souffrance du mélancolique. 31 Que la vie soit le désordre des émotions et que l’art soit la forme, la maîtrise des passions, c’est ce que dit Mlle Wurtz, la professeur de piano, dans la „pièce bulgare“ quand elle explique à son élève comment il faut jouer le prélude de Mendelssohn: „Rien de sentimental, monsieur Kiš. Jamais. Ne rien laisser traîner de sentimental dans le jeu et dans la sonorité. […] La passion va de pair avec la pureté et la retenue. [..] Exactitude et authenticité“. (82) Même si „la catastrophe de la passion“ (82) est, comme elle l’explique, la matière de l’œuvre d’art, l’art même consiste dans la ‘maîtrise’, dans le ‘contrôle’ du désespoir, de la catastrophe. Ce qu’elle exige de son élève, c’est la „froideur infernale“ (113) qui fait la vraie actrice comme le dit l’actrice qui joue Nuria en citant une lettre de Tchékhov. En recourant à une sorte de mise en abyme intermédiale qu’elle avait pratiquée également dans L’homme du hasard, où un livre du même titre produit un effet de métalepse, et dans „Art“ où la ‘toile blanche’ est au centre des discussions, Reza utilise donc ici un morceau musical pour insérer une réflexion sur l’art qui reflète, au moins en partie, certains principes de ses propres œuvres. Qu’il s’agisse dans ce cas d’une référence musicale n’est pas sans importance car, comme Yasmina Reza a déclaré dans une interview: „Dans ma vie, ce qui m’a le plus convaincue d’une possible immortalité - ou d’une possible transcendance, disons - c’était la musique“. 32 Dans la „pièce bulgare“ dans laquelle Mlle Wurtz joue à la fin ellemême le prélude de Mendelssohn, c’est donc la musique qui fournit l’apparence - furtive - de ce qui manque aux personnages de la Pièce espagnole et, avant tout, à Aurelia qui interprète le rôle de Mlle Wurtz: à savoir la conviction consolatrice d’une transcendance qui sauverait l’homme de l’absurdité de la vie et du désespoir. La fonction de l’art serait donc de créer, au moins pour un bref instant, l’apparence d’un monde meilleur, et cela grâce à la domination de la passion. L’importance de la „pièce bulgare“ en tant que mise en abyme de la réflexion de Reza sur l’art est confirmée par une autre remarque de l’auteur qui, dans la même interview, a confessé sa propre prédilection pour cette pièce qu’elle aurait aimé 35 écrire mais qu’elle s’est défendu d’écrire. 33 Tout en étant donc un témoignage essentiel de l’esthétique de Reza, il faut conclure que celle-ci contient encore d’autres éléments et ne se réduit pas à un formalisme rigide. L’esthétique qu’on peut déduire d’Une pièce espagnole ne s’épuise donc pas dans cette conception nietzschéenne qui voit dans l’art le contraire de la vie imparfaite et qui trouve dans la perfection formelle de l’art une consolation pour l’imperfection de la vie. La pièce montre en effet aussi que la ‘forme’ comporte toujours le risque de se figer. La ‘forme’ que l’art a trouvée une fois pour donner une expression à un sentiment peut se pétrifier et devenir une attitude, un ‘rôle’ qui n’exprime plus aucune vérité. Que les ‘personnages’ dans la Pièce espagnole interne soient, dans ce sens, des ‘rôles’ stéréotypés, est explicitement dit par l’acteur qui joue Mariano: „Sachez monsieur Panero qu’avant d’interpréter votre Mariano, j’ai joué d’autres déshérités, d’autres alcooliques, / j’ai joué des Russes bien plus fêlés que votre Mariano, / j’ai joué des malheureux de toutes catégories, je suis le grand spécialiste des malheureux de papier“. (43) Le ‘malheureux alcoolique’ apparaît ainsi comme un ‘type’, voire un ‘emploi’ du théâtre, un cliché qui manque de toute ‘vie’, de toute ‘vérité’ ou authenticité. Cette sorte de pétrification ne concerne pourtant pas seulement le rôle joué au théâtre mais aussi bien les rôles joués dans la ‘vie’. Elle caractérise l’attitude mélancolique qui ne peut voir dans l’existence absurde qu’une répétition du même, ‘l’éternel retour du même’ nietzschéen. Sans vouloir trancher la question de savoir si le personnage d’Aurelia souffre vraiment d’une telle ‘nausée’ ou si elle ‘joue du théâtre’, il faut constater qu’elle est figée dans cette attitude dont elle ne réussit plus à sortir, pas plus que son mari d’ailleurs. 34 Pour sortir de cette impasse d’une ‘vie morte’, il faut briser la ‘forme’ dans laquelle la vie s’est figée. C’est exactement ce que font Fernan et Pilar, les vieux. Commencer une nouvelle vie, chercher l’amour, ne signifie rien d’autre que de rompre avec les rôles qui leur sont assignés par les conventions et traditions sociales. Et le même processus se déroule alors aussi au niveau dramatique: à la rupture des vieux avec leurs rôles ‘dans la vie’ correspond, au niveau structurel de la pièce, le renversement du schéma traditionnel de la comédie, l’ordre carnavalesque, le monde renversé. L’idée d’une dialectique entre la vie et l’art, le chaos et la forme, est d’ailleurs exprimée par l’acteur de Mariano qui dit dans sa dernière scène: „J’ai lu dans un livre que le cerveau humain avait besoin de confusion et de pagaille, / il ne sort rien de bon de la clarté“. (118) Une observation que Reza confirme expressément en décrivant en outre sa propre manière de travailler comme un processus qui mène du chaos à la clarté. 35 En recourant une dernière fois au discours des quatre tempéraments, on pourrait dire que Reza, dans ses pièces, réalise avec ce mélange de l’ordre et du chaos ce qui caractérise le génie mélancolique dans l’Antiquité, à savoir ‘l’équilibre entre les extrêmes’. 36 Dans la conception poétologique de Reza, l’art et la vie ne sont donc pas contraires, mais plutôt complémentaires. D’une part, le chaos de la vie a besoin de la forme, d’autre part la forme de l’art doit être renouvelée par les forces chaoti- 36 ques de la vie. A la différence d’une esthétique d’avant-garde, le renouvellement de la vie comme de l’art ne se produit pour Reza pourtant pas par la destruction totale des formes anciennes. Au lieu de briser complètement la ‘vieille forme’, elle choisit de prendre la ‘vieille forme’ et de la modifier, de la renverser pour créer ainsi quelque chose de nouveau. Au lieu d’être l’expression d’un esprit esthétique réactionnaire, cette pratique, ce renouvellement de la comédie, est, selon Guénoun, une manière créatrice pour sortir d’une impasse formelle à un moment où il n’est plus possible de poursuivre encore dans la voie de l’avant-garde, une technique que Reza partage d’ailleurs avec d’autres dramaturges ‘postmodernes’ tels que Koltès ou Lagarce. 37 Conclusion Si nous essayons de tirer une conclusion de notre analyse, nous pouvons donc constater que la fonction de la structure complexe du ‘théâtre dans le théâtre’ dans Une pièce espagnole est de réfléchir sur le concept de ‘rôle’ en tant que notion centrale du théâtre d’une part, mais aussi de la vie sociale de l’autre, et surtout sur l’interaction entre les deux domaines qui réside justement dans la notion de ‘rôle’. D’une part, avec l’opposition entre la vie à jamais inachevée et absurde, soumise à la destruction du temps, et le beau rôle de théâtre, la pièce exprime une vision du monde profondément mélancolique qui souffre de la vanité de tout, de l’impossibilité de l’achèvement, du manque de sens et qui trouve une consolation seulement dans l’art. En même temps, cette vision tragique du monde est tournée en dérision et démasquée comme une attitude, un ‘rôle’ facile qui dispense de tout ‘engagement’ envers l’autre. Interprétée dans ce sens, Une pièce espagnole viserait une sorte de pensée catastrophique devenue stéréotype qui serait, selon Guénoun, une des cibles de la satire de Reza: „Le désastre est le cliché“. 38 Le renversement de l’ordre traditionnel qui s’opère dans l’ordre carnavalesque du vieux couple serait alors la tentative de rompre avec cette pensée figée et de permettre une autre vision du monde qui donne de l’espoir en misant sur les forces vitales, le renouveau et la renaissance de la vie, bref, la victoire de la vie sur la mort. Ces lectures divergentes, pour ne pas dire contradictoires, d’Une pièce espagnole sont le résultat immédiat de la technique dramatique mise en œuvre par la dramaturge. Le montage de trois niveaux de jeu ne produit pas seulement une distanciation du spectateur à l’égard des personnages et leurs ‘rôles’, il mène également à une multiplication des points de vue qui nous empêche de considérer ‘une’ opinion comme la seule vraie. Il en résulte une ambiguïté foncière qui consiste dans la coexistence précaire de points de vue et visions du monde contraires. Elle se manifeste également dans l’impossibilité de définir le genre de la pièce qui chancelle entre comédie, tragédie et farce grotesque. Esthétiquement cette forme ‘bigarrée’ de la pièce, son hétérogénéité dramaturgique, l’apparentent à une dramaturgie contemporaine qui, selon Jean-Pierre Ryngaert, est caractérisée par des 37 „formes métissées“. 39 Pour décrire Une pièce espagnole, on pourrait donc aussi utiliser le terme de ‘monstre’ que Ryngaert propose pour ce qu’il appelle „une pièce pour le temps présent“ 40 et qui a été utilisé jadis par Corneille pour son Illusion comique. En même temps, l’actualité ou la contemporanéité de la pièce se montre justement dans cette ambiguïté qui combine le regard moqueur et l’espoir de l’amour avec la conscience de l’absurdité et la nostalgie d’un monde meilleur. C’est cette ambiguïté qui permet qu’on rie des tics ridicules des personnages tout en entendant, en sourdine, la voix de la mélancolie et de la solitude. Sans nier la catastrophe, la pièce contient, malgré tout, l’idée de la vie, du recommencement - tout comme Conversations après un enterrement et „Art“. Marc Fumaroli voit dans les grandes comédies de Molière dans lesquelles le dramaturge fustige différents types mélancoliques un remède efficace pour vaincre cette mélancolie par le rire. Face à la série de personnages mélancoliques que le théâtre de Reza met en scène, on est tenté de croire qu’elle poursuit le même but: „la reconquête du sourire“. 41 1 Jusqu’à aujourd’hui, le théâtre de Yasmina Reza comporte sept pièces: Conversations après un enterrement [1987], Arles, Actes Sud, 1986; La traversée de l’hiver [1987], Arles, Actes Sud, 1989; „Art“ [1994], Arles, Actes Sud, 1994; L’homme du hasard [1995], Arles, Actes Sud, 1995; Trois versions de la vie [2000], Arles, Actes Sud, 1994; Une pièce espagnole [2003], Paris, Albin Michel, 2003; Le dieu du carnage [2006], Paris, Albin Michel, 2006. La date de la création se trouve entre crochets. Conversations après un enterrement, Traversée de l’hiver, „Art“ et L’homme du hasard sont publiés ensemble dans Théâtre, Paris, Le Livre de poche, 2001. 2 Marc Weitzmann: „Nostalgies violentes“, in: Les Inrockuptibles, sept. 1999, 37-38, 37. 3 Marc Weitzmann: „Yasmina Reza, si loin de nulle part“, in: Le Monde des livres, 9 septembre 2005, IV. 4 Reza a obtenu pour Conversations après un enterrement le prix Molière du meilleur auteur, pour „Art“ le prix Molière du meilleur spectacle privé et du meilleur auteur et pour L’homme du hasard, créé à Orléans, le prix Molière du meilleur spectacle de la Décentralisation. En Grande-Bretagne, elle a reçu le Laurence Olivier Award et aux Etats-Unis le Tony Award. En Allemagne, le WELT-Literaturpreis 2005 lui a été décerné pour son œuvre dramatique et narrative. - Pour la réception mitigée, voire controversée de „Art“ qui est toujours représentative de l’attitude de la critique cf. Andrea Grewe/ Margarete Zimmermann: „Die Kunst der Männerfreundschaft. Yasmina Rezas „Art““, in: Andrea Grewe/ Margarete Zimmermann (eds.): Theaterproben. Romanistische Studien zu Drama und Theater. Jürgen Grimm zum 65. Geburtstag, Münster, Daedalus Verlag, 2001, 115- 156. 5 David Bradby: Le théâtre en France de 1968 à 2000, Paris, Champion, 2007, 562. 6 Patrice Pavis: „Yasmina Reza - „Art“, ou l’art de la fugue“, in: id.: Le théâtre contemporain. Analyse des textes de Sarraute à Vinaver, Paris, Nathan, 2002, 163-181, 163. 7 Sieghild Bogumil: „‘La légèreté de n’être’. Le théâtre contemporain des dramaturges femmes. Denise Bonal, Catherine Anne, Yasmina Reza“, in: Sieghild Bogumil/ Patricia Duquenet-Krämer (eds.): Bernard-Marie Koltès au carrefour des écritures contemporaines. Etudes Théâtrales 19, 2000, 24-31, 24 et 28. 38 8 Anne Ubersfeld: „Le quasi-monologue dans le théâtre contemporain. Yasmina Reza, Bernard-Marie Koltès“, in: Bogumil/ Duquenet-Krämer (eds.): Bernard-Marie Koltès au carrefour des écritures contemporaines, 88-97. 9 Barbara Métais-Chastanier: „L’‘Art’ du montage chez Reza“, in: „Ce que le cinéma fait à la littérature (et réciproquement)“, Fabula LHT (Littérature, histoire, théorie), 2, décembre 2006, URL: http: / / www.fabula.org/ lht/ 2/ metais.html. 10 Cornelia Klettke: „Yasmina Rezas „Art“ als écriture-simulacre: Grenzüberschreitungen zwischen Leben und Kunst“, Lendemains, XXX, 119/ 120, 2005, 89-103. 11 Denis Guénoun: Avez-vous lu Reza? Une invitation philosophique, Paris, Albin Michel, 2005. 12 Cf. ibid., 29: „J’ai remarqué que, dans les milieux théâtraux par exemple, ceux qui se sentent loin de Reza, qui tiennent ses pièces pour d’habiles divertissements néo-boulevardiers où rien ne concerne leur amour du théâtre, leur souci de son devenir, que ceuxlà […] n’ont pas lu ces livres, au sens littéral du mot. Ils savent quelque chose de la pièce „Art“, ont ri (ou pas) devant l’une ou l’autre séquence donnée à la télévision. Ils la soupçonnent de dégager un parfum réactionnaire à propos de l’art moderne“. 13 La question de la musicalité de l’écriture de Reza fascine la critique qui a pourtant du mal à définir en quoi elle consiste précisément. Cf. les articles de Anne Amend-Söchting („Beethovensonate als Metapher? Rezas ‘récit’ Hammerklavier“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, XXVII, 2003, 411-427) et de Sarah Barbedette („Yasmina Reza: ‘la clé, ou l’absence de clé des choses’“, in: Esprit Créateur, 47/ 2, 2007, 60-70). 14 Cf. Pavis: „Yasmina Reza“, 166sq. 15 Guénoun: Avez-vous lu Reza? , 239. 16 Une pièce espagnole, Paris, Albin Michel, 2003, 13. Dans la suite, l’indication des pages suit la citation entre parenthèses. 17 Ibid., 95sq.: „Aurelia: Qu’est-ce qu’elle est chiante! Pilar: De qui tu parles? Tu parles de moi! Aurelia: Oui, tu es chiante maman! Pilar gifle Aurelia.“ 18 Cf. son texte Dans la luge d’Arthur Schopenhauer (Paris, Albin Michel, 2005) dans lequel un professeur de philosophie, ancien spinoziste, se convertit d’un jour à l’autre au pessimisme de Schopenhauer. 19 Jean Clair: „Machinisme et mélancolie dans la peinture italienne et allemande de l’entredeux-guerres“, in: id.: Malinconia. Motifs saturniens dans l’art de l’entre-deux-guerres, Paris, Gallimard, 1996, 85-124, 100sq. 20 La perception particulière de l’espace par les mélancoliques a été étudiée par des psychiatres et des psychanalystes tels que Sigmund Freud, Ludwig Binswanger, Hubert Tellenbach et Julia Kristeva. Je renvoie ici à l’étude d’Anette Schwarz qui résume l’essence de leurs théories ainsi: „Binswanger, Tellenbach und Kristeva […] erklären ‘Fall’ und ‘Vertikalität’ zu den der Melancholie eigenen Bewegungs- und Wahrnehmungsmustern. […] Melancholie bietet sich nicht nur den mit ihr befassten Theorien, sondern auch dem von ihr befallenen Subjekt einzig in der von Freud beschriebenen Grundlosigkeit an: sie […] gewährt dem Subjekt weder Standfestigkeit noch eine aufrechte Position.“ (Anette Schwarz: Melancholie. Figuren und Orte einer Stimmung, Wien, Passagen Verlag, 1996, 15). Pour Schwarz, le vide („die Leere“) est, par conséquent, „die vertrauteste Raummetapher der Melancholie“ (ibid., 25). 21 Pour les théories de la mélancolie et les traits caractéristiques du mélancolique développés entre l’Antiquité et la Renaissance, je renvoie à l’ouvrage de référence de Raymond Klibansky/ Erwin Panofsky/ Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 39 1990, pour la misanthropie cf. ibid., 228sq.; pour l’hypocondrie comme forme de la mélancolie cf. Roland Lambrecht: Melancholie. Vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Reflexion, Reinbek, Rowohlt, 1994, 59sqq. 22 Le mot ‘amertume’ utilisé par Aurelia (Une pièce espagnole, 109) pour décrire son sentiment à l’égard de la vie est aussi le terme préféré de Parsky qui commence sa première réplique par les mots suivants: „Amer. / Tout est amer / Amer le pli de ma bouche. / Amer le temps, les objets, les choses inertes que j’ai entreposées autour de moi“ (L’homme du hasard, 9). Pour l’amertume comme trait du mélancolique, cf. Klibansky/ Panofsky/ Saxl: Saturn und Melancholie, 226. - L’emploi de médicaments préoccupe tous ces héros, cf.: „Gelsémium ou Ignatia“ (Marc dans „Art“, 12, 26, 29), „J’étais heureux avec le Microlax“ (Parsky dans L’homme du hasard, 19), „‘Tu prends du Valium? ’ ‘Je m’en gave.’“ (Aurelia dans Une pièce espagnole, 110) Pour le caractère atrabilaire de Marc cf. Grewe/ Zimmermann: „Die Kunst der Männerfreundschaft“, 132-140. Le cas le plus extrême est sans aucun doute l’écrivain Haberberg qui ne souffre pas seulement d’une crise créatrice mais vient aussi d’apprendre qu’il est malade: „L’ophtalmo, se dit-il, l’ophtalmo ne s’est pas montré rassurant. Il ne s’est pas non plus montré alarmant. Mais est-ce qu’un ophtalmo se montre alarmant? Est-ce qu’un ophtalmo dit: monsieur Haberberg, on ne peut exclure la possibilité que d’ici peu vous ayez perdu l’usage de votre œil gauche, cher monsieur Haberberg“. (Yasmina Reza: Adam Haberberg, Paris, Albin Michel, 2003, 8). 23 Une pièce espagnole, 86: „On ne transmet pas les choses. On ne transmet rien“. 24 Dans le refus de fêter Noël sur lequel Pilar insiste particulièrement, on peut voir aussi un signe de cette perte de foi métaphysique qui est à l’origine de la mélancolie moderne. 25 Cf. Une pièce espagnole, 75: Nuria se fait le porte-parole de cette sorte de clichés: „Ce couple me dégoûte. Je les trouve malsains. Il a l’air d’être son fils“. 26 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, in: id.: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Zürich, Diogenes, 1977, vol. I/ 1, 252. - Le cercle est une structure typique de la littérature inspirée par Schopenhauer comme le montre entre autres Beckett dans En attendant Godot. 27 Par analogie avec les jeunes mélancoliques, on pourrait voir en Fernan et Pilar les représentants du tempérament sanguin. La couleur rouge du sang est présente dans le tailleur que porte Pilar (cf. sc. 3). 28 Dans Conversations après un enterrement, la préparation commune d’un pot-au-feu a une semblable fonction symbolique du bien-être: elle scelle le retour à la vie après l’enterrement du père et la paix familiale retrouvée. Pour la symbolique du repas cf. Heckmann, Herbert: „Zur Kulturgeschichte des Essens. Der gemeinschaftsbildende Aspekt“, in: M. Josuttis/ G.M. Martin (eds.): Das heilige Essen. Kulturwissenschaftliche Beiträge zum Verständnis des Abendmahls, Stuttgart/ Berlin, Kreuz Verlag, 1980, 59-68. 29 Guénoun: Avez-vous lu Reza? , 53. 30 Ibid., 267. 31 Depuis la Renaissance, on voit un rapport étroit entre la mélancolie et l’ordre, la géométrie, la capacité humaine de ‘construire’ en général. En témoigne la représentation de la mélancolie par Albrecht Dürer qui montre la personnification de la mélancolie entourée d’instruments servant à la construction. Pour l’interprétation de la Melencolia I de Dürer cf. Klibansky/ Panofsky/ Saxl: Saturn und Melancholie, 462-467. Selon cette explication, la mélancolie prémoderne résulterait du fait que le mélancolique ne puisse pas concevoir ce qui est au-delà de ce qui est mesurable tandis que la mélancolie moderne serait, selon Clair, le résultat de l’inexistence de tout ordre métaphysique. 40 32 La citation provient de l’article de Sarah Barbedette: „Yasmina Reza: ‘la clé, ou l’absence de clé des choses’“, 70, n. 32, qui avait à sa disposition la version originale française des interviews que Reza avait données à Ulrike Schrimpf et qui ont été publiées en traduction allemande dans: Yasmina Reza: Das Lachen als Maske des Abgründigen. Gespräche mit Ulrike Schrimpf, Lengwil, Libelle, 2004, 19. 33 Cf. Reza: Das Lachen als Maske des Abgründigen, 69: „Das bulgarische Stück fasst in drei Szenen nicht nur […] meine zentralen und wesentlichen Themen [zusammen], sondern ist auch in einem Stil verfasst, […] der meiner hätte werden können, wenn ich ihn nicht vollständig verdammt hätte. Ich maskiere mich, ich tue, als wäre es nicht mein Stück, sondern ein bulgarisches Stück aus den 70ern. Auf diese Art und Weise konnte ich einen Stil verwenden, der mir bisweilen vorschwebt wie eine Fata Morgana, der meiner hätte sein können, wenn ich mich zu etwas hätte hinreißen lassen, was ich vollständig verurteile. Schon in meinen literarischen Anfängen habe ich mir diesen Stil strengstens untersagt.“ 34 Pour la ‘pétrification’ comme attribut traditionnel de la mélancolie cf. Klibansky/ Panofsky/ Saxl: Saturn und Melancholie, 335. 35 Reza: Das Lachen als Maske des Abgründigen, 67: „In meiner mentalen Struktur, denke ich, muss es einen Architekten geben. […] Wenn ich schreibe, dann herrscht in meinem Kopf Chaos. Da ist nichts klar. Aber das ergibt zum Schluss ganz klare Dinge“. 36 Cf. Klibansky/ Panofsky/ Saxl: Saturn und Melancholie, 76-81. 37 Cf. Guénoun: Avez-vous lu Reza? , 256sq.: „Koltès, dans ses grandes pièces, se réclamant d’un retour, programmatique et explicite, au récit, au drame, au style, et même à la tragédie la plus assumée. Novarina, d’une fidélité pourtant intraitable aux pratiques de la rupture, ne cessant de réécrire ses textes pour la scène, en y faisant jouer, sur un mode décalé, parodique ou métadramatique, le regain des genres. […] Car le programme de fracturation, de fragmentation ou d’évanouissement des modèles, le projet asymptotique de leur passage à la limite avait atteint un point extrême dans le dernier Beckett: […] Mais la prise en compte de l’achèvement ne se paie pas nécessairement d’une fascination du retour“. 38 Ibid., 249. 39 Jean-Pierre Ryngaert: „Ecritures dramatiques contemporaines: état des lieux“, in: Pratiques, 119/ 120, Décembre 2003, 109-118, 113: „L’abandon des genres et des modèles, l’influence du roman et du poème lyrique, parfois de la conversation aussi, et paradoxalement l’importance de l’adresse, conduisent à des formes métissées“. (C’est moi qui souligne). 40 Ryngaert: „Ecritures théâtrales contemporaines“, 113. 41 Marc Fumaroli: „La mélancolie et ses remèdes: la reconquête du sourire dans la France classique“, in: Jean Clair (ed.): Mélancolie. Génie et folie en Occident, Paris, Gallimard, 2005, 210-224, 223: „Les chefs-d’œuvre de Molière, qui revendique pour son art de comédien et de dramaturge une fonction thérapeutique par le rire qu’il refuse à la pédanterie médicale, font de la royauté française et de ses divertissements […] un remède souverain à la mélancolie et une école joyeuse de l’‘honnesteté’ française. La prodigieuse séquence de Dom Juan ou le Festin de Pierre (1665), du Misanthrope ou l’Atrabilaire amoureux (1666), de Tartuffe (1664-1669), des Femmes savantes (1672), a un fil conducteur rabelaisien: chacune de ces comédies impitoyables disqualifie par le rire un typus melancholicus attaché perversement à son mal et menaçant de l’intérieur la société des ‘honnestes gens’“. Pour le Misanthrope de Molière comme intertexte de „Art“ cf. Grewe/ Zimmermann: „Die Kunst der Männerfreundschaft“, 132sqq. 41 Resümee: Andrea Grewe, Die Kunst der Komödie im Zeitalter des Postdramatischen. Das Theater Yasmina Rezas untersucht am Beispiel von Une pièce espagnole (2003; dt. Ein spanisches Stück) charakteristische Themen und Formen von Yasmina Rezas Theater. Ausgehend von der dem Stück zugrunde liegenden Struktur des ‘Theaters im Theater’ wird das zentrale Motiv des ‘Rollenspiels’ analysiert, das einerseits eine Metareflexion über das Verhältnis von Kunst und Leben, Form und Chaos, Sinn und Sinnlosigkeit ermöglicht und andererseits durch den Bruch mit der mimetischen Illusion einen kritischen Blick auf die Figuren erlaubt, der ihr Leiden am Leben, ihren Weltschmerz, ihre ‘Melancholie’ als Pose entlarvt. Als charakteristisch für Rezas Kunstverständnis erweist sich das Bestreben, zum einen durch ironische Brechung einen Ausweg aus einem lebensfeindlichen Leiden zu ermöglichen und zum anderen durch die Variation klassischer Formen wie der Komödie den ästhetischen Gegensatz zwischen Tradition und Avantgarde zu überwinden. 42 Noëlle Renaude par courtesy Un vocabulaire étendu, dit le prof d’informatique un sac de charbon de bois dans les bras, c’est fondamental pour communiquer J’ai toujours eu un mal de chien avec les mots, dit l’amant du moment Et une grande précision si on veut s’entendre, dit l’ex-conjointe lunettes sur le front Un brin de courtoisie ça ne fait pas de mal non plus au business, fait le mari devant le barbecue Toi bien sûr, crie la sœur en short J’ai été déprimé tout l’hiver mais avec les beaux jours je me sens de nouveau plein d’intérêt pour l’humanité, dit le vieux camarade de collège Je ne suis pas sûre de ce que j’avance, dit la nouvelle femme tout en blanc Eh bien n’avance rien, dit la sœur bras croisés Dis voir, dit le mari une bouteille dans chaque main Mieux que les mots, dit la collègue verre tendu, merci Car voyez-vous, reprend la collègue à chapeau cloche, notre petit trip deux semaines dans l’Himalaya nous a ressoudés pour vingt ans Disons déjà cinq ans bichon, fait l’ingénieur en sandales Un peu de courtoisie en tout cas rend les relations plus commodes, dit l’exconjointe une pile d’assiettes en équilibre sur les deux mains Le système marchand lui-même elle a raison est assujetti à ce principe de courtoisie, dit le mari épaules carrées La salutaire je précise désobéissance civile desobedience et la courtoisie n’ont jamais fait bon ménage, dit le vieux copain de collège dans la fumée 43 La courtoisie moi je suis d’accord c’est encore un truc de classe qui de plus favorise la traîtrise, dit la sœur en débardeur On n’est pas des bœufs quand même, fait la collègue nu-tête On n’est quand même pas des bœufs, refait la collègue à cheveux rouges Bien évidemment que non bichon, dit l’ingénieur à califourchon Pourquoi dis-tu que le système marchand, dit le prof d’informatique les doigts dans le bol de glaçons By courtesy of english american french, dit le mari une côtelette en l’air C’est pas de la courtoisie ça, dit l’ex-conjointe à genoux Tu voulais dire quelque chose? dit le mari le front plissé J’ai oublié, dit la nouvelle femme une olive dans la bouche Nos sherpas tiens par exemple, dit la collègue nu-pieds dans le gazon Il faisait si froid? dit l’amant du moment à une courte distance des pistaches Cette courtesy - là n’est pas de la courtoisie je suis d’accord, dit le vieux camarade un œil sur les radis Tu vois, crie la sœur sur ses pieds Vous en êtes encore à la vieille rengaine gauchiste, dit le prof d’informatique dos au buisson de, c’est quoi? Un genêt d’Espagne, dit la nouvelle femme un pot de jus d’orange offert à qui veut Ça c’est vrai, dit le mari en nage Toi bien sûr, dit la sœur une rondelle de saucisson entre le pouce et l’index La politique aujourd’hui c’est exclusivement de la stratégie, dit l’ex-conjointe à poitrine charnue Pourquoi avez-vous dit qu’il faisait froid? dit la collègue une bonne poignée d’amuse-gueules à portée de main 44 Moi? dit l’amant du moment en chemisette Il voulait dire vous avez pensé à chapka non j’ai bien compris moi, dit l’ingénieur une mouche hystérique sur le mollet C’est ça oui, dit l’amant du moment, j’ai inverti Inter, dit le prof la bouche en cœur Je ne peux pas te laisser dire ça, dit le copain de lycée à la recherche du beurrier Tu es devenu tellement égoïste tellement prévisible, dit la sœur cigarette aux lèvres Entièrement d’accord, dit le copain le chapeau de la collègue sur l’occiput C’est lui qui a parlé de nostalgie gauchiste pas moi, dit le mari aux prises avec un bouchon récalcitrant J’ai pas dit nostalgie, dit le prof à bouc Je veux bien de la moutarde, dit la collègue index levé J’y vais, dit la nouvelle femme sourire peint façon madone La courtoisie j’y reviens excusez-moi garantit le respect d’autrui, dit l’ex-conjointe cheville souple Elle devrait réduire dans ce cas-là tous les risques de dérapage, dit la sœur visage coincé au zénith Intensifs ou non intensive or not intensive, dit le copain couteau à pain brandi De quels dérapages tu parles? dit le prof d’informatique en arrêt devant la salade de pâtes Ça va j’imagine du crêpage de cheveux à la distribution de pains, dit le copain un pain complet au-dessus de la corbeille De la chamaillerie exactement à la sauvagerie exactement, dit la sœur avec ses milliers de petites taches de son 45 Elle a un revers votre courtoisie libre de toute taxe par-dessus le marché, dit la nouvelle femme main droite présentant le pot de moutarde à l’ancienne Duty free, dit le copain le nez sur les petits boudins Quoi donc? dit l’ingénieur une saucisse au bout de sa fourchette Le dénigrement dans le dos, dit la nouvelle femme dans la fumée, c’est tout Tu veux dire quoi par là chérie? dit le mari dans la fumée Notre arrogance native et tout à fait humaine, dit la collègue dans la fumée Ça se gâte, dit l’amant du moment nez au vent Notre arrogance native nous pousse tous au dénigrement, dit la collègue orteils bien ouverts Ah pour ça au moins c’est démocratique, dit le mari dans la fumée On pourrait espérer une autre forme d’égalité des chances, dit la sœur dans l’air redevenu respirable A la portée de tous au moins c’est clair c’est la salière? dit le prof d’informatique prêt à touiller les haricots verts Jouissances fines à peu de frais et sans risques majeurs, dit la nouvelle femme menton en avant De quoi on parle là? dit l’ingénieur une assiette pleine posée sur le ventre Mon chapeau merci, dit la collègue joues remplies, de dénigrement et de médisance Vous voyez bien ce que produit votre courtoisie j’ai pas faim du tout merci, dit la sœur mains en pare-soleil Ce n’est pas faux en effet, dit la collègue Diplomatic light, dit le copain mèches en bataille Je veux bien ce petit, dit l’amant du moment, là c’est du cochon? 46 Mouton, dit la nouvelle femme face à l’amant du moment La lumière the light crée l’ombre the bloody shadow, dit le copain, les doigts gras Alors là c’est un principe de physique élémentaire, dit le mari, cuiller en pogne traquant les restes de taboulé dans le saladier Quoi ça? dit la collègue La lumière enfante l’ombre, dit le mari trois grains de semoule ornant sa lèvre, ben oui c’est con comme la lune Et la courtoisie enfante la traîtrise, dit la nouvelle femme sur ses talons hauts Ça alors on est d’accord alors, dit la sœur semelle posée sur une balle bicolore Tiens vous avez un chien? dit l’ingénieur jambes écartées L’un des objectifs les plus tordus de ta courtesy, dit le copain de collège, c’est ultra very very important important c’est juste ça endormir les soupçons de l’autre C’est agréable l’amabilité tout de même, crie l’ingénieur le plateau de fromages à sa disposition C’est pour ça que je parlais des sherpas des gens charmants, dit la collègue dents découvertes Mieux vaut être courtois que mufle c’est un fait, dit l’ex-conjointe narines palpitantes Courtois pour mieux soumettre, dit le copain nuque rase et rouge Des soupçons disais-tu mais de quoi? dit le prof d’informatique en quête d’un siège où poser ses fesses Alors là ce qu’on veut on a le choix tromperie fausseté malveillance, dit la nouvelle femme à la lisière de l’ombre et de la lumière Sauf si on a affaire à un candide un attardé un fossile qui n’a fréquenté jusque là que des basses-cours, dit le mari la paupière agitée d’un tic Ou des no man’s lands, dit l’ex-conjointe bras tendu vers la carafe 47 Encore que la volaille les dinde poule pintadon si on y regarde d’un peu près Je ne vois pas, dit la collègue sourcils arqués Qui a parlé de dinde? dit le prof d’informatique ventre gargouillant Pas moi, dit le camarade de collège déboutonné C’est quoi cette idée pourrie de fossile ou d’attardé? dit la sœur à cheval sur ses principes Quelqu’un d’un peu heu tu vois, dit l’ex-conjointe aisselles parfaitement épilées Quelqu’un qui n’aurait pas les neurones très affûtés par une vie sociale intensive ça te va? dit le mari à la merci d’une guêpe Un péquenot en somme, dit le prof d’informatique sur ses ergots Un pas comme vous en somme, dit le camarade de collège moutarde au nez Un pas comme nous un pas comme nous ça veut dire quoi, dit l’ex-conjointe à vif Elle n’a pas besoin d’être intensive ta vie sociale pour t’apercevoir qu’on se fout de ta gueule, dit le prof en plein dans le mille Quelqu’un se fout de ma gueule? dit le camarade sur ses grands chevaux Personne ne se fout de la gueule de personne allons allons, dit la collègue dans tous ses états Est-ce que j’ai dit qu’on se foutait de sa gueule? dit le prof écume aux lèvres Oui tu l’as dit, dit le vieux copain hors de ses gonds Tu l’as dit, dit le mari les pieds dans le plat Non, dit la femme pupilles dilatées Si, dit la sœur les joues en feu Non, dit le prof la bouche crispée Ah si, dit l’ingénieur les dents serrées 48 Ah non, dit la collègue le nez pincé Ah mais c’est, dit la sœur J’ai simplement dit, dit le prof Oh ça va ta gueule, dit le copain Restons courtois, dit quelqu’un S’il vous plaît oui, dit un autre Parfaitement, dit l’ingénieur Bon, dit le mari Passons ça vaudra mieux à la tarte aux fraises, dit la femme Elle a raison, dit le copain Tout à fait, dit l’ingénieur Oui, dit le prof Car des bonnes phrases valent mieux que des mauvaises fraises, dit l’amant tout à trac mais mal à propos C’est là que je me case que je m’installe, dit le silence lui très à propos Et moi je me replie, dit le paysage qui jusque là se foutait pas mal de ce qui se passait chez lui Des mauvaises fraises, crie la femme en fureur brandissant sa pelle à gâteau Non mais non mais, rugit le mari frénétique ramassant un silex Ah mais, crache le prof vexé à mort décrochant la broche à poulet C’est, éructe l’ex au bord de la crise de nerfs un tesson dans la paluche Je ne, stridule la sœur survoltée s’armant des pincettes au bout desquelles fume un tison 49 Ho, braille le camarade apoplectique s’emparant du pied de parasol Ah, éclate la collègue folle de rage empoignant la boîte de poivre moulu Bon dieu, explose l’ingénieur noir de colère attrapant une chaise Cinq fois mais, dit l’amant dans la mêlée Inconcevable, hurlent les uns A mort, hurlent les autres A mort oui, hurlent les uns Je ne veux pas voir ça, dit le paysage effondré à l’écart J’ai échoué, dit le silence ébranlé Crève crève, hurlent les humains Trois fois mais, gémit l’amant dans la mêlée Je vide les lieux, dit le paysage replié désolé C’est la chose à faire, dit le silence Deux fois mais, s’étiole l’amant Tu vas crever, s’épuisent les uns Tu vas crever, s’épuisent les autres Une fois mais, meurt l’amant Alors adieu, dit le paysage Adieu, dit le silence 50 Notice biobibliographique Noëlle Renaude compte aujourd’hui parmi les représentants les plus avancés et les plus importants d’une écriture dramatique expérimentale. Elle est née à Boulogne-sur-Seine en 1949. Après des études d’histoire de l’art et de langue et civilisation japonaises, elle commence, en 1978, à écrire pour le théâtre. Ses deux premières pièces, Rose, la nuit australienne et L’entre-deux, sont publiées en 1987 comme tapuscrits par Théâtre ouvert qui accompagnera l’entière carrière ultérieure de Noëlle Renaude en publiant ses textes et en réalisant des lectures et des mises en espace.1 A partir de 1988, ses pièces sont régulièrement montées par de jeunes metteurs en scène comme François Rancillac, Robert Cantarella, Florence Giorgetti, Frédéric Fisbach, Michel Cerda et surtout Frédéric Maragnani. Dans son œuvre variée, qui comporte aujourd’hui une vingtaine de pièces, une place à part est occupée par la pièce Ma Solange, comment t’écrire mon désastre, Alex Roux dont la composition s’est échelonnée sur quatre années.2 Réalisée sous la direction de Frédéric Maragnani, la première intégrale de ce texte fleuve, qui avait été écrit pour l’acteur Christophe Brault, a duré 24 heures sans interruption et a constitué une aventure particulière aussi bien pour les acteurs que pour les spectateurs.3 Ma Solange illustre ainsi le défi que le théâtre de Noëlle Renaude lance aux formes théâtrales traditionnelles. En recourant à une fragmentation extrême en de nombreux épisodes, en combinant les langages les plus divers et en effaçant les cloisons entre texte dramatique et narratif, Ma Solange renonce à toute possibilité d’incarner le texte dans un sens traditionnel et poursuit ainsi l’interrogation sur les limites du théâtre entreprise par Noëlle Renaude dès ses débuts.4 Malgré son caractère expérimental, l’œuvre de Noëlle Renaude est traduite en nombreuses langues. En Allemagne, plusieurs pièces ont été diffusées comme pièces radiophoniques: Rose, la nuit australienne (1987; Australische Nacht, 1989), A tous ceux qui! (2002; Auf alle die, 1998), Blanche Aurore Céleste (1992; Rosa Aurora Konstanze, 2003) et Madame Ka (1999; Madame Ka, 2004).5 Divertissements touristiques (1989; Reisefreuden, 2001) a été publiée en traduction dans le numéro 3 de l’anthologie Scène.6 Sur scène ont été jouées jusqu’à maintenant en Allemagne seulement Blanche Aurore Céleste à Sarrebruck en 1997 et au Stadttheater Cöpenick en 2004 et Madame Ka en 2002 dans le cadre de la Biennale de Bonn et, en 2007, au Nationaltheater Weimar.7 Par courtesy, le texte qui précède et qui est ici publié pour la première fois, s’intègre parfaitement aux recherches entreprises par Noëlle Renaude ces derniers temps. D’une part, il montre le jeu très divertissant avec le langage, de l’autre, par l’usage constant des formules comme ‘dit-il’, ‘fait-il’ etc., il transgresse la frontière qui sépare le genre dramatique du récit. En plus, Noëlle Renaude met à l’épreuve ici le rapport entre le temps de la représentation qui équivaut au temps qu’il faut pour ‘dire’ le texte et le temps représenté qui est celui, beaucoup plus long, du pique-nique évoqué.8 1 Aujourd’hui, toutes les pièces sont publiées par les Editions Théâtrales, Paris. Pour une bibliographie actuelle, cf. le site http: / / www.theatre-contemporain.net/ auteurs/ textes-autnoelle-renaude-26.html. 2 Le texte est publié en trois volumes en 1996, 1997, 1998, puis en un seul en 2004 par les Editions Théâtrales (Paris). 3 Cf. la documentation du projet sur le site http: / / www.theatre-contemporain.net/ spectacles/ masolange/ Default.htm 51 4 Cf. le dossier consacré à l’œuvre de Noëlle Renaude par la revue théâtrale Théâtre/ Public 4, 2006, 25-47. 5 La version radiophonique de Madame Ka est disponible comme CD (Saarländischer Rundfunk, 2004). 6 Barbara Engelhardt (ed.): Scène 3. Neue französische Theaterstücke, Frankfurt/ M., Verlag der Autoren, 2000. 7 Madame Ka, Rosa Aurora Konstanze et Der Fuchs des Nordens (Le renard du nord, 1989) se trouvent au programme du Verlag Autoren Agentur. 8 Je tiens à remercier Noëlle Renaude pour la permission de publier ici par courtesy. 52 Patrice Pavis Die Inszenierung zeitgenössischer Theaterstücke Gleich zu Beginn drängen sich zwei, wenn nicht drei Richtigstellungen des Titels auf. Es handelt sich eher um Inszenierungen als um eine bestimmte Art zu inszenieren. Es wäre besser, von Texten als von Stücken zu sprechen, denn oftmals ist der Ausgangspunkt der Aufführung weder ein Dialog noch eine dramatische Handlung, die von Figuren verkörpert wird. Und schließlich werden mit „zeitgenössisch“ Stücke bezeichnet, die in den letzten 20 oder 30 Jahren geschrieben wurden, ohne dass damit ein Urteil über ihren innovativen oder konventionellen Charakter verbunden wäre. Die Frage ist, ob es eine bestimmte Art der Inszenierung moderner Autoren gibt, ob man zwischen einer oder mehreren Methoden unterscheiden kann oder ob man mit den Worten einer Figur von Koltès sagen muss: „Il n’y a pas de règles; il n’y a que des moyens; il n’y a que des armes“. 1 Das sind Fragen, die nicht so rhetorisch sind, wie sie scheinen, denn es geht darum, zwei Dinge zu überprüfen: einerseits, ob eine neue Art des Schreibens nach einer neuen Methode der Inszenierung verlangt, und andererseits, ob umgekehrt die Experimente der Regie neue Arten des Schreibens hervorrufen. Man würde gern auf diese Fragen antworten (um es kurz zu machen und dem Zeitgeist zu entsprechen), dass es genauso viele Methoden der Inszenierung wie Arten des Schreibens gibt und dass somit keine Theorie dieser Vielfalt gerecht werden kann. Das aber hieße zu vergessen, dass die Geschichte der Inszenierung seit über 100 Jahren zahlreiche Spiel- und Aufführungstechniken verzeichnet hat und man diese nicht gänzlich außer Acht lassen kann, wenn man das zeitgenössische Repertoire auf die Bühne bringt. Obwohl man diese junge und glorreiche Vergangenheit nicht einfach vergessen und total mit ihr brechen kann, steht die Inszenierung zeitgenössischer Autoren dennoch spezifischen Problemen gegenüber. Es ist nicht leicht, in dieser Art von Inszenierung das Alte vom Neuen zu trennen, denn wenn man auch die Methoden der „klassischen“ Inszenierung der Jahrzehnte von 1950 bis 1980 ausreichend kennt, insbesondere jene der Klassiker, ist man im Gegenzug aus Mangel an Distanz von der Vielfältigkeit der heutigen Texte und ihrer szenischen Umsetzung entwaffnet. Wenn man also - zumindest für den Augenblick - auf jede Typologie des Schreibens wie des Inszenierens verzichten muss, steht es uns doch frei, einige Einzelfälle zu analysieren. Beschrieben werden sollen einige Verfahren der Umsetzung zeitgenössischer Texte, um geduldig das Puzzle der gegenwärtigen Produktion zusammenzusetzen, einige Möglichkeiten zu unterscheiden und langfristig ein Panorama und schließlich eine Typologie der szenischen Praxis zu entwerfen. Die Beispiele wurden eher aufgrund zufälliger Begegnungen, vorhandener Videoaufnahmen und persönlicher Vorlieben gewählt, als um einer globalen Theorie und 53 systematischen Sicht zu genügen. Sie beziehen sich auf (in den letzten drei Jahren) bereits veröffentlichte Texte, also „abgeschlossene“ Texte, die von keiner Schreib- oder Spielwerkstatt mehr verändert werden können und von ihrem Autor als „definitiv“ eingestuft worden sind, auch wenn sich dieser letzte Änderungen vorbehält. Ein dramatischer Text dieses Typs ist im Prinzip nicht veränderbar und nicht anpassbar; er bildet die solide Basis der Inszenierungsarbeit; er wartet nicht auf die szenische Realisierung, um zu existieren, sondern ist wie jedes literarische Werk lesbar. Wir sind nicht mehr wie in den 1960er und 1970er Jahren in der Situation eines Schreibens in progress, das in einem Workshop erarbeitet wird und sich nach Proben mit den Schauspielern noch verändern ließe. Es ist - zumindest in Frankreich - selten geworden, gemeinsam einen Text zu erarbeiten oder die Schauspieler am Entstehungsprozess zu beteiligen. Es ist ein Luxus, den wir aufgegeben haben, was ein junger Autor wie Emmanuel Darley bedauert: „L’idéal pour un auteur serait de pouvoir travailler avec des acteurs pendant le processus d’écriture. Mettre en danger ses mots grâce à la présence du corps et de la voix avant d’arriver à une version définitive du texte de théâtre“. 2 Das Einzige, worüber der Theaterregisseur derzeit verfügt, ist also - wie bei den Klassikern - der schriftliche Text, manchmal der noch lebende Autor, wenn er bereit ist, indiskrete Fragen zu beantworten, und im besten Falle Schauspieler, die geneigt sind, die unterschiedlichsten und widersprüchlichsten Interpretationshypothesen auszuprobieren. Trotz dieser unbegrenzten Freiheit bei der Lektüre zeitgenössischer Texte kann man generell eine gewisse Zurückhaltung bei der Wahl einer „Lösung“ feststellen, als ob der Theaterregisseur es nicht wagte oder nicht wünschte, sich an die Stelle des Autors zu setzen und einem Stück eine zu persönliche Sicht und Gestalt aufzuzwingen, einem Stück, das es zunächst einmal szenisch „zu veröffentlichen“ gilt, d.h. es bekannt zu machen, indem man es dem Publikum vorstellt. Das erklärt sicherlich, warum die Inszenierung zeitgenössischer Theaterstücke, selbst wenn sie von der äußerst spektakulären Arbeit mit den Klassikern in den 50er, 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts „gedopt“ ist, ein weniger ausgeprägtes Profil hat und die Exzesse und Effekte anscheinend ablehnt. Der Beginn der 80er Jahre markiert einen Wendepunkt: Die Krise, die mit den (visuellen und finanziellen) Exzessen der Bühne verbunden ist, führt zu einer gewissen Zähmung der Künstler und kommt dem Aufschwung der Dramenproduktion zugute, die vom System der Subventionen und Stipendien und der Notwendigkeit, leichte und kostengünstige Produktionen zu machen, befördert wird. Von der Krise in der Theaterproduktion profitiert der Autor: „Au début des années quatre-vingt, l’auteur français est un être livré à lui-même, défendant sa langue propre et son imaginaire singulier lors même que, tel Koltès, il s’affronte aux bouleversements du monde contemporain“. 3 Patrice Chéreaus Inszenierungen der Stücke von Koltès seit 1982 und dessen vorzeitiger Tod 1989 kennzeichnen den Übergang vom „Goldenen Zeitalter“ der aufwändigen Inszenierung zu einem neuen Schreiben. Beispielhaft zeigt das ein Stück wie Bernard-Marie Koltès’ Combat de nègre et de chiens, das Chéreau 1983 inszenierte und das Dimiter Gotscheff 2004 an der Berliner Volksbühne wieder auf- 54 nahm. Die anderen Beispiele unseres Korpus, Inszenierungen von Stücken von Marie NDiaye, Catherine Anne, Noëlle Renaude und Eugène Durif aus den Jahren 2002 bis 2005, bestätigen diese Erschütterungen der Welt und die Schwierigkeiten einer wirklich zeitgenössischen Inszenierung. Combat de nègre et de chiens Gotscheffs Inszenierung von Combat de nègre et de chiens 4 widerspricht Punkt für Punkt der Chéreaus, und vor allem scheint sie sich polemisch zu Koltès’ Thesen zu verhalten. Chéreau hatte im Théâtre des Amandiers in Nanterre eine afrikanische Atmosphäre geschaffen: Hitze, Nebel, Geräusche, Kostüme, europäische und afrikanische Schauspieler. Bei seiner ersten Inszenierung stigmatisierte das Stück in manichäischer Weise den Rassismus der Weißen. Alboury, Bruder des Opfers, war eine schwarze Antigone; der forderte den Leichnam seines Bruders zurück und tötete Cal, den weißen Mörder. Bei Gotscheff versucht Horn, der weiße Ingenieur, gegen Ende des Stücks ein letztes Manöver, um Albourys Schweigen zu erkaufen. Dieser, der von einem weißen Schauspieler dargestellt wird, der plump als Schwarzer verkleidet ist, macht sich einen Spaß daraus, den Stereotypen zu entsprechen, die die weißen Rassisten von ihm erwarten. Er verkleidet sich wie für eine Farce, um Horn besser täuschen zu können, dessen erbärmliche Niedertracht und Hinterlist zu entlarven. Wie die Figur eines Ausgestoßenen bei Genet liefert er ein bewusst negatives Bild des Schwarzen und projiziert alle Erwartungen, Ängste und Aggressionen der Weißen auf ihn. Er konstruiert seine Figur eines groben, schmutzigen, unerziehbaren Wilden. Um die Funktionsweise des Rassismus und der Macht aufzuzeigen, führt er die Konstruktion einer künstlichen Identität vor. Weit entfernt von Koltès’ Essentialismus, von seiner „schwarz-weißen“ Sicht rassistischer Konflikte. Gotscheff unterstellt so, dass jeder einzelne von uns ein potentieller Rassist ist und die rassische Identität nur eine Konstruktion ist, die sich dem Blick des anderen verdankt. Daher rührt die Umkehrung aller Stereotype: Der Schwarze riecht angeekelt den Weißen, der sich mit einem Blätterrock ausstaffiert hat etc. Gotscheff (der in den 80er Jahren dasselbe Stück im Stil des Chéreauschen Realismus inszeniert hatte) kehrt so die zeitgenössische Tragödie der Vorurteile in eine spöttische Maskerade um, indem er suggeriert, dass jede Identitätskonstruktion sowohl konals auch dekonstruiert werden kann. Auch er verurteilt zweifellos den Rassismus und die Feigheit der Weißen, aber er tut dies, indem er mit den Identitäten spielt und den Schauspielern die Möglichkeit lässt, ihre eigene rassische Identität zu erschaffen oder zu zerstören. Die Auffassungen von einer festen Identität, von Authentizität und Präsenz werden in einem unendlichen Spiel der Dekonstruktionen und Differenzen lächerlich gemacht. So gesehen, stellt Gotscheffs Inszenierung die Formulierung des Konfliktes in Frage. Der Rassismus präsentiert sich nicht als Konflikt der Ideologien, als eine unversöhnliche Vision der Welt, sondern wie ein Konstruktionsspiel. Alboury ist nur 55 eine leere Konstruktion, eine Projektion des Hasses und der Ängste der Rassisten. Diese Konstruktion - gewollt überzogen und parodistisch - erlaubt zu verurteilen, wie der Rassist das, was er nicht erträgt, auf den anderen projiziert und ihm als Makel anlastet. Indem er die humanistischen und liberalen Schemata lächerlich macht, wählt Gotscheff ein gänzlich anderes Fiktionsniveau und stützt sich auf Spielkonventionen, die eher denen der Music Hall oder der Stand up comedy ähneln. Afrika ist eine leere weiße Fläche, auf die vom Schnürboden herab unablässig Konfetti herabrieselt. Alboury ist ein weißer Spielführer, der sich mit dem Mikrophon direkt an das Publikum wendet, sich vor ihm schminkt, es mit einbezieht, die Aufführung mit rassistischen Scherzen über die Neger und die Bulgaren beendet. Gotscheff führt auf seine Art den Brecht des Mann ist Mann wieder ein: Das Thema wird vor uns konstruiert, das Theater ist ein Mittel, mit einem kritischem Abstand die Konstruktion „natürlicher“ Identitäten zu zeigen. Die Inszenierung hat sich also nicht damit begnügt, das Stück dem aktuellen Geschmack anzupassen. Sie hat den Aussagemodus vollkommen verändert, den Text um zwei Drittel gekürzt und vor allem das ursprüngliche ideologische Programm in Frage gestellt. Das Stück behandelt nicht mehr das Thema der neo-kolonialen Ausbeutung, sondern das der Identitätskonstruktion. Die Aufführung berücksichtigt die Veränderung des Klimas, die „weiche“ Zunahme der Globalisierung. Hinter einem provokanten und spielerischen Äußeren aktualisiert sie das Stück, passt es der neuen Situation an, macht sich lustig über die realistische und moralisierende Behandlung des Rassismus, über die Normen der „political correctness“, einschließlich der Vorstellung auf einer öffentlichen Bühne. Ihre Provokation ist eine Persiflage, sowohl des Stücks als auch der 80er und 90er Jahre und der Art und Weise, in der Länder wie Deutschland und die anglo-amerikanische Welt, in denen die „political correctness“ besonders herrscht, mit Rassismus umgehen. Sie kündigt einen Gegenangriff auf den kleinbürgerlichen und apolitischen Moralismus an, auf das Denken, das zu korrekt ist, um ehrlich zu sein. Papa doit manger Gotscheffs Antwort ist eine Reaktualisierung eines schon älteren Stückes und entspricht erstaunlicherweise der Uraufführung des letzten Stückes von Marie NDiaye, Papa doit manger, 5 die André Engel 2003 an der Comédie-Française herausgebracht hat. Da es in diesem Stück ebenfalls um Rassismus geht, ist seine vergleichende Lektüre äußerst aufschlussreich. Wie behandeln dieses Stück und seine Inszenierung dieselbe Frage und bieten beide ähnliche, aber doch unterschiedliche szenische Lösungen in einem genauso heiklen ideologischen Kontext an? Die Autorin Marie NDiaye ist väterlicherseits afrikanischer Herkunft, sie ist jedoch in Frankreich geboren und hat immer dort gelebt. Sie ist also keinesfalls eine afrikanische Schriftstellerin oder der Frankophonie zuzuordnen. Ihr Stück erzählt die Geschichte von Papa, einem Schwarzen, der nach zehn Jahren Abwesenheit 56 zu seiner weißen Frau zurückkehrt. Man begreift schnell, dass er nur zurückgekehrt ist, um ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen. Alles erscheint ihm legitim, da er „essen muss“. Man entdeckt, dass er bereit ist zu stehlen, zu verraten, zu lügen, das Kind zu verlassen, das er mit einer anderen Frau bekommen hat, seiner Tochter auf der Tasche zu liegen und ein zweites Mal zu seiner ehemaligen Frau zurückzukehren. Die Figur ist eindeutig unsympathisch, aber sie ist auch immer wieder das Opfer des gewöhnlichen Rassismus ihrer Schwiegerfamilie gewesen. Maman hat bis zum Schluss „eine unerklärliche Liebe“ (95) für ihn empfunden. Wird sie ihn wieder aufnehmen? Papa doit manger hat nichts von einem Thesenstück. Es gibt weder Antworten noch Rezepte, es zwingt den Regisseur, Stellung zu beziehen zum Verhalten der Hauptfigur und damit zugleich zur Fabel. Ist dies nicht die Mission der Inszenierung oder zumindest eine ihrer Missionen seit ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts, nämlich dem Publikum eine verworrene oder delikate Geschichte verständlich zu machen, ihm den ideologischen und psychologischen Gehalt zu vermitteln, gegenüber Realität und Fiktion einen Standpunkt einzunehmen? Im Laufe der letzten 20 Jahre hat man ein wenig vergessen, dass die Inszenierung auch ein Instrument sein kann, um eine Schwierigkeit zu signalisieren, herauszuarbeiten, zu beurteilen oder eine Lösung anzudeuten. Die Arbeit der Darsteller besteht ihrerseits darin, unser Urteil über die Handlung und die Figuren zu beeinflussen. Bakary Sangaré, ein aus Mali gebürtiger Schauspieler und der erste afrikanische Pensionär der Comédie-Française erschafft zunächst eine in ihrer Redseligkeit und Naivität sympathische und dann wirklich verabscheuungswürdige Figur. Der Text und die Aufführung versetzen den Zuschauer in Zelners Lage, Mamans Freund, der die Karikatur eines Professors, aber maßvoll und anständig ist. Er bietet uns einen Blick auf die Handlung, mit dem wir uns identifizieren können und der unser Verhältnis zum anderen, zum Fremden, zum Schwarzen thematisiert: La couleur de sa peau m’a abusé. Je croyais n’avoir pas le droit de le haïr. Toute haine à son encontre est politiquement condamnable. […] Il s’est mal comporté, soit. Mais un Noir, me disais-je, n’est pas responsable de ses actes car un Noir est avant tout et essentiellement une victime. Il n’y a pas de Noir, me disais-je, qui soit coupable sur notre sol. […] Tout est de notre faute, pensé-je. […] Et si j’osais, je lui balancerais mon poing dans la figure. […] Mais peut-on frapper un Noir? Je n’en suis pas encore sûr. (65-67) Könnte die Schriftstellerin Marie NDiaye ihre Figur diese Worte sagen lassen, könnte sie sie moralisch verurteilen, wenn sie nicht selbst schwarz wäre? Selbst das ist „pas encore sûr“! Und es hängt natürlich auch von den Kontexten ab. Außerdem: muss man die Hautfarbe des Autors oder des Regisseurs oder des Schauspielers kennen, um zu wissen, ob seine Kritik einer unsympathischen, aber schwarzen Figur erlaubt ist oder nicht? Sobald das Publikum weiß, dass der Autor ein Schwarzer ist, und wenn es nicht vermutet, dass die Autorin dem Selbsthass 57 verfallen ist und einem anti-schwarzen Rassismus anhängt, wird es sich veranlasst sehen, das Verhalten von Papa objektiv und demzufolge auch streng zu beurteilen. André Engel scheint in diese Richtung zu gehen, und so scheint der Sinn seiner Inszenierung dem Text zu entsprechen. Aber in letzter Instanz hat das Publikum zu entscheiden. Und wenn man Engels Notizen zur Inszenierung im Programmheft liest, fällt ein gewisser Gegensatz zu dem auf, was man im Spiel sieht. Engel fühlt sich gezwungen - oder ist es tatsächlich? -, die Figur des Papa zu rechtfertigen, was nicht dem Text entspricht. Zelner, schreibt er, sei von Papas Hautfarbe besessen. Aber wenn Zelner diese Hautfarbe so beschäftigt, dann (unserer Meinung nach) nicht auf rassistische Weise. Oder ist die Abwesenheit von Kritik eines moralisch zu verurteilenden Verhaltens aus Angst, als rassistisch zu gelten, nicht auch eine Form von Rassismus, eine Feigheit aus Angst, nicht „politisch korrekt“ zu handeln? Eben darin liegt vielleicht die „indirekte Botschaft“ des Stücks, sicherlich seine wichtigste. Dennoch ergreift Engel im Programm Papas Verteidigung, der „abandonné par sa femme et renié par sa fille“, weil „trop lourd, encombrant et inutile“ sei (3). Als guter Brechtianer hinterfragt er den möglichen politischen Sinn der Fabel: Er sieht in diesem Verlassen eine Metapher für jene Einstellung, die „certains d’entre nous ont été amenés à entretenir avec ce qu’ils appelaient ‘le jeune continent africain’“. Dies scheint jedoch eher Engels persönliche Ansicht als eine Wahrheit des Textes zu sein. Es ist auch ein Zugeständnis an die Theaterinstitution, die befürchtet, des Rassismus bezichtigt zu werden, wenn sie einen Schwarzen verurteilt, obwohl sie sich über allen Zweifel erhaben glaubt, weil sie doch gerade einen Afrikaner eingestellt hat. Vergleicht man es mit Gotscheffs Blick auf dasselbe Thema, muss man den „retard“ oder die „prudence“ der französischen Künstler konstatieren. Es stimmt, dass das Stück von Koltès nicht mehr taufrisch ist, dass die Diskussion um die Identität, besonders außerhalb Frankreichs, große Fortschritte gemacht hat und dass man sich von der romantischen Haltung eines Chéreau oder eines Koltès zum ‘jungen afrikanischen Kontinent’ entfernt hat. Der destruktiven Parodie eines Gotscheff steht die eher subtile und doppeldeutige Ironie Engels gegenüber. Wenn die Inszenierung, wie die Ironie, die Kunst ist zu sagen, ohne zu sagen, sind wir mit NDiaye und Engel mitten auf dem Feld der Ironie, Rationalität und Kritik. Die Diskussion ist eröffnet, obwohl die Verneinung, die jeder künstlerischen Schöpfung eigen ist, es erlaubt, nicht zu entscheiden und dem Leser und Zuschauer selbst das Urteil zu überlassen. Le Bonheur du vent Dieses von Catherine Anne geschriebene und im Théâtre de l’Est Parisien von ihr im Jahr 2003 inszenierte Stück erlaubt uns zu untersuchen, wie der Text umgesetzt wird, wenn die Regisseurin theoretisch all seine Geheimnisse kennt. Wirkt sich die Geste der Autorin direkt auf die der Regisseurin und ihrer Schauspieler aus? Ist der gute Regisseur jener, der die Geheimnisse der Herstellung kennt? 58 Frei inspiriert vom Leben der Calamity Jane, erzählt Le Bonheur du vent 6 die Geschichte von Jane. Diese musste ihr Baby einem reichen Paar, Helen und Jim, überlassen. Die drei Akte drehen sich um die drei Frauen: die Mutter, die Adoptivmutter und die Tochter. Das Kind wechselt von einer Frau zur anderen, ohne nach dem Tod der Adoptivmutter zur leiblichen Mutter zurückkehren zu können. Als sie hinter das Geheimnis ihrer Geburt kommt, ist ihre leibliche Mutter, Jane, bereits auf die andere Seite hinübergewechselt, die des Alters und des Todes. Wenn eine solche Geschichte so tief in uns nachhallt, so weil sie allgemeinmenschliche Fragen berührt: Mutterschaft, Bindung an das Kind, Trennungsschmerz, Tod der Mutter. Diese elementaren Emotionen werden durch den Text wie durch die Bühne in einer emotionalen Falle und mit einer maximalen Spannung hervorgerufen. Die unterschiedlichen Szenen scheinen deutlich durch die dramatische Konstruktion vorbereitet zu sein: die Begegnung, das fast Wiedererkennen, der Moment, in dem Mutter und Tochter - als die Wahrheit bekannt ist - „peut-être se parlent, malgré les milliers de kilomètres qui les séparent“ (87), wo der Tod der einen mit dem Beginn des Lebens der anderen zusammenfällt. Der Leichtigkeit der Schreibweise - meistens kurze freie Verse, die einem wie ein Luftholen vorkommen - entspricht die Leichtigkeit der szenischen Einschreibung: schnelle, verstohlene Bewegungen, Szenen, die blitzartig beginnen und genauso vergehen, eine minimale Charakterisierung, ein Vorhang, der auslöscht, was gerade gezeigt wurde. Schreiben und Spiel stimmen in der Schnelligkeit und Einfachheit des Strichs überein: kein peinlich genau rekonstruierter Wilder Westen, kein bürgerliches Interieur, keine Kutsche, die von Jane überfallen würde, keine Fabel, die in wieder erkennbarer Weise in Zeit oder Raum eingeschrieben wäre. Wenige Worte bilden die Kulisse, ein Vorhang, der sich plötzlich schließt, erschafft den Ort, der sofort verschwindet, sobald sich der Vorhang bewegt. Einige Repliken, ein Kostümelement oder ein Geräusch vom Band, und schon erscheint die ganze Außenwelt und gibt den Wörtern ihren Sinn. „Sur scène, dans le plus grand dépouillement, nous cherchons à donner les traces extérieures des mondes intérieurs“, 7 sagt Catherine Anne. Auf der leeren Bühne, die nur manchmal durch den Vorhang begrenzt wird, schaffen die dichten und rätselhaften Worte unmerklich eine Epoche, eine Situation, einen Ort, einen Moment des Lebens. Daher an manchen Textstellen der Effekt der Fokalisierung, der Nahaufnahme, des Zooms. „Einstellungen“ unterschiedlicher Länge folgen wie in einer Filmmontage aufeinander und verleihen der Aufführung einen Rhythmus. Das Spiel hebt diese Nahaufnahmen auf einen Ausdruck, eine Geste, eine Beziehung zum anderen hervor. Assonanzen, Wiederholungen, lapidare Formulierungen, Verkürzungen im Ausdruck, Maximen, die das Stück resümieren („je préfère le bonheur du vent au confort des maisons“, 29), das alles schafft ein Phänomen des Gleichmaßes, der Abstraktion, „stellt“ den Text förmlich auf die Bühne, stabilisiert ihn, erspart ihm eine schwerfällige Illustrierung. Auf der riesigen Bühne des TEP, auf der zu bespielenden und beschreibenden Oberfläche, ist die Skizze sowohl visuell als auch diskursiv. Die Schreibweise för- 59 dert die Schnelligkeit der Skizze und des Strichs, die Momente des Bruchs und des Schweigens, die Momente, in denen das Echo der Worte hörbar wird. Ein Beispiel unter vielen: JANE: Pas besoin d’argent L’argent toujours achète Je me débrouille Gardez votre fric Jim merci pour la visite Dehors Sortez tous J’ai besoin d’être seule. (30). Das Fehlen von Interpunktion verhindert die Pausen nicht, sondern erleichtert sie stattdessen und macht sie unverzichtbar. Keine syntaktische Doppeldeutigkeit, nur das Bewusstsein für die Einheiten der Atmung, die auch das Denken strukturieren. Die Typographie des Stücks entspricht der Atmung, sie hilft dem Schauspieler, die Phrasierung und später die Gestik zu finden. Das Spiel von Marie-Armelle Deguy gibt diese verschobene Phrasierung körperlich wieder, diese Struktur sowohl der Atmung als auch der Emotion und Semantik. Die leicht erkennbare, aber auch genauso leicht durch die Stimme und den Körper veränderbare rhythmische Struktur wird zur Basis der Interpretation und auch, durch Addition, der Inszenierung in ihrer Gesamtheit. Diese Inszenierung geht nicht von einem vorgegebenen Schema oder Bild aus, das die Regisseurin von außen herantragen würde. Sie baut sich Einheit für Einheit durch die Abfolge und Addition der Wortwechsel auf, wie eine Lesung, die von vornherein versucht, sich auf Haltungen und Bewegungen der Schauspielerin ebenso wie auf ihre Betonung und Intonation zu stützen. Da die Autorin auch Regisseurin und ausgebildete Schauspielerin ist, entstehen die rhythmische Strukturierung und schließlich die Einrichtung der Sequenzen (le blocking) quasi gleichzeitig. Man kann davon ausgehen, dass die Regisseurin Catherine Anne nicht nach dem Sinn ihres Textes zu suchen braucht und auf natürliche Weise wieder zu seiner rhythmischen Basis, seinem Tempo, seiner Phrasierung und Intonation findet, kurz, zu dem ganzen psycho-motorischen Apparat, von dem jede szenische Interpretation ihren Ausgang nehmen muss. Die Rhythmisierung gibt dem Text seinen Sinn. A fortiori in einem Werk, in dem die Stille eine so große Rolle spielt. So wird es uns, mit den Worten Michel Corvins, möglich, „de voir le silence charnel de la mise en scène influer, par rebond, sur l’écriture“. 8 Zweifellos bestätigt, aber modifiziert die Inszenierung auch das, was der Text anbietet. Das Eine bereichert das Andere ohne inhaltliches oder zeitliches Primat. Der Körper der Autorin besteht weiter im Körper der Regisseurin und schließlich in dem ihrer Interpretin (die Schauspielerin wie die Zuschauerin). Es bleibt für jene, die später kommen werden, die Möglichkeit, anders zu lesen und den Prozess der Interpretation wieder neu in Gang zu bringen. Ein Regisseur „von außen“ wird dann das wieder in Bewegung setzen, was zu erstarren, sich im Text festzusetzen und ein wenig zu selbstsicher zu werden droht. 60 A tous ceux qui... Unabhängig davon, ob die Inszenierung vom Autor oder einer anderen Person gemacht wird, kommt es darauf an, auf den diskursiven und rhetorischen Bau des Textes zu achten. Der Regisseur kann nicht umhin, den Text zu lesen und dabei seine Interpunktion und seinen Rhythmus zu analysieren, seine sprachliche und diskursive Spur herauszuarbeiten. Diese Aufmerksamkeit für den Text scheint wichtiger als der Beitrag an Bildern und Impulsen von außen zu sein, zumindest für die Inszenierung von Texten der Gegenwart. Als zusätzlicher Beleg möge die Inszenierung des Stücks von Noëlle Renaude, A tous ceux qui…, 9 dienen, das 2005 auf dem Festival von Avignon von Claude Maurice und Joël Collot vorgestellt wurde. Die Regisseure des Ensembles Art Mixte, die auch die beiden einzigen Darsteller der ungefähr 30 Rollen sind, hatten den guten Einfall, die Reden - jedes Mal unterstrichen durch einen Toast - bei einem Bankett oder Familienfest um einen Tisch herum zu situieren. Die Gäste scheinen einander manchmal zu antworten, und der Ort wie die Zeit des Geschehens treten dadurch noch besser hervor. Diese Entscheidung der Inszenierung folgt der Empfehlung von Noëlle Renaude, sich so nah wie möglich an den Text zu halten: „Il faut prendre la parole pour s’emparer du plateau. Aimer le suspens qu’offre la ponctuation. Avoir le goût du croisement, de l’hésitation, de l’effraction, du risque que prend la langue à nous raconter des histoires! A qui sait regarder, tout est là indiqué. Et le personnage, s’il existe, finira toujours par arriver“. Diese Empfehlung ist im Grunde jene eines Copeau, der den Atem oder die Stille des Autors wieder zu finden sucht, eines Jouvet auf der Suche nach dem „sentiment“ oder dem Atemproblem Molières, eines Vitez, der die „voix de son maître“ wiederherstellt. Diese Weisungen sind nützlich, um in das lexikalische und rhythmische Universum eines Autors einzudringen, statt sich auf den Protagonisten zu stürzen und ihn zum Dreh- und Angelpunkt der Erzählung zu machen. Sicher sind die Schauspieler immer begierig, ihre Figur zu finden, ihr einen Körper und eine Stimme zu geben, aber wenn sie sich etwas gedulden, wenn es ihrem Regisseur gelingt, sie zurückzuhalten, ihren Elan zu bremsen, wenn sie auf die Spannung, die Stille, die Rhythmuswechsel hören, werden sie eine globalere Vision vom Bau des Stücks erhalten und umso leichter die Gesamtkonstruktion erkennbar werden lassen, aus der ihre Figur mit mehr Sicherheit hervorgehen wird. Die Schreibweise des Stücks gehorcht dem doppelten Prinzip, das Noëlle Renaude beschreibt: eine sehr strenge Gesamtstruktur, sehr starke mimetische Effekte bei den Figuren. Die dem Alter der Figuren nach ansteigende Progression der Monologe erleichtert den Vergleich zwischen den je nach Alter, Geschlecht und sozialer Herkunft der Sprecher unterschiedlichen Standpunkten. Dank der Beschreibungen desselben Ereignisses durch verschiedene Stimmen lernt man ein ziemlich homogenes Figurenensemble kennen. Ein Netz aus Anspielungen, Sprachfehlern, sprachlichen Eigenarten jener Epoche, Ähnlichkeiten wird nach und 61 nach gesponnen. Aber diese farbige Portraitgalerie ermuntert die Schauspieler eher, die Unterschiede herauszuheben, sei es auch nur, um sich in der Kunst der Verwandlung und Nachahmung hervorzutun, einer Kunst, in der Maurice und Collot brillieren. Die Figureneffekte sind das, was bei der ersten Lektüre wie auch bei dieser szenischen Umsetzung zunächst den stärksten Eindruck macht. Noëlle Renaude ist es gelungen, die Eigenarten der Umgangssprache jener Zeit zu treffen. Ihr Schreiben ist dennoch nicht naturalistisch und unmittelbare Niederschrift des Gehörten, denn die Berichte wurden nicht einfach aus der Perspektive und mit der sprachlichen Kompetenz der Figur niedergeschrieben, sie zielen nicht auf sprachliche Glaubwürdigkeit und lexikalische Richtigkeit der Formulierungen. Wenn etwa Baba (4 Jahre) von seiner „sœur Lili morte il y a cinq ans en plein chaos historique“ (13) erzählt, spricht nicht nur er, sondern auch eine unsichtbare Erzählerin, die ihm seinen Monolog diktiert. Sein Zeugnis ist nicht historisch oder authentisch, es versucht keineswegs, über seinen eigentlichen Ursprung zu täuschen. Die Autorin ist auf allen Ebenen erkennbar: lexikalisch, syntaktisch, diskursiv, aber sie ist diskret genug, um den Sprecher lebensecht erscheinen zu lassen. Ihre Rhetorik dient ihr dazu, sich in die Rede des Anderen zu schleichen, um sie von innen zu bearbeiten, sie zu vervollständigen, ihr ironisch zu widersprechen, sie mit den anderen Aussagen zu verknüpfen. Die Arbeit von Maurice und Collot besteht darin, Ton und Stimme für ihre Geschöpfe zu finden, ohne deswegen die Formen und Verfahren des Textes zu vernachlässigen. Ihre Bewegungen sind minimal und immer überzeugend. Die rhythmische Umsetzung des Textes im Spiel ist kohärent genug, um eine gewisse Dynamik zwischen der einen und der anderen Rolle erkennen zu lassen. Den Geist einer Epoche wieder finden zu wollen zwingt die Schauspieler, eine Sprachfärbung, eine Körperhaltung, eine umgangssprachliche Aussprache anzunehmen, die ihre eigenen Charakteristika transzendieren und eine ganzheitliche Lektüre erleichtern. Bei jedem Versuch erfinden sie einen Körper jener Epoche: eine Art sich zu bewegen, sich zusammenzukauern, sich vor dem Blick der anderen zu verstecken, sich aufzuregen, was letztendlich zu einer lebendigen Dokumentation jener verschwundenen Epoche führt, die in der Erinnerung jener lebt, die gleich nach dem Krieg geboren wurden. Indem sie den Habitus 10 ihres Körpers suchen, seine „sozialisierte Subjektivität“, 11 finden sie intuitiv diese Bewegung, diese Körpersprache einer vergangenen Epoche, werden sie zu ihrer fleischgewordenen Enzyklopädie. Wenn das Spiel der Schauspieler darin besteht, glaubwürdige Zeichen für ihre Figuren zu finden, stellt die Inszenierung das Puzzle ihrer Worte wieder her und sichert dabei die Einheit der Gestik und des Verhaltens. Claude Maurice und Joël Collo halten die Schreibweise von Noëlle Renaude wie ihre eigene Schöpfung in einem prekären Gleichgewicht zwischen einer eher abstrakten Gesamtkomposition und einer Überfülle realistischer Notationen. Ein prekäres Gleichgewicht, denn wenn die Komposition zu starr ist, wird das Spiel formalistisch und droht, jeglichen 62 Reiz zu verlieren; wenn hingegen die Einfälle des Spiels zu mimetisch und sklavisch imitativ sind, entsteht kein Gesamteindruck mehr und wird der Zeitgeist nicht mehr spürbar. Geleitet von den Empfehlungen Renaudes, finden sie ein unerwartetes Gleichgewicht und ihre Arbeit hält alle Versprechen des Textes. Der Schlüssel einer „gelungenen“ Inszenierung der Texte von Noëlle Renaude liegt anscheinend in der Kunst, für die Gestik und die Inszenierung ein ausreichend einfaches, kohärentes und abstraktes Vokabular zu finden, das es dem Zuschauer erlaubt, sich zu orientieren, wie komplex auch immer der Text und wie zahlreich auch immer die Rollen sein mögen. Überzeugend hat dies Jean-Paul Dias unter der Regie von Frédéric Maragnani in dem Stück Quarante églogues, natures mortes et motifs 12 vorgeführt. Dias hat, um die verschiedenen Rollen zu interpretieren, ein eher abstraktes System von Gesten gefunden, in der Art von Etienne Decroux’ Pantomime. Nicht nur aufgrund der Latzhose mit den langen weißen Webkanten, die die Kontur des Körpers und der Haltungen betonen, wie in dem im Film festgehaltenen Mimodrama L’usine, sondern insbesondere wegen der Beherrschung der sehr sparsamen Haltungen und Gesten. Wie bei Decroux geht jede Sequenz von einem zentrierten und im Gleichgewicht befindlichen Körper aus und kehrt zu ihm zurück, materialisiert durch einen Punkt auf dem Boden und ein imaginäres Zentrum im Körper. Erfreulicherweise vermeidet Jean-Paul Dias bei der Rhythmik den von Emile Jaques-Dalcroze begangenen Fehler: die vollkommene Übereinstimmung von Geräuschen und Gesten. Hier, c’est mon anniversaire In den ersten Minuten der Inszenierung von Hier, c’est mon anniversaire von Eugène Durif stellt sich das Problem des prekären Gleichgewichts zwischen der Stärke des mimetischen Spiels und dem globalen Sinn der Komposition erneut. Jimmy erzählt, wie er die „Experten“ einfach stehen ließ. Von dieser Exposition an vermischt Durif in seinem Schreiben Elemente der sozialpsychologischen Realität und philosophische Betrachtungen. Jimmy legt gleich zu Beginn seine persönliche Überzeugung dar. Seine Auffassung der Zeit ist reversibel: „Hier, c’est mon anniversaire“ (5). Seine Fragen sind epistemologisch: „c’est quoi imaginer? “. Seine Verunsicherungen metaphysisch: „Quand sous nos pieds il n’y a rien, à quoi ça peut servir un chemin? “. Die Inszenierung von Olivier Couder und Patricia Zehme hat Mühe, im Spiel diese zwei Darstellungsarten zu unterscheiden: die abstrakte Struktur und die Nachahmung des Konkreten. Sie neigt dazu, die philosophische Fragestellung auf die Psychologie zurückzuführen, ja eine Geisteskrankheit: Jimmy mit dem gedrungenen Körper eines Autisten spricht eher wie ein Zurückgebliebener als ein von Philosophie begeisterter Erleuchteter. Die erste Szene wird auf zwei Arten gespielt, aber mit einem zu scharfen Schnitt nach „Le car s’est arrêté…“: Jetzt wird der Ton konkret, die Figur bekommt eine psychologische, anekdotische Dimension. 63 Dabei bearbeitet Eugène Durif, wie Renaude oder Minyana, seine Charaktere nicht nur mit realistischer und mimetischer Feder, sondern auch und vor allem mit den Mitteln der auktorialen Sprache, die die „persönlichen“ Worte der Charaktere durchdringt. Dieses Verschlungensein realistischer Notationen und philosophischer oder poetischer Äußerungen (in der Form des chinesischen Koan bei Durif) hat etwas Überraschendes. Doch es ist nur die Konsequenz des neuen Status, den die Sprache seit ungefähr dreißig Jahren im Theater innehat. Jean-Marc Lantéri beschreibt es treffend: „La langue de l’auteur dramatique n’est plus instrument des passions ou vecteurs d’un théâtre critique mais se constitue en une sphère autonome, tel le langage est apparu comme une entité absolue aux yeux de la linguistique structurale ou de la psychanalyse lacanienne“. 13 Die Theaterpraxis kann dieser Autonomie der Sprache nur schwer gerecht werden. Diese Inszenierung insistiert auf der realistischen Erzählung und weiß nicht recht, was sie mit der philosophischen Anspielung machen soll. Einmal mehr verdrängt die Mimesis der Rolle die Poesie und Komplexität des Textes, lässt zu wenig Stille zur Entfaltung der Reflexion, vertraut nicht genügend der Form des Geschriebenen. All diese Beispiele zeigen sehr gut die Schwierigkeit der Inszenierung, die Struktur in ihrer Gesamtheit deutlich zu machen und dabei genügend „Körper“, Materie und Realitätseffekte zu bieten. Die Schwierigkeit, ein Gleichgewicht oder einen Kompromiss zwischen abstrakter Struktur und konkreter Figur, Textualität und Mimesis zu finden. Die Originalität dieser Inszenierung (und jene des Théâtre du Cristal von Olivier Coudert und Patricia Zehme) besteht darin, ausschließlich behinderte Schauspieler einzusetzen, die fast alle in einer psychiatrischen Anstalt gewesen sind und durch spezialisierte Einrichtungen betreut werden. Ihre Behinderungen sind mehr oder weniger sichtbar: Einige werden vom Publikum erkannt, andere weniger, zumindest im Rahmen der Aufführung. Das relativiert die Auffassung von normal und pathologisch und zeigt dem Publikum, dass seine Definition von Wahnsinn und Normalität zum Teil auch kulturell kodiert ist. Für den Regisseur spielt sich alles auf einem schmalen Grad ab. Einerseits bedroht die Schwere der Behinderungen die Theateraufführung, die auf Präzision und der Wiederholbarkeit einer Reihe früherer ästhetischer Entscheidungen basiert. Andererseits kann man diese Schauspieler nicht nach den geltenden ästhetischen Normen spielen lassen oder ihnen eine Dressur und Imitation aufzwingen, die ihrer wahren Natur nicht entsprechen. Diese delikate Situation ist im übrigen typisch für jede Inszenierung: Diese muss in der Lage sein, ihre ästhetischen Entscheidungen und Effekte zu reproduzieren und gleichzeitig offen bleiben, einzigartig, unvorhersehbar und nicht auf eine definierte und definitive ästhetische Norm rückführbar. Im Stück wie auf der Bühne ist der Unterschied zwischen Wahnsinn und Normalität nicht mehr wirklich deutlich, obwohl dem Zuschauer die Arbeit jedes einzelnen Künstlers bewusst ist und insbesondere die Schwierigkeit, Behinderte spielen zu lassen und darauf zu achten, dass sie ihren Einsatz zum richtigen Zeitpunkt bringen. Indem sie ihre Behinderung nicht vertuschen, bringen sie die Aufführung und 64 somit das klassische System der Inszenierung in Gefahr oder zumindest in eine Krise, aber sie verleihen ihr auch eine zusätzliche Authentizität, ein autonomes Leben über die Fiktion und die Konventionen hinaus. Anstatt einer gefälligen freak show oder einer zu gut geregelten und abgeschlossenen Aufführung erhält man ein Ereignis, das die Risiken einer jeden Darbietung des Lebendigen, Unvollkommenen, Unvorhersehbaren akzeptiert: Ereignistheater, wo nur die wirklichen Taten der Schauspieler zählen; Theater der menschlichen Präsenz und nicht der fiktionalen und ästhetischen Darstellung. Resultat des Ausgleichs zwischen Fiktion und Ereignis, ist die Inszenierung ein Akt, von dem man nie weiß, ob er verrückt oder vernünftig ist. Um sie zu erhalten, muss man riskieren, sie zu verlieren, Unfälle, Fehler, Ungereimtheiten akzeptieren. Man regelt nichts im Voraus: weder die perfekte Leitung der Schauspieler noch die Irrtümer der Atypischen (Kinder, Geisteskranke, menschliche Wesen, Schauspieler...). Eine Inszenierung, das ist immer auch die Kunst, die Unwägbarkeiten der Bühne zu bewältigen. Im Grunde genommen gibt es zwei Arten von Inszenierungen: die Inszenierung eines unveränderbaren Textes, der immer erläutert, illustriert und mit der Bühnensituation konfrontiert werden muss, in die man ihn einpasst, und die Inszenierung als Umsetzung ins Spiel und Integration von Materialien (darunter der Text), die alle gleich behandelt werden. Schlussfolgerungen Anhand dieser wenigen Einzelbeispiele ist es recht schwierig, zu generalisieren und die großen Prinzipien der Inszenierung zeitgenössischer Texte zu bestimmen. Man kann lediglich einige große Tendenzen anführen, eher Hypothesen als Thesen. 1. Man kann nicht behaupten, dass die Inszenierungen von Gegenwartstexten neue Methoden erfunden hätten, die sich radikal von denen der Klassiker unterscheiden würden. Das gilt umso mehr, als sich der Abstand, ja der Unterschied, zwischen Inszenierungen der Klassiker und der Modernen heutzutage immer mehr reduziert. Die Mittel sind weniger spektakulär, die Regie begnügt sich zunehmend mit einer „Servolenkung“ der Schauspieler, ohne übermäßigen Aufwand beim Bühnenbild zu betreiben und sich um schwerfällige Elaborate der Dramaturgie zu kümmern. Eine solche Konzentration führt manchmal zu einer „konzeptionalistischen“ Inszenierung, die auf einer simplen und sich wiederholenden Idee beruht, die wenig sinnlich ist, zwar intelligent, aber schnell langweilig. 2. Man muss also wieder den Mut finden zu inszenieren: die Aufführung nicht auf die dramatisierte Lektüre beschränken, die szenische Lesung oder eine andere Art der öffentlichen Lektüre, die oft nur Billiginszenierungen sind und ein Stück vorstellen, um anschließend um so leichter auf seine Aufführung verzichten zu können. Man darf sich nicht mit einem „Schauspieler als Vorleser“ begnügen noch die 65 Ergebnisse eines Workshops - so explosiv sie auch sein mögen - mit der öffentlichen Aufführung eines Werkes verwechseln. 3. Die Inszenierung sucht einen Mittelweg zwischen der aufwändigen (und teuren) Superproduktion und dem simplen Vortrag eines Textes auf der Bühne durch Schauspieler. Denn von der von Michel Vinaver kritisierten „Mise-en-trop“ („Überinszenierung“) sind wir beinahe bei der „Mise-en-pas-assez“ („Unterinszenierung“) angelangt. 4. Statt von Inszenierungsstil, wie bei den Klassikern üblich, spricht man bei zeitgenössischen Arbeiten eher von Methode. Wobei es sich allerdings um eine Methode handelt, die ausschließlich an das aufzuführende Stück angepasst ist - oder höchstens an einen Autor - und die daher nur schwer wieder verwendbar ist und jeder Theorie widersteht. Man spricht niemals vom Stil eines Regisseurs, der sich auf Gegenwartstexte spezialisiert hat. Jede Inszenierung eines neuen Textes zwingt dazu, einen Raum, eine Handlung, einen Rhythmus neu zu erfinden, die beim Lesen des Textes nicht vorhersehbar sind. Diese rhythmische Arbeit mit der Stimme und deren szenischer „Performanz“ sind wichtiger als der Sinn des Textes. 5. Im Gegenzug stellt man fest, dass gewisse heutige Autoren nur nach einer anerkannten und bewährten Methode gespielt werden. Einerseits Sieg der Methode, geradezu des „Discours de la méthode“, gleichzeitig aber auch die Gefahr der Sklerose, wenn sie zur Norm wird, sich von einer Aufführung zur anderen wiederholt, so dass sie schließlich aufgewärmt wirkt. 6. Um jede verfrühte Kanonisierung oder Fossilisierung zu vermeiden, ist es unerlässlich, andere ikonoklastische Versuche zu unterstützen. Die Aufnahme ins Repertoire oder in den schulischen Kanon von Autoren wie Koltès, Vinaver, Minyana, Renaude oder Durif droht, den Prozess der Kanonisierung zu beschleunigen und die Standardisierung des Spiels voranzutreiben. Wir warten voller Ungeduld auf die Einfälle der nächsten Generation von Regisseuren. 7. Möglicherweise aber sind neue Methoden und Ansätze der Inszenierung erst noch zu erfinden, während die dramatische Literatur gleichzeitig eine Expansion ohne gleichen erfährt. Verärgert durch die häufige Bemerkung des Publikums, aber auch der Regisseure, wonach es keine Autoren mehr gäbe, gibt Eugène Durif die Frage an sie zurück: „Il y a peut-être peu de metteurs en scène qui soient capables de prendre en charge, de donner à entendre et à voir, avec jubilation, dans le désir, ces textes qui s’inventent aujourd’hui et pour lesquels il est à inventer des approches théâtrales nouvelles, singulières, imaginatives“. 14 Es ist nicht einfach, diese neuen Ansätze zu beschreiben, eben weil der Regisseur auf eine totale Kontrolle bei der Wahl der Materialien verzichtet. 8. Ein Neuansatz etwa betrifft die Rolle der Ideologie, des Sinns und der Thesen. Eine Ideologie wird nicht mehr vorausgesetzt, ist nicht mehr von vornherein bekannt, akzeptiert, sondern das, was es dank des Theaters zu entdecken oder zu erfinden gilt. Was will Gotscheff mit dieser Maskerade des Weißen als Schwarzer sagen? Was denkt Engel vom anti-weißen Rassismus? Ihre Inszenierungen haben zumindest das Verdienst, das Problem zu thematisieren, statt es als bereits gelöst 66 zu betrachten. Das Theater ist ein hermeneutisches Instrument, um die Politik kennen zu lernen, und kein Anwendungsfeld der Politik. 9. Das ist der Grund, warum die Inszenierung der Klassiker wie der Hypermodernen in den letzten 20 Jahren ein wenig ausgeprägtes Profil angenommen hat. Sie hat nicht mehr den Anspruch, der Welt entgegenzutreten oder sie neu aufzubauen noch ihr eigenes Universum schaffen zu wollen, das fähig wäre, mit der Welt zu rivalisieren. Der Regisseur ist nicht mehr stets ein „cultural critic“, 15 der die Welt analysiert und ihr trotzt. Er ist eher ein Dekonstrukteur, ein „brouilleur des catégories génériques, un ‘entremetteur’“, 16 wie Robert Cantarella sagen würde. Das einzige, was man von seiner Inszenierung verlangt, ist, „das Theater in Schwung zu bringen“, insbesondere in Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner: „Nous travaillons à déterminer les températures, les consistances des matériaux qui nous apparaissent dans le texte. Je vais lui dire par exemple: ‘Ce texte me fait penser à quelque chose qui est fin et tendu’, ou: ‘La blancheur doit être lue dans ce texte’“. 17 Gegenüber der Gegenwartsliteratur ist die Kritik oftmals hilflos, sie verfügt nicht mehr über das Werkzeug noch die Berechtigung, darüber zu urteilen, und überlässt es dem Zuschauer, sich sein eigenes Bild zu machen und die Inszenierung nach seinen eigenen subjektiven Kriterien zu beurteilen. 10. Wo bleibt also die Inszenierung? Der Text hat einen Großteil von ihr absorbiert, so als ob der Autor vorab schon viele szenische Fragen geklärt hätte: nicht lösbare Doppeldeutigkeiten, nicht darstellbare Figuren, ständige Veränderungen der Spiel-Regeln, der Konventionen und Realitätsebenen. Der Regisseur ist nicht mehr „Herr des Spiels“ oder zumindest nicht sein einziger Herr, er ist nur mehr ein Partner des Autors und des Schauspielers, ein „homme sans importance“. Es ist fast unmöglich geworden, den Text von der Inszenierung zu trennen, selbst wenn die frühere Arbeitsteilung weiterhin zwischen den Funktionen des Autors, Schauspielers, Regisseurs (und Zuschauers) unterscheidet. „Mise en jeu“ wäre ein adäquaterer Begriff als „mise en scène“. 11. Dennoch gelingt es der Inszenierung der letzten 20 Jahre manchmal, auf das schriftlich Fixierte einzuwirken. Nicht im früheren Sinne, als der Text noch aus einer Schreibwerkstatt stammte und die Spur einer szenischen Praxis war, sondern weil die Spielerfahrungen heute den zu interpretierenden Text, der auf dem Papier praktisch unlesbar ist, hinterfragen, ihn erschüttern und provozieren. Es liegt in der Natur der Inszenierung, den Text zu erhellen, aber hier geht es eher darum, ihn überhaupt lesbar zu machen, ihn zu konstituieren, ihn buchstäblich zum Leben zu erwecken, insbesondere in seinen Interaktionen mit der übrigen Aufführung. 12. Manchmal allerdings ist die Inszenierung genauso unlesbar (also unverständlich) wie der Text. Man kann sich über diese künstlerische Freiheit freuen; man kann es aber auch bedauern, denn das Publikum möchte, wenn schon nicht verstehen, dann wenigstens sein Unverständnis beurteilen können. Oftmals finden die Autoren ihren Regisseur nicht mehr, also auch nicht ihr Publikum; manchmal aber, wenn sie ihn gefunden haben, lassen sie die Zuschauer sprachlos: sowohl 67 stumm als auch um ihren Anspruch auf Widerrede betrogen, als wenn die Künstler ihnen sagten: „Love it or leave it! “ 13. Aber selbst wenn die Inszenierung dem Exegeten unverständlich bleibt, ist es paradoxerweise immer noch möglich, sich auf den Text zu beziehen, um zu prüfen, inwieweit er die Arbeit des Regisseurs inspiriert hat. Eine Prüfung, die jedoch den Professionellen und Theoretikern vorbehalten ist, die die Freiheit besitzen, zum Text zurückzukehren, wenn die Aufführung einmal beendet ist. Eine Art „umgekehrter Logozentrismus“. 14. Und ein weiteres Paradox: In den gut informierten und etablierten Theaterkreisen ist die Literatur nicht mehr der Erb- und Todfeind des Theaters, das Schreckgespenst, das das Theater daran hindert, in den Himmel des Dramatischen aufzusteigen. Sie ist es, die die Aufführung erst hervorruft, die diese zwingt, die Routine zu überwinden und die Mittel zur ihrer Verteidigung zu finden. Heiner Müller hat diese gnädige Wiederaufnahme der Literatur gefeiert: „Ich glaube grundsätzlich, dass Literatur dazu da ist, dem Theater Widerstand zu leisten. Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv, oder interessant.“ 18 Die Inszenierung überlebt und erneuert sich nur, wenn die Autoren wie Heiner Müller Texte erfinden, die für das Theater eine Herausforderung darstellen. Und darum bemüht sich die heutige Literatur mit der Kraft der Verzweiflung. 19 (aus dem Französischen übersetzt von Nathalie Crombée) 1 Koltès, Bernard-Marie: Dans la solitude des champs de coton, Paris, Minuit, 1987, 60. 2 Darley, Emmanuel: „Une forme de partage“, in: Théâtre Ouvert (ed.): Programme de la saison 1999-2000, 16-17, 17. 3 Jean-Marc Lantéri: „Les écritures théâtrales en Grande-Bretagne (1980-2000)“, in: Ecritures contemporaines 5. Dramaturgies britanniques (1980-2000), Paris, Minard, 2002, 3- 21, 5. 4 Paris, Minuit, 1983. 5 Paris, Minuit, 2003. 6 Paris, Actes Sud-Papiers, 2003. 7 Anne, Catherine: „Notes“, in: Théâtre de l’Est Parisien: Dossier de presse, 5. 8 Corvin, Michel: „Mise en scène et silence“, in: Revue d’esthétique, 26, 1994, 123-128, 126. 9 Paris, Editions théâtrales, 1994. 10 Bourdieu, Pierre/ Wacquant, Loïc: Réponses, Paris, Le Seuil, 1992. 11 Ibid., 101. 12 Aufführung in Cork am 3. September 2005, und Wiederaufnahme im Théâtre Ouvert im Januar 2006. 13 Lantéri: „Les écritures théâtrales en Grande-Bretagne“, 5. 14 Zit. nach Théâtre Ouvert (ed.): Programme de la saison 1999-2000, 1-20, 11. 68 15 Siehe die Sondernummer „The Director as Cultural Critic“ der Contemporary Theatre Review, 13, 2003. 16 Cantarella, Robert: „La main d’œuvre“, in: Revue d’esthétique, 26, 1994, 191. 17 Cantarella, Robert: „Mettre en scène le théâtre contemporain“, in: Françoise Spiess (ed.): Trois pièces contemporaines. Paris, Gallimard, 2002, 147. 18 Müller, Heiner: „Literatur muss dem Theater Widerstand leisten. Ein Gespräch mit Horst Laube über die Langweiligkeit stimmiger Stücke und eine neue Dramaturgie, die den Zuschauer bewusst fordert“, in: ders.: Gesammelte Irrtümer, Frankfurt/ M., Verlag der Autoren, 1986, 14-30, 18. 19 Der vorliegende Text beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser beim Kolloquium La scène française contemporaine: écrire, jouer, enseigner, organisiert von Mary Noonan, 2.-4. September 2005, University College Cork, gehalten hat. Mein Dank gilt Mary Noonan, Paul Allain und der Leverhulme Stiftung. Résumé: Patrice Pavis, La mise en scène de pièces contemporaines se demande s’il existe une manière spécifique de mettre en scène les textes contemporains. Doit-on utiliser pour des textes montés pour la première fois le terme de mise en scène? Celui de „mise en jeu“ ne convient-il pas mieux? C’est ce qu’on examine en prenant divers exemples récents. 69 Irina Szodruch Texttransfer: Zur Rezeption französischer Gegenwartsdramatik in Deutschland Das französisch-deutsche Nachbarschaftsverhältnis ist seit jeher ein ambivalentes. Es ist geprägt von Anziehung und Missverständnissen, Vorbildern, Feindbildern, Fehlurteilen und Vorurteilen. Fragt man Theatermacher und Theaterpublikum in Deutschland nach französischer Gegenwartsdramatik, zu Zeiten einer aufblühenden und immer intensiveren deutsch-französischen Freundschaft, so stellt sich heraus, dass nur wenige Autoren bekannt sind. Es gibt derzeit jedoch eine große Anzahl sehr produktiver und vor allem sehr unterschiedlicher französischer Theaterautoren. In Frankreich ist das Interesse an diesen Schriftstellern in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Ihre Stücke werden mit Hilfe großer institutioneller Unterstützung in verschiedenen Formaten auch in Deutschland vorgestellt. Welche Reaktionen diese Texte heute hervorrufen, lässt sich vor allem anhand potenzieller Repertoirestücke verdeutlichen. Denn wenn ein französischer Text in seiner deutschen Übersetzung von hierzulande tätigen Regisseuren und Schauspielern erarbeitet wird, kommt es zu einer tatsächlichen Berührung, eine intensive Auseinandersetzung zwischen französischem Kulturgut und deutschen Kulturschaffenden findet statt. Für einen derartigen Transfer sind immer auch kulturpolitische Gegebenheiten des exportierenden und des Empfängerlandes von Bedeutung. Kulturpolitische Gegebenheiten In Frankreich wurde in den siebziger Jahren von der französischen Theaterkritik eine Autorenkrise konstatiert, deren Grund nach Ansicht Alfred Simons in einem schwachen Theatertext lag: „La vraie pauvreté du théâtre lui vient d’abord de l’appauvrissement de son écriture dramatique. Il souffre d’une crise de textes, d’une crise de l’auteur.“ 1 Daraufhin kehrte in den achtziger Jahren der literarische Dramentext ins französische Theater zurück. Entscheidend dafür waren nicht zuletzt der Autor Bernard-Marie Koltès und seine enge Zusammenarbeit mit Patrice Chéreau. Davon ausgehend startete eine Entwicklung, die den Autor in Frankreich immer mehr zu einer öffentlichen Persönlichkeit werden ließ. Autoren werden seitdem zunehmend durch öffentliche Gelder und Institutionen gefördert. Darüber hinaus sind sie oftmals eng in den Theaterprozess involviert. Sie agieren häufig als Schauspieler oder Regisseur und Leiter einer Compagnie, die Stücke für Inszenierungen auswählt und in Zusammenarbeit mit meist mehreren Theatern koproduziert. So finden neue Texte verhältnismäßig leicht den Weg auf die Bühne. Einen Wendepunkt des deutschen Interesses an französischer Gegenwartsdramatik stellte ebenfalls Koltès dar. Als Shootingstar der neuen Dramatik war er für 70 einige Jahre der einzige französische Gegenwartsautor, der regelmäßig in deutschen Spielplänen zu finden und einem breiten Theaterpublikum bekannt war. Diese Position gilt heute nicht mehr. Mit Yasmina Reza gibt es mindestens eine zweite französische Autorin, die einen Teil ihres Welterfolgs in Deutschland feiert. Wenn Liliane Schaus, ehemalige Leiterin des Bureau du Théâtre, sagt: „Le théâtre contemporain français en Allemagne se porte bien“, 2 so ist dies in der Tat mehr als Eigenwerbung. Denn einhergehend mit der neuen Begeisterung für Gegenwartsdramatik in Frankreich und ihrer Institutionalisierung sind auch in Deutschland seit Mitte der neunziger Jahre vermehrt neue französische Stücke zu sehen. Ein erster Blick in Spielpläne und Zeitschriften zeigt, dass die neue französische Dramatik heute eher abseits der allgemein beachteten Zentren gespielt wird, beispielsweise in Halle an der Saale oder Kassel. Im experimentierfreudigeren Format der szenischen Lesung wurden und werden jedoch auch an den ersten Häusern der Republik mehrfach neue französische Texte vorgestellt, wie z.B. bei den Festivals Neue Französische Dramatik, die die damalige Baracke des Deutschen Theaters präsentierte, nun beim Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne am Lehniner Platz, beim Stückemarkt des Theatertreffens oder im Rahmen des im Oktober 2005 erstmalig veranstalteten Festivals Junges französisches Drama am Thalia Theater Hamburg. 3 Eine wichtige Institution zur Vermittlung und Förderung derartiger Projekte ist das in Berlin ansässige Bureau du Théâtre et de la Danse (BTD), eines der spezialisierten Bureaux der Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Deutschland. Seine Hauptaufgabe im Bereich Theater liegt in der Verbreitung zeitgenössischer französischer Dramatik in Deutschland. In Zusammenarbeit mit dem Verlag der Autoren gibt das BTD seit 1999 jährlich den Band Scène heraus, in dem je fünf französische Stücke in ihrer deutschen Übersetzung vorgestellt werden. 4 Außerdem organisiert das BTD das Programm Transfert-Théâtral, das jährlich vier Stipendien für die Übersetzung von zeitgenössischen deutschen und französischen Texten in die jeweils andere Sprache vergibt. 5 Im März 2007 fand in Berlin erstmals das Festival FRANCE EN SCÈNE - Theater und Nouveau Cirque statt. Fünf Berliner Theater haben auf Einladung der französischen Botschaft in Berlin/ Kulturabteilung, BTD, CULTURESFRANCE, des Institut Français, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, 21 Gastspiele verschiedener Theatergenres (Nouveau Cirque, Performance, Tanz, Schauspiel und neue Dramatik) aus Frankreich präsentiert. Neben diesen Aktivitäten ist erwähnenswert, dass auch die deutschen Theaterverlage französischen Autoren gegenüber offen sind, wie der Verlag Felix Bloch Erben (vertritt u.a. Jean-Luc Lagarce) oder der Theater-Verlag Desch (vertritt u.a. Yasmina Reza). Diese Beispiele zeigen, dass es in Deutschland durchaus ein Interesse an französischer Gegenwartsdramatik und am Aufbau eines französischdeutschen Theaternetzwerks gibt. 71 Um der Rezeption neuer Stücke aus Frankreich näher zu kommen, sollen nun zwei sehr unterschiedliche Werdegänge betrachtet werden: Zum einen das französische Erfolgstheater mit seiner prominentesten Vertreterin Yasmina Reza und deren Stück „ART“, 6 das den Beginn der großen Beliebtheit Rezas auf dem deutschen Theatermarkt darstellt. Zum anderen ist J’étais dans ma maison et j’attendais que la pluie vienne 7 von Jean-Luc Lagarce ein exemplarisches Stück des so genannten théâtre de la parole, das in Frankreich große Erfolge zu verzeichnen hat. In Deutschland gibt es hierfür starke Vermittlungsbestrebungen, d.h. es wird rezipiert, jedoch mit mäßiger Anerkennung. Französische Erfolgsdramatik: Yasmina Rezas „ART“ Yasmina Reza hat sich auf Deutschlands Bühnen nicht auf Anhieb durchgesetzt. Conversations après un enterrement wurde von C. Bernd Sucher übersetzt, der folgende Reaktion beschreibt: „Zwar war das Interesse der Theatermacher außergewöhnlich stark, wie mir mein Verleger mitteilte, aber es dauerte doch ziemlich lang, bis sich Regisseure für diesen Text entschieden. Und als ich das zweite Reza-Stück ihnen gleichfalls vorschlug, mussten sie passen: sie lesen nicht Französisch. Und der Verlag wiederum wagt - aus finanziellen Überlegungen - keine weitere Übersetzung, bevor nicht das erste Stück irgendwo als deutsche Erstaufführung gefeiert worden ist.“ 8 Nachdem jedoch „ART“ den Prix Molière du meilleur auteur erhalten hattte (1995), steigerte sich das Interesse an Reza. Nun wagten sich auch die bekannten Theater an ihre Stücke heran: „ART“ wurde 1995 an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz in der Regie Felix Praders mit den renommierten Schauspielern Udo Samel, Gerd Wameling und Peter Simonischek deutschsprachig erstaufgeführt. Bis heute wurde „ART“ im deutschsprachigen Raum allein von über 140 Bühnen gespielt. Trotz des großen Erfolgs sorgen Rezas Texte insbesondere bei den Medien für Verwirrung. Oftmals wurde „ART“ mit einer negativen Konnotation als Boulevard kategorisiert. Es sei nur kurz erwähnt, dass diese Verwendung des Begriffs Boulevard gemäß der von Patrice Pavis gegebenen Definition sowohl in Bezug auf die Form als auch auf den Inhalt schlicht falsch ist. 9 Boulevard bezieht sich vermutlich auf den hohen Unterhaltungswert des Dramas. Denn die Kritiken erwecken den Eindruck, die Verfasser hätten sich während der Aufführung prächtig amüsiert, weshalb sie sich offenbar verpflichtet fühlten zu betonen, es sei natürlich ein „Boulevardstück, ein ‘zugegeben seichter Text’ und ‘natürlich’ nicht so bedeutend wie die Stücke von Botho Strauß.“ 10 Jedoch wird in den Rezensionen auch immer wieder auf eine andere, eine traurige Seite des Lachens verwiesen. Reza selbst bestätigt: „Mathew Warchus [...] a trouvé pour moi la formule idéale [...], ‘funny tragedy’. [...] J’écris des tragédies drôles.“ 11 Die Verbindung von Komik und Tragik ist folglich ein Kennzeichen für die Wirkung von „ART“. 72 Die klar strukturierte und somit sehr zugängliche dramatische Form des Stücks garantiert die treffsichere Wirksamkeit der tragikomischen, schnellen und pointierten Dialoge. Aber Reza gewährt auch Stille. So schafft sie große Freiräume, die auf struktureller Ebene nicht zuletzt dem Schauspieler als Sprungbrett für ein sehr freies Spiel dienen. Auf inhaltlicher Ebene ist die wohl größte Leerstelle das weiße Bild. Der Leser kann die neutrale weiße Fläche in seinen Gedanken beliebig ausmalen. Andrea Grewe und Margarete Zimmermann stellen dar, wie der Antrios dies reflektiert: „Das weiße Bild bietet eine ideale Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Wirklichkeitsentwürfe - auch für divergierende Entwürfe von Freundschaft. Sie provozieren immer wieder zu der Frage: Was ist Wirklichkeit? Und: Wie funktioniert die Entstehung und Konstruktion, die Wahrnehmung, Deutung und Vermittlung von Wirklichkeit? [...] In dieser Fragestellung [...] liegt der Schlüssel für den Erfolg von „Art“.“ 12 Ein zentrales Element für die Konstituierung von Realität ist die subjektive Wahrnehmung. Für eine nicht mögliche Objektivität spricht das Versagen der Sprache, das sich in „ART“ vor allem anhand des willkürlichen, immer emotional-persönlichen Diskurses über moderne Kunst und in der stets missverständlichen Beziehung zum Anderen manifestiert. Aus dieser Befragung der Wirklichkeit geht die Frage nach Identität hervor. Identität wird in „ART“ durch eine Aussage des Psychoanalytikers Finkelzohn dargestellt, die ein Zitat aus den von Martin Buber herausgegebenen Erzählungen der Chassidim ist: „Si je suis moi parce que je suis moi, et si tu es toi parce que tu es toi, je suis moi et tu es toi. Si, en revanche, je suis moi parce que tu es toi, et si tu es toi parce que je suis moi, alors je ne suis pas moi et tu n’es pas toi.“ 13 Eine autonome Identität kann demnach nur dann erreicht werden, wenn sich der Mensch über sein eigenes Ich definiert. Versucht er, sich über eine andere Person, also durch die Projektion ins Andere zu identifizieren, kann er sein unabhängiges Ich nicht erlangen. Ein für das metaphysische Ende des Stücks zentraler Satz ist: „La neige tombe. Tombe jusqu’à ce que l’homme disparaisse et retrouve son opacité.“ 14 Im Verschwinden findet der Mann seine Undurchsichtigkeit, also seine Sichtbarkeit wieder. Offen bleibt, ob das Verschwinden die Loslösung vom Weggefährten bedeutet, ob der Mann durch ein erkanntes, letztendlich nicht mögliches Verständnis mit dem Freund in der daraus resultierenden Einsamkeit zu sich selbst findet. Oder aber, ob er sich durch die Anpassung an die Sichtweise des Freundes auflöst. So steht das Ende für eine tief menschliche und universale Sehnsucht nach Nähe, Liebe und Verständnis, die das gesamte Stück über nach Erfüllung strebt. Die Wucht dieser Melancholie äußert Reza über die gezielte Verbindung zum Lachen, wie sie am Einsatz von „Si je suis moi [...]“ verdeutlicht: Ja, alle Welt lacht. [...] es war mir klar, dass der Satz das Publikum zum Lachen brächte. Der Kontext bringt die Zuschauer zum Lachen. Aber wenn man den Satz ruhig liest, und wenn man Martin Buber liest, dann lacht man nicht. Wenn Yvan ihn zitiert, im Rahmen eines Stückes, so als ob er einen Satz eines Psychoanalytikers vorläse, den er notiert hat, dann ist das jedoch sehr komisch.15 73 Rezas Verbindung von Tiefgründigkeit und Lachen besteht also in der Kunst, ernste Dinge aus ihrem Kontext zu heben und sie dadurch zu hinterfragen. So gibt sie dem Theater die Kraft, dass das Publikum sich selbst in Frage stellt und sich dabei im doppelten Sinn auslachen kann. Es ist ein lautes, herzliches, befreiendes und tiefes Lachen, das jeder Leser und Zuschauer auch an sich selbst richtet, indem er sich vor dem eigenen Abgrund stehen sieht. In seiner Offenheit geht dieses traurige Lachen oder eben die lustige Traurigkeit über religiöse und nationale Grenzen hinaus, wodurch das Stück an andere kulturelle Kontexte angepasst werden kann - und somit auch in Deutschland zum Ausnahmeerfolg wurde. Enttäuschte Erwartungen: J’étais dans ma maison et j’attendais que la pluie vienne von Jean-Luc Lagarce Seit fünf Jahren gilt Jean-Luc Lagarce in Frankreich als der meistgespielte zeitgenössische Autor. Anlässlich seines 50. Geburtstags wird 2007 die „Année Lagarce“ mit einer Reihe von Inszenierungen und Symposien in Frankreich und einigen internationalen Partnerstädten gefeiert. Allein in Frankreich sind acht Großproduktionen und zahlreiche weitere Aufführungen von kleineren Theatergruppen geplant. Neben dem Schreiben leitete Lagarce die Compagnie Théâtre de la Roulotte und gründete den Verlag für Gegenwartsdramatik Les Solitaires Intempestifs, bevor er 1995 im Alter von 38 Jahren starb. Seine öffentliche Förderung und die daraus resultierende Bekanntheit in Frankreich werden nicht zuletzt einen Beitrag dazu geleistet haben, dass J’étais dans ma maison... in Deutschland erstmals als szenische Lesung an der Baracke am Deutschen Theater in Berlin 1997 im Rahmen des Festivals Neue französische Dramatik II vorgestellt wurde. Anschließend wurde es im ersten Band der Reihe Scène in der Übersetzung Jarg Patakis veröffentlicht. Nach einer unbeachteten deutschsprachigen Erstaufführung im Jahr 2001 in Mönchengladbach fand J’étais dans ma maison... 2004 den Weg nach Berlin zurück. In der Regie Ingo Kerkhofs wurde es an den Sophiensaelen gezeigt, einer der wichtigsten Spielstätten für frei produzierte Theaterprojekte in Deutschland. Kennzeichnend ist, dass das Stück 2005 vom Thalia Theater Hamburg abermals in einer szenischen Lesung vorgestellt wurde mit der Begründung: „Obwohl gelegentlich aufgeführt, sind sie [Lagarces Stücke] in Deutschland viel zu wenig bekannt. Deshalb soll eines seiner schönsten hier vorgestellt werden.“ 16 Man kann nun einwenden, dass Lagarce im Vergleich zu anderen französischen Autoren in Deutschland wenigstens ein bisschen gespielt wird. Trotzdem verwundert die verhältnismäßig schwache Präsenz angesichts der großen Begeisterung und überaus aktiven Rezeption in Frankreich. Die Zeitung Libération stellte Lagarce in eine große, durch und durch französische Tradition: „Cette pièce de Jean- Luc Lagarce [J’étais dans ma maison...] est un bijoux d’orfèvrerie langagière, une œuvre classique qui situe Lagarce dans le sillage de ces grands maîtres de la langue française écrite pour être dite, Racine ou Marivaux.“ 17 Wahrscheinlich ist ge- 74 nau dieser Bezug gemeint, wenn das Programm der Baracke Lagarce als einen Autor ankündigt, der sich „durch einen sehr französischen Stil und einen starken Bezug zur Literatur [auszeichnet].“ 18 Es scheint, als treten hier die „traditionellen Differenzen über die Rolle der Sprache zwischen deutschem und französischem Theater seit der deutschen Entscheidung gegen Racine und für Shakespeare im 18. Jahrhundert“ 19 ans Tageslicht. Das Thema des Wartens ist das einzige kennzeichnende Element in J’étais dans ma maison…, das direkt bestimmt werden kann. Die konkrete banale Ausgangssituation wartender Frauen auf den heimkehrenden Sohn ruft offensichtlich bestimmte Erwartungen hervor (Menschen sehen sich nach einer langen Trennung wieder, was dramatische Folgen haben wird...), die enttäuscht werden. Denn schnell wird diese Ebene verlassen - der Heimkehrer spricht nicht, tritt noch nicht einmal auf - um die vermeintliche Realität in eine Sprachlandschaft zu verwandeln. Liegt hierin eine „Verweigerung der Wirklichkeit? “, so der Titel der Abschlussdiskussion über das Verhältnis der französischen Dramatik zur sozialen Realität an der Baracke? Oder aber handelt es sich um einen von Lagarce gestalteten Gegenentwurf, sozusagen eine andere Wirklichkeit, die andere Seh- oder vielmehr Hörweisen erfordert? Ryngaert beschreibt eine vielfach zu beobachtende Neigung des zeitgenössischen Theaters: Une partie du théâtre contemporain rejette les catégories du dramatique et renoue [...] avec des formes complexes de récits à plusieurs niveaux qui multiplient les points de vue [...]. Moins construits sur les tensions de l’attente, sur la ‘suspension de l’esprit’, beaucoup de textes d’aujourd’hui inscrivent des formes épiques dans leur dramaturgie sans que les œuvres aient nécessairement une orientation idéologique. On peut voir la nostalgie d’une adresse directe au spectateur et le signe d’une envie de raconter sans faire appel aux catégories parfois pesantes du ‘théâtre dramatique’.20 Überträgt man diese Auflösung des dramatischen Theaters nun auf das Theatralische von J’étais dans ma maison…, so steht in jedem Fall fest: „La théâtralité chez Lagarce est donc moins visuelle que sonore et rythmique“. 21 Die verbale Realisierung des Textes, d.h. die Stimmen der Schauspieler konstruieren also wesentlich den theatralen Raum. Die Entscheidung für die Musikalität der Sprache als theatrales Mittel hat zur Folge, dass sich Lagarce einer traditionellen Dramaturgie verweigert. Die dementsprechende Kategorie des klassischen Spannungsverständnisses, das sich auf Inhalte im Sinne eines spannenden Plots bezieht, erscheint in der Beurteilung demnach nicht angemessen. Denn werden neue Texte oder Bühnenvorgänge, so Hans-Thies Lehmann in Postdramatisches Theater, „nach dem Modell spannender dramatischer Handlung wahrgenommen, so treten fast zwangsläufig die eigentlich theatralen Wahrnehmungsbedingungen, also die ästhetischen Qualitäten des Theaters als Theater in den Hintergund“, wozu er u.a. „die kompositorischen und formalen Strukturen der Sprache als Klanglandschaft“ zählt. 22 Sprache wird bei Lagarce also spannend im Sinne einer rhythmischen Logik von Spannung und Lösung. Statt eines Dramas scheint J’étais dans ma maison... folglich eher ein postdramatisches Gedicht zu sein. 75 Auf J’étais dans ma maison... lassen sich die Charakteristika des postdramatischen Theaters übertragen, die laut Lehmann sind: „Mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozess als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information“. 23 Dies seien bizarrerweise die Kennzeichen der zeitgenössischen Theaterfigur, wie Julie Sermon erklärt, da die Figur infolge grundlegender Veränderungen des Dramas zu einem Objekt werde, das nach ausschließlich literarischen Prinzipien funktioniere. 24 Die Vorherrschaft des Poetischen ließe somit in erster Linie die Virtuosität des Schauspielers und nicht der Figur ins Bühnenlicht treten. Vielleicht ist die These einer postdramatischen Theaterfigur in Bezug auf manche Autoren, wie z.B. Lagarce, nicht abwegig. Die Veränderungen der Figur gehen nämlich den Veränderungen der Fabel, die die Figuren durch ihre Nicht-Handlungen hervorrufen, voraus. Sie bewirken die große Bedeutung der Sprache, die an die erste Stelle des Theatertextes tritt und performativ ist, wodurch das Drama paradoxerweise postdramatisch wird. Diese Eigenschaften treffen auf J’étais dans ma maison... zu, auch wenn Lagarce das Drama nicht mit der Radikalität eines Valère Novarina an seine eigenen Grenzen treibt. Ryngaert bezeichnet mit dieser Entwicklung die Herauskristallisierung eines „théâtre de la parole“ in der Dramatik der neunziger Jahre: „Dans ces textes-là [les textes qui appartiennent au postdramatique], le langage n’apparaît plus comme un discours entre personnages mais comme une théâtralité autonome.“ 25 Das Unverständnis beim deutschen Publikum gegenüber derartigen Texten liegt sicher nicht zuletzt darin, dass diese Stücke zwar leicht lesbar, nicht aber konkretisierbar sind. Denn die sprachlich entstandene Situation muss nicht theatral umgesetzt werden: „Die abstrakte und herkömmliche Außenwelt entzieht sich jeder mimetischen Darstellung und verdichtet sich in den Machtverhältnissen, denen Sprache und Rhetorik, jene ewig gültigen und fatalen Waffen, in der Lektüre ebenso wie im szenischen Spiel Gestalt verleihten.“ 26 Verweigert sich die von Lagarce komponierte Partitur, die sich besagter mimetischer Darstellung entzieht, generell der Wirklichkeit? Da der Text eine subjektiv verschiebbare Realität zeigt, scheint die Fragestellung Lagarces eine grundsätzlich andere zu sein: Gibt es überhaupt eine mögliche Wahrheit? Auf der Suche danach stellt er den Frauen im Stück, die in einer über die Jahre hinweg phantasierten Wahrheit leben und an sie glauben, dann zweifeln und doch letztendlich glauben, den heimkehrenden verlorenen Sohn gegenüber. In dieser Rückkehr besteht die Möglichkeit zur Suche nach falschen Erinnerungen und dem daraus folgenden Selbstbetrug, somit zur Erkenntnis von Wahrheit. Der junge Mann findet jedoch im familiären Haus eine in ihrer Endzeit stehen gebliebene Welt. Hier kämpfen die Sprechenden mit ihrer Sprache um das eigene Überleben und verkümmern vor lauter Worten bei lebendigem Leib. Er aber schweigt, schläft, stirbt, findet vielleicht Wahrheit, vielleicht Befreiung. Der Text verrät es nicht. Dieses Ideal, die Weltsicht der Zurückhaltung, wird in der Textstruktur reflektiert, in der Abwesenheit und Negation des Helden, der Fabel, des Dramatischen und in der Verlangsamung, obwohl oder gerade weil so viel gesprochen wird. So 76 entlässt Lagarce seine Zuhörer und Zuschauer aus seiner düsteren Welt mit dem im Text unausgesprochenen, zurückgehaltenen, aber impliziten Aufruf, sich der Wirklichkeit zu stellen. Eine ambivalente Rezeption In der Rückkehr zum poetischen Drama lässt sich eine durchgängige Form der französischen Gegenwartsdramatik erkennen, die sich mit verschiedenen Prägungen und Resultaten herauskristallisiert. Es handelt sich um sehr unterschiedliche Inszenierungen von Sprache, denen jedoch das lyrisch-individuelle Moment gemein ist. Es zeigt sich eine desillusionierte Rückkehr in die Privatsphäre, die sich in der Akzeptanz des Verlusts einer beschönigenden oder idealisierenden Weltvorstellung äußert und sich aus einer existentiellen Einsamkeit der Figuren und des Menschen erklärt, die sich sowohl im sozialen Leben als auch in der Sprache ausdrückt. Diese Sprache hat zunehmend einen Bezug zur Wirklichkeit wieder gefunden. Auch deutsche Theatermacher fordern gerade die Autoren auf, eine starke Verbindung zwischen Theater und Wirklichkeit zu reaktivieren: „Mehr denn je muss sich das Theater an seinem Wirklichkeitsgehalt messen lassen, wenn es nicht zum Museum seiner selbst erstarren will. Mit Formspielereien und ästhetischen Experimenten allein ist das nicht getan. [...] Der Hunger nach Inhalten ist groß.“ 27 Dessen sind sich Reza und Lagarce bewusst. Die Konfrontation mit der Realität äußert sich jedoch in einem grundsätzlich verschiedenen Umgang mit Wirklichkeit: im Falle Rezas mittels einer konkretisierten Fiktion, bei Lagarce anhand einer abstrahierten Imagination. Die Arbeit an der Sprache und der Umgang mit Wirklichkeit der französischen Autoren müssen in Bezug zu der in Deutschland präsenten Gegenwartsdramatik gesetzt werden. Zu Anfang der neunziger Jahre waren Autoren wie Elfriede Jelinek oder Werner Schwab, die das Theater durch neue Diskursformen erschütterten, besonders einflussreich. Ab Mitte der neunziger Jahre haben englische Autoren die deutsche Theaterlandschaft geprägt, die Themen mit einem großen, oft erbarmungslosen Wirklichkeitsgehalt aufgriffen. Aufgrund dieser Ausrichtung der Dramatik auf Wirklichkeit wurde das Interesse deutscher Theater auch an neuen deutschsprachigen Texten wieder größer, was nicht zu unterschätzen ist, denn dadurch öffneten sich die Theater gegenüber der Gegenwartsdramatik. Auffällig ist, dass sowohl die Sprachextreme der ersten als auch die Brutalität der gesellschaftlich oft marginalen Realität der zweiten Phase den Körper in den Mittelpunkt des Theaterstücks setzten: „In vorderster Linie werden die Körper zur Schlachtlinie, zum Kampfplatz, zur verstörenden Energie im neuen Theater. Die Körper sind nicht mehr in erster Linie dazu da, einen Sinn szenisch zu formulieren - ihr Sosein, ihr Betrachtetwerden, der Schock der Begegnung mit ihrer Physis selbst ist, wenn man das noch so nennen will, ihr ‘Sinn’.“ 28 Eine derartige Körperlichkeit ist in französischen Stücken kaum zu finden. Sie sind eher sauber wie das weiße Bild in 77 „ART“; der dem Verfall ausgelieferte Körper des jungen Mannes in J’étais dans ma maison... tritt gar nicht erst in Erscheinung. Diese Abwesenheit einer vorrangigen Präsenz der natürlichen Körper und ihres Exzesses kann ein Grund dafür sein, weshalb sich deutsche Theatermacher nicht unbedingt auf französische Texte stürzen, sondern ihnen vorwerfen, zu poetisch oder verkopft zu sein. Schaut man jedoch aktuelle französische Inszenierungen von Regisseuren wie Stanislas Nordey, Christophe Saïs oder Joël Jouanneau an, so fällt dem deutschen Auge sehr wohl eine Körperlichkeit auf, die aber alles andere als natürlich, sondern seltsam entfremdet erscheint. In Frankreich stellt die zeitgenössische Dramatik neue Anforderungen an das Spiel des Schauspielers und an den Leser, die sich bislang nicht auf Deutschland übertragen haben. Pavis erkennt für das théâtre de la parole die Notwendigkeit eines „Schauspieler-Dramatikers“, der seine Figur nicht verkörpere, charakterisiere oder sich im meyerholdschen oder brechtschen Sinne von ihr distanziere. 29 Die Arbeit an einem Stück wie J’étais dans ma maison... bedeute für den Schauspieler- Dramatiker, die Repliken aneinander zu reihen, dabei die Verknüpfungen und Netze von Echos und Bedeutungen zu suggerieren, den Ablauf des Textes seinem eigenen Rhythmus zu unterstellen und damit zur Erarbeitung der Partitur der Aufführung und deren Bedeutung beizutragen. Dieser Schauspieler trete dabei gänzlich hinter den Text zurück, um die Schreibweise zu verkörpern und sich vollkommen auf ihre Regeln einzulassen. Daraus entstehe ein anti-naturalistischer Körper. Dieses anti-naturalistische Spiel mag im Gegensatz zu der in Deutschland geforderten Auseinandersetzung mit Wirklichkeit stehen. Es ist jedoch die einzige Möglichkeit, einen Zugang zu Stücken in der Machart Lagarces zu gewinnen. Die Aufgabe des Schauspielers, dem Zuschauer den Text zu ‘öffnen’, ihn vor ihm zu entfalten, muss immer auch auf den Leser übertragen werden. In einem szenischen Gedankenspiel muss er sich das Stück vorstellen, es ein erstes Mal umsetzen - als Inszenierung im Kopf. Nur durch diese gedankliche Herausforderung des Textes kann seinen Bewegungen, seiner Syntax und seiner Rhetorik, seinem rhythmischen und musikalischem Aufbau gefolgt werden. Man muss sich also zunächst auf die Schreibweise einlassen, ihr zuhören, anstatt nach einer Bedeutung zu suchen. Nur so können die logische Gliederung und letztendlich auch ein Sinn erfasst werden. In diesem erneuten Vertrauen in die eigene Schreibweise und in das Drama lässt sich die französische Berufung auf eine nationale rhetorische Tradition erkennen, die in Deutschland auf Unverständnis stößt, da hier vielmehr eine Debatte darüber geführt wird, welche Rolle literarische Theaterformen neben den ästhetischen Konzepten eines verstärkt visuellen, Texte nur als Katalysatoren verwendenden Theaters spielen. Hier zeigt sich das grundlegend unterschiedliche nationale Selbstverständnis Frankreichs und Deutschlands. Das französische Selbstbewusstsein hinsichtlich der Theaterliteratur äußert sich derzeit in einer großen Toleranz gegenüber verschiedenen literarischen Formen, die eine sehr vielseitige Dramenlandschaft entstehen lassen. Die Akzeptanz bzw. Ignoranz sowie die Beurtei- 78 lung der geschriebenen, d.h. gefühlten und gedachten Welten des Nachbarlandes lässt sich zwar teilweise erklären, bleibt letztendlich aber immer unvorhersehbar. 1 Alfred Simon: Le théâtre à bout de souffle, Paris, Seuil, 1979, 118. 2 Liliane Schaus: „Le théâtre contemporain français en Allemagne“, in: Entr’Actes. Actes du Théâtre, 12/ 2003-05/ 2004, http: / / entractes.sacd.fr/ n_archives/ a18/ contemporain.php? l= archiv [Abruf: 29.04.2006]. 3 Das Festival Junges Französisches Drama wurde in Zusammenarbeit u.a. mit der Europäischen Theater Convention veranstaltet (ETC), die den Workshop TRAMES - Traductions mises en scène du théâtre contemporain der Comédie de St. Etienne fördert, der zur Verbreitung neuer französischer Theaterstücke in anderen europäischen Ländern beitragen soll. Jedes daran beteiligte Theater entsendet einen Übersetzer und einen Regisseur nach St. Etienne, wo an den Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen gearbeitet wird, die anschließend im Heimatland vorgestellt werden. Das erste für dieses Experiment ausgewählte Stück war Zig et More von Marine Auriol. 4 Seit 2006 erscheint Scène im Verlag Theater der Zeit. 5 In Zusammenarbeit mit der DVA-Stiftung/ Stuttgart, Beaumarchais/ Paris und Goethe Institut Inter Nationes/ Lyon. 6 Yasmina Reza: „ART“, in: dies.: Théâtre, Paris, Albin Michel, 1998, 186-251 („ART“). 7 Jean-Luc Lagarce: „J’étais dans ma maison et j’attendais que la pluie vienne“, in: ders.: Théâtre complet IV, Besançon, Les Solitaires Intempestifs, 2002, S. 223-269 (J’étais dans ma maison...). 8 C. Bernd Sucher: „’Macht kein politisches Theater, sondern macht es politisch.’ Zur Rezeption französischer Dramatiker auf deutschen Bühnen“, in: Winfried Floeck (ed.): Zeitgenössisches Theater in Deutschland und Frankreich. Théâtre contemporain en Allemagne et en France, Tübingen, Francke, 1989, 73-78, 75. 9 Nach Pavis beinhaltet die Dramaturgie des Boulevardstücks eine „structure très serrée et bien ficelée où les conflits sont toujours finalement résolus sans surprise“, die Figuren bestehen aus dem „éternel trio infernal: Madame, Monsieur, l’amant (ou la maîtresse)“ und die Themen bleiben oberflächlich: „En ne présentant que la surface brillante de la vie sociale [...] les auteurs [du Théâtre de Boulevard] ne courent jamais le risque de déranger“. (Patrice Pavis: Dictionnaire du théâtre, Paris, Armand Colin, 2002, 366sq.). 10 Eva Pfister: „Die Kunst der Yasmina Reza“, in: Die Deutsche Bühne, 2,1996, 40. 11 Lakis Proguidis: „Le Hasard, le Rire. Entretien avec Yasmina Reza“, in: Atelier du Roman, 3, 2001, 154. 12 Andrea Grewe/ Margarete Zimmermann: „Die Kunst der Männerfreundschaft. Yasmina Rezas ‘ART’“, in: dies. (eds.): Theaterproben. Romanistische Studien zu Drama und Theater, Münster, Daedalus-Verlag, 2001, 115-156, 144. 13 „ART“, 232. 14 Ebda., 251, vgl. auch Rezas Aussage: „Wer findet zu einer Undurchlässigkeit zurück? Diesen Freund, den er fünfzehn Jahre gekannt hat, versteht er plötzlich nicht mehr. Für mich ist dieses Ende sehr traurig, sehr pessimistisch.“ (Reinhard Palm: Gespräch mit Yasmina Reza, 14.02.1996, © Schauspielhaus Zürich, 3.). 15 Ulrike Schrimpf: Yasmina Reza. Das Lachen als Maske des Abgründigen. Gespräche mit Ulrike Schrimpf, Lengwil am Bodensee, Libelle-Verlag, 2004, 32. 16 Junges französisches Drama. Programmheft des Thalia Theaters Hamburg 2005. 17 „Femmes d’attente“, in: Libération, 17.03.2004. 79 18 Neue französische Dramatik III. 21. bis 25. April 1999. Programmheft der Baracke am Deutschen Theater Berlin 1999. 19 Ebda. 20 Jean-Pierre Ryngaert: Lire le théâtre contemporain, Paris, Nathan, 2003, 176. 21 Patrice Pavis: Le théâtre contemporain. Analyse des textes, de Sarraute à Vinaver, Paris, Nathan, 2002, 196. 22 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main, Verlag der Autoren, 1999, S. 51. 23 Ebda., 146. 24 Vgl. Julie Sermon: „Le personnage contemporain et ses états... (de paroles)“, in: Pratiques 119-120, 2003, 119-130, 130. 25 Jean-Pierre Ryngaert: „Ecritures théâtrales: état des lieux“, in: Pratiques 119-120, 2003, 109-118, 116. 26 Patrice Pavis: „Vorzeitiger Überblick oder vorläufige Schließung wegen Inventur zum Ende des Jahrtausends“, in: Theater der Welt 1999 in Berlin. Arbeitsbuch Theater der Zeit, Berlin, Theater der Zeit, 1999, 29-35, 33 (Pavis 1999). 27 John von Düffel: „Neue Texte braucht das Land. Programmlosigkeit und Perspektiven - zur Lage der neuen deutschen Dramatik“, in: Theater der Zeit, 10, 2000, 16-18, 17. 28 Hans-Thies Lehmann: „Die Gegenwart des Theaters“, in: Erika Fischer-Lichte/ Doris Kolesch/ Christel Weiler (eds.): Transformationen. Theater der Neunziger Jahre, Berlin, Theater der Zeit, 1999, 13-26, 17sq. 29 Vgl. Pavis 1999, 33. Résumé: Irina Szodruch, Transfer de texte: Au sujet de la réception du drame contemporain français en Allemagne donne d’abord un aperçu de la situation du drame contemporain en France, qui - grâce à des subventions et un grand intérêt du public - présente actuellement un large éventail d’auteurs très différents. La réception de ce nouveau drame français en Allemagne est alors analysée aux exemples des pièces „ART“ de Yasmina Reza et J’étais dans ma maison et j’attendais que la pluie vienne de Jean-Luc Lagarce. Tandis que la pièce „ART“ a un grand succès au niveau mondial grâce à sa forme dramatique accessible et sa tragi-comique universelle, J’étais dans ma maison... est considéré en Allemagne comme „Théâtre de la parole“ difficilement représentable. Le traitement de la langue très divergent dans les deux pièces ainsi que leur rapport spécifique à la réalité semble être le facteur décisif pour le succès d’une pièce française en Allemagne. 1: 58 80 Jorge Semprún Philosophie als Überlebenswissenschaft Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam (25. Mai 2007) In der Zeit - sie liegt weit zurück - als ich mich besonders für die Philosophie interessierte, nicht nur als „Berufung“, sondern als möglichen „Beruf“, waren es einige Sätze von Edmund Husserl, die meine Auffassung der philosophischen Tätigkeit spiegelten und zusammenfassten: Sätze, die meiner Meinung nach das konzeptionelle Programm jedes ehrgeizigen und rigorosen Denkens begründeten. Ein Programm, das vielleicht nicht ganz zu vollenden war, das als letztes Ziel unerreichbar blieb, aber auf das man in keinem Fall verzichten durfte. Ein (über)lebenswichtiges Programm. Husserl hatte in der Tat gerade die Bereiche des theoretischen und praktischen Lebens eingegrenzt und sich die Frage nach den Beziehungen zwischen beiden Sphären gestellt. Er zeigte auf, dass es eine Form der Verbindung gibt, die nicht mehr mythisch-religiös bestimmt war, und die auch keine rein theoretische Haltung blieb. Dieser dritte Weg, so betonte Husserl, ist etwas Neues, das man folgendermaßen definieren könnte: Er ist eine neue Art der Praxis, die auf einer universellen Kritik jeder Art von Leben, aller Ziele eines Lebens gründet. Kurzum: eine Kritik aller kulturellen Formationen und Systeme, die sich aus dem Leben der Menschheit entwickelt haben. Folglich würde besagte neue Praxis in einer Kritik der Menschheit selber und der Werte, die sie direkt oder indirekt leiten, münden. Schließlich müsste sich diese neue Praxis vornehmen, die Menschheit dank der universellen wissenschaftlichen Vernunft zu höheren Ebenen zu leiten, sie zu Höherem zu animieren - nach Normen jedweder Art, deren Ziel es wäre, eine Art grundlegend neuer Humanität zu schaffen, dazu fähig, für sich selbst auf die Herausforderungen des Lebens kraft einer globalen theoretischen Vision zu antworten. Diese Formulierung schien mir, so abstrakt sie auch klingt, so sehr sie auch einer konkreten und historisch determinierten Analyse oder Entfaltung bedarf, diese Formulierung erschien mir in jenen weit zurückliegenden Jahren meiner philosophischen Bemühungen, in meiner Jugend also, die bestmögliche Definition der theoretischen Tätigkeit, wenn man sie in ihrer konzeptionellen Ehrlichkeit versteht und zugleich in ihrem heilsamen Bemühen, Einfluss in der Welt des Lebens auszuüben. Diese Formulierung Husserls schien mir darüber hinaus, auch wenn dies heute überraschend, sogar paradox klingt, eine gute Definition der marxistischen Konzeption der Praxis zu begründen. Wenn man also diesen Bezug zum theoretischen Denken von Marx verstehen will - der heute arrogant oder vielleicht sogar naiv klingt, der sozusagen engels- 81 gleich abstrahiert von den historischen Bedingtheiten, den späteren Erscheinungsformen des Marxismus, seinen beunruhigenden epigonalen Abdriftungen, dann muss man das philosophische Panorama jener zurückliegenden Jahre, den Kontext, in dem diese Referenz auf Marx steht, unbedingt, und sei es nur ganz kurz, aufzeigen und erörtern. Welche Art von Philosophie wurde zu Beginn der 40er Jahre in Frankreich in den Oberstufen des Gymnasiums und in den ersten Semestern an der Universität gelehrt? In welchem konkreten Rahmen entwickelte sich damals meine philosophische Ausbildung, mein Werdegang? Man kann das in wenigen Worten sagen. Auf dem Feld der eigentlichen Philosophie - wenn man also die Vorherrschaft der Historiographie ausklammert, in der die Schule der Zeitschrift Les Annales mit Marc Bloch, Lucien Febvre und vielen anderen eine Bewegung in Gang brachte, die überaus fruchtbar und wichtig geworden ist; wenn man außerdem die Soziologie ausklammert, in der Emile Durckheim und seine Gruppe eine kreative Epoche vielschichtiger, nuancenreicher und hochspezialisierter Forschungen eingeleitet haben, die unverändert andauert; wenn man sich also nur auf die streng definierte philosophische Theorie bezieht, dominierte im Frankreich jener Jahre eine sonderbare Mischung aus einem diskret rationalen und positiven Spiritualismus und einem freundlich spiritualistischen und vitalistischen Positivismus - und dies ohne eine proklamierte Absicht von Hegemonie, sondern auf eher informelle Weise. Die Epoche, in der Henri Bergsons Denken in der Kulturgesellschaft und an den französischen Universitäten herrschte, war bereits zu Ende gegangen. Der breite Strom des Denkens, Lehrplan und Universität hatten zu ihrem althergebrachten Bett des subjektiven Idealismus zurückgefunden - und zwar in einer ideologischen Fassung, die sich besonders vom Werk Victor Cousins herleitete. Eine evidente nationale Endogamie spiegelte sich in den philosophischen Strömungen, die am meisten gelehrt und verbreitet wurden. Die einzigen Ausnahmen von dieser endogamischen Norm stammten aus den ebenfalls traditionellen Gepflogenheiten des akademischen Austausches, dem Kontakt mit der deutschen Philosophie. Das wurde besonders deutlich an zwei Phänomenen, die zwar beide nur in ihren Anfängen standen, aber dennoch schon signifikativ waren. Einerseits konnte man ein zwar nur minoritäres, aber wachsendes Interesse für die Philosophie Hegels feststellen - auch wenn dies mit einer objektiven Verspätung geschah. Man begann, seine Werke zu übersetzen und sachliche Untersuchungen und scharfsinnige Kommentare dazu zu publizieren. In diesem Kontext muss ich auf jeden Fall den Namen von Jean Hyppolite nennen, dessen Einfluss auf die französische Universität jedoch erst später, seit den fünfziger Jahren, wirklich wichtig wurde. Ein anderer Brennpunkt von Hegels Einfluss in Frankreich war das berühmte Seminar von Alexandre Kojève, einem brillanten und enigmatischen Denker, ein Seminar, das er von 1933 bis 1939 hielt und in dem er eine überaus geistreiche und originelle Lektüre von der Phänomenologie des Geistes gab. Seine Anmerkungen, Konzepte und Vorlesungen wurden später publiziert, nämlich von einem sei- 82 ner Assistenten, dem Schriftsteller Raymond Queneau. Das geschah im Jahr 1947. An diesem Seminar nahmen regel- oder unregelmäßig so unterschiedliche, aber zugleich so einflussreiche und für das französische Kulturleben wichtige Persönlichkeiten teil wie Raymond Aron, Georges Bataille, Jacques Lacan, Raymond Queneau, Maurice Merleau-Ponty, Jean Hyppolite, André Breton oder Roger Caillois. Und alle haben auf die eine oder andere Weise in ihrem Werk den Einfluss widergespiegelt, den das Seminar von Alexandre Kojève auf sie ausgeübt hatte. In diesen Kontext der zunehmenden Verbreitung und Kenntnis von Hegel fällt auch der offenkundige, zunehmende Einfluss der Ideen von Karl Marx - nicht der politischen, der sich anderen strukturellen Gründen verdankt - sondern der streng philosophischen Ideen. Junge französische Philosophen und Professoren, wie Georges Politzer, der während der Résistance von den Nazis erschossen wurde, Henri Lefebvre, Paul Nizan und Norbert Guterman waren herausragende und polemische Neuerer, die das Marx’sche Denken in die französische Kultur brachten. Und selbst - und das war bevor ich einen einzelnen Band von Schellings Werken in der Bibliothek von Buchenwald fand - mein erster persönlicher Kontakt mit diesem Philosophen verdankte sich einer französischen Übersetzung der Untersuchungen über die Freiheit des Menschen von Georges Politzer, mit einer Einführung von Henri Lefebvre. Beide waren die marxistischen Philosophen, die damals am bekanntesten waren. Die zweite Ausnahme von der während meiner Studienzeit ziemlich selbstzufriedenen Endogamie der französischen Universität war die allmähliche Einführung einiger Themen aus der Phänomenologie Husserls, die Teil der philosophischen Debatten Frankreichs in den 30er Jahren wurden. Hier handelt es sich nicht darum, jene Frage detailliert zu erörtern - das ist ja selbstverständlich. Ich werde lediglich einige wichtige Fakten aufzählen, die objektiv relevant sind und darüber hinaus einen großen Einfluss auf meinen eigenen Werdegang hatten. Als erstes sollte man die frühen theoretischen Schriften von Jean-Paul Sartre in Erinnerung rufen. Ich beziehe mich nicht auf sein Werk Das Sein und das Nichts aus dem Jahre 1943, das ich im gleichen Winter im Gefängnis von Auxerre las, nachdem mich die Gestapo verhaftet hatte. Das ist ein in gewisser Weise maßloses und ausschweifendes Buch, in dem der keineswegs zu verachtende philosophische Inhalt eher wie ein romanhaftes Epos des Ichs und seiner Bedingtheiten denn als strenge Wissenschaft erläutert wird. Ich beziehe mich viel mehr auf seine Arbeiten aus den 30er Jahren, bevor Sartre die Romanform als entscheidendes, als fundamentales Ausdrucksmittel seiner Ideen wählt. Ich denke an Über die Einbildungskraft (1936); an Die Transzendenz des Ego. Versuch einer phänomenologischen Beschreibung (1938), an: Das Imaginäre: Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft (1938), und schließlich an Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität (1939). 83 Die Lektüre dieser Texte - so bahnbrechend neu sie für einen Studenten wie mich waren, der sich leidenschaftlich für die philosophische Forschung interessierte, aber gelangweilt war von der banalen Oberflächlichkeit des akademischen Unterrichts, sowohl in seiner spiritualistischen Strömung, die an der Sorbonne ehrwürdige, aber blasse Figuren wie Louis Lavelle oder René Le Senne verkörperten oder in seiner positivistischen Version Professor Guillaume, Ordinarius der Psychologie - die Lektüre besagter Texte von Sartre sowie die Entdeckung eines langen, gehaltvollen Artikels von Emmanuel Levinas in der Revue Philosophique, in dem er eine brillante Einführung in das Werk Husserls lieferte, führten mich dazu, alle Arbeiten dieses Philosophen - und es waren nicht viele - zu studieren, die mir damals in Paris zur Verfügung standen. Dieses persönliche Bemühen, Kenntnisse zu erwerben - ohne sie irgendwie verwerten zu können, denn das Werk Husserls stand auf keinem universitären Lehrplan für die Abschlussprüfungen - hatte jedoch eine unerwartete, aber glückliche akademische Konsequenz. Wenige Monate später wurde ich in der Tat für einen zentralen Wettbewerb ausgewählt, der jedes Jahr unter den besten Studenten eines jeden Jahrgangs an allen Gymnasien und Oberschulen Frankreichs stattfindet. Ich wurde natürlich ausgewählt, an der Philosophieprüfung teilzunehmen. Das Glück wollte es, dass das Thema, das den Teilnehmern an diesem Examen im Jahre 1941 vorgelegt wurde, das der philosophischen Intuition war. Meine kürzlich erfolgte Lektüre von Husserl und Levinas erlaubte es mir daher, eine etwas ungewöhnliche Arbeit zu verfassen, die die routinemäßigen Pfade dieser Art von Prüfung verließ, da weder Husserl noch Levinas Gegenstand des vorgeschriebenen Lektürekanons, der Pflichtlektüren für die Schüler der Philosophieklassen war. Wie dem auch sei, ich belegte bei dieser Gelegenheit den zweiten Platz im Wettbewerb. Da meine Studien kurz danach durch die langen Kriegsjahre - Résistance und Deportation - und später durch die anti-franquistischen Jahre im Untergrund, in der Klandestinität unterbrochen wurden, war dieser Preis im französischen Wettstreit bis zu dieser heutigen Verleihung des Doktorats honoris causa meine einzige akademische Auszeichnung, obwohl ich mich in meinem ganzen Leben immer weiter mit der Philosophie beschäftigt habe. Jahre später, besser gesagt Jahrzehnte später, als ich Kulturminister in der Regierung von Felipe González war und dem gleichen Kabinett angehörte wie Javier Solana, der soeben in Aachen den Karlspreis erhalten hat, fiel mir die Ehre zu, eine Veranstaltungsreihe in Madrid über Emmanuel Levinas zu präsidieren. Ich nutzte diese Gelegenheit, um ihm zu erzählen, wie ich vor so langer Zeit den zweiten Preis in dem allgemeinen Philosophie-Wettbewerb in Frankreich gewonnen hatte. Diese Anekdote brachte ihn zum Lächeln, es amüsierte ihn, wenigstens indirekt, Anlass für meinen Preis gewesen zu sein. Ich erinnere mich aber, dass mir in seinem Blick ein gewisses Staunen aufgefallen war: Es musste ihm sonderbar vorkommen, dass ein Minister, auch wenn es der Kulturminister war, seinen Essay über Die Theorie der Intuition in der Phänomenologie Husserls gelesen hatte. 84 Diese knappen Andeutungen wären jedoch nicht korrekt, sogar ungerecht, wenn ich nicht den ungeheuren Einfluss erwähnen würde, den ich der Lektüre der philosophischen Werke des jungen Marx verdanke: diesem Schöpfer neuer Ideen, die alte Überzeugungen zu Fall brachten. Heute würde es einem achtzehnjährigen Studenten, sollte er eine exklusive und possessive Leidenschaft für die Philosophie haben, sicher nicht leicht fallen, nachzuvollziehen oder sich vorstellen zu können, was die Entdeckung des theoretischen Denkens von Marx für mich, für eine ganze Generation bedeutet hat. Sicher werden sich die Studenten und Studentinnen von heute, genau wie wir damals, in der Zeit des antifaschistischen Krieges, unverändert für die griechischen Denker interessieren, für die klassischen Autoren der Philosophie, vor allem für die Giganten des deutschen objektiven Idealismus. Sicher gibt es für die Studenten und Studentinnen von heute auch zeitgenössische Philosophen, die ihnen dabei helfen, sich in der anarchischen Komplexität eines in schnellem Wandel befindlichen Universums zurechtzufinden, das unentwegt von sozialen und ideologischen Bewegungen umgewälzt und revolutioniert wird, insbesondere von den zügellosen Fortschritten der planetarischen Technologien; ein Universum, das von dem Zusammenbruch der traditionellen Imperien in seinen Grundfesten erschüttert worden ist. Es wird Theorien geben, die ihnen helfen, eine Moral des Engagements, der klaren Analyse und des intellektuellen Abenteuers aufzustellen. Aber ich glaube andererseits nicht, dass einer dieser Autoren, so wichtig sie auch sein mögen, so sehr sie es auch verdienen, studiert und gehört zu werden, heute eine vergleichbare theoretische und praktische Begeisterung wecken könnte, wie die Entdeckung von Marx durch meine Generation. Ich möchte mich auf diese knappe Behauptung beschränken. Um dieses Thema nämlich wirklich aufzurollen, würde die wenige Zeit, die mir für diese kurze Danksagung zur Verfügung steht, keineswegs ausreichen. Dafür wäre ein ganzes Semester an dieser philosophischen Fakultät notwendig, und da wir in Potsdam sind, am besten ein Sommersemester, nicht wahr? Dennoch will ich es wagen, hier zwei Beobachtungen oder Kommentare zu skizzieren. Als erstes möchte ich - und das halte ich für eine Verpflichtung intellektueller Redlichkeit - meine aktuelle Beziehung, in diesem konkreten historischen Moment, zum Denken von Marx, zum Marxismus von Marx - wie Raymond Aron und Kostas Papaïannou zu sagen pflegten - erläutern. Natürlich bedeutet das blutige oder blutrünstige Scheitern der Russischen Revolution sowie aller Revolutionen, die sich in der Folge vom Leninismus inspirieren ließen, die Verpflichtung, auf das Schärfste zwischen dem originellen, fragmentarischen, nicht geschlossenen, manchmal widersprüchlichen und schwankenden Denken von Marx selber und dem seiner Epigonen zu unterscheiden, angefangen bei dem Schlimmsten, bei dem, der das meiste Unheil gebracht hat, Wladimir Iljitsch Lenin, ein großer Kriegsherr, ein guter Taktiker, ein miserabler Philosoph, 85 der keinerlei moralische Skrupel kannte und Schuld an der ersten ideellen und praktischen Vereisung trägt, die den Weg für den Stalinismus frei machte - ein Phänomen, das heute ausreichend untersucht worden ist. Diese deutliche Unterscheidung, diese Rückkehr zum ursprünglichen Marxismus ist sicher eine akademische Aufgabe, ohne große praktisch-historische Auswirkungen. Es ist ein Unterfangen, dessen positive Ergebnisse, sollte es sie geben, unmöglich bewertet werden können. Das hat man schon hier und da einmal versucht, und im allgemeinen, man weiß nicht warum, in Ländern, in denen die historisch-kulturelle Tradition das Entstehen von starken kommunistischen Massenparteien zum Glück verhindert hat. Auf jeden Fall war die Rückwendung zu Marx nicht nur ein widersprüchliches - jeder Autor hat beim ursprünglichen Marx die Rechtfertigung für seine eigene Dissidenz gesucht -, sondern immer auch nur ein minoritäres, fast vertrauliches Unterfangen, das sich auf universitäre Kreise beschränkte. Ich persönlich muss in diesem Kontext eine entschiedene, aber ziemlich dialektische, also eine in sich, in ihrem eigenen Gehalt widersprüchliche Meinung äußern, die aber sowohl in ihrem positiven wie negativen Aspekt aussagekräftig ist. Ich werde das in wenigen Worten sagen und laufe dabei natürlich Gefahr, unzulässig zu reduzieren oder zu schematisieren. Ich möchte sagen, dass der Marxismus heute, auch wenn er auf seine konfuse und aufkeimende originäre Reinheit zurückgeführt wird, d.h. frei von allen Zugaben und Abweichungen des Leninismus ist, seien sie stalinistischen oder trotzkistischen Ursprungs, dieser gereinigte Marxismus könnte dennoch heute niemals mehr auf historischer Ebene wirksam sein, d.h. im sozialen Kampf, der eine mehr oder weniger aktive Beteiligung der Massen bedeutet. Der Marxismus von Marx kann heute - zum Glück oder Unglück - nur noch als eine interessante geistige Übung angesehen werden, geeignet für internationale Seminare auf höchster Ebene, aber mit bescheidenen Einflussmöglichkeiten. Aber sofort muss ich hinzufügen, im gleichen konzeptionellen Bogen, dass der Marxismus von Marx ohne Zweifel heute aktueller ist denn je, wenn man die analytische Art und Weise betrachtet, wie er die Mechanismen der kapitalistischen Marktwirtschaft erforscht und aufgedeckt hat und dabei seine prophetischen Aspekte, seien sie Voraussagen oder Predigten, außer Acht lässt. Die heutige globalisierte kapitalistische Gesellschaft ähnelt in der Tat viel mehr dem, was Marx in seinen Manuskripten von 1857/ 1858 beschreibt, den berühmten Grundrissen, als dies für die Gesellschaft seiner Zeit zutraf. Manche halten die Grundrisse für Skizzen und Vorarbeiten zu dem Werk, welches Das Kapital wurde. In Wirklichkeit sind sie jedoch viel mehr: Sie erforschen theoretisch einen viel weiteren Horizont, eine Perspektive der Entwicklung des Kapitalismus, den der Lauf der Geschichte nur bestätigt hat. Trotz ihrer unorganischen, unvollständigen Form befassen sich die Grundrisse mit der entscheidend wichtigen Frage der vorhersehbaren Entwicklung des Kapitalismus, seinen permanenten Transformationen und dies auf eine Art, die viel hellsichtiger ist als die Bücher des Kapitals. Marx hat nämlich dieses letzte 86 Werk in Wirklichkeit nie beendet, weil es nicht beendet werden kann, es behandelt lediglich einen Teil des vorhersehbaren historischen Horizonts, mit dem sich die Grundrisse so meisterhaft beschäftigt haben. Um diesen Punkt abzuschließen, möchte ich noch hinzufügen, dass der Marxismus die Jugend meiner Generation nicht wegen seines proklamierten wissenschaftlichen Charakters oder wegen der vermeintlichen globalen Kohärenz seiner Weltanschauung verlockt, verführt oder begeistert hat: Wir erwarteten vom Marxismus nicht die Gewissheiten einer strengen Wissenschaft, sondern die Losungen für eine revolutionäre Aktion. Wir wiederholten voller Freude die berühmte These von Marx über Feuerbach, in der behauptet wird, dass die Philosophen sich bislang darauf beschränkt hatten, die Welt nur verschieden zu interpretieren, wo es doch darauf „ankommt, sie zu verändern“. Das klang gut, war kriegerisch und eloquent, aber doch nichts weiter als ein Sophismus: Man kann nur das umwandeln, was man korrekt interpretiert hat. Das hat die Geschichte bis zum Überdruss gelehrt. Was uns am Marxismus interessierte und mobilisierte war das metaphysische Postulat über die Existenz einer universellen Klasse, des Proletariats, dessen historische Aufgabe darin bestand, die Klassengesellschaft zu beseitigen und darüber hinauszugehen. Vor vielen Jahren habe ich diese Frage in meinem Roman Was für ein schöner Sonntag so formuliert: Aber jener blinde Punkt in der Theorie von Marx [...] ist auch sein verblendender Punkt. Ich meine damit den Brennpunkt, in dem die ganze grandiose Illusion der Revolution erstrahlt. Ohne jene falsche Vorstellung von der universalen Klasse wäre der Marxismus nicht zu der materiellen Macht geworden, die er gewesen ist, die er teilweise noch immer ist, indem er die Welt grundlegend umwandelt, sei es auch, um sie noch weniger lebenswert zu machen. Ohne jene Verblendung wären wir keine Marxisten geworden. Nur um die Produktionsmechanismen des Mehrwerts abzubauen, nur um die Fetichismen der Unternehmergesellschaft zu enthüllen, ein Gebiet, auf dem der Marxismus unersetzlich ist, wären wir keine Marxisten geworden. Wir wären Professoren geworden. Der tiefe Un-Sinn des Marxismus, der konzipiert wurde als Theorie einer universalen revolutionären Praxis, ist unser Lebenssinn gewesen. Meiner jedenfalls. Ich habe also keinen Lebenssinn mehr. Ich lebe ohne Sinn.1 Das schrieb ich in dem Roman Was für ein schöner Sonntag. Würde ich das heute auch sagen? Natürlich nicht. 1980, als ich das Buch schrieb, hatte ich meine Trauerarbeit noch nicht beendet, hatte ich die letzten Konsequenzen noch nicht gezogen. Heute würde ich das nicht mehr sagen. Heute möchte ich andere Dinge über den Sinn des Lebens sagen, über meine neuen Gründe, zu leben. Auch wenn ich unverändert denke, dass Leben Überleben ist. Das meine, auf jeden Fall. 1 Semprún, Jorge: Was für ein schöner Sonntag“ - Aus dem Franz. von Johannes Piron. - Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1999, 155. 87 Es war an einem Januartag, 1944, am frühen Morgen. Es war in Buchenwald. Wir hatten das Ende eines langen Wegs der Initiation erreicht. Nach der Zeremonie der Desinfizierung gelangten wir durch einen Tunnel des Gebäudes in die ‘Effektenkammer’. Wir kamen nackt an, wie Neugeborene. Oder besser gesagt, wie künftige Kadaver. Es war sowohl Tod wie Geburt. Ein Abschnitt des Lebens ging zu Ende, eine Epoche des Todes begann. Auch wenn wir noch nichts Genaues über die Existenz wussten, die wir in Buchenwald führen würden, hatten wir bereits ein vages Bewusstsein für die Situation. In dem langen Gang der ‘Effektenkammer’ warfen ein paar Männer von einem an der Seite stehenden Tisch uns, die wir vorbeigingen, ein paar Kleiderstücke hin, eher Lumpen, nachdem sie sicher einen Blick auf uns geworfen hatten, um die Größe und Beschaffenheit eines jeden auszumachen. Diese Männer waren nicht die Militärs der Waffen-SS, die uns seit dem Lager von Compiègne, in Frankreich, begleitet und bewacht hatten; es waren auch keine Nazi-Funktionäre, denn ihre Ausstattung war anders, sie trugen auf der Brust ein rotes Dreieck und eine Nummer, in die Jacke auf der Höhe des Herzens eingenäht; es waren Männer, die weder brüllten noch uns beleidigten wie die Soldaten und Unteroffiziere der Waffen- SS es bislang gemacht hatten; nein, diese Männer hier waren erstaunlich ruhig. Sie gaben uns Zivilkleidung, aber die Teile gehörten nicht zueinander, passten auch nicht und wirkten irgendwie komisch oder tragisch absurd. Am Ende des Ganges, angezogen wie die Clowns, standen wir dann vor einem langen Tisch, wo unsere Identitäten auf Karteikarten festgehalten wurden. Ich kam an die Reihe, sagte meinen Vor- und Nachnamen, das Alter, die Nationalität. Dann fragte mich der deutsche Deportierte, der meine Karteikarte ausfüllte, ein Mann von etwa 40 Jahren, mit einem eisigen, stahlblauen Blick, einem verzweifelten Blick - wie aus einem jenseitigen Leben - nach meiner Tätigkeit. „Beruf? “, fragte er. Aber ich habe diese Geschichte, diese Episode von meiner Ankunft in Buchenwald ja schon erzählt. Susan Rubin Suleiman, eine amerikanische Professorin der Harvard University, widmet ein Kapitel ihres Essays Crises of Memory and the Second World War darauf, die Beziehung zwischen Zeugnis und Fiktion in meinen Erinnerungsbüchern über die Erfahrungen von Buchenwald zu analysieren. Und sie führt die vielen Variationen dieser Episode auf, vier oder fünf, die sich alle leicht voneinander unterscheiden. Von dieser Unterschiedlichkeit ausgehend leitet Susan Rubin Suleiman ein paar Beobachtungen ab oder zieht Schlussfolgerungen, die den Sinn des Erzählens und des literarischen Schaffens betreffen. Interessante Beobachtungen. Damit will ich sagen: Sie haben auch mich, den Erzähler, interessiert. Ich werde sie hier natürlich nicht aufführen. Ich möchte nur sagen, dass vermutlich noch 88 weitere Fassungen zu den bereits existierenden dieser Episode hinzukommen werden. Denn die Erinnerung ist, zunächst einmal, unerschöpflich. Und dann auch, weil die Gesichtspunkte sich ändern, weil die Intentionalität der Erzählung eine andere wird. In dem Buch, an dem ich jetzt arbeite, Exercices de survie, weil sich dieses Buch auf Französisch schreibt, komme ich ausführlich auf die Episode mit der Karteikarte zurück. „Beruf? “, fragte mich der deutsche, unbekannte Kamerad. „Student“, antwortete ich ihm. Und fügte hinzu: „Philosophiestudent, genauer gesagt“. Er schaute mich lange an, mit einem gewissen Mitleid, aber mit Sympathie. „Das ist doch kein Beruf“, sagte er. Ich bestand auf meiner Antwort: „Kein Beruf, aber eine Berufung! “ Er schaute mich wieder an, noch überraschter, mit noch mehr Mitleid. Auch mit mehr Sympathie, glaube ich zu erinnern. Er erklärte mir kurz, warum es in Buchenwald besser war, einen Beruf zu haben und, noch besser, ein Spezialist zu sein: ‘Facharbeiter’. Ich bestand auf meiner Aussage ‘Philosophiestudent’, denn das war ich, nichts anderes, ich konnte auch nichts anderes sein. Er verabschiedete mich mit einer gebieterischen Handbewegung. Ich dachte, er habe sich damit abgefunden und mich als ‘Student’ eingetragen. Erst ein halbes Jahrhundert später, bei meinem ersten Besuch in Buchenwald 1992, habe ich erfahren, dass er nicht ‘Student’ auf meiner Karteikarte eingetragen hatte, sondern ‘Stuckateur’, sicher wegen der phonetischen Assoziation. Da wusste ich, dass mir jener deutsche unbekannte Kommunist wahrscheinlich das Leben gerettet hatte, da er mich als ‘Fach-arbeiter’ davor bewahrt hatte, direkt nach der Quarantäne auf eines der mörderischen Außenkommandos geschickt zu werden, wie zum Beispiel das von Dora. Sie sehen also, dass ich in einem neuen Buch noch einmal auf diese Episode zurückkommen werde, mit phänomenologischer Präzision, um ihre Bedeutung in der ganzen Tiefe zu erforschen: Immer bleiben Dinge, die es noch zu entdecken gilt. Übungen zum Überleben, genau darum geht es. Mein Leben heißt Überleben. Verholfen haben mir dazu Glück, Solidarität und die Philosophie. (aus dem Spanischen von Michi Strausfeld) 1: 58 89 Hans Ulrich Gumbrecht Wie könnte man nicht einverstanden sein? Beistimmender Widerspruch zu Ottmar Ette Es gibt viel mehr als genug Gründe, um einverstanden zu sein mit Ottmar Ettes Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“. Wie könnte sich irgendeine Institution, zumal eine Wissenschaft, dagegen sperren, an dem gemessen zu werden, was sie zum „Leben“ beiträgt? Und obwohl die Frage natürlich rhetorisch ist, impliziert sie keinesfalls, dass es nicht immer wieder einmal an der Zeit sein kann [und heute an der Zeit ist], diese an sich selbstverständliche Bestimmung wort- und argumentationsstark in Erinnerung zu bringen. Umso lieber stimmt man zu, als Ette ja - zweitens - darauf besteht, dass die geforderte Zuwendung zum Leben weder den historisch gewachsenen Autonomie-Status der Literatur aufheben, noch das über die zwei Jahrhunderte ihres Bestehens erreichte Komplexitäts-Niveau der Literaturwissenschaft unterbieten darf. So sehr also zu hoffen ist, dass dieses Manifest unter Geisteswissenschaftlern eines Tages populär wird, hat es doch nichts mit [dem sehr wohl existierenden] akademischen Populismus gemein. Von einer Konvergenz in Richtung auf die Naturwissenschaften könnten - drittens - die Geisteswissenschaften im allgemeinen und die Literaturwissenschaft im speziellen gewiss nur profitieren, schon wegen der unvergleichlich größeren Aufmerksamkeit und des viel höheren Ansehens, das den Naturwissenschaften heute in der Gesellschaft - meistens zurecht, glaube ich - zukommen. Als Klammer für eine solche Konvergenz scheint sich der Begriff der „Lebenswissenschaften“ in der Tat anzubieten. Und schließlich stimme ich mit Ettes Eindruck überein, dass die großen Autoritäten, auf die wir romanistischen Literaturwissenschaftler stolz sind - Leo Spitzer und Erich Auerbach zum Beispiel - dem Sinn und den Intentionen seines Manifests beigestimmt hätten, auch wenn ich andererseits überzeugt bin, dass er die Signifikanz des Lexems „Leben“ im letzten Absatz von Auerbachs Mimesis bei weitem überschätzt. Aber davon hängt eigentlich nichts ab. Wo immer ich mit Ottmar Ette nicht ganz vorbehaltlos einverstanden bin, trennen uns höchstens Nuancen - und genau da liegt das eine Problem, das ich mit seiner Programmschrift habe. Es ist mir nämlich kaum vorstellbar, dass irgendeine Kollegin oder irgendein Kollege anders reagieren könnten. Sollten der Text und sein Programm aber nun wirklich keinen potentiellen Adressaten ausschließen, dann wäre dies wohl ein Anzeichen dafür, dass die Konturen der vertretenen Position noch nicht in allen Fällen wünschbar deutlich und kraftvoll sind. In diesem Sinn und in dieser Richtung möchte ich nun - bei aller Beistimmung - drei Vorschläge zur Konturenverstärkung formulieren. Erstens und ganz im Ernst also: wie ließe sich Ettes Zuordnung der Literaturwissenschaft aufs Leben so spezifizieren, dass sie in Widerspruch zu wenigstens einigen anderen Varianten des Selbstverständnisses in unserem Beruf geriete? Für 90 meinen Teil und in diesem Sinn möchte ich den Anspruch ausschließen, dass die Literaturwissenschaft „der Gesellschaft“ schlechthin normative Modelle und Vorstellungen des Zusammenlebens zu stiften imstande sei. Woher sollten ausgerechnet wir, die Literaturwissenschaftler, Kompetenz und Rechtfertigung beziehen, um den Zeitgenossen zu erklären und sogar vorzuschreiben, wie sie ihr Leben einzurichten haben? Nicht wenige Vertreter unserer Vorgängergenerationen haben das Konto in dieser Hinsicht so grotesk überzogen, dass man sich eigentlich - statt ständig über mangelndes Ansehen und mangelnde Finanzierung zu klagen - fragen muss, wie das Fach jene Phase hypertrophen Selbstbewusstseins überleben konnte. Ein solcher Anspruch war ja auch nicht durch die Tradition jener Textbestände gedeckt, auf die wir uns konzentrieren sollten. Die potentiell größte Stärke der Literatur und mithin der Literaturwissenschaft liegt, meine ich, in ihrer Fähigkeit, individuelle Leser zum Nachdenken über die Probleme ihrer individuellen Existenz zu bringen [was die Möglichkeit ausschließt, ihnen bündige Antworten auf ihre Probleme bereitzustellen]. In diesem - tatsächlich wieder: existentialistischen - Gestus sehe ich eine Konvergenz von neuen literaturwissenschaftlichen Tendenzen nach Dekonstruktion und identity studies, welche auch das Verständnis der Klassiker unseres Fachs langsam zu verändern beginnt. Das Motiv von der „Tragödie des alltäglichen Lebens“ etwa, wie es Erich Auerbach in Mimesis aus der Text-Genealogie des europäischen Realismus entwickelt, wird an keiner Stelle des Buchs in ethische Empfehlungen umgesetzt. Gerade deshalb wohl hat es in den vergangenen sechs Jahrzehnten ganz verschiedene Generationen von Lesern mit ihren ganz verschienen Erwartungen und Problemen faszinieren können. Zweitens: gewiss, Ottmar Ette tut gut daran, die in literarischen Texten und Gattungen bewahrten Wissensbestände wieder in den Blick zu rücken. Aber in dieser Hinsicht unterscheidet sich Literatur keinesfalls von anderen Text-Traditionen, von denen der Philosophie und der Theologie etwa, der Wissenschaften, aber auch von jenen bis heute kaum aufgearbeiteten diskursiven Beständen, in denen über die Jahrhunderte immer komplexeres Berufswissen vermittelt wurde. Dass jeder ernsthafte Versuch zur Entwicklung eines metahistorischen und transkulturellen Begriffs von „Literatur“ zum Scheitern verurteilt ist, wissen wir längst. Doch wie würden Sie auf die Frage antworten, welche - streng genommen kontrafaktische - Intuition uns doch immer wieder dazu bringt, von „Literatur“ in einem universalen Sinn zu reden? Für mich ist es die zu einer - längst nicht von allen Kollegen geteilten - Erwartung gewordene Überzeugung, dass literarische Texte die Welt aus Perspektiven beschreiben und in den Blick rücken, welche vielfach exzentrisch sind im Verhältnis zu den institutionalisierten Weltverhältnissen ihrer eigenen Zeiten und oft auch zu den Weltverhältnissen ihrer verschiedenen Lesergenerationen. Tendenziell macht Literatur also unseren Blick auf die Phänomene spannungsreicher, komplexer und - vor allem unter Bedingungen der Moderne - auch konkreter. Das erreichen literarische Texte meist durch die - im jeweiligen historischen Kontext: ebenfalls exzentrische - Verwendung sprachlicher Formen [durch „literarische Verfahren“, hätten die russischen Formalisten gesagt], welche unvermeidlich 91 wohl in Ottmar Ettes Programmschrift eine eher untergeordnete Rolle spielen. Mag dies nun ein unvermeidlicher Preis sein, den Ette um der zentralen Stossrichtung seiner Polemik willen zahlen muss, jedenfalls wird so auch der Blick auf eine spezifische intellektuelle Stärke der Literaturwissenschaftler [oder zumindest: ihrer Elite] verstellt. Die besten Literaturwissenschaftler sind - wie Karl Valentin ganz ohne politische Richtungs-Semantik hätte sagen können - entweder „Linksdenker“ oder für „Linksdenken“ besonders sensibel. Um ein letztes Mal zu Erich Auerbach und Mimesis zurückzukehren: niemandem vor Auerbach war aufgefallen, dass am Beginn des europäischen Realismus eine Konvergenz zwischen den erhabensten Inhalten und den bescheidensten sprachlichen Formen gestanden war. So wie es keinem Literaturwissenschaftler vor Harold Bloom aufgefallen war, dass die künstlerische Energie literarischer Autoren häufiger denn aus elementarer Bewunderung für ihre Vorgänger von dem ödipal-ressentimentgeladenen Wunsch kommt, diese zu „verwunden“. Durch Linksdenken solchen Stils vor allem - und nicht durch vollmundiges Predigen ethischer Prinzipien - unterscheiden sich die besten Literaturwissenschaftler von den Philosophen, aber gewiss nicht einfach dadurch, dass sie Wissen vermitteln. Drittens: Friedrich Nietzsches meist polemisch gebrauchter Begriff des „Lebens“, an dem mir, meine ich, trotz aller von uns geteilten Vorbehalte am Ende ebenso viel liegt wie Ottmar Ette, lässt sich nicht ohne weiteres mit dem Begriff von „Leben“ vermitteln, wie ihn die Life Sciences unterstellen. Das hat wohl vor allem mit dem an sich banalen Sachverhalt zu tun, dass dieses Konzept erst im zwanzigsten Jahrhundert zum zentralen Organon der Naturwissenschaften geworden ist, oder doch zumindest: dass der naturwissenschaftliche Begriff des „Lebens“ heute biochemische Einsichten einschliesst, welche seine Entfernung zu einem in Nietzsches Welt möglichen „Lebens“-Begriff haben wachsen lassen. Trotzdem scheint mir die Bemühung lohnend, eine neue Konvergenz zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften zu fördern - und zwar genau an der epistemologischen Stelle einer neuer Konzeption vom „Leben“. Dazu gibt es bereits eine reiche intellektuelle Vorgeschichte [etwa in der Philosophie von Hans Jonas], deren Ergebnisse und potentielle Vorgaben wir Literaturwissenschaftler nicht übersehen dürfen, wenn wir je in dieser Debatte ernst genommen werden wollen. Es trifft ja auch nicht ganz zu und stellt deshalb unsere Ernsthaftigkeit in ein zweifelhaftes Licht, wie Ottmar Ette [einem Lieblingsgerücht der Geisteswissenschaften folgend] zu unterstellen, dass das von den Biowissenschaften thematisierte Leben und das von ihnen hervorgebrachte Wissen über das Leben kein „Wissen von sicht selbst habe“. Im Gegenteil, seit „Selbststeuerung“ als eine zentrale Komponente des biologischen Lebensbegriffs entdeckt wurde, steht eher der philosophische Begriff der Selbstreflexivität unter einer - wohl bis heute noch nicht eingelösten - Verpflichtung zur Komplexitätssteigerung. Vor allem aber gibt es keinen Anlass zu der immer wieder gemachten Unterstellung, dass Naturwissenschaftler über die Konsequenzen ihrer Entdeckungen für das alltägliche Leben der Menschen und seine Zukunft weniger nachdenken als es Geisteswissenschaftler 92 tun. Erst in konkreter und geduldiger Zusammenarbeit, die der schieren Sonntagmorgen-Rhetorik vom wechselseitig guten Willen nicht mehr bedarf, wird sich herausstellen, welche spezifischen Kompetenzen und Erfahrungen seitens der Geisteswissenschaftler gefragt sein werden. Ottmar Ette verdanken wir die energische Erinnerung daran, dass in solcher Zusammenarbeit und ihren Debatten eine möglicherweise viel versprechende Zukunft selbst für die Literaturwissenschaft liegen könnte. Klaus-Michael Bogdal Lebenskunst, nicht Lebenswissenschaft Vor nicht allzu langer Zeit versammelten sich in der klösterlichen Abgeschiedenheit von Irrsee rund drei Dutzend Germanisten, um auf einem DFG-Symposium über die Grenzen ihres Fachs und die Frage „Rephilologisierung oder Erweiterung“ 1 nachzusinnen. Ottmar Ette, hätte er Gelegenheit erhalten, seine Überlegungen zur „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ dort vorzutragen, wäre auf offene Ohren und dennoch auf wenig Zustimmung gestoßen. Aus Sicht der Germanistik nähert er sich allzu gelassen den unterschiedlichen Theorien und Methoden und stellt erst gar nicht mehr die Frage, ob der Literaturwissenschaft nicht durch die Entgrenzung ihr Gegenstand, die Literatur, abhanden kommen könnte. 2 Von der germanistischen Introspektion unterscheidet ihn erfrischend der Blick über den Tellerrand der Literaturwissenschaften hinaus. Entschieden fragt er, wie schon eine Generation vor ihm in den Sechzigern, nach dem Nutzen unseres Tuns, nach der spezifischen Leistung unserer Wissenschaft für die Gesellschaft. Und mit Neugierde schaut er auf die Erfolgskarrieren von Fächern und Disziplinen, denen es gelungen ist, unverzichtbar zu erscheinen, wenn es um wirtschaftlichen Erfolg, die Sicherung von Macht und die Minderung von Lebensrisiken geht. Bevor ich einige Rückfragen an Ottmar Ettes Programmschrift richte, möchte ich, ohne irgendeine Verbindung auch nur im Entferntesten unterstellen zu wollen, darauf hinweisen, dass der Begriff der Lebenswissenschaften in der Germanistik durch seine Verwendung im Nationalsozialismus auf unerträgliche Weise belastet ist. Dies wäre - vor jeder argumentativen Diskussion über die von Ette gemeinte 1 Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposium 2003, hrsg. v. Walter Erhart, Stuttgart - Weimar 2004. 2 Mit der Frage „Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? (in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41, 1997, 1-8) initiierte der Göttinger Literaturwissenschaftler Wilfried Barner eine intensive fachinterne Diskussion. 93 Sache - ein in der Germanistik wohl auch zu Recht nicht auszuräumender Einwand gegen seine Wiederverwendung. Walther Linden führt ihn 1933 an prominenter Stelle in der „Zeitschrift für Deutschkunde“ ein, und zwar im Zusammenhang mit Forderungen an die Männer des ‘Geistes’, sich entschieden dem Leben des deutschen Volkes zuzuwenden. Die politisierende lebenswissenschaftliche Wende 3 zielte auch damals darauf ab, den Legitimationsvorsprung der Naturwissenschaften zu verringern und gleichzeitig z.B. über morphologische Ganzheits- und Strukturtheorien Verbindungen zu ihnen zu knüpfen. Mit dem Begriff der Lebenswissenschaft begibt man sich in eine unheimliche Nachbarschaft. Rückfragen, die gemeinsame Sache betreffend 1. Worin liegt der Gewinn einer Wissenschaft, die Gesellschaft, Kultur, Geschichte, Technik und Natur umfasst? Der letzte große Versuch einer monistischen, das ‘ganze Leben’ in den Blick nehmenden Wissenschaft, der Historische und Dialektische Materialismus, hat es trotz des eingebauten Humanismus letztlich dazu gebracht, sein beträchtliches Wissen auf den unterschiedlichen Gebieten zu einer Technologie der Unterdrückung zu kombinieren. Der lebenswissenschaftliche Anspruch, z.B. auch geistige Hervorbringungen von der Biologie her umfassend beschreiben zu können, erinnert an die in den sechziger Jahren in der DDR vorherrschenden wissenschaftstheoretischen Homogenisierungstendenzen. So wurden unter dem Begriff der Produktivkräfte Naturressourcen, Kulturgüter, Wissenschaften, Technik und die „Produktivkraft Mensch“ zusammengefasst und einer einheitlichen Betrachtung unterworfen. Die Gegenposition würde mit Max Weber davon ausgehen, dass wir „in einer Vielheit von Welten“ 4 leben, denen man sich in der Wissenschaft nur auf eine ebenso vielfältige Weise nähern kann. „Leben“ stellt zwar im allgemeinen Sprachgebrauch, jedoch nicht in den Naturwissenschaften, die ihre interdisziplinären Forschungen neuerdings mit dem Terminus Lebenswissenschaften belegen, eine lockere und vage Zusammenhangskonstruktion dar, deren innere Kohärenz sich erst noch erweisen muss. Von einem Begriff kann man nicht reden, eher von einem nebelhaften Großsignifikanten wie „Geist“ und „Volk“, die stets Einheit und Bedeutung versprechen und zugleich als positiver Wert zu Handlungen auffordern. Die terminologische Interferenz kennzeichnete schon in den fünfziger Jahren eine erbittert geführte Debatte, die in der Psychologie zwischen der empirischen Richtung des „Laboratoriumsexperiments“ und einer „nicht-operationistischen“ 3 Sie dazu: Gerhard Kaiser, Paratexte 1941/ 42. Eine Annäherung an die „Literatur der Literaturwissenschaft während des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Germanistik, H. 1, 2007, 64-78. 4 Otto Gerhard Oexle, „Wissenschaft“ und „Leben“. Historische Reflexionen über Tragweite und Grenzen der modernen Wissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 41 (1990), H. 3, 158 (145-161). 94 geisteswissenschaftlichen Richtung entbrannte. 5 Immerhin gab es noch ein Bewusstsein dafür, dass es nicht vollständig problemlos sein könne, die Ratte als Versuchstier für Aussagen über den Menschen zu wählen. 6 Ebenso erinnert die damalige Frage, ob entweder Sätze wie „Mir ist so eigen zumute“ oder „Ich weise bestimmte Veränderungen der elektrischen Potentialdifferenzen meiner Zellen auf“ zum Ausgangspunkt psychologischer Forschung genommen werden sollten, 7 an aktuelle Debatten über Gedächtnis oder die Evidenz artspezifischer Normen. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand der von beiden Seiten erhobene Anspruch auf eine allgemeine Theorie des Lebens. Auch damals, als die Anthropologie als Vermittlungswissenschaft ins Spiel gebracht wurde, vermochte die (fachpolitisch) pragmatische Kombination unterschiedlicher Wissensbestände nicht die Frage nach den Gegenständen und der Theorie der eigenen Wissenschaft und damit nach der Differenz zu den anderen - benachbarten oder entfernten - Wissenschaften zu beantworten. Ich möchte hier nicht dafür plädieren, dass eine Wissenschaft nicht in die Praxis einer anderen Wissenschaft eingreifen sollte - wie z.B. die Geschichtswissenschaft in die Literaturwissenschaft seit den Versuchen im 19. Jahrhundert, eine Geschichte der deutschen Nationalliteratur zu schreiben. (Der umgekehrte Fall ist neueren Datums und komplikationsreicher.) Durch Interventionen werden wichtige Anschlussmöglichkeiten an andere Wissensbestände hergestellt und interdisziplinäre Kommunikationsformen gestiftet. Ein neues Wissenschaftsparadigma entsteht so nicht. Ottmar Ette ist zuzustimmen, dass die Literaturwissenschaft sich heute nicht allein mit freundlichen Blicken auf ihre geisteswissenschaftlichen Schwestern begnügen darf, sondern die Implikationen der Forschungsergebnisse einiger Naturwissenschaften mit bedenken muss, auch wenn diese thematisch beschränkt sind. Ebenso muss sie ihre eigene Reichweite und ihre Grenzen erkennen. Ohne eigene disziplinäre Organisation und Leistung jedoch verschwindet sie samt ihrem Gegenstand, der Literatur. 2. Es muss auch mit einer gewissen theoretischen Strenge gefragt werden, was die Literatur mit dem ‘Leben’ zu tun hat, es sei denn man möchte umstandslos zur Widerspiegelungstheorie, zur Sozialgeschichte der Literatur der Siebziger oder zur Geistesgeschichte der Zwanziger zurückkehren. Auch wenn Nietzsche die Staub schluckenden Philologen seiner Zeit dem Gelächter preisgegeben hat, so spielt sich ein nicht unbeträchtlicher und unverzichtbarer Teil literaturwissenschaftlicher Praxis weiterhin in den Mausoleen und Katakomben von Weimar, Marbach, Wolfenbüttel, Berlin und München ab, in denen die Bücher und Handschriften dem ‘Leben’ aus guten Gründen entzogen werden. Nicht nur in der alten paulinischen Tra- 5 Siehe Albert Wellek, Der Rückfall in die Methodenkrise der Psychologie und ihre Überwindung, 2. Aufl., Göttingen, 1970. [1. Aufl. 1959] Zur Vorgeschichte vgl. Nicole D. Schmidt, Philosophie und Psychologie. Trennungsgeschichte, Dogmen und Perspektiven, Reinbek b. Hamburg, 1995. 6 Ebd., 16. 7 Ebd., 12. 95 dition, auch in der noch jungen Literalitätsforschung ist die Schrift ein ‘toter Buchstabe’, der von der ‘lebendigen Rede’ zu unterscheiden ist. Trotz aller Imaginationskraft der lesenden Subjekte untersucht die Literaturwissenschaft nicht die Dinge des Lebens, sondern Wörter und ihr Verhältnis zueinander sowie zu ihrer sprachlichen und nicht-sprachlichen Umwelt. Und wenn wir die Dinge in den Blick nehmen, auf die sich die Literatur bezieht oder die Lebenszusammenhänge, denen sie sich verdankt, lesen wir auch diese als Zeichen, schreiben ihnen Bedeutung zu, erforschen sie aber nicht in ihrer Dinghaftigkeit. Peter Szondis Konzept einer besonderen philologischen Erkenntnis hat sich genau an dieser nicht hintergehbaren Konstellation abgearbeitet. 8 Kunstwerke sind aber nicht nur durch das Medium der Schrift dem ‘Leben’ im Sinne Nietzsches entzogen, sondern ebenso durch die Tatsache, dass sie im Blick auf den Augenblick des Sagens, der Vergangenheit angehören. ‘Leben’ in Nietzsches Historienschrift zeichnet sich durch Gegenwart und eine sich beständig-unbeständig ändernde (Un-)Ordnung aus. Von Leben zu reden ist nur sinnvoll, wenn es um etwas Präsentes (und bei Nietzsche auch mit Energien/ Macht/ Willen Geladenes) geht. Literatur jedoch ist die Umschrift eines Vorgängigen und garantiert dessen Abwesenheit. Im Unterschied zur Kommunikation von Subjekten ‘im Leben’ könnte man die Literatur mit Foucault eine Nicht-Sprache nennen, bzw. eine Sprache, die nur in dieser einmaligen, vergangenen Gestalt existiert. Vielleicht konzentriert sich Ette deshalb in seinen Ausführungen vor allem auf den welthaltigen Roman und erwähnt die Lyrik und das Drama so gut wie gar nicht. 3. Warum wird in der Programmschrift die Argumentationsrichtung umgekehrt, wenn es um die Lebensnähe und Lebensferne bestimmter Wissenschaften und damit auch um die Frage, warum und zu welchem Ende wir Literaturwissenschaft betreiben, geht? Es gibt doch eine lange Tradition der Kritik an der Praxis der Naturwissenschaften, die seit der Kernspaltung und ihren desaströsen Folgen nicht mehr verstummt ist. Das Misstrauen richtet sich gegen szientistische, allein ihrem Forschungsziel verpflichtete, durch Spezialisierung sich der allgemeinen öffentlichen Kontrolle entziehende Wissenschaften und Techniken. Die Literatur hat die Bedrohung humanen Lebens durch Forschungen, deren Kontrolle die sozialen und politischen Möglichkeiten der Gesellschaft überfordern, wiederholt (Brecht, Dürrenmatt u. a.) zum Thema gemacht. Ein gemeinsames lebenswissenschaftliches Dach würde, auch wenn es als mobile Konstruktion gedacht ist, die berechtigte Skepsis und notwendige Kritik nicht gerade befördern. Skepsis und Kritik bilden jedoch die Voraussetzung für Ettes Forderung, sich „um das Leben zu kümmern“. Die Literaturwissenschaft sollte sich dann aber unter Konzentration auf die sprachlich-ästhetische Dimension im Sinne Bert Brechts der Förderung der „größten aller Künste, der Lebenskunst“ zuwenden. Um das Leben kümmern sich leider auch 8 Peter Szondi, Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/ M., 1970. 96 jene, die in ihren Laboratorien an einem „Menschenpark“ bauen und diejenigen, die erfolgreich Fun-Parks betreiben. Mit beiden sollten die Literaturwissenschaften, wenn nötig, in Streit geraten. 4. Empirische Wissenschaften erzielen valide Ergebnisse durch die unmittelbare Beobachtung in der Gegenwart, auch wenn sie Verfahren zur Speicherung von Informationen oder zur Simulation (Beschleunigung oder Verlangsamung) von Prozessen entwickelt haben. Die Literaturwissenschaft hat es im strikten Sinn mit Gegenständen zu tun, die sich in einer unaufhebbaren zeitlichen Distanz zum Forscher befinden. Die Historizität ist nicht weniger als die Empirie eine Errungenschaft der Moderne. Auf welche Weise soll die grundlegende temporale Differenz im Rahmen einer Lebenswissenschaft aufgehoben oder zumindest überbrückt werden? Die literarischen Werke, mit denen wir uns vornehmlich beschäftigen, gehören als überlieferte Monumente Diskursen an, „die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein“. 9 Die empirische Beobachtung würde nicht über die linguistische Deskription hinausführen, wie wir seit den entsprechenden strukturalistischen Versuchen in den Sechzigern wissen. Ein Zugang zu den Werken der Vergangenheit gelingt nur durch die Rekonstruktion ihrer jeweiligen historischen Kontexte und die Dekonstruktion der Sinnzuschreibung, die zwischen diesem Ereignis und unserer Gegenwart erfolgten. Doch vermag die literaturwissenschaftliche Analyse es nicht, die historische Distanz zu den Texten jemals vollständig aufzuheben, noch diese wieder zum Leben zu erwecken. 5. Sehr zuzustimmen ist Ottmar Ettes Forderung, sich nicht nur mit den Emanationen des Geistes zu beschäftigen, sondern ebenso mit den uns weithin noch unerklärbaren Übergängen von der Natur zur Kultur und von der Biologie zur Geschichte. Aber auf welche Weise sollen diese Übergänge gedacht werden, von welchen Grundannahmen können wir ausgehen? Die Lebenswissenschaften zielen auf ein Modell ab, das Kultur und Gesellschaft als Funktion evolutionärer Prozesse (z.B. der Assimilation) erklären möchte. In Zeiten ideologischer Auseinandersetzungen hätte man solche Vorstellungen als ‘vulgärmaterialistisch’ bezeichnet. Müssten nicht die Geisteswissenschaften von Annahmen ausgehen, mit denen sich das Anderswerden, die Kontingenz und Differenzen zum Lebensbegriff der Lebenswissenschaften beschreiben ließen? An ‘starken’, durchaus konkurrenzfähigen Theorien besteht kein Mangel, wenn wir an Aristoteles für die Kunst, an Kant für das Wissen, an Hobbes für die Politik, an Marx für die Ökonomie, an Weber für die Gesellschaft, an Freud für das Begehren etc. denken. Entfalten und vervielfältigen sich Kulturen und Gesellschaften nicht dann, wenn der „Druck des Biologischen auf das Historische“ 10 nachlässt, wenn sich Menschen allmählich 9 Michel Foucault, Archäologie des Wissen, Frankfurt/ M., 1973, 189. 10 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd.1, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/ M., 1977, 169. 97 von den elementaren, evolutionsbedingten Lebensbedingungen lösen und der Aufschub und die Variation biologischer Zyklen zu einer eigenzeitlichen Geschichte führt? Foucault hat diese Loslösung als Geschichte der Subjektwerdung (der Freiheit, der Ethik, der Kunst, des Rechts etc.) und der Entstehung eines diskursiven „Raums“ des Wissens und der Macht skizziert. Geschichte und Gesellschaft sind nicht einfach eine Fortsetzung oder „Unterart des Lebens“. 11 Nicht die Einheit des Lebendigen oder des Lebens ist das Entscheidende für die Entwicklung der Kultur und Gesellschaft, sondern die Natur zerstörende Schaffung eines von ihr unterschiedenen und unterscheidbaren Lebens. Deshalb ist es sinnvoll, von einer zweiten Natur (oder einem anderen Leben) zu sprechen, um die Differenz zur Geltung zu bringen. Der hohe Komplexitätsgrad und die große Ausdifferenzierung, die Kulturen und Gesellschaften erreicht haben, sprechen dafür, bei ihrer Erforschung vor allem dort - wenn auch nicht ausschließlich dort - anzusetzen, wo sich ihre Besonderheit und Eigengesetzlichkeit ausgeprägt haben: in ihrem historischen Werden. Die neueren Lebenswissenschaft beginnen uns allerdings unabweislich daran zu erinnern, dass vor und unterhalb der Geschichte menschlicher Kultur und Gesellschaft eine stumme Ordnung des Lebendigen existiert, von der wir jetzt allmählich erfahren, dass sie für uns mehr birgt als nur Gefahren, Begrenzungen und den Tod. 6. Wie ein roter Faden zieht sich durch Ettes Entwurf das Versprechen der Nützlichkeit einer komplementär verfahrenden, Natur- und Kulturwissenschaft verbindenden Lebenswissenschaft. Sollte damit gemeint sein, dass das kritische Potential der Geisteswissenschaften auf die Naturwissenschaften abfärbt? Auf deren Theorien und Methoden wohl kaum, auf die Handlungen der Forscher vielleicht. Doch wo bleibt die Domäne der Geisteswissenschaften, die Erkundung der Nachtseiten der Kultur und der Schattenseiten der Gesellschaft? Und wo ihre ‘vornehmste’ Aufgabe, die Erforschung des Zusammenhangs von Macht, Wissen und Herrschaft? ‘Nützlich’ sind die Geisteswissenschaften, wenn sie Unterdrückung, Ungleichheit, Konkurrenz, Ignoranz, Lüge, Verstellung, religiösen Hass und deren sprachlich-ästhetische Repräsentationsformen untersuchen. All das mit dem Begriff des „Lebensreichtums“ zu belegen, fällt schwer. Der allzu emphatische Begriff erschwert die Wahrnehmung des Lebens in seiner Widersprüchlichkeit, Ungeheuerlichkeit und Unbegreiflichkeit. Geschichte-Kultur-Gesellschaft sind die in der Moderne entstandenen Rahmenbegriffe, um die Besonderheiten menschlicher Entwicklung jenseits der Evolutionen des Lebendigen zu denken und ihnen einen Sinn zu geben. Ihr Erklärungspotential ist noch lange nicht ausgeschöpft. 11 Michel Foucault, Zur Geschichte zurückkehren, in: Ders.: Schriften in vier Bänden, Band II, Frankfurt/ M., 2002, 347. 98 Toni Tholen Die Literaturwissenschaft und das Leben Bemerkungen anlässlich einer anhebenden Debatte im Jahr der Geisteswissenschaften 1. Zu Ottmar Ettes Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften 2007 In seiner Programmschrift Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft 1 nutzt Ottmar Ette die temporäre Aufmerksamkeit, die den Geisteswissenschaften genau ein Jahr lang zugestanden worden ist, um diese in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung neu zu verorten und sie damit aus dem auch selbstgemachten Kerker der Nicht-Beachtung und Einflusslosigkeit zu befreien. Damit es nicht nur bei einem kurzen Strohfeuer im Bereich des Wissenschaftsbetriebs bleibt, sollte die von Ette initiierte Debatte um eine Neuausrichtung der Literaturwissenschaften möglichst breit und nachhaltig geführt werden. Ettes Denkanstöße gehen in verschiedene Richtungen und sie verstehen sich dabei, wenn mein Eindruck nicht trügt, als wirkliche Anstöße, die weiterzudenken, zu modifizieren und auch kritisch zu hinterfragen sind. Um deutlich zu machen, an welchen Aspekten meine Überlegungen ansetzen, sei zunächst Ettes Anliegen pointiert wiedergegeben. Der Vorschlag, Literaturwissenschaft fortan als „Lebenswissenschaft“ zu betreiben, hat eine doppelte Stoßrichtung: Zum einen zielt er auf eine Selbstkritik der Literaturwissenschaft, insofern sie sich in einem „Garten des Wissens“ (Nietzsche, in: Ette, 7) eingerichtet habe, ohne nach dem Nutzen ihres Tuns fürs Leben zu fragen. Zum anderen konstatiert er eine wachsende gesellschaftliche „Bringschuld“ (Ette, 10) der Literaturwissenschaft. Diese richtet sich auf die Notwendigkeit, das Verständnis dessen, was Leben ist oder sein soll, nicht nur den Life Sciences zu überlassen, sondern dazu beizutragen, die bereits in Gang gesetzte Reduktion eines die kulturellen Dimensionen ausschließenden, nur biowissenschaftlich-naturwissenschaftlichen Verständnisses von Leben zu revidieren. Ettes Globalziel ist die Einbindung verschiedenster Wissenschaften zum Zwecke einer „nicht-reduktionistische[n] Konzeption der Lebenswissenschaften“ (Ette, 11). 1 Ette, Ottmar: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften, in: Lendemains 34 (2007), H. 125, 7-32 (künftig: Ette). 99 2. Ein konstruktiv-kritischer Dialog mit den Life Sciences Die zuletzt genannte Stoßrichtung hat bei Ette zunächst primär eine auf wissenschaftspolitischer und -strategischer Ebene stimulierende Funktion, nämlich die in der Tat nicht unwesentliche Bereitschaft der Literaturwissenschaften zu signalisieren, in eine „lebenswissenschafliche Verbundforschung“ (Ette, 32) einzutreten. Dabei lässt Ette noch weitgehend offen, was in einem solchen Forschungsnetzwerk die genauen Aufgaben der Literaturwissenschaft wären. Allerdings legen einige Formulierungen nahe, dass die Literatur und ihre Interpreten in konstruktiv-kritischer Weise einem einseitigen, durch die Naturwissenschaften und Life Sciences geprägten Wissenschaftsverständnis Grenzen setzen sollen. Darin liegt die Forderung einer kritischen Haltung, insofern die Literaturwissenschaft an literarischen Texten zeigen könnte, dass Leben mehr und vielleicht sogar gänzlich anderes bedeuten kann als biologisches Material, das zu welchen Zwecken auch immer manipulierbar und technisch beherrschbar ist. Sinnvoll wäre es hier allerdings, wie Christoph Menke bei seiner Reaktion auf Ettes Schrift vorschlägt, den Biowissenschaften nicht nur auf epistemologischer Ebene begegnen zu wollen, sondern vor allem eine Kritik ihrer jeweiligen Ideologien zu entfalten. 2 In den Labors und in den Chefetagen von biowissenschaftlichen Instituten und Konzernen (wissenschaftliche und ökonomische Interessen sind hier ja schon längst nicht mehr voneinander zu trennen) befinden sich immer noch Menschen, die ganz bestimmte kulturell geprägte Vorstellungen von Leben und Generierung von Leben haben, deren Forschen selbst eingebunden bleibt in ein Begehren, das immer auch mit dem Wunsch nach Herrschaft und Macht, vor allem aber mit Schöpfungswahn verbunden ist. Man kann in diesem Zusammenhang den kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen, leicht ironisch angehauchten Bericht 3 von einer Tagung unter Natur- und Biowissenschaftlern in den USA über das Thema „Was ist Leben? “ ruhig auch als ernsthaften Beleg für deren zum Teil hochproblematische Selbstbeschreibung und -einschätzung werten, wenn etwa der Genomentschlüssler J. Craig Venter süffisant in die Runde wirft, dass er sich ein Jahr lang bei Vertretern der Religionen erkundigt habe, ob es ‘o.k.’ sei, Gott zu spielen und alle Befragten ihr o.k. gegeben hätten. Es steht zu fürchten, dass solche Geschichtchen mehr Wahres über die Phantasmen und Ideologien von Biowissenschaftlern verraten als irgendwelche gut gemeinten offiziellen Selbstverpflichtungen. Und es könnte u.a. eine Aufgabe der Literaturwissenschaften sein, solche Aussagen als Texte mit all ihren kulturellen Implikaten und Codierungen auf dem Hintergrund 2 Menke, Christoph: Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften. Vier kurze Bemerkungen zu Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“, in: Lendemains 32 (2007), H. 126/ 127, 209. 3 Mejias, Jordan: Lasst uns Gott spielen! Lebensfragen: J. Craig Venter programmiert die Zukunft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.8.2007, 33. 100 bereits vorhandenen kulturellen und historischen Wissens aufmerksam und vor allem kritisch zu lesen. Andererseits zeigt der anekdotenhafte Einwurf Venters aber auch, dass die Vertreter von Kultur und Religion, wer immer sie in diesem Fall gewesen sein mögen, stets anfällig dafür sind, sich „neuen Göttern“, wenn sie denn nun mächtig genug sind, kritiklos zu unterwerfen. Die gigantischen Möglichkeiten, die den Biowissenschaften und -technologien jetzt schon zur Verfügung stehen und in Zukunft noch zur Verfügung stehen werden, führen unweigerlich zu neuen Vorstellungen davon, wie die Welt und das Leben zukünftig aussehen sollen. Das impliziert auch ästhetische Idealvorstellungen, etwa die vom schönen Menschen als geist-leiblich vollkommenes Geschöpf. Die mögliche Durchsetzung solcher gerade auch ästhetischer Wertvorstellungen mitsamt ihrer diskriminierenden Wirkung gegenüber allen, die sich solcher Formung des Lebens widersetzen bzw. aus materiellen oder möglicherweise rassistischen Gründen von ihr ausgeschlossen werden, erzeugt ganz selbstverständlich Ängste, die sich schon seit einiger Zeit in der Literatur zu dichten, bisweilen apokalyptischen Visionen formen, so etwa in Thomas Lehrs meisterhafter Novelle Frühling. Darin werden in surrealistischer Manier die Konturen einer schönen, neuen Welt mit lauter perfekten, biomedizinisch vollkommen heilbaren Menschenkörpern gezeichnet, die sich allerdings durch die halluzinatorische Einblendung der in den deutschen KZs durch medizinische Experimente grausam zu Tode gefolterten Gefangenen als totalitär erweist. Eine zentrale Passage der Novelle imaginiert einen Kongress von Biomedizinern und Pharmakologen, in dessen Zentrum ein großer, lichter Hör- und Sehsaal „wie eine: ganze Stadt“ 4 steht und in dem alle, die in ihn hineingehen dürfen, von ihren Krankheiten geheilt werden. Dass der Text nicht eine Utopie, sondern eine Schreckensvision vor Augen führt, wird durch eine nichtdialektische Inversion der Himmel-Hölle-Metaphorik verdeutlicht. Der Ich-Erzähler, selbst Teilnehmer des Kongresses, berichtet unter dem Eindruck der Vision des Großen Saales: „wir sind nicht in einem Krieg, sondern in der Umkehrung eines Krieges, dies ist kein Schlachtfeld, sondern die Umkehr eines Schlachtfeldes, keine Seuche, sondern die Umkehr einer Seuche, ein katastrophal herrliches Lazarett, eine Heilung im Ausmaß einer Verheerung, ein Segen, der über Zehntausende kommt wie ein Orkan […].“ 5 Die biomedizinische und -technologische Vision eines Paradieses der Gesunden und Erlösten fällt hier mit der irdischen Hölle zusammen. Die literarische Inversion in Lehrs Novelle bringt die Denkfigur einer Hölle hervor, die sich als Paradies verwirklicht. Nun enthalten literarische Texte wie dieser viele Zumutungen für Vertreter der Life Sciences. Ein konstruktiver Dialog zwischen einer ‘lebenswissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft’ und eben jenen Vertretern wird aber davon abhängen, inwieweit sie bereit sind, solche Bilder als in der Tat existierende Angstgemälde von Menschen, die über ein historisches und kulturelles Gedächtnis und 4 Lehr, Thomas: Frühling. Berlin 2005, 94. 5 Ebda., 96. 101 Lebenswissen verfügen, ernst zu nehmen und ihr eigenes Handeln daraufhin zu reflektieren. Umgekehrt wird die Bereitschaft der Vertreter der Life Sciences zu einem Dialog nur dann überhaupt denkbar sein, wenn sich die Literaturbzw. Geisteswissenschaftler mit pauschalen Unterstellungen und Verurteilungen zurückhalten, indem sie z.B. nicht vorschnell literarische Visionen mit der Wirklichkeit verwechseln und sich darüber hinaus über den jeweiligen Stand der Biowissenschaften und ihrer ethischen Selbstreflexion informieren. 3. Zur Selbstkritik der Literaturwissenschaft Zielt der von Ette geforderte Dialog mit den Life Sciences bereits auf eine gesellschaftlich relevante, lebenswissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft, so verbindet sich diese bei ihm mit einer Selbstkritik der Literaturwissenschaft. Und auf dieser Ebene bietet seine Programmschrift einige Aspekte, die es wert sind, vertieft zu werden. Es eröffnen sich hier Fragen, die an die Grundfesten des fachlichen Selbstverständnisses der letzten zwei bis drei Jahrzehnte rühren. Fragen, die umso dringlicher gestellt und beantwortet werden müssen. a) Der Begriff „Lebenswissenschaft“ Zunächst einmal wäre zu fragen, ob es wirklich ratsam ist, die Literaturwissenschaft als „Lebenswissenschaft“ bezeichnen zu wollen. Insbesondere als Germanist ist es mir ein Anliegen, die von Wolfgang Adam bereits vorgetragenen Bedenken noch einmal zu unterstreichen: 6 Ein von der nationalsozialistischen Bildungsterminologie kontaminierter Begriff wie der der Lebenswissenschaft, der zudem bei dem NS-Bildungspolitiker Walther Linden in der mit Ettes Ettiketierung identischen Formulierung „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ auftaucht, ist, zumindest was die Germanistik anbetrifft, nur in Anführungszeichen zu benutzen. Unbehagen erzeugt der Begriff „Lebenswissenschaft“ aber noch aus einem anderen Grund: Trifft er wirklich die unterstützenswerte Intention Ettes, die Literaturwissenschaft auf das Leben hin zu öffnen? Damit ist doch auch die Absicht verknüpft, die Literatur für Aspekte des Lebens zurückzugewinnen, die eben nicht rein wissensmäßig oder gar wissenschaftlich strukturiert, sondern mit Praxis verbunden sind. Und diese Praxis umfasst sowohl ethische Aspekte, die sich in der Frage „Wie kann ich heute (mit anderen zusammen) leben? “ bündeln lassen, als auch Aspekte des Lesens von und des Schreibens über Literatur. Ette berücksichtigt ausdrücklich den ethischen Aspekt, indem er an mehreren Stellen davon spricht, dass Literatur Konzepte von Lebensführung („normative Formen von Lebenspraxis“, Ette, 31) zur Disposition stellt. Nur ist zu fragen, ob diese sich nicht oftmals einer wissenschaftlichen Behandlung gar nicht erschließen, da letztere eine stän- 6 Vgl. hierzu Adam, Wolfgang: Beitrag zur Debatte: Ottmar Ette, Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, in: Lendemains 32 (2007), H. 126/ 127, 227. 102 dige Distanzierung und Relativierung des Lebenswissens des einzelnen Textes von der Person des Lesers fordert. Mit anderen Worten: Das existentielle Bedürfnis, das mit der Öffnung der Literaturwissenschaft aufs Leben hin unweigerlich verbunden ist, und d.h. konkret: Antworten in literarischen Texten auf die Frage nach dem Leben-Können oder dem Über-Leben-Können zu suchen, dieses Bedürfnis geht im Begriff der „Lebenswissenschaft“ nicht gänzlich auf, weil es sich nicht in einem primär wissenwollenden lesenden Subjekt, sondern in einem leben und (mit anderen zusammen) sein wollenden lesenden Subjekt festmacht. Will man aber gerade den existentiellen Aspekt einer neuen Zuwendung der Literaturwissenschaft zum Leben betonen, dann böte es sich vielleicht eher an, von einer Philologie des Lebens zu sprechen. In einer literaturwissenschaftlichen Lebenswissenschaft dominiert immer der Aspekt eines Wissens über die In-Form- Setzung von Leben in der Literatur, und in einem solchen Gewande ist sie nicht dagegen gefeit, in den hortus conclusus akademischen Wissens zurückzukehren. Eine Philologie des Lebens hingegen würde das Wissen über das Lebenswissen der Literatur nicht übergehen, aber sie ließe in bestimmten Situationen des Lesens und in Bezug auf bestimmte dringende Fragen des individuellen Lebens eine Aussetzung, eine Unterbrechung des Wissenwollens zu; eine Zäsur, innerhalb derer sich lesend eine Freundschaft zum Wort, eine Lebensnähe zum Text einstellte, eine Nähe, die nicht nur aus den „Probleme[n] […] individueller Existenz“ 7 resultieren muss und diese bearbeiten soll, sondern die im Akt des Lesens selbst auch die augenblickhafte Gemeinschaft mit einer Stimme, einem im Text vernehmbaren Gefühl, mit der Denk- und Handlungsweise einer Figur (oder deren Ablehnung) sein könnte. b) Autonomie vs. Aufhebung der Literatur(wissenschaft) in Lebenspraxis In dem Moment, in dem ein Literaturwissenschaftler die Notwendigkeit einklagt, dass die Philologien „sich - im vollen Wortsinne - um das Leben […] kümmern“ (Ette, 30) sollen, weiß jeder Kenner der literaturtheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte, welche Reaktionen dies zwangsläufig hervorruft. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unter den ersten Teilnehmern an der Debatte gleich mehrere sind, die die Autonomie der Literatur, d.h. ihre Eigenlogik, ihr eigenes System, ihre Selbststeuerung, ihren Eigensinn nicht angetastet wissen wollen. 8 Die systematischen Argumente dafür setze ich hier als hinreichend bekannt voraus. Ette weiß selbst um das Prekäre seines Unterfangens und spricht deshalb vorsichtig von einer ‘relativen Autonomie’ (vgl. Ette, 8 u. 21) der Literatur, innerhalb derer die Komplexität ihrer eigenen Gesetze und Verfahren auch gar nicht in Frage zu stellen, ja sogar unbedingt zu erhalten sei. Er merkt aber auch zu Recht an, 7 Gumbrecht, Hans Ulrich: Wie könnte man nicht einverstanden sein? Beistimmender Widerspruch zu Ottmar Ette, in diesem Heft, #SEITENZAHLEN#. 8 Vgl. ebda. sowie die Beiträge von Menke und Nünning in Lendemains, 32 (2007), H. 126/ 127, bes. 211f. und 214. 103 dass die Frage der Betrachtung von Kunst/ Literatur bzw. nach deren Funktion immer auch unter bestimmten historischen, gesellschaftlichen und auch wissenschaftspolitischen Bedingungen gestellt wird (vgl. Ette, 9). Und viele Zeichen deuten in der Tat darauf hin, dass sich die gesellschaftlichen und historischen Voraussetzungen in einer Weise schon verändert haben, dass sich auch der Umgang mit der Literatur zu verändern begonnen hat. Genauso wie die Herausbildung einer autonomen „Institution Kunst/ Literatur“ (Peter Bürger) Resultat eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses ist, unterliegt die Infragestellung ihrer Selbstreferenzialität und Selbstgenügsamkeit einem von ihr selbst gar nicht allein steuerbaren Prozess. Und dieser Prozess ist schon - obgleich er lange Zeit von vielen Literaturwissenschaftlern kaum beachtet wurde - seit den neunziger Jahren in vollem Gange. Die wohl auch im Zusammenhang des Verhältnisses von Literatur und Leben bedeutsamste Veränderung außerhalb oder besser gesagt: am Rande der Literaturwissenschaft ging zunächst von den späten Schriften Foucaults zu einer Ästhetik der Existenz aus und bündelte sich um die Jahrtausendwende in einer breiteren Hinwendung zu Fragen der von Ette eigentümlicherweise nicht angesprochenen Lebenskunst 9 und der Ethik 10 . Dabei wurden und werden gerade offene Textformen (oftmals Essays, Briefe, Aphorismen und Tagebücher) zu bevorzugten Medien der Frage, wie man leben könne und vielleicht nicht leben solle, weil sie als literarische gerade keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit ihrer Antworten stellen müssen, wie es etwa in der Moralphilosophie der Fall ist, zumal sie oft genug auch gar keine eindeutigen Antworten oder lebbaren Konzepte anbieten. Es geht in diesem Zusammenhang gar nicht darum, ob sich durch Literatur das Leben oder die Gesellschaft verändern lässt, sondern es geht um die Frage des möglichen oder auch unmöglichen Leben-Könnens der individuellen Existenz in einem als zunehmend defizitär empfundenen gesellschaftlichen Umfeld, freilich oft auch verbunden mit der kleinen Hoffnung auf Veränderung der Lebensformen. Dabei sollte eine Unterscheidung eingeführt werden, die für ein gegenwärtiges Verständnis des an der Literatur/ Kunst orientierten Leben-Könnens von Bedeutung ist: Fragen der Lebenskunst, die an die Literatur herangetragen werden, haben 9 Symptomatisch für diese Hinwendung ist der Erfolg der philosophischen Habilitationsschrift von Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1999 und auch der Nachdruck sowie die Distribution zahlreicher Texte der antiken Lebenskunstlehre im Umkreis der Schule Epikurs und der Stoa durch Verlage und Buchhandlungen. 10 Vgl. für einen Forschungsüberblick zur ethischen Wende im Zwischenbereich von Literatur und Philosophie Brink, Margot / Sollte-Gresser, Christiane: Grenzen und Entgrenzungen. Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie, in: (dies.) (eds.): Ecritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie. Tübingen: Stauffenburg, 2004, 9-29. Vgl. zu einer ethisch-existentiellen Neuorientierung der Philologien im Angesicht der von Foucault und Agamben diagnostizierten Biomacht auch Tholen, Toni: Philologie als Ethik. Eine Skizze, in: Brink / Sollte-Gresser (eds.): Grenzen und Entgrenzungen, 261-273. 104 nicht unbedingt den gleichen Status wie die avantgardistische Forderung, die Kunst in Leben aufzuheben. Die Lebenskunst setzt eher das Scheitern dieser Forderung voraus. Man könnte sagen, dass sie die gegenwärtige Erfahrung dieses Scheitern ist. 11 Sie ist von daher weder ein Angriff auf das Kunstsystem noch eine Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft, sondern der Versuch des Einzelnen, seinem Leben (auch mit anderen) nach dem historischen Scheitern dieser Ambitionen - zuletzt in der 68er-Revolte - einen Sinn zu geben. Die damit verbundene Poetisierung oder auch Spiritualisierung des eigenen Lebens findet fast ausschließlich im Privaten statt, in der eigenen Wohnung, und auch im Umgang mit Freunden; und das heißt vom Ganzen aus gesehen: an vielen (kulturell) verschiedenen Orten in ganz unterschiedlicher Weise. Und in dieser Perspektive verändert sich auch die literaturtheoretisch hart erstrittene Grenzziehung zwischen Autonomie und Aufhebung: Auf der Ebene eines existentiell-individuellen Umgangs mit Literatur entschärft sich der Streit insofern, als die Autonomie des Literatursystems nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird und sich gleichwohl ein existentielles Begehren im Akt der Lektüre regt, das auf lebendigen Widerhall in der Literatur hofft. 12 Die offene Frage ist, ob es der Literaturwissenschaft auf Dauer nicht mehr schadet als nutzt, wenn sie dieses Begehren im Beharren auf der Eigenlogik des Ästhetischen weiterhin überhören will. Weil die Indizien - auch nach Ette - dafür sprechen, dass ihr das schaden wird, plädiere ich literaturtheoretisch für mehr Gelassenheit: Es ist heute möglich, um die Eigensinnigkeit der Literatur(en) zu wissen und sie gleichzeitig auf ihre Bedeutung für gesellschaftliche Probleme und für die individuelle Existenz zu befragen. Eine Nichtbeachtung dieses Zugleichs würde, von welcher Seite die Restringierung auch immer erfolgte, zur einer Minderung des Potenzials der Literatur führen sowie den Ausschluss bestimmter, vielleicht heute in ihrer Bedeutung erst hervortretender Textsorten und AutorInnen aus dem Kanon fortsetzen (was insbesondere trotz aller Frauenliteraturforschung immer noch mit den Texten von Frauen geschieht, die in der dominanten Literaturtheorie bisher eine marginale Rolle spielen). c) Das Verhältnis von Text und Leser(in) Ettes Text bleibt nicht auf der programmatischen Ebene der Skizzierung eines neuen Forschungsparadigmas stehen, sondern versucht auch schon konkretere Vorschläge zu machen bezüglich eines Umgangs mit literarischen Texten, der das 11 Das schließt nicht aus, dass schon Autoren im Umkreis der historischen Avantgarden, insbesondere des Surrealismus, diese Erfahrung selbst gemacht, sie sogar zur Grundlage ihres Denkens gemacht haben. Vgl. dazu Bürger, Peter: Surrealismus als Ethik, in: (ders.): Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Um neue Studien erweiterte Ausgabe. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1996, 207f. 12 Vgl. dazu das an einen Gedanken Dieter Henrichs anschließende Plädoyer Wolfgang Asholts für eine Beachtung der Gleichzeitigkeit der Reflexion auf den Kunstcharakter von Literatur und ihrer Intention einer anderen Lebenspraxis, in: Asholt, Wolfgang: Neues Leben (in) der Literaturwissenschaft? , in: Lendemains 32 (2007) H. 126/ 127, 223. 105 Leben und die Lebenspraxis nicht aus der Lektüre ausgrenzt. Seine Überlegungen zu den textinternen und textexternen Modellierungen von Lebenswissen rahmt er mit einer grundsätzlichen Forderung, nämlich der des „Verstricktseins von Literatur und Lebenspraxis“ (Ette, 22), die er aus wenigen Formulierungen eines bekannten Aufsatzes von Wolfgang Iser zum Lesevorgang destilliert. Iser sieht den „Eindruck von Lebensnähe“ 13 dadurch gewährt, dass sich im Akt der vom Leser selbst hervorgebrachten Textgestalt die Erfahrung eines intensiven „Erlebens“ einstelle. Wenn auch die Forderung nach Lebensnähe und Verstricktsein von Literatur und Leben im Zusammenhang einer „lebenswissenschaftlich ausgerichtete[n] Philologie“ (Ette, 26) konsequent ist, so ist doch zu bezweifeln, ob der von Ette dafür aufgerufende Theoriestrang der Rezeptionsästhetik und insbesondere die Kategorie des ‘Erlebens’ das Potenzial enthält, dessen es bedürfte, einen lebensbezogenen Umgang mit dem Text zu umreißen. Ich sehe in der Kategorie vor allem keinen Entfaltungsspielraum für das existentielle und praktisch-ethische Bedürfnis eines Individuums, das sich im Begehren des Textes regt und in der intensiven Lektüre eine Gestalt geben will. Ich sehe im Anknüpfen an den Begriff des Erlebnisses auch keine Möglichkeit, die eigene Subjektivität experimentell, und d.h. in der Verstrickung von Lesen und Schreiben, in einem offenen Lebensprozess (vgl. dazu auch Ette, 19), und eben nicht nur in einem punktuellen ästhetischen Erlebnis, in Erfahrung zu bringen. Darum aber müsste es einer Philologie des Lebens gehen. An dieser Stelle kann nur skizzenhaft darauf hinweisen werden, dass es durchaus neuere Ansätze in der Literaturwissenschaft und -theorie gibt, die sich genau dieser Frage schon intensiv gewidmet haben. Wenn Ette für die enge, kaum zu trennende Verbindung von Leben und Lesen, Lieben und Literatur das Briefkorpus einer schreibenden Frau, Juana Borrero, als Beispiel wählt, so weist dies u.a. darauf hin, dass gerade das Schreiben von Frauen ein Lebenswissen enthält, dem die Literaturwissenschaft als ganze (und nicht nur eine als feministisch separierte Unterabteilung) größere Aufmerksamkeit schenken sollte. Gerade im Hinblick auf das Lebens- und Liebes-„Wissen“ von Frauen, das eben nicht im traditionellen oder institutionellen Sinne wissensförmig ist, sondern allererst durch einen bestimmten Umgang mit Texten tradierbar gemacht werden müsste, sind die jüngeren Arbeiten von Christa Bürger, vor allem ihre Studien Leben Schreiben und Das Denken des Lebens im Bereich der Literaturwissenschaft Pionierarbeiten. 14 Ganz im Sinne des oben bereits skizzierten Aussetzens des literarwissenschaftlichen Wissens bzw. Wissenwollens entfaltet Bürger eine explizit essayistisch-dialogische Schreibweise, in der das Ich der Schreibenden nicht ausgegrenzt wird, sondern sein Begehren, seine Suche nach Gemeinsamkeit mit den schreibenden Vorgängerinnen ver- 13 Iser, Wolfgang: Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Warning, Rainer (ed.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: W. Fink, UTB, 1975, 271. 14 Bürger, Christa: Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen. Stuttgart: Metzler, 1990 und Bürger, Christa: Das Denken des Lebens. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2001. 106 nehmbar wird. Und zwar so, dass es sich die ganz unterschiedlichen Lebensgebärden, und d.h. die Umstände und Bedingungen ihres (Nicht-)Leben-Könnens selbst zur Erfahrung werden lässt. Indem Bürger sich bewusst gegen die methodischen Absicherungen des üblichen wissenschaftlichen Schreibens entscheidet, vermag sie eine - Distanz nicht ausschließende - Lebensnähe zwischen sich und den Texten zu erzeugen, die die Grenzen aufhebt, welche den „Garten des Wissens“ vom Leben und seiner Verstrickung mit der Literatur trennen. Bürgers Schreiben entlang der Texte ihrer Vorgängerinnen von Madame de Sévigné über die deutschen Autorinnen der Romantik bis zur brasilianischen Autorin Clarice Lispector steht, auch in Anlehnung an die Denk- und Schreibpraxis männlicher Vorgänger wie vor allem Erich Auerbach 15 , paradigmatisch für eine existentielle Neuorientierung in der Literaturwissenschaft. Zum einen deshalb, weil es ihr thematisch um die Ausrichtung des Leben-Schreibens auf die existentiellen Grundfragen wie Leben und Tod, Sinn und Nicht-Sinn, Einsamkeit und Gemeinschaft geht; weil sie Texte von Autoren und Autorinnen vergleichend daraufhin befragt, inwieweit sie ihr Schreiben entweder in den Dienst eines Lebens-im-Tod stellen oder andererseits es auf ein Leben-Können im Hier und Jetzt ausrichten. Für letzteres verwendet Bürger die vom frühen Lukács geprägte Formel einer „Lebensimmanenz des Sinns“, welche bei ihr vor allem das Zusammenleben(können) mit anderen im Hier und Jetzt eines gelebten Lebens meint. Dafür steht bei Bürger vor allem das Schreiben Marie de Sévignés und Isabelle de Charrières, im deutschsprachigen Bereich die Briefromane Bettina von Arnims. 16 Zum anderen stehen Bürgers Arbeiten deshalb für eine existentielle Neuorientierung, weil sie das Verhältnis von Text und Leser(in) im Sinne einer dialogischen Hermeneutik versteht, innerhalb derer die Stimmen des Textes und die eigene Stimme, das eigene Ich der Lesenden hörbar werden, sie gleichsam in ein Lebensverhältnis einrücken, das als Lektüreprozess Nähe und Distanz ergründet, freilich nicht ohne das Wissen um den historisch-gesellschaftlichen Abstand, der die Texte und Lebensgebärden von der hermeneutischen Situation der Lesenden entfernt. 17 Anstöße für einen solchen Umgang mit Texten gibt über die konkreten literaturbezogenen Lektüren hinaus vor allem die Hermeneutik Gadamers, insofern sie das Verhältnis von Text und Leser mit demjenigen von Ich und Du vergleicht und dadurch den Lektürebzw. Verstehensprozess als ein lebendiges, immer wieder 15 Wie prägend Auerbach, aber auch Werner Krauss für Bürgers eigene Auffassung von Literaturwissenschaft und auch für die Art und Weise, über Literatur zu schreiben, waren und sind, erläutert sie in einem für den Zusammenhang von Literaturwissenschaft und Lebenspraxis höchst erhellenden Kapitel ihres Buches Mein Weg durch die Literaturwissenschaft. 1968-1998. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2003, 77-83. 16 Vgl. dazu vor allem die entsprechenden Essays in Bürger: Das Denken des Lebens. Hingewiesen sei im Hinblick auf das Schreiben von Frauen im 20. Jahrhundert auch auf die Beiträge in Bürger, Christa (ed.): Literatur und Leben. Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler, 1996. 17 Vgl. dazu und zum Folgenden Tholen, Toni: Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion. Heidelberg: Winter, 1999, 89-123. 107 neu zu beginnendes Wechselverhältnis betrachten kann. An Gadamer lässt sich im Zusammenhang einer sich um das Leben kümmernden Philologie deshalb anknüpfen, weil er trotz seines konservativen Werk- und Traditionsbegriffs auch einen lebenshermeneutischen Umgang mit Texten intendiert, der die Intensität der Zuwendung zum einzelnen Text mit der existentiellen Fragehaltung des Lesenden verbindet: in der hermeneutischen Einstellung eines Seins zum Leben, das sich seiner eigenen Geschichtlichkeit stets bewusst bleibt. Der existentielle Umgang mit Texten, der die eigenen Lebensfragen, die individuelle wie kollektive Existenz betreffend, literaturwissenschaftlich nicht länger ausklammert, setzt voraus, dass die Literaturwissenschaft das lange aufrechterhaltene Pathosverbot ihrer eigenen Diskurspraxis wenn nicht aufhebt, so doch zumindest lockert. Nur dann könnte die Literaturwissenschaft hoffen, auch die Formen ihres eigenen Schreibens dem anzunähern, was Ette als Verstricktsein von Literatur und Lebenspraxis fordert. Eine Verbindung von Lebenspraxis und Literatur lässt sich nämlich erst dann verwirklichen, wenn sie nicht nur wissensförmig in Texten vorgefunden wird, sondern wenn der über Literatur Schreibende sie selbst wissenschaftlich-literarisch, experimentell, vielleicht sogar essayistisch, praktiziert. Dafür bedarf es vor allem des Muts zur Beschränkung auf das eigenste Interesse, wie z.B. in Roland Barthes Vorlesungen am Collège de France, Wie zusammen leben und Das Neutrum. In letzterer bekennt er ganz offen: „Die Vorlesung existiert, weil es ein Begehren des Neutrum (nach dem Neutrum) gibt: ein Pathos […].“ 18 Barthes stellt seine inspirierenden Vorlesungen zu einer neuen Ethik bzw. Lebensführung 19 vorab unter ein ganz persönliches Begehren, das er auch sein „Phantasma“ 20 nennt. Er verzichtet damit explizit auf einen diskursförmigen Allgemeingültigkeitsanpruch seiner Lektüren und begibt sich stattdessen experimentell-fragmentarisierend auf den Weg, das Leben-Können (und damit auch sein eigenes) unter den Bedingungen der Vergesellschaftung seiner Zeit, die in meiner Einschätzung auch noch die unsrige ist, neu in Erfahrung zu bringen. Und dazu wendet er sich vor allem der Literatur zu. d) Das Leben der LiteraturwissenschaftlerInnen Wenn man Ottmar Ettes Programm für die Literaturwissenschaft beim Wort nimmt, enthält es, wie oben deutlich gemacht werden sollte, Zumutungen vor allem für die universitär institutionalisierten Philologien, nicht so sehr für den privaten Leser, der im Stillen von jeher seinen eigenen Lektüre- und Lebensinteressen folgt, und auch nicht so sehr für die einzelnen Literaturdidaktiken, die sich nie so weit wie die Literaturwissenschaften von der Nützlichkeit der Literatur fürs Leben entfernt haben. Wenn die Philologien sich aber nun tatsächlich wieder mehr den Lebensfragen und 18 Barthes, Roland: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 2005, 42. 19 Vgl. ebda., 40. 20 Ebda., 42. 108 dem Lebenswissen der Literatur zuwenden wollen, dann können sie das nicht, ohne sich zu fragen, wie sich ihr eigenes universitäres Leben, und man ist geneigt zu sagen: ihr Überleben derzeit gestaltet und in Zukunft gestalten sollte. Ette mahnt eine solche gesellschaftlich-politische Reflexion des Faches zu Recht an. Und es ist an der Zeit, nicht nur fortwährend die Existenzbedingungen der Anderen, der Literatur, der Gesellschaft etc. zu betrachten, sondern auch die eigenen. Ohne hier zu sehr auf die Abgründe des derzeitigen deutschen Universitätsbetriebs eingehen zu wollen, erscheint es mir doch wichtig, die Forderungen einer notwendigen Neuausrichtung der Philologien auf die Lebensfragen unserer Zeit, die ja auch weit in die Zukunft hineinreichen, zu verbinden mit einer grundlegenden und wirksamen Reflexion der gegenwärtigen universitären Praxis. Ich bin davon überzeugt, dass die Philologien sich nicht in einem qualitativen, und d.h. auch verändernden Sinne um das Leben kümmern können, wenn sie - erstens - weiterhin in stets zunehmender Weise durch die scheinbar auf Dauer gestellte Veränderungs-, Neuordnungs-, Wettbewerbs- und Kontrollwut von Wissenschaftspolitik und -verwaltung fremdbestimmt werden, sodass den Philologinnen und Philologen selbst jede Muße, an der Sache zu arbeiten, fortwährend entzogen wird, 21 und wenn sich - zweitens - in ihnen selbst nicht die Bereitschaft entwickelt, ihr wissenschaftliches Arbeiten, und d.h. vor allem die Art und Weise ihrer Textproduktion zu überdenken. Denn es wird in der gerade aufflammenden Diskussion um die nötige Lebensnähe der Literaturwissenschaft ja mehr als deutlich, dass der von Ette diagnostizierte „Garten des Wissens“ zu einer literaturwissenschaftlichen Kälte-Kultur geführt hat, in der die schreibenden Subjekte sich, statt offenere, kreativere Formen des Schreibens zu praktizieren, hinter Diskursen, Rekonstruktionen und einer objektivistischen Interpretationspraxis verschanzt halten und in ihrer inneren Distanz gegenüber jeder existentiell oder gesellschaftlich begründeten Positionierung ihres eigenen Tuns kaum noch eine Vorstellung von Zeitgenossenschaft haben. Ohne eine solche aber steht im „Garten des Wissens“ jeder Diskursbeitrag in eigentümlicher Verkehrung seines Objektivitätsanspruchs für sich, von der scientific community womöglich gratifiziert, vom Leben selbst aber unberührt. 21 Die Absicht, zukünftig Forschungs- und Lehrprofessuren in den Geisteswissenschaften einzuführen, bei denen einer handverlesenen Elite die nötige Zeit und Muße zum Forschen eingeräumt wird und die Lehrprofessoren im Prüfungsdschungel von BA- und MA- Studiengängen um ihr geistiges Überleben kämpfen, ist mit jener Blindheit gegenüber den Bedingungen einer lebendigen und lebensrelevanten geisteswissenschaftlichen Praxis, die nur in der Einheit von Forschung und Lehre gewährleistet ist, geschlagen, der im Rahmen einer gesellschaftlich relevanten und lebensorientierten Literaturwissenschaft entschlossen entgegen zu treten wäre. 109 Pablo Valdivia Orozco Lebensform und Narrative Form: Zur Epistemologie des Vollzugs und zum Lebensbegriff der Literaturwissenschaften Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche Elimination der Darstellungsproblematik, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar. Was an den philosophischen Entwürfen Methode ist, das geht nicht auf in ihrer didaktischen Einrichtung. Und dies besagt nichts anderes, als daß ihnen eine Esoterik eignet, die abzulegen sie nicht vermögen, die zu verleugnen ihnen untersagt ist, die zu rühmen sie richten würde. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen. García Márquez: Leben, um davon zu erzählen Leben und/ oder Erzählen Die enge Beziehung, die das Leben und (s)eine Erzählung unterhalten, ist zweifelsohne ein Allgemeinplatz. Nicht nur die Auto/ Biographieforschung hat uns überzeugend davon in Kenntnis gesetzt, dass Narrationen ein unverzichtbares Instrument sowohl bei der Individualgenese wie auch für die Erschließung, Strukturierung und Sinngebung von biographischem Wissen, also: Lebenswissen sind. In eine ähnliche Richtung stößt die aktuelle Gedächtnisforschung, wenn sie auf das für Lebenserzählungen unentbehrliche Episodische Gedächtnis im Sinne eines dynamischen Lebenswissensspeichers hinweist, dessen Effizienz sich in den situativ sich anpassenden Selektions-, Ordnungs- und Figurierungsleistungen zeigt. Eine stete und rückkopplungsreiche Aktivierung von synthetisierenden, selektierenden und wertenden Kriterien der raum-zeitlichen (Ein-)Ordnung des erinnernden Ichs schützt uns vor der asozialen Tragik von Borges’ Gedächtnismenschen Funes, der nichts weiter als einzelne Momente und Aufnahmen zu erinnern weiß. Auch wenn diese Kriterien nun situativ, historisch und kulturell kontingent sind, sind sie nichtsdestoweniger unverzichtbar, weil erst so ein Sprechen und Urteilen über ein bestimmtes, geführtes Leben und somit auch ein soziales Ich und Handeln zuallererst möglich wird. Der Mensch ist deshalb in dem Maße ein politisches Tier wie er ein sprechendes ist, das seine Sprache zum (sich) Formen, zum (sich) Erzählen zu nutzen weiß. Vor diesem Hintergrund kommt der Fähigkeit zur nachträglichen Formung von Leben mittels Erzählungen eine geradezu vitale, lebenssi- 110 chernde Funktion zu. Der Zusammenhang von Leben und Erzählung scheint für die Lebensform Mensch ein ganz natürlicher und auch alternativloser, da episodische Formen gleichzeitig zu Bedingung, Mittler wie auch Produzenten von jenem werden, was sich im Leben von einem bestimmten Leben sagen und wissen lässt. Jedoch lässt sich dieser Zusammenhang auch als Begrenzung problematisieren, gerade wenn er im Kontext Lebenswissen diskutiert wird. Die narrative Plurifunktionalität ist nämlich nicht ohne Spannung. Wie es das Beispiel der Autobiographie belegt, sind Narrationen stets an eine bestimmte Medialität und Gattung gebunden, welche eine Figurierung (voraus-)setzen, welche sich dem Leben gegenüber durchaus indifferent verhalten können. So hat insbesondere die feministisch und literaturwissenschaftlich ausgerichtete Autobiographieforschung die Mächtigkeit der Lebens-Schrift (life-writing) einerseits als ein Gattungs-Dispositiv von normativen Lebensformen wie auch andererseits als eine das geschlossene Ich oder gar das Leben gefährdende Sphäre der experimentellen Eigenlogik thematisiert. Das Leben wird im Akt der Niederschrift letztlich zum Appendix des Schreibens und sieht sich mit der Aporie „nachgeholter Ursprünglichkeit“ 1 konfrontiert, welche - scheinbar - nur symbolisch-diskursiv und das meint: den Gattungsdispositiven gehorchend sich „bändigen“ lassen 2 oder aber in einer vollständigen Über- und Aufgabe des Lebens an die Schrift aufgelöst werden kann. Die Gleichung Narration=Leben fordert also so oder so einen hohen Preis, der gerade das kassiert, worum es eigentlich ging: das Leben. Damit entzieht es sich seiner Niederschrift und wird als „Reales“ zum eigentlich Unverfügbaren. Dieses Panorama mag einer der Gründe dafür sein, weshalb es Literaturgeschichte gibt und weshalb insbesondere das literarische autobiographische Schreiben textliche Strategien und Darstellungsverfahren entwickelt hat, welche, wenn nicht das Leben selbst, so doch insofern lebendig sind, als sie nicht nur andere Formen erproben, sondern ebenso geronnene Formen entstellen oder resemantisieren, ohne jeden Anspruch auf Relevanz aufgeben zu müssen. Literarische Praktiken wären somit weder als bloße Entäußerung hegemonialer Strukturen noch als semiotisch-neurotische Zeichenlogik angemessen beschrieben. Denn die doppelte Leistung von Literatur als Vollzug dieser signifikanten Praxis bestünde genau darin, dass das Symbolische „[...] nur pulverisiert wird, um dann in einen neuen Apparat überführt zu werden.“ 3 Diese Überführung schließlich ist nach Kristeva „genau das, was den Text als signifikante Praxis vom neurotischen Dis- 1 Carola Hilmes: Das inventarische und das inventorische Ich. Grenzfälle des Autobiographischen, Heidelberg, Carl Winter, 2000, 20. 2 Foucaults Arbeit vor Augen mag es kein Zufall sein, dass von Foucault nur wenig nennenswert Ausgearbeitetes zur Literatur gibt. Diese als produktive Praxis konzipiert, die gerade kein Wahnsinn ist, steht zwischen den Polen seines Hauptinteresses: Diskursive Ordnung/ Bändigung und der Ausschluss des Wahnsinns. 3 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2005 [1974], 60. 111 kurs unterscheidet.“ 4 Im literarischen Text bzw. der narrativen Praxis wäre es somit möglich, dass „[...] das Subjekt semiotisch und symbolisch ist“, 5 sodass diese Sinnproduktion genau dann einem produktiven Handeln gleichkommt, wenn dieses Signifkationspraxis im Falle einer nicht restlos determinierten oder deduzierbaren Performanz einen substantiellen Bezug zum Leben und im Leben stehend unterhalten kann. Kurzum: Wenn Narrationen zwischen den Polen der symbolischen Disziplinierung und der semiotischen Neurose eine dritte Position signifikanter Praxis einnehmen können, in der sich Leben und Erzählung/ Text als produktive Praxis treffen und eben nicht allenfalls lebensfeindlich entsprechen müssen, dann gilt es im Folgenden, die Bedingungen dieses produktiven Prozesses herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat Roland Barthes von der Narration behauptet, sie schere „sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.“ 6 Nun ist es sicherlich nicht der Fall, dass dieses Einfach-Da-Sein einem ebenso einfachen Sein geschuldet wäre. Vielmehr wollen wir diese von Barthes suggerierte Entsprechung als einen Hinweis darauf nehmen, inwiefern die prozessuale und durchaus komplexe Dynamik von Narrationen auch anderen Formen von Vollzugswissen unterstellt werden kann, namentlich dem Lebenswissen. Mit anderen Worten: Ist eine Kongruenz von Leben und Erzählung lediglich ein spezifischer narrativer Aspekt oder verrät uns diese Kongruenz auch etwas über etwas, was ich eine Epistemologie des Vollzugs nennen möchte? Wäre dem so, ließe sich hier nicht nur ein Beitrag zur Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, sondern ebenso eine Konturierung von jenem leisten, was Ottmar Ette den „Lebensbegriff der Literaturwissenschaften“ 7 genannt hat; ein Lebensbegriff, der das Leben und sein Wissen als produktive Praxis konzipiert und weniger in Termini der Not(wendigkeit), Funktion, Determination oder Lebenserhaltung. Denn dass ein immerwährendes Einfach-Da-Sein überhaupt möglich ist, würde dann weniger die stete Realisierung eines Programms erfordern als einen immerwährend zu leistenden Handlungsvollzug. 8 Leben, um zu erzählen Genau diese Spannung zwischen Leben und Erzählung evoziert der Titel von García Márquez’ Autobiographie Vivir para contarla mit einer schwer zu übersetzenden 4 Ibid. 5 Julia Kristeva: Op. cit. 35. 6 Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1988 [1966], 102. 7 Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“, in: lendemains, 125, 2007, 32. 8 Hannah Arendt: “Freiheit und Politik”, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Köln, Piper, 2000. 112 Zweideutigkeit. Eine der möglichen Interpretationen liefert die deutsche Übersetzung: „Leben, um davon zu erzählen“. In dieser Deutung wird suggeriert, dass erst gelebt worden ist, um anschließend von genau diesem gelebten Leben zu erzählen. Die Erzählung folgt diesem gelebten Leben zeitlich und logisch als Rückblick und ist in ihrer Manifestation durch dieses Leben notwendigerweise strukturiert. Das Leben existiert so zwar unabhängig von seiner narrativen Form. Wie das finale „Um zu“ jedoch nahe legt, findet es seine zweckhafte Vollendung erst in der Erzählung. Es hört auf, ephemere Erlebnismenge zu sein und wird manifeste Form. Erst dank der Erzählung also können wir uns zum Leben verhalten, dem Leben kann ein Zweck und auch eine Gerichtetheit unterstellt werden. Eine andere Lesart, die der weitere Verlauf des Textes durch seine offen zutage tretenden intertextuellen Bezüge zu literarischen Werken des Nobelpreisträgers nahelegt, kehrt dieses Verhältnis um: In dieser Lesart steht das Leben im Dienste der Erzählung: „para“ ist hier somit nicht als finales „Um zu“ zu lesen, sondern erhält die Färbung der Präposition „Für“: „Ein Leben für das Erzählen“ könnte eine in diese Richtung interpretierende Übersetzung lauten. Statt seiner Erzählung gegenüber zeitlich und logisch vorrangig zu sein, wird das Leben zum Vorwand der Erzählung und des Erzählens überhaupt. Die Erzählung ist es somit, welche sich durch das Leben realisiert und manifestiert. Die Erzählung benötigt das Leben somit lediglich als explizierenden Träger. Diese Zweideutigkeit macht sich nicht nur an dem Wort „para“ fest. Sie lässt sich ebenso am Objektpronomen ausführen: „Contarla“ heißt so viel wie „sie zu erzählen“. Die weibliche Form kann hier das im Spanischen weibliche Leben meinen („contar la vida“) und würde dann die erste Lesart - das Leben erzählen - favorisieren. Ebenso aber kann das Pronomen als ein im Spanischen sehr typischer Objekt-Platzhalter fungieren. Dann wäre folgende Übersetzung treffender: „um es zu erzählen“ oder auch: „um überhaupt zu erzählen“ und somit auch die zweite Lesart zu favorisieren, da hier der logische und zeitliche Bezug zwischen Leben und Erzählung nicht mehr auszumachen ist und der Fokus auf die Praxis des Erzählens selbst gelegt wird. Eine Doppeldeutigkeit mit doppelten Verweis also, die sich ein weiteres Mal potenziert, wenn man bedenkt, dass hier die Autobiographie eines lateinamerikanischen Schriftstellers vorliegt, der wohl wie kein anderer als „Erzähler“ gerühmt worden ist, bei dem also (Über-)Leben und Erzählen über weite Strecken tatsächlich ununterscheidbar sind. Hier möchten wir diese Ununterscheidbarkeit von Referenz- und Diskurslogiken als einen Hinweis darauf lesen, dass beide Lesarten ihr Recht haben und dass ihre gleichzeitige Präsenz und ständige gegenseitige Rückkopplung nicht nur eine spielerische Laune des immer schon als Oxymoron daherkommenden Magischen Realismus ist, sondern eine entscheidende Qualität von Erzählungen überhaupt und literarischen Narrationen im Speziellen ist. Es handelt sich dabei um ein wie schon von Certeau für die Historiographie konstatiertes Moment, in dem zwei sich vorerst ausschließende Sphären notwendigerweise nicht anders als nicht-syste- 113 misch und das meint: als stiftender Handlungsvollzug gekoppelt werden können. 9 Ein zu erzählendes Leben vermag narrative Logiken deshalb ebenso zu transformieren wie Narrationen das Leben. An diesem Chiasmus gegenseitiger Durchdringung lässt sich die Performanz von Narrationen nachvollziehen und auch der damit eröffnete (Wissens-)Raum: Weder müssen sie in einem monadischen bzw. neurotischen Schriftgefängnis verharren, noch Ausdruck symbolischer Zurichtung sein. Im Vollzug einer Struktur - so meine zentrale These zum narrativen Wissen als einem dynamischen (Lebens-)Wissen - können sich produktive Sinnhorizonte des Lebens herstellen, gerade weil dieser Vollzug ein Moment der logischen Ununterscheidbarkeit ermöglicht und mit ihr ein Lebenswissen, das nicht mit möglichen Strukturlogiken zusammenfallen muss und auch nicht zusammenfallen kann, wenn wir die logische Überdetermination der Form ernst nehmen: Wenn es einen Diskurs gibt, der nicht bloß Niederschlag, sprachlicher Film oder Archiv für Strukturen ist, auch nicht Zeugenaussage eines zurückgezogenen Körpers, sondern im Gegenteil Element einer Praxis, die die Gesamtheit der unbewußten, subjektiven, gesellschaftlichen Beziehungen enthält in Form von Angriff, Aneignung, Zerstörung und Aufbau, in der Eigenschaft positiver Gewalt also, so ist es die ‘Literatur’ […].10 Eine explizit lebenswissenschaftliche Relevanz entnehme ich Kristeva, wenn sie das Denken der sinngebenden Praktiken vor folgende Wahl stellt: Entweder man schlägt sich auf die Seite „nekrophiler, unterwerfender Strukturen“, 11 welche jede sinngebende Praxis in ein Archiv der dann nur noch und immer wieder zu findenden Grundstrukturen verbannt; oder man versucht anhand einer hierfür exemplarischen und bestimmten sinngebenden Praxis, die nicht semiotischer Wahnsinn ist, nicht einem irrationalistischen Vitalismus das Wort spricht, eine dem narrativen und dem Lebenswissen gemäßere Logik zu formulieren. Eine solchen Logik würde Sinngebung nicht nur mithilfe von Strukturen, sondern „durch sie hindurch“ 12 praktizieren. Wissen als Sinngebung, so ein mögliches Fazit, kann am Beispiel Literatur unter anderem auch deshalb als produktive Praxis gedacht werden, da ihrer Materialität (also das, was Kristeva unter Text verhandelt) eine poietische Logik unterstellt werden kann, welche sie vor einer determinierenden, nekrophilen Formalisierung sichert. Letztere begreift Materialität als Grundlage einer Determination. Ohne weiter auf Kristevas Theorie der Sinngebung einzugehen, lässt sich hier ein bestimmtes, an Literatur formuliertes Paradigma festhalten, das nicht nur einen dynamischen Text- und Signifikationsbegriff ermöglicht, sondern ebenso auf einen bestimmten Lebensbegriff abzielt. Mehr noch: das, was den Einsatz des Lebens und auch die Breite von Lebenswissen ausmacht, gründet sich nämlich auf die Be- 9 Michel de Certeau: L’écriture de l’histoire, Paris, Gallimard, 1975. 10 Julia Kristeva: op. cit. 30. 11 Julia Kristeva: op. cit. 28, meine Hervorhebung. 12 Julia Kristeva: op. cit. 28, kursiv im Original. 114 hauptung einer ebenso für das Leben wie auch das poetische Wort geltenden poietischen Logik des materialen Vollzugs. Die besondere Pointe dieser „Vollzugslogik“ ist somit, dass sie der jeweiligen Praxis - unabhängig davon ob Text- oder Lebensvollzug - weder vorgängig noch wesenhaft eingeschrieben, also nicht bloße Aktualisierung bzw. Oberflächenphänomen wesenhaft unverfügbarer Strukturen und Logiken ist. Das aber heißt auch, dass der Vollzug nicht mit Performanz zusammenfällt. Performanz löst den materialen Bezug nicht auf, sondern stellt ihn in stets neue Konstellationen. Narratives und Lebenswissen sind deshalb auch mehr als implizites Wissen, sondern ebenso und vor allem: Lebensformenwissen. Durch diese materiale Angewiesenheit etabliert sich eine nicht restlos generierbare bzw. struktural zu neutralisierende Form. Produktive Form, die nicht „Archiv für Strukturen“ ist, steht sowohl als Logik des poetischen Wortes wie auch als Lebensform entworfen in einem Widerstandsverhältnis zu dem, was sich mit Agamben als das nackte Leben bezeichnen lässt. Im Vollzug bleibt nämlich offen, ob eine solche poetisch-produktive Logik des Lebens tatsächlich (über)leben machen will. Zweifelsohne macht sie Lebensformen leben, selbst wenn diese lebensbedrohlich sind, wie es das von Ottmar Ette 13 zitierte Beispiel der Juana Borrero zeigt. Borrero, die schon in ihrem Namen das Auslöschen (borrar) trägt. Doch Literatur eignet sich nicht nur als Paradigma der dynamischen Form. Der fiktive Status und dessen Selbstanzeige in moderner Literatur inszenieren explizit jenes Moment der logischen Ununterscheidbarkeit. Mithilfe von Isers Fiktionstheorie lässt sich überzeugend darlegen, dass Fiktion somit nicht die absolute Dominanz einer wie auch immer gearteten Eigen-Logik von Kunst bedeuten muss. 14 Nicht Negation anderer Logiken ist also gemeint, sondern die Emanzipation von einer vermeintlich originären Sach- und Materiallogik, die - aufgehoben, aber nicht suspendiert - in eine narrativ-poetologische Para-Logik eingegliedert wird, die relationiert statt neutralisiert. 15 Literatur ist somit auch Paradigma für das lebende also: tatsächliche Neben-, Mit-, und Gegeneinander widersprüchlicher Logiken und sich gegenseitig ausschließender Referenzbereiche. Leben, Wissen und Erzählung: Kongruenzen Einigen zentralen Aspekten dessen, was Lebenswissen als Vollzugswissen sein kann, wird eine Dynamik unterstellt, die sich mit der des Narrativen Wissens deckt. Die Dynamik der Narrativität betrifft dabei zum einen das Wissen vom Leben insofern, als sich Lebenswissen ein Vollzugswissen meint, das nie frei ist von narrativen Strukturierungs-, Relationierungs- und Produktivmomenten - eine strukturell- 13 Ottmar Ette: op. cit., 35. 14 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2002 [1991]. 15 Edouard Glissant: Poétique de la relation, Paris, Gallimard, 1999. 115 prozessuale Kongruenz also. Zum anderen kann diese Dynamik aber auch das Leben selbst betreffen, wenn es zur Narration wird und sich in dieser gar auflöst oder auch rhetorisch setzt und von dieser narrativen Setzung nicht mehr zu trennen ist - eine performative Kongruenz also. Nach der Kongruenz von Leben und Narration in Hinblick auf ein Wissen vom und auch im Leben zu fragen, macht durch die Herausstellung des Narrativen (Lebens-)Wissens bedingt eine bestimmte Setzung unumgänglich, welche erst die oben erwähnte Kongruenz von Leben und Erzählung deutlich macht: Eingenommen und unterstellt wird sowohl für ein solcherart verstandenes Lebenswissen wie auch für das Narrative Wissen eine zeitlich komplexe Doppelperspektive, welche dem Vollzugscharakter geschuldet ist: Zum einen erscheint der jeweils gegenwärtige Vollzug als überschüssige Performanz. Zum anderen wird diese provisorisch eingeholt von einer stets revidierbaren, aber dennoch sinnstiftenden und potentiell produktiven Nachträglichkeit. Diese produktive Prozessualität des Vollzugswissens halte ich für exemplarisch an Narrationen nachvollziehbar. Mit anderen Worten: Nur insofern einem bestimmten, also vollzogenen Leben sowohl ein Figurierungsbedarf als auch diese zeitliche Doppelperspektive unterstellt werden kann, kann es Wissensbereiche des Lebens geben, welche am Beispiel der Narrativität beschreibbar werden. Dadurch, dass sich die Sinnstiftung im Rhetorischen als Evidenz oder gar Identität und der Überschuss im Textlichen als plurivalent-dynamische, nie vollends transparent-präsente oder gar zum Stillstand kommende Figuration zeigt, lassen sich mit der Kongruenz von Leben und Narration zwei stets gleichzeitig gegenwärtige vitale Momente auf einer hier noch recht abstrakten Ebene benennen: Setzung und Bewegung. Poetologisch bzw. strukturalistisch Versierte werden darin ein altes Motiv der Literaturkritik erkennen: Metapher und Metonymie bzw. Paradigma und Syntagma - Modelle, welche im Folgenden gemäß einer prozessualnarrativen Logik des produktiven (Handlungs-)Vollzugs ausgearbeitet werden sollen und eben nicht einer generativ-strukturalen Logik verpflichtet sind. Setzung und Bewegung ermöglichen so erst einen Zusammenhang von Leben und Lebenswissen: das vollzogene Leben wird zum qualitativ bestimmten Leben, das im Ausdruck von sich selbst weiß bzw. sich dadurch wissbar macht und somit auch Form ist. Diese Formung - so die These - lässt sich grundsätzlich narrativ fassen und das Wissen von ihr als narratives. Es handelt sich nämlich dabei um alles andere als eine sich selbst transparente Repräsentation des Lebens - weil nur als Setzung möglich - und um alles andere als ein Verhältnis der notwendigen Entsprechung - da in Bewegung. In dem prekären Moment, da das Lebenswissen narrativ und die Narration zur Lebensform wird, kann sich das Poietische eines sich selbst gegenwärtigen Vollzugs ereignen. In diesem dichten Moment hält das Leben gewissermaßen inne und überantwortet sich einer narrativ funktionierenden Figuration, die als solche nicht eine schlichte Realisierung oder Momentaufnahme ist, sondern Sinnhorizonte und Relationen nicht nur der Narration selbst, sondern 116 auch und durch sie hindurch Relationen des jeweiligen Lebens fassbar machen kann. Wenn also die narrative Form ebenso vom jeweiligen Leben durchdrungen sein kann wie jenes sich der Figuration überantwortet hat, ist eine Unauflösbarkeit von Doppelreferenzen die Folge, welche wir anfangs diskutiert haben die und sich nicht nur auf die gleichzeitige Präsenz von Referenz und Diskurslogiken beschränkt: Hinzu kommt die doppelbödige Präsenz von verbalisierbaren und nichtverbalisierbaren Aspekten des Lebens, die sich ebenso exemplarisch an Narrationen nachvollziehen lässt: Schweigen in Figurationen ist partikular und vermag zu bedeuten. Diese strukturelle und performative Kongruenz mündet so in eine handlungstheoretische Kongruenz von Erzählen und Leben: In dem Moment nämlich, da Erzählungen und erst recht Lebenserzählungen in ihren jeweiligen Performanzen nicht nur als semiotisch-textliche Praktiken, sondern ebenso als (kommunikative) Handlungen oder auch Setzungen verstanden werden, erweisen sich die narrative Inszenierung, Figurierung und Kontextualisierung von Lebenswissen als die poietische Schnittstelle von sprachlichem und Lebenswissen. Lebenserzählungen sind deshalb immer auch Lebens-Praxis. Mit anderen Worten: Die narrative Aneignung und Performanz von Lebenswissen ist in dieser, wenn auch prekären Kongruenz, ebenso ein Lebensformenwissen: Agambens Konzept der Lebensform lässt sich vor diesem Hintergrund grundsätzlich narrativ lesen, wenn man einen Begriff von Narration voraussetzt, der sich auch deshalb dem bloßen Leben widersetzt, weil Narrationen nie nur nackte Information sind, sondern irreduzible Performanzen einer jeweils kodifizierten Materialität. Diese Potenz und vor allem das Moment der logischen Ununterscheidbarkeit als eine dem Leben gemäße komplexe Überdetermination von Materialität bzw. Form meinen somit nicht nur die Ununterscheidbarkeit von Referenz-, Diskurs- und Vollzugslogiken, sondern werden selbst zum Signum von Lebendigkeit, sodass Literatur uns tatsächlich wie das Leben scheint und so auch ein Wissen speichert, das ganz unmittelbar Lebenswissen ist - mit dem nicht unerheblichen Vorteil einer möglichen Relektüre. Dieses „Wie-das-Leben-Sein“ hängt natürlich eng mit einem Literaturbegriff zusammen, welcher selbst wiederum alles andere als selbstverständlich ist. Tatsächlich wird ein bestimmter Begriff von literarischer Autonomie vorausgesetzt, den Blumenberg als die Eigentümlichkeit des modernen Romans bezeichnet, wonach [...] der Mensch einerseits sich in seinem Selbstbewusstsein reflektiert an der Verifikation seiner schöpferischen Potenz, daß er andererseits die Abhängigkeit der Kunstwerke von seinem eigenen Können und Wollen zu verschleiern suchen muß, und zwar deshalb, weil diese Werke nur so jene unfragwürdige Selbstverständlichkeit des Nicht- 117 anders-sein-Könnens gewinnen, die sie ununterscheidbar von den Produktionen der Natur macht.16 Dieser Bedarf an einer naturalisierten Metaebene, die hier dezidiert literarische Narrationen und gerade nicht eine formale Sprache meint, begründet und qualifiziert die Philologie als Lebenswissenschaft. Denn Werke, die ununterscheidbar geworden sind von den Produktionen der Natur, lassen sich nicht kognitionswissenschaftlich als modelling oder game theory neutralisieren. Das meint: Narrationen stellen ein Wissen vom Leben bereit, welches sowohl spezifisch ist als auch insofern irreduzibel, als es in keine andere, nicht-vollzugshafte Wissensform restlos übersetzt werden kann und statt dessen mehr das Denken der durch Formen jeweils ermöglichten Konstellation zum Auftrag macht. Narratives Wissen als Vollzugswissen: Perspektiven eines „literaturwissenschaftlichen Lebensbegriffs“ Wenn im Folgenden sich auf Spezifika des Narrativen Wissens bezogen wird, dann wird dies am Beispiel Literatur diskutiert. Dies begründet sich nicht nur mit dem angekündigten philologischen Beitrag, sondern hat meiner Meinung nach auch dem Gegenstand des Narrativen Wissens geschuldete Gründe: Zwar sind viele der Aspekte wie Perspektivität auch für andere Formen des Narrativen Wissens anzunehmen. Jedoch - so die These - kann sich das Narrative als produktiver Vollzug am ehesten in Literatur äußern. Einige der Gründe hierfür wurden schon genannt: Zum einen kann das rückkoppelnde und selbstbezügliche Moment in der Bildung narrativer Sequenzen explizit sein, d.h.: die Form bzw. die poetische Funktion von Sprache werden gerade nicht von der Kommunikationsfunktion von Sprache unterdrückt. Zum anderen kann durch die Selbstanzeige des fiktionalen Charakters eine Relativierung erfolgen, welche sich auf die vermeintlichen originären Sachlogiken von diversen in Literatur aufgenommen Fremddiskursen auswirken kann. Ohne diese auszuschalten, werden sie dennoch als Elemente innerhalb einer Narration einer anderen als der originären unterstellt, nämlich einer sich erst herzustellenden narrativ-sequentiellen Logik. Das meint: Erstens: Narrationen vermitteln nicht nur etwas, sondern stellen im Vollzug auch etwas her: insbesondere Bedeutungskontexte, narrativ-sequentielle Logiken, Perspektiven und Perspektivenkonflikte und nicht zuletzt ein intertextuelles Netz, kurzum: Relationen. Ihr Wissen ist folglich deshalb nicht informationstheoretisch darstell- oder reduzierbar, weil wir es insofern mit dynamischen Wissensgegen- 16 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Anselm Haverkamp (ed.): Hans Blumenberg. Ästhetische und Metaphorologische Schriften, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2001, 69, meine Hervorhebung. 118 ständen zu tun haben, als das in Narrationen vermittelte Wissen sich weder ausschließlich aus seiner Darstellung erschließt noch sich mittels eines „kontextuell relevanten Standard[s]“ 17 explizieren oder gar verifizieren ließe wie es beispielsweise kontextualistische Wissenstheorien suggerieren. Stattdessen produziert sich dieses Wissen im Vollzug der narrativen Form als Konstellation. Diesen Aspekt der Performanz einer Form hat die traditionelle Wissenstheorie selbst in ihrer kontextualistischen Fassung in dem Maße reduziert wie Performanztheorien die Frage der Form neutralisieren. Die besondere Herausforderung liegt aus wissenstheoretischer Sicht jedoch nicht nur in der plurilogischen Dynamik des Narrativen Wissens, sondern dadurch bedingt auch darin, dass das durch Narrationen gewonnene Wissen nicht auf die Produktion wahrer oder falscher Sätze zielt, sondern auf ein Wissen des Gebrauchs dieser Sätze, durch welches diese Sätze in konkrete Relationen und Kontexte stellt. So zeichnet Narratives Wissen vor allem in Literatur neben seiner Formlogik eine besondere Dynamik der (Re-)Kontextualisierung und Relationierung aus. Dieses narrative In-Bezug-Setzen selbst ist mitnichten immer kausal, wohl aber wie oben diskutiert mindestens doppelt motiviert, sodass auch schwerlich eine formale Metalogik der Bezüge formulierbar ist. Zweitens: Diese Herstellung bzw. Poiesis ist historisch und kulturell kontingent und das heißt konsequenterweise auch: Sie sind nicht aus einem scheinbar aperspektivischen und systematischen Gesamtzusammenhang heraus als narrative Brechung eines an sich zugänglichen Sachverhalts ableitbar - ein weiteres Argument gegen die sich stets aperspektivisch gebende Übersetzbarkeit Narrativen Wissens in Information. Die spezifischen Aspekte Narrativen Wissens wie die narrativ-sequentiellen Logiken und Zusammenhänge, die Perspektivität, die tatsächlichen bzw. ermöglichten Kon- und Intertexte sind wie auch eine daran anschließende Funktionszuschreibung demnach nicht der (literarischen) Narration unveränderliche und strukturell inhärente Qualitäten. Vielmehr formieren sich diese Elemente Narrativen Wissens im Vollzug. Der konkrete Vollzug bestimmt somit den diskursiven Status der Narration sowie das Verhältnis von Form und Semantik. Genau diese immer auch konkreten Relationierungen machen Narrationen so mobil und anschlussfähig und einfach-da-seiend wie das Leben. Vor dem Hintergrund einer solchen Bestimmung des Narrativen Wissens scheint es mir sinnvoll, das Wissen der Narrationen und ihre Dynamik im Sinne Certeaus als kulturelle Praktiken zu beschreiben, die einer „wildernden“, 18 epistemischen und strukturellen Gelegenheits-Logik (metis) folgen. Praktiken und Narrationen teilen diesbezüglich, dass sie gleichwohl innerhalb bestimmter Strukturen und Systeme operierend, adäquater als poietische Prozesse oder auch Handlungen denn als systemische Realisierungen beschrieben werden können. Das heißt: Narrationen wie Praktiken sind nicht-nur-systemische „Kombinationsmöglichkeiten von 17 Nikola Kompa: Wissen und Kontext, Paderborn, Mentis, 2001, 157. 18 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin, Merve, 1988 [1980], 213. 119 Handlungsweisen“. 19 Im Gebrauch/ Vollzug der Form nämlich werden die strukturalen und systemischen Logiken, gewissermaßen die Überlebensfunktionen, von einer anderen, einer gelebten Logik unterwandert, ohne dass diese andere Logik selbst außerhalb des Vollzugs explizier- oder bestimmbar sein muss: eine Unterwanderung also auch deshalb, weil der Gebrauch/ Vollzug auch im Rückblick nicht von einer Ur- oder Superstruktur ableitbar ist. Die besondere Dynamik wird somit nur dann beschreibbar, wenn man beide, immer aufeinander bezogenen Aspekte dieser Poiesis im Blick behält: sowohl die (para-)syntagmatischen Kombinationsmöglichkeiten (bzw. die narrativ-sequentiellen Logiken des konkreten Vollzugs innerhalb eines bestimmten Kontextes) wie auch die paradigmatischen Handlungsweisen selbst. Anhand dieses Zusammenhangs wird einsichtig, weshalb Certeau mit seiner Theorie der Praktiken und Erzählungen auch gleichzeitig eine des Wissens liefert, welche die Narrativität eben nicht bloß auf das „Gemurmel der Gesellschaften“ 20 beschränkt, sondern sie aufgrund ihrer interaktiv-prozessualen und hochgradig reflexiven Dynamik zu einer „notwendige[n] Funktion“ 21 auch wissenschaftlichen Wissens und des konkreten Gebrauchs von Wissen macht. Das hat weit reichende Folgen für das epistemische Niveau der Narration: Sie kann nicht bloß (geistes- oder sozial)wissenschaftliches Rohmaterial sein, weil sie „einer anderen sprachlichen als der diskursiven Logik“ 22 folgt. Denn das würde bloß zwei Szenarien erlauben: Die (nekrophile) Transformation in disziplinäres Wissen oder andernfalls „zu schweigen und sich der Stimme zu enthalten“. 23 Stattdessen gilt es, sich auf eine „andere Logik als die der Wissenschaften“ 24 einzulassen und die spezifisch narrativen Aspekte und die spezifisch narrativen Logiken im Blick zu behalten, ohne in eine echte Opposition geraten zu müssen: Denn weder setzen Elemente narrativer Wissensformen und Logiken diskursive Wissensformen vollkommen aus noch sind sie dessen genaues Gegenteil. Vielmehr implizieren sie unser diskursives Wissen, indem sie es in konkrete Beziehungen setzen und können es dadurch gleichzeitig implizit überschreiten. Narrative Darstellungsverfahren scheinen außerdem diskursives Wissen besonders dort erst zu ermöglichen und zusammenzuhalten, wo „eine epistemische Ordnung in eine andere übergeht“. 25 Mit anderen Worten: Alle Wissensbereiche, bei denen ein Mo- 19 Ibid., 12. 20 Ibid., 9. 21 Ibid., 157. 22 Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“, in: Jens Ihwe (ed.): Literaturwissenschaft und Linguistik, eine Auswahl; Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft, Band 3, Frankfurt/ M., Fischer, 1972 [1967], 345 23 Ibid., 345. 24 Ibid. 25 Jeannie Moser: „Poetologien Rhetoriken des Wissens”, in Arne Höcker, Jeannie Moser, Philippe Weber (eds.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld, transcript, 2006, 12. 120 ment nicht-nur-systemischer Relationen auftritt, bedürfen narrativer Verknüpfungen, Perspektivierungen und Relationen, um als Wissensgegenstand fassbar und darstellbar zu sein. Dies gilt erst recht für das Leben. Dieses bewusste Eingeständnis einer anderen Wissensform und -repräsentation als der diskursiven hat - wie es etwa Ottmar Ette in seiner Programmschrift fordert - eine bestimmte Perspektive zur Folge, wenn das Entscheidende des Narrativen Wissens nicht begrifflich und das heißt: von seinem Vollzugs abstrahierend oder wie seit neuestem im Trend: kognitionswissenschaftlich neutralisiert werden soll. Denn Narrationen im Sinne von Praktiken, die gleichzeitig auch Theorien sind - über beispielsweise nicht-systemische oder nicht-nur-diskursiv-kausal rückführbare Wissensordnungen und okkasionelle Sinnpotenziale oder über das Aushandeln und Nebeneinander widersprüchlicher Logiken, aber auch ganz konkret über Handlungsmöglichkeiten (Certeau) oder Formen des Zusammenlebens (Ette) - können so nicht mehr „das Andere des Wissens [...] [sein], sondern [sind] eine Variante des wissenden Diskurses und eine Autorität in Sachen Theorie“. 26 Das Entscheidende dieser Varianten ist nun, dass diese (Wissens-)Theorien konkreten Vollzügen entstammen und somit nicht restlos ableitbare Varianten. Zu Lebenswissen werden sie, wenn wir das Leben als einen solchen Vollzug denken. Das meint, Narratives und Lebenswissen teilen strukturell a) eine Wiederaneignung bzw. einen (poietischen) Gebrauch (mindestens) einer Struktur, welche im Vollzug sowohl weiter besteht als auch unterwandert wird; b) dass ihre Logiken sich innerhalb (kulturell) spezifischer Raum-Zeit-Gefüge konstituieren und gleichzeitig Produzenten von Kontexten und Bedeutungsräumen sind; c), dass ihr Wissen dialogisch auf Andere(s), also auf ein ganzes Netz von Beziehungen hin entworfen und bezogen sind. Diese Prozessualität - und das mag einer der entscheidenden lebenswissenschaftlichen Beiträge der Philologien sein - setzt einen Formbegriff sowohl des Lebens als auch der Narration, der nicht mehr hinter die Effekte von Bewegung und Setzung greifen kann, d.h.: die reine narrative wie auch die reine Lebensform werden zum notwendigen und retroaktiven Effekt der vollzogenen Form. So sehr also das produktive Potential als Aushandlung mit der und durch die Form gesichert wird und so sehr sich der Vollzug jeder neutralisierenden Formalisierung gerade durch eine irreduzible Beziehung zur Form verweigern kann, so sehr ist die Form als solche nicht verfügbar. Denn Formen stehen im Leben. Das wiederum macht die Lesbarkeit der einzelnen Formvollzüge, das Denken in unterschiedlichen Konstellationen zur entscheidenden lebenswissenschaftlich-philologischen Herausforderung und Kompetenz. Diesem Anspruch werden wir kaum gerecht werden können, wenn wir „auf Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen“, verzichten. 27 26 Michel de Certeau: op. cit. 157. 27 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1978 [1928], 9. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog Wer sich für Frankreich interessiert, liest Dokumente! Fordern Sie Ihr kostenloses Probeexemplar an! Die Fachzeitschrift für Frankreichforschung und deutsch-französische Beziehungen DOKUMENTE informiert alle zwei Monate über die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in Frankreich sowie über zentrale Fragen der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Das Redaktionsprogramm umfasst politische Analysen, Berichte und Kommentare von Sachkennern und Akteuren des deutsch-französischen Netzwerkes, die Sinn und Tragweite aller größeren Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Nachbarlandes veranschaulichen. Gesellschaft für übernationale Zusammenarbeit Redaktion DOKUMENTE Dottendorfer Straße 86 53129 Bonn Bequem bestellen: per Tel.: per Fax: per E-Mail: www.zeitschrift-dokumente.de oder im Internet unter: +49 (0) 228 92 12 93 65 +49 (0) 228 69 03 85 aboservice@guez-dokumente.org 122 Martin Vialon In memoriam Martin Hellweg (1908 - 2006) Philosophischer Romanist, Kritiker Martin Heideggers und Theoretiker des Sozialismus (Teil 1) Es wird etwas falsch gewusst, heißt, das Wissen ist in Ungleichheit mit seiner Substanz. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807) I. Einleitung Am 21. Mai 2006 verstarb Martin Hellweg im hohen Alter von 98 Jahren in Köln. Seine Freunde und die Leserschaft von Lendemains werden ihn als Zeitzeugen in Erinnerung behalten, hatte er doch einige Hauptvertreter der Marburger Romanistik persönlich kennen gelernt und mit ihnen zusammengearbeitet. Auf lebendiganschauliche Weise konnte Hellweg über das bizarre Marburger intellektuelle Milieu berichten, dem er selbst seit Ende der zwanziger Jahre für ein Jahrzehnt angehörte. Als äußerst heterogener Komplex hatte sich Marburgs Hermeneutik konstituiert und gab den philosophisch und theologisch grundierten Bezugsrahmen zur Romanistik ab, die von Martin Heideggers Ontologie nicht unbeeinflusst blieb. Martin Hellweg wurde am 14. April 1908 im thüringischen Nohra als Sohn eines protestantischen Pfarrers geboren. Auf unprätentiöse Weise wirkte er als philosophischer Romanist im Verborgenen und hatte an der Seite seiner akademischen Lehrer und Freunde Erich Auerbach, Werner Krauss, Ulrich Leo und Karl Löwith jene intellektuelle Prägung erfahren, die ihm ermöglichte, sich in allen Bereichen der Geisteswissenschaft zu bewegen. Durch die Publikation der minutiös kommentierten Briefe von Werner Krauss an Bertie und Martin Hellweg setzte Michael Nerlich entscheidende Akzente. Aus diesem Briefkonvolut, das in dem legendären Sonderheft zu Werner Krauss erschien, 1 geht hervor, dass Hellweg durch die Rezeption seiner Veröffentlichungen während der dreißiger Jahre als Nachwuchswissenschaftler anerkannt und schätzen gelernt wurde. Ebenso wird durch diese Briefe der über Krauss vermittelte Kontakt Hellwegs zum Widerstandskreis um Harro Schulze-Boysen markiert. Zuvor war Nerlich bei der Spurensuche zum Gründungsakt der demokratisch verfassten Romanistik, angeregt vom Komparatisten Franz Josef Albersmeier, der am Ostendorf-Gymnasium in Lippstadt bei Hellweg Französisch lernte, auf Hellwegs Namen gestoßen und konnte so damit auch einen fachgeschichtlich relevanten Baustein zu seiner frühen Studie „Romanistik und Anti-Kommunismus“ 2 hinzufügen. Zwar meinte Frank-Rutger Hausmann, dass Nerlichs Polemik ohne archivarische Dokumente ausgekommen sei, 3 aber sein mutiger Tabubruch, der sich gegen das Verschweigen der NS-Vergangenheit rich- 123 tete, bewirkte doch, dass sich später weitere Fachvertreter der Aufarbeitung ihrer Disziplin angenommen hatten. 4 Inzwischen hat sich die Fachgeschichtsschreibung der Romanistik - auch und vor allem dank der umfänglichen Bemühungen Hausmanns - zu einer allgemeinen Geschichtsschreibung der Geisteswissenschaften entwickelt, an der sich zunehmend Nichtromanisten beteiligen. 5 Die nahezu einzigartige Konstellation, die sich an der Philipps-Universität Marburg aus dem fachübergreifenden Zusammenspiel von Romanistik, Philosophie und Theologie seit etwa Mitte der zwanziger Jahre entwickelte, wurde im Rahmen der von Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow organisierten Arbeitstagung „Marburger Hermeneutik zwischen Tradition und Krise“ 6 überdeutlich. Bezogen auf die Tendenz der neuesten Forschungsentwicklung, die sich dank der am „Zentrum für Literatur- und Kulturforschung“ Berlin geleisteten Arbeit als Verschiebung von der traditionellen Fachgeschichtsschreibung hin zur allgemeinen Kulturforschung abzeichnet, wird erkennbar, dass die Romanistik nicht mehr als isolierte Disziplin betrachtet werden kann. Aufgrund der transdisziplinär ausgerichteten Arbeiten von Karl Vossler, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss und ihrer Schüler ergeben sich enge Beziehungen zur Lebensphilosophie, Soziologie, Ikonographie, frühen kritischen Theorie und zum Kulturprotestantismus sowie des intellektuellen Umfeldes, namentlich zu Georg Simmel, Ernst Troeltsch, Aby Warburg, Rudolf Bultmann, Erwin Panofsky, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Georg Lukács und Ernst Bloch; die Methoden, Fragestellungen und Sinnzusammenhänge der Romanistik hatten von den genannten Fächern profitiert, ja diese sogar absorbiert und wurden durch das Exil an andere Orte verpflanzt, wo sie sich neu formierten und zumindest in Istanbul als Leitdisziplin für die anderen Philologien und Geisteswissenschaften dienten. 7 Von der Romanistik ging daher einst eine ungeheure Strahlkraft aus, die sie heute als Einzeldisziplin verloren zu haben scheint. Über die einzelnen Gründe möchte ich mir als Nichtromanist kein Fachurteil anmaßen. Aber durch den Zivilisationsbruch, der 1933 einsetzte und dem erneuten Wandel, dem jetzt die Geisteswissenschaften im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nach 1989 ausgesetzt sind (Tendenz zur Privatisierung der Bildungseinrichtungen, Konkurrenzkampf zwischen staatlichen und privaten Universitäten und Forschungsinstituten, Nivellierungsprozesse im Übergangszeitalter von der skripturalen in eine piktural-digitale Computerkultur), stellt sich nachträglich umso mehr heraus, dass die von Nerlich zu Beginn der siebziger Jahre eingeschlagene Forschungsrichtung weitgehend Bestätigung findet. Nerlichs Verdienste um Krauss und Hellweg sind in mancher Nuance viel reicher, als der Öffentlichkeit bekannt ist. Er hatte den Verfasser mit dem Verstorbenen persönlich bekannt gemacht und es entwickelte sich eine Freundschaft, aus der eine Aufsatzstudie 8 und schließlich die Veröffentlichung der Briefe Auerbachs hervorging. Die literaturgeschichtliche Relevanz dieser Korrespondenz besteht darin, dass Auerbach gegenüber Hellweg methodische Grundlagen entwickelt, die mit der Konzeption der in Istanbul entstandenen „Mimesis“ (1946) korrelieren. Bezogen auf begriffsgeschichtli- 124 che Probleme, die Hellweg bei der Abfassung einer Studie zum Vorstellungsinhalt von Weltliteratur entstanden, sagt ihm Auerbach, dass man „insbesondere […] in der Arbeitstechnik nicht vom allgemeinen Problem ausgehen“ 9 solle, „sondern von einem gut und griffig ausgewählten Einzelphänomen.“ 10 Dieses Modell wendet Auerbach in seinem Exilwerk an, indem er den Textinterpretationen zum antiken, christlichen und modernen Realismus ausgewählte primäre Textstellen voranstellt. Sie werden auf induktive Weise entschlüsselt, wodurch die literaturhistorische Dimension der zitierten Werke und ihre stilistischen Eigenheiten zur Darlegung gelangen. Martin Hellweg studierte in Freiburg, Berlin und Marburg und wusste sich auf dem Höhenkamm existentialistischer und marxistischer Philosophie sicher zu bewegen. Er sprach ein ausgezeichnetes Französisch, daneben Spanisch, Englisch, Russisch und beherrschte die alten Sprachen Griechisch und Latein. Wie nur wenige Wissenschaftler seiner Zeit, die auf dem Sprungbrett zur Professur standen, bildete sich bei Hellweg vor dem Einbruch des Nationalsozialismus ein kritisches Bewusstsein der politischen Lage heraus. Die Anregung zu dieser Formierung hatte er sowohl innerhalb des philologisch umgrenzten Faches der Romanistik wie auch außerhalb gewonnener soziologischer und philosophischer Einflüsse gewonnen. Seine besagten Lehrer hatten durch ihre Veröffentlichungen die nationalphilologisch erstarrten Schranken der Romanistik weggeräumt und eine komparatistisch und soziologisch fundierte Disziplin aufgebaut sowie die ontologische Daseinsanalyse Martin Heideggers durch marxistische Kategorien ergänzt. Später erlangten ihre Werke internationale Anerkennung, die Hellweg zu Lebzeiten durchaus hätte zu Teil werden können, wenn nicht der Nationalsozialismus seine in Marburg begonnene Karriere zerstört hätte. II. Hellwegs Rousseau-Dissertation im ideenhistorischen Kontext von „Sein und Zeit“ Hellweg hatte noch bei Auerbach über den Gewissensbegriff bei Rousseau 11 promovieren können, bevor dieser wegen seiner jüdischen Herkunft als Beamter vom Hochschuldienst im Oktober 1935 suspendiert wurde. Diese Dissertation zeichnet sich dadurch aus, dass mittels einer auf den Frühschriften von Karl Marx basierenden Perspektive eine Ideologiekritik von Heideggers fundamentalontologischer Definition des Gewissens als Ruf- und Sorgecharakter vorgenommen wird. Hellweg berichtete mir, dass er die Marburger Marx-Vorlesung von Karl Löwith zu Beginn der dreißiger Jahre gehört hatte, deren Erträge in einem Essay veröffentlicht wurden. 12 Zu diesem Zeitpunkt waren die im Auftrag des Marx-Engels Instituts in Moskau herausgegebenen Frühschriften in zwei zeitgenössischen Ausgaben erschienen. 13 Anthropologisch behandeln Marx und Engels nicht die soziale Funktion des Gewissens, sondern in Anlehnung an Hegels „Phänomenologie“ die zur Emanzipation des Individuums notwendige Selbstgewissheit des menschlichen Geistes, der jedoch von seinem Inneren entfremdet ist und erst zu sich gelangen kann, wenn 125 die äußeren Voraussetzungen in Form einer verträglichen Gesellschaftsordnung vom Menschen geschaffen werden. Die Emanzipation des Individuums wird nicht als Emanzipation von der Gesellschaft, sondern als Vorgang innerhalb der Gesellschaft begriffen. Das Individuum wird durch die Industriegesellschaft, wie sie Marx in Europa verkörpert sah und wie sie in Perioden wie der neoliberalen Großindustrie und gegenwärtigen Massenkultur ihren Höhepunkt erreicht hat, atomisiert. Im Prozess der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zeigt sich der Verdinglichungscharakter des Bewusstseins, das veräußerlicht erscheint. 14 Diese Atomisierung soll aufgelöst werden. Entscheidend ist, dass beim jungen Marx das Problem der Entfremdung, das Hegel als „unglückliches Bewusstsein“ 15 und Verlust seiner Selbst im Anderen - als gebrochene Entäußerungsform durch Arbeit - charakterisiert hatte, durch materialistische Anschauung überwunden wurde. Mit diesen neu erworbenen Kenntnissen nähert Hellweg sich Heidegger an der Schnittstelle zwischen Fundmentalontologie und der Ontologie des gesellschaftlichen Seins an, wodurch er der Frage nach dem Gewissen eine konkrete Bestimmung verleiht. Die soziale Spaltung der Gesellschaft und ihren Warencharakter hatte Rousseau schon erblickt. In dessen Enzyklopädieartikel heißt es: „Résumons en quatre mots le pacte social des deux états. Vous avez besoin de moi, car je suis riche et vous êtes pauvre; faisons donc un accord entre nous: je permettrai que vous ayez l’honneur de me servir, à condition que vous me donnerez le peu qui vous reste, pur la peine que je prendrai de vous commander.“ 16 Der Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft und die zunehmende Arbeitsteilung erscheinen als Gegensätze, womit Rousseau die Marxsche Verelendungstheorie vorwegnimmt und die Zuspitzung des sozialen Unfriedens reflektiert, der während der Vorphase der französischen Revolution zu einem gesellschaftlichen Gewissensproblem eskalierte. Der Existentialontologe Heidegger hatte jedoch das Gewissen als zum eigenen Selbst zugehörig definiert, das nicht „im öffentlichen Miteinander gilt“, 17 weil es sich „einzig und ständig im Modus des Schweigens“ 18 ausdrücke. Die „Sorge“ des Gewissens und sein zeitweilig zu erhörender „Ruf“ nach Klärung eines Konflikts gelte als phänomenaler Befund nur subjektiv, „weil das Gewissen im Grunde und Wesen je meines ist.“ 19 Jeder andere Auslegungsversuch würde demzufolge „eine Flucht vor dem Gewissen“ 20 darstellen. Diese dem Gewissen zugedachte Funktion bleibt ohne praktische Konsequenzen für gesellschaftliches Handeln aus. 21 Denn die Gesellschaftlichkeit des Menschen wird bei Heidegger lediglich als Existenzial des Daseins verstanden, welches durch die anonyme Herrschaft des „Man“ bestimmt ist. 22 Dieses „Man“ konstituiert sich durch das Zusammenleben der Individuen, ihren Konkurrenzkampf untereinander, die alltäglichen Verrichtungen, die zum Leben, Überleben und Miteinandersein zählen und „schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“, 23 aus der wiederum die Befindlichkeiten und Seelenzustände des Individuums entstehen. Die Existenziale der Sorge, Angst und des Gewissens weisen auf innere Problemzustände des Individuums hin, die nicht auf ihre Ursachen zurückgeführt werden, denn das Man konstituiert sich aus „Abständigkeit, Durch- 126 schnittlichkeit [und] Einebnung,“ 24 womit die „Seinsweisen“ 25 gemeint sind, die „wir als ‘die Öffentlichkeit’ kennen.“ 26 Die Erscheinungsform dieser gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist gekennzeichnet durch einen Zerfaserungsprozess, dem das Individuum nicht entkommt: „in dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur.“ 27 Der einzelne Mensch wird von den Ansprüchen der Wirklichkeit (Inflation, Wirtschaftskrise, politische Kämpfe, hohe Arbeitslosigkeit während der Weimarer Republik) permanent herausgefordert, so dass er leidet und sich verängstigt fühlt, den Teufelskreis der Anonymität des Man und seiner „Diktatur“ aufzubrechen. Heidegger sagt auch, dass das Man in dieser Weise als wandelbar anzusehen sei und deutet auf dessen historische Verfasstheit hin: „Das Man ist ein Existenzial und gehört als ursprüngliches Phänomen zur positiven Verfassung des Daseins. Es hat selbst wieder verschiedene Möglichkeiten seiner daseinsmäßigen Konkretion. Eindringlichkeit und Ausdrücklichkeit seiner Herrschaft können geschichtlich wechseln.“ 28 Was Heidegger auf suggestive Weise in der ihm eigenen Terminologie darlegt, entspricht unausgesprochen den sozialökonomischen Vereinheitlichungsformen des Kapitalismus. Die phänomenologischen Erscheinungsformen der Moderne (Alltäglichkeit des Warenfetischismus) werden auf vorbegriffliche Weise berührt. 29 Der springende Punkt ist der, ob sich der Mensch über seine ökonomische und moralische Verschuldung 30 bewusst werden kann. Wie ist diese Schuld als Teil der Existenz zu verstehen? Bezogen auf den Rufcharakter des Gewissens heißt es: „Das Rufverstehen erschließt das eigene Dasein in der Unheimlichkeit seiner Vereinzelung.“ 31 Der Terminus „Unheimlichkeit“ spiegelt die Kehrseite der Warenwelt als verdinglichtes Bewusstsein wider. Heidegger fordert vom Individuum die Bereitschaft zur Entschlossenheit, dass dieser Zustand nicht als unbedingter anzuerkennen sei. Daraus folgt, dass die Existenz des Menschen durch die Möglichkeit des „Schuldigseins“ 32 konstituiert wird. Mit Verweis auf die Formulierung „bei einem etwas am Brett haben“ 33 wird die ökonomische Verschuldung erläutert; die moralische Komponente erfährt durch den Hinweis auf die „Kantische Gerichtshofvorstellung“ 34 ihre Ausdeutung, denn in Kants regulativer Tugendlehre ist dem Gewissen die Aufgabe beigemessen, sich als „Stimme des inneren Richters“ 35 Gehör zu verschaffen. Diese Lehre korrespondiert unmittelbar mit der jüdisch-christlichen Idee der Nächstenliebe, 36 ausgedrückt in der Bergpredigt (Mt. 5-7), und der Erlösung im Weltgericht (Mt. 25, 21-46). Das bedeutet, dass durch die Seinserfahrung der Nächstenliebe 37 und Pflicht zur Schuldvergebung gegenüber sich selbst und den Schuldigern der Mensch nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich bestimmt ist. Bezogen auf das prinzipielle „Schuldigsein“ beinhalten diese beiden Prämissen für Heidegger nichts anderes, als dass darin die Entfaltungsmöglichkeiten des moralisch Guten und Bösen zum Ausdruck gelangen. Offen bleibt jedoch, was dem Individuum zu tun schuldig bleibt, wenn es heißt: „Das Wozu der Entschlossenheit ist ontologisch vorgezeichnet in der Existenzialität des Daseins überhaupt als Seinkönnen in der Weise der besorgenden Fürsorge. […] Die Entschlossenheit be- 127 deutet Sich-aufrufenlassen aus der Verlorenheit in das Man.“ 38 Das „Wozu“ als praktische Zielorientierung bleibt bis 1933 fraglich. Hellweg überwindet diese ontologische Konzeption, indem er in Bezug auf Rousseaus „Du contrat social ou principes du droit politique“ (1754/ 62) den Zweck der Einzelperson, in der sich nach Heidegger das Gewissen als bloß zu schweigen Habendes konstituiert, als eine aktive Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dem gesellschaftlich Allgemeinen versteht. Dadurch wird nicht nur die Würde des Einzelnen gegen eine barbarische Bedrohung gesichert, sondern eine Kulturkritik formuliert, die sich auf das antagonistische Verhältnis von Partikularinteressen und Gemeinschaftsinteressen bezieht. Hellweg macht für Rousseau geltend, dass dieser den Gewissensbegriff von der reformatorischen Prädestinations- und Glaubenslehre Calvins abgelöst und damit theologisch entkernt hatte. 39 Das Gewissen korrespondiere mit dem Willen und wirke als aufklärende Instanz, um geschichtlich eingefrorene Verhältnisse zu verändern: „Die häufigen Anrufe, die geheime Stimme des Gewissens zu hören, in sich selbst zurückzugehen, bedeuten nichts anderes als den Anruf an den Willen, aus den Zuständen der Unmenschlichkeit herauszutreten, die als willenlos dargestellt werden […].“ 40 Diese Funktion des Gewissens, die sich gegenüber der introvertiert-passiven Verfasstheit bei Heidegger aktiv nach außen wendet, erscheint bei Rousseau als Mittel zur politischen und sozialen Emanzipation. Im Idealfall ist der Machtverschiebung im Staatskörper zugunsten des vierten Standes anzustreben. Das Gewissen radikalisiert sich, dient als Instrument der Kritik gegenüber den realen Lebensverhältnissen: „Es ist der bewusste Angriff der Ideologie einer neuen Gesellschaft auf den Staat, wenn unter Gesellschaft eine vorüberwiegend unter wirtschaftlichen Bedingungen stehende Totalität aufgefasst wird, und der Staat als die Macht, die sich in den Händen einer Schicht befindet, die sich einer wirtschaftlichen Entwicklung im Sinne der neuen gesellschaftlichen Klasse entgegenstemmt.“ 41 Hellweg interpretiert den Gesellschaftsvertrag im Hinblick auf die Marxsche politische Ökonomie. Ihm kommt entgegen, dass Rousseaus Gewissenskritik die kruden Machtverhältnisse des ancien régime im „Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes“ (1753/ 55) als Kritik am Privateigentum der feudalistischen Gesellschaftsordnung versteht. Im Kontrast zu Heidegger entwickelt Hellweg einen soziologisch fundierten Gewissensbegriff, der nicht vom gesellschaftlichen Außenraum abgekoppelt wird, sondern die versklavende Lohnarbeit des Menschen in den Blick nimmt: „Die Menschlichkeit wird aber dann selber zerteilt, da in der Lohnarbeit der Mensch nur als Werkzeug angesehen werden kann.“ 42 Hellweg sagt weiter, dass beim Prozess der Transformation des Naturzustandes in einen Gesellschaftszustand dem Menschen „der Werkzeugcharakter von außen“ 43 aufgezwungen wird. Was Rousseau noch nicht sah, war nach Hellwegs Deutung damit verbunden, dass die technisch verfeinerten Produktionsbedingungen, aus denen neue Besitz- und Machtverhältnisse hervorgehen, keiner Selbststeuerung durch den vierten Stand unterliegen. Das gegen diese Verhältnisse revoltierende Gewissen wird von Hellweg positiv als „integrierender Bestand- 128 teil der neuen gesellschaftlichen Welt […], wie sie aus der französischen Revolution hervorging“, 44 definiert. Etwas anders hatte Hellwegs Doktorvater die historische Stellung Rousseaus im 18. Jahrhundert verortet. Auerbach Argumentation, die ohne ein einziges Rousseau-Zitat auskommt, sucht eine allgemeinkulturhistorische Einordnung vorzunehmen, die von der Prämisse ausgeht, dass Rousseau der erste europäische Aufklärer von Rang gewesen sei, der „seine potentielle Christlichkeit nicht zu aktualisieren vermochte.“ 45 Auerbach kommt zum abschließenden Urteil, dass der Zerfall des Christentums zu Rousseaus Zeit schon so weit durch die Säkularisierung fortgeschritten war, dass innerhalb der christlichen Kirche, die ihren beschützenden Anspruch auf das Seelenleben des Christen auszudehnen versuchte, für einen von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Menschen wie Rousseau kein Platz mehr vorhanden gewesen sei: Daß ein Mensch […], durchtränkt von Demut, Weltflucht, Begierde nach Buße und Erlösung, in keiner christlichen Kirche mehr Raum fand, dass er auch keine neue christliche Kirche gründete, dass in den Ausbrüchen seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung kein Wort zu finden ist von dem Leiden Christi, vom Sündenfall und vom Jüngsten Tag - das scheint mir für die Wendung Europas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend.46 Was Auerbach am Beispiel Rousseaus herausarbeitet, bezieht sich darauf, dass über den Prozess der Säkularisierung die Pervertierung der moralischen Grundgedanken des Christentums möglich wurde. Im 20. Jahrhundert fand sie in der völkischen Ideologie eine extreme Gestalt. Ihr Rassismus zerstörte die christliche Ethik und die Nazis setzten an deren Stelle ein Terrorsystem, das soziale Gerechtigkeit und Formen demokratischer Gewaltenteilung nach dem Modell Rousseaus auslöschte. Das neue Regime verschaffte dem einzelnen Menschen ein gutes Gewissen gegenüber denjenigen, die schwach, hilflos und aufgrund ihrer mosaischen Glaubenszugehörigkeit ausgestoßen, verfolgt und getötet wurden. Auerbach wurde am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung bewusst, dass in der Aushöhlung christlicher Lebensideale (besonders der Lehre von der caritas) eine der gefährlichsten ideologischen Manipulationen des Nationalsozialismus begründet lag. Mindestens ebenso nachhaltig wie das von Auerbach skizzierte Rousseau-Bild, stellt Hellwegs Gewissensinterpretation eine verschlüsselte Kritik am Nationalsozialismus und den ihn stützenden Monopolkapitalismus dar. III. Hellweg und Krauss: Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zweite Heidegger-Kritik und Neuanfang mit Marx Im Jahr 1938 wurde Hellweg als Mitarbeiter von Werner Krauss aus politischen Gründen von seiner Assistentenstelle entlassen. Die angestrebte Habilitation zu einem Thema der französischen Aufklärung konnte er nicht beenden, da ihm die materielle Grundlage entrissen wurde. Hellweg wechselte notgedrungen in den 129 Schuldienst, absolvierte das Referendariat in Frankfurt, wurde 1940 einberufen und aufgrund seiner russischen Sprachkenntnisse während des Krieges in eine Nachrichteneinheit nach Kurland kommandiert, wo er bis zum Kriegsende seinen Dienst versah. Nach dem Abbruch seiner Universitätskarriere engagierte er sich gegen den Nationalsozialismus. Die innere Dramatik dieses Kampfes ist durch die Veröffentlichung von Werner Krauss’ Bericht über Hellwegs Zugehörigkeit zur Schulze-Boyen/ Harnack-Konspiration bekannt geworden. Die Aufzeichnungen zeigen, dass Hellweg das Vertrauen von Harro Schulze-Boysen gewann und als sein Mitarbeiter in der illegalen Widerstandgruppe vorgesehen war: Schulze-Boysen wollte mir ein Kommando im OKH verschaffen, wobei ich ihm unmittelbar unterstellt worden wäre. Da es aber wichtiger erschien, dass ich die Verbindung mit meiner Dolmetscherkompanie herstellte und meine Kenntnis des russischen auch nur neueren Datums war, so schlug ich statt meiner meinen langjährigen Freund und Marburger Mitarbeiter Martin Hellweg vor. Hellweg war als Funker in Pskow eingesetzt und hatte wohl bei diesem Einsatz wie auch durch seinen ständigen Umgang mit dem sowjetfreundlich gebliebenen Teil der Bevölkerung […] in unserem Sinne gewirkt. Bei einem Urlaub brachte ich ihn in Berlin mit Sch.-B. zusammen. […] Sch.-B. reklamiert Hellweg bei seiner Truppe, die ihn aber nicht freigeben wollte. Als die Reklamation endlich durchgegangen war, war Sch.-B. schon verhaftet. Ich konnte Hellweg noch in einem chiffrierten Brief warnen. Seine Feldtruppe hielt ihn auch später, als er zu seiner Vernehmung nach Brandenburg kommandiert wurde. Während meiner Haftzeit habe ich natürlich die Spuren Hellwegs verloren und von ihm nur erfahren, dass er Ende 1944 in einem Lazarettzug vor Riga lag. Ende 1945 tauchte er wieder in Fulda auf.47 Die geschilderte Situation, die zeitlich mit der Entdeckung der Widerstandsgruppe durch die Gestapo im August 1942 korreliert und in deren Zusammenhang Krauss selbst verhaftet und vorläufig zum Tode verurteilt wurde, hätte auch Martin Hellweg das Leben kosten können. Jedoch der gemeinsame Kamerad Harro Schulze-Boysen hatte während der Verhöre durch die Gestapo heroisch geschwiegen und Hellweg vor dem drohenden Fallbeil in Berlin-Plötzensee bewahrt. Krauss fährt in seinem Bericht fort und sagt in Bezug auf Hellweg: „Schulze-Boysen ist auf der Gestapo aufs schwerste gefoltert worden. […] Dennoch hat Sch.-B. nur solche Dinge zugegeben, von denen er annehmen musste, dass sie der Polizei von vornherein bekannt waren. Über seinen Verkehr mit mir und mit Martin Hellweg hat er sich vollständig ausgeschwiegen. Er wurde zweimal zum Tode verurteilt und im Dezember 1942 hingerichtet.“ 48 Diese Zeit der Anspannung - wissend, dass sein Freund Krauss in der Todeszelle ausharrte und immer hoffend, dass er überlebt - selbst überstanden hatte, verfolgte Hellweg psychisch lebenslang. Das Erlebte vernarbte nie endgültig. Aus seinen unveröffentlichten Nachkriegsbriefen an Krauss geht hervor, dass er die Auswanderung in ein romanisches Land ins Auge fasste und für einige Zeit zwischen einer Tätigkeit im Journalismus, der Politik oder Wissenschaft hin und her schwankte. Schließlich entschied er sich für den Schuldienst und hatte die Fächer Französisch, Englisch und Deutsch am Gymnasium Philippinum in Marburg (1947-1953) 49 und zuletzt in der Stellung eines Oberstudiendirektors und Schulleiters in Lippstadt (1962-1970) unterrichtet. 130 Von Anfang an setzte sich Werner Krauss dafür ein, dass das Martin Hellweg widerfahrene Unrecht wiedergutzumachen sei. Dass Hellweg ein Gegner des Nationalsozialismus war und ihn bekämpfte, war allerdings äußerlich durch die Tatsache verdeckt, dass er 1933 zum eigenen Schutz in die SA eintrat und kurz darauf sie wieder verließ. Der eigene „braune Fleck“, der als Tarnkappe seinem Freund Krauss nur zu gut bekannt war und über dessen Austilgung Hellweg in seinen Briefen berichtet, wird ihm negativ bei seinen Bewerbungen angelastet. Am 15. März 1946 führt Hellweg dazu aus: „Bis jetzt konnte man mir aufgrund der Angaben über mich immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen, indem man auf den braunen Fleck hinwies.“ 50 Wenig später hatten Gutachten von Auerbach und Krauss dazu beigetragen, dass dieser Tarnfleck bereinigt wurde. Krauss schlug Hellweg in dieser Zeit für eine Professur an der Universität Greifswald vor. Aus der Empfehlung vom 30. Juli 1946, die er an Günther Jacoby (Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Greiswald) sandte, geht die anschaulichste Charakterisierung von Hellwegs Wesen und Intellektualität hervor. Nachdem Krauss berichtet, dass sein anderer Schüler, Franz Walter Müller, 51 nicht für eine Professur in Frage käme, kommt er auf Hellweg zu sprechen: Dagegen möchte ich mir erlauben, Ihnen ganz besonders dringlich einen älteren Schüler von mir zu empfehlen, der durch politische Antipathien schon 1936 aus der akademischen Laufbahn herausgerissen wurde und seitdem […] seine starken wissenschaftlichen Bestrebungen in der Stille weiter verfolgt hat. Es handelt sich um Martin Hellweg […]. [Er] promovierte in Marburg mit einer vielbesprochenen Arbeit ‘Das Gewissen bei Jean Jacques Rousseau’, Marburg 1936. […] Neben kleineren Veröffentlichungen schrieb er eine methodisch und geschichtlich gleichbedeutende Arbeit über die Kreuzzugsepik […]. Hellweg ist literahistorisch, sprachwissenschaftlich und philosophiegeschichtlich gleich begabt und besitzt einen bedeutenden Bildungshorizont. Er wurde aus seiner Assistentenstelle in Marburg wegen seiner früheren Zugehörigkeit zu der freisozialistischen Studentengruppe verdrängt. Daher blieb ihm der formelle Abschluss einer Habilitation versagt, jedoch hat er das Material schon soweit bereitgestellt, dass diese Lücke bald geschlossen werden könnte. […]. Ein Nebengebiet seiner Interessen ist die Slavistik (er beherrscht eine Reihe slavischer Sprachen vollständig) und ich glaube, dass seine Begabungsrichtung ihn mehr oder weniger in die vergleichende Literaturwissenschaft drängen wird. Hellweg ist als Mensch zurückhaltend, zuverlässig und in ernsteren Gesprächen äusserst durchdringend. Noch ehe ich von der Greifswalder Vakanz erfuhr, hatte ich anlässlich eines Berliner Aufenthaltes auf diesen hervorragenden Repräsentanten unseres romanistischen Nachwuchses aufmerksam gemacht.52 Dieses Portrait zeugt von der sokratischen Bescheidenheit Hellwegs, die einen Grundzug seines Charakters ausmacht. Er hatte im Kontext der fehlgeschlagenen Entnazifizierungspolitik und Zuspitzung des Ost-Westkonflikts nicht den Weg in die Universität eingeschlagen. Vermutlich deshalb nicht, weil Hellweg während des Prozesses der „Reinwaschung von der brauen Sch[eiße]“ 53 bemerkte, dass noch viele unangenehme „Abwässerausdünstungen“ 54 die Atmosphäre verpesteten. Trotz seiner humanistisch-marxistischen Überzeugung folgte er nicht dem Wunsch 131 von Werner Krauss, der KPD beizutreten. Hellweg suchte nach einer intellektuell unabhängigen Position, die er besonders in der Diskussion mit Krauss zu befestigen wusste. Am 2. Dezember 1945 heißt es: Aber die neue Entwicklung tritt jetzt wohl in ein schärferes Licht und da lässt sich mit blossen Entscheidungen nicht mehr allein arbeiten, man muss die eigene Position auch zu klären wissen. Ich bin da auf eine Reihe von Fragen gestoßen […]. Der wesentliche Punkt ist dabei wohl die Stellung des Proletariats innerhalb der Marxschen Interpretation. Ist es nur eine Negation, ein Produkt der Bourgeoisie, die ja auch andere Erscheinungen zersetzend erzeugt hat? Wenn das Proletariat etwas dialektisch-negatives ist, worin liegt dann der positive Wert, der gerade diese Position auszeichnen müsste, und sie allen Arten der bürgerlichen Diskussionsebenen […] überlegen machen müsste? 55 Diese zentralen Fragen bilden die gedankliche Struktur zu der nahezu unbekannten Schrift „Die Stellung des Proletariats bei Karl Marx“, 56 womit Hellweg an die frühere Diskussion zum Gewissensbegriff anknüpft. Er formuliert hier erstmals in offener Form seine zweite Heidegger-Kritik und reagiert indirekt auf die in Frankreich zeitgleich stattfindende Auseinandersetzung mit Heideggers Schriften, an der sein Freund Karl Löwith durch den Artikel „Les implications politiques de la philosophie de l’existence chez Heidegger“ beteiligt war. 57 In der Debatte hatte Löwith, im Rückgriff auf seinen zehn Jahre früher entstandenen Dezisionismus-Aufsatz, gezeigt, wie das Umschlagen existenzialontologischer Kategorien in geschichtliche Impulse zu verstehen sei. Speziell vermittels der stilistischen Analyse von Heideggers Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (1933), in welcher zentrale Begriffe aus „Sein und Zeit“ eingeflochten wurden, hebt Löwith formale Ähnlichkeiten hervor, die diese Rede mit der Sprache der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Vorlaufzeit besitzen: Denn der ‘Geist’ des Nationalsozialismus hatte es nicht so sehr mit dem Nationalen und Sozialen zu tun als vielmehr mit jener radikalen Entschlossenheit und Dynamik, die jede Diskussion und Verständigung ablehnt, weil sie sich einzig und allein auf sich selber verlässt - auf das je eigene (deutsche) Sein-können. Es sind durchwegs Ausdrücke der Gewaltsamkeit und Entschlossenheit, die das Vokabular der nationalsozialistischen Politik und von Heideggers Reden bestimmen. Dem diktatorischen Stil der Politik entspricht das Apodiktische in Heideggers pathetischen Formulierungen. […]. Sie spiegeln alle die katastrophische Denkweise der deutschen Generation nach dem ersten Weltkrieg. […] Im Grunde sind all diese Begriffe und Worte der Ausdruck für die bittere und harte Entschlossenheit eines sich vor dem Nichts behauptenden Willens, der auf seine Verachtung des Glücks, der Vernunft und des Mitgefühls stolz ist.58 Ähnlich argumentiert Hellweg, wenn er sagt, „dass die Fragen der eigentlichen Fülle der Existenz auf eine Ontologie verwiesen wurden, in der die Fragen ihres geschichtlichen, wirklichen Sinns entkleidet wurden.“ 59 Er bezichtigt Heidegger eines „verharmlosten Nihilismus.“ 60 Dieser habe den Nihilismus „katheterfähig und bürgerreif gemacht,“ 61 indem „mit der phänomenologischen Methode die Widersprüche innerhalb der Wirklichkeit, der Ontik, hinwegschafft“ 62 würden. Wie schon mittelbar in der Rousseau-Schrift begründet, sagt Hellweg jetzt ganz unmittelbar, 132 dass bei Heidegger eine Anpassung der Begriffe an die Politik stattgefunden habe, wodurch sich dessen Philosophie in ein falsches Verhältnis zur Wirklichkeit setze. Seine Kritik kulminiert darin, dass er Heideggers Philosophie „als Phänomen für die Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit“ 63 charakterisiert, da sie sich durch einen „Mangel an Bestimmtheit“ 64 auszeichne und „die Grenzbestimmungen des moralischen Handelns“ 65 außer Acht lasse. Heideggers ethische Unzulänglichkeit beruht nach Hellweg darauf, dass „eine solche Philosophie nicht den Sinn für die Möglichkeit oder Notwendigkeit des Widerstands gegen die Entfesselung der Dämonien wecken“ 66 konnte. Gerade aufgrund ihrer Wegwendung von gesellschaftlichen Daseinsverhältnissen erklärt sich die plötzliche Zuwendung zur politischen Faktizität: „Und der Schritt, durch den sich Heidegger 1933 in einer öffentlichen Tätigkeit dem Nationalsozialismus verschrieb, ist ebenso eine taumelnde Fluchtbewegung in die unmittelbare Wirklichkeit, deren wahrer Sinn von ihm nicht erkannt wurde, wie er sich vorher in die Ontologie geflüchtet hatte.“ 67 Der häufige Gebrauch des „je eigen“, der schon Löwith in aufgefallen war, bedingt die prästabilisierte Harmonie zwischen dem zeitgeschichtlich vermeintlich richtigen Handeln und der äußeren Wirklichkeit, deren Praxis im Jahr 1933 so ausgesehen hatte, dass auf das unabhängige, sich vom Gewissen leitende Subjekt bereits das Konzentrationslager wartete. Die Kritik an Heidegger wird von Hellweg im Rückgriff auf die Jugendschriften von Marx (wie in der Rousseau-Dissertation) gewonnen, um der Ontologie ihre Mystifikationen auszutreiben. In gewisser Weise funkte Heidegger bei dieser Kärrnerarbeit dazwischen. Der Philosoph hatte sich in dem im November 1945 verfassten „Brief über den Humanismus“ geweigert, dass seine Philosophie mit dem Existentialismus und der Phänomenologie eines Sartre und Husserl gleichzusetzen sei. Die vorausgegangene psychologistische Befragung seines französischen Freundes Jean Beaufret wurde von Heidegger mit dem überraschenden Hinweis auf Marx zurückgewiesen: Was Marx in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück. […] Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hereinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte aller übrigen Historie überlegen.68 Dass Heidegger lediglich eine diplomatische Ergebenheitsgeste an die Adresse des Marxismus richtet, darf nicht verwundern. 69 Die tatsächliche Bewegung der Weltgeschichte wird nicht angesprochen; sie wird mit dem Hinweis auf Hölderlins Gedichte „Heimkunft“ (1802) und „Andenken“ (1803/ 08) dichterisch verhüllt. Folgerichtig benennt Heidegger das Proletariat als gesellschaftliche Klasse, welche dem Prozess der Entfremdung am stärksten ausgesetzt ist, nicht. Dass Hölderlin als deutscher Jakobiner den Ideen der französischen Revolution nahe stand und an den feudalistischen Zuständen in Deutschland zugrunde ging, interessiert nicht; stattdessen macht Heidegger die „Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen“ 70 133 geltend, die identisch sei mit dem „Weltschicksal“, 71 welches als dem Humanismus angehöriges Ferment stilisiert wird. So schließt sich Heidegger vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit wieder ab und das tatsächliche Subjekt, das für Hellwegs Ansatz zentral ist, wird damit begrifflich und geschichtlich negiert. Bloß abstrakt klingt auch der Satz: „Die Seinsvergessenheit bekundet sich vielmehr darin, dass der Mensch immer nur das Seiende betrachtet und bearbeitet.“ 72 Mit viel Phantasie könnte man die Wechselwirkung von vita contemplativa und vita activa assoziieren oder den von Marx analysierten Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur herauslesen, aber die Aussage steht gegenüber der zitierten Marx-Stelle ohne eine soziologisch oder geschichtlich hergeleitete Prämisse dar. Schon in dem zitierten Brief an Krauss vom 2. Dezember 1945 sagte Hellweg gegenüber der Spitzfindigkeit existentialistischer Argumentationen: Da besteht doch als eine Möglichkeit der Interpretation der Rekurs auf die persönlichexistentielle Entscheidung - oder darauf, dass diese Position als eine Position der Kritik, zu Angriff und Verteidigung gewertet werden kann, sozusagen als Mittel, um der verändernden Kritik und Interpretation den Hintergrund zu geben, aber es scheint dann nicht möglich zu sein, den positiven Sinn restlos rational aufzuklären.73 Hellweg deutet an, dass man sich durchaus existentialistischer Kategorien bedienen könne, aber nicht im Sinne eines reflektionslosen Geschichtsbewusstseins. Er warnt davor, dass Heideggers Ontologie zu abstrakt bleibt. Der transzendente Seinsgrund 74 (Heidegger argumentiert unter anderem mit Schellings Freiheitsschrift) als Möglichkeit zur Freiheit wird nicht historisch begründet und entbehrt einer gesellschaftlichen Bestimmung, aus der das kritische Bewusstsein einer Freiheitsvorstellung erst entsteht. Heidegger nimmt nicht zur Kenntnis, dass dieser Aspekt in Hegels „Phänomenologie“ vorgedacht war, als dieser das entfremdete Wesen der Arbeit im Herr- und Knechtkapitel bestimmte und das Ausbrechen aus diesem Verhältnis als Bildung des Selbstbewussteins gedeutet hatte, welches danach trachtet, „das absolute Flüssigwerden alles Bestehens“ 75 auf den Weg zur gesellschaftlichen Befreiung zu befördern. Deshalb benutzt Hellweg den Begriff der Entfremdung als Kategorie, die mit Hegels Geschichtsphilosophie korrespondiert und das „Verfallstadium“ 76 der bürgerlichen Welt anzeigt. Hellweg steht auf den Boden der Hegelschen Philosophie und gelangt durch den von Marx übernommenen Begriff der „Selbstentfremdung des Menschen“ 77 zu der anthropologischen Bestimmung, dass der Mensch „ein bloßes, unmittelbares Mittel zum Zweck“ 78 sei und sich „als Ware, als Arbeitskraft“ 79 zu verdingen habe. Dieser Prozess vollzieht sich im „konstitutive[n] Element der bürgerlichen Gesellschaft“, 80 das heißt, im Rahmen der vorherrschenden Antinomien, die den einzelnen Menschen in den Privatmann und Staatsbürger aufspalten. Hellweg führt weiter aus, dass sich das Proletariat im Zuge der Industrialisierung und Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft formiert habe: „Herkunftsort des Proletariats ist der Mittelstand, seine Formung ist vollzogen durch den künstlichen Prozess seiner Entstehung: dass hier ein Eingriff der Depossedierung, der Enteig- 134 nung geschehen ist, der die angehörigen des Mittelstandes dazu nötigte, ihre Arbeitskraft nun in einer besonderen Art zu verkaufen.“ 81 Diese Freisetzung des Proletariats aus dem Schoß des Bürgertums stellt die Voraussetzung für die wahre politische Emanzipation dar, die in der französischen Revolution angelegt gewesen sei, allerdings nur für das Bürgertum und nicht für den vierten Stand gegolten habe. Mit Verweis auf die „Philosophisch-ökonomischen Manuskripte“ erklärt Hellweg, dass das Proletariat durch die Industriearbeit und das Ansteigen des Privateigentums eine Entmenschlichung erfahren habe. Aus diesem Grunde sei es der Träger der Zukunft, welches die Negation dieser Verhältnisse anzustreben habe: Hier wird besonders deutlich, in welcher Weise Marx die Dialektik einsetzt, das Prinzip der Negativität also, wie hier aus der Interpretation des Mangels, der Negation der bestehenden Gesellschaftsordnung, der Umschlag in eine praktische Aufgabe einsetzt, dadurch, daß die Negation der Negation durch das Proletariat vollzogen werden soll, so dass hier eine dialektische Einheit von Theorie und Praxis hergestellt werden kann: die Praxis wird die unbezwungene Verlängerung der Theorie, die Theorie entfaltet sich in und an der Praxis.82 Die Marxsche Dialektik, die Hellweg geltend macht, bezieht sich auf das Umschlagen einer positiven Bestimmtheit in ihre Negation. Dieses Umschlagen schließt die Möglichkeit ein, einen historischen Gegenstand nicht nur von einer Seite aus zu betrachten, sondern mehrere Perspektiven zu berücksichtigen, um begreiflich zu machen, wie sich der Gegenstand verändert, was sich dabei neu erfassen lässt und wo aus der Abstraktion in die Konkretion übergegangen werden kann. Dazu zählt, dass sich die Inhalte des Denkens selbst verändern, denn die Philosophie wird zu einem Mittel der radikalen Kritik und Waffe verwandelt. Der jeweilige Gegenstand wird nicht aus einer überweltlichen Perspektive betrachtet, sondern im Reich der irdischen Dinge gesehen. Diese Methodik, sagt Hellweg, „ist das revolutionäre Moment der Marxschen Gedankenarbeit.“ 83 Das neue Erkenntnisinstrument konstituierte sich aus der Einheit von Theorie und Praxis. Erst dadurch wäre die jeweils geschichtliche Situation erkannt, in der sich das einzelne Subjekt vorfinde; erkannt werde die Verschiedenheit der Stufen des menschlichen Daseins, die sich als materielle und geistige Formen der Produktion und Reproduktion gestalten. Hinsichtlich der Nachkriegssituation, die mit dem Abbruch marxistischen Denkens verbunden war, heißt es: „Eine geistige und politische Position aber, die versucht, die heutige Wirklichkeit anzusprechen, kann an dem Proletariat und der Bedeutung, die Marx diesem elementaren Faktor der Gesellschaft gegeben hat, nicht mehr vorübergehen. Das Proletariat ist heute noch die einzige geschlossene soziale Formation, von der aus der moralische und menschliche Wiederaufbau ausgehen kann.“ 84 Bezogen auf den Faschismus fügt er noch an: „Jegliche andere soziale Position ist ihrer Gesamtheit unterhöhlt, durch die letzten 12 Jahre in ihrem Kern kompromittiert und besitzt nun nur noch die Möglichkeit, in einer Art von Grabenkrieg die Front in der Stagnation zu erhalten.“ 85 Hellwegs Ableitungen beinhalten theoretische und historische Voraussetzungen, wie sie sich aus seiner Lektüre von Georg Lukács’ „Geschichte und Klassenbe- 135 wusstsein“ (1923) ergaben, 86 wo dieser die Organisationsfrage der Arbeiterklasse als zentral zu lösende Aufgabe postuliert hatte. 87 Die Grabenkämpfe, die Lukács nach der Niederwerfung der ungarischen Räterepublik von 1919 mitreflektiert, bezieht Hellweg auf die Kontroversen, die nach Lenins frühem Tod innerhalb der Linken entstanden und sich durch Stalins Machtergreifung und der Bürokratisierung des Parteiapparats mit dem beispiellosen Effekt der Liquidation seiner besten Köpfe zeitigte. Parallel hatte sich nach der Novemberrevolution von 1918 und den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die deutsche Arbeiterbewegung mehrfach gespalten und wurde später vom Faschismus entweder auf gewaltsame Weise vernichtet oder ins Exil vertrieben. Hellweg betrachtet den „Wiederaufbau“ als Versuch einer Neubestimmung des Proletariats. Die wichtige Frage, ob „das Proletariat als geschlossene Formation“ 88 noch bestünde, lässt Hellweg weitgehend offen, aber er beobachtet aufgrund der Zerstörung der deutschen Städte und aus dem Osten ankommenden Flüchtlingsströme eine soziale Veränderung im Proletariat. Einerseits wird durch diesen Umschichtungsprozess das Ansteigen der proletarischen Bewusstseinshaltung erwartet; andererseits steht dieser Erwartungshaltung die zurückliegende Erfahrung der Integration des Proletariats in den Nationalsozialismus gegenüber: Endlich hat es innerhalb des Proletariats viele Gruppen von Menschen gegeben, die in den letzten 12 Jahren den Verlockungen des sich sozialistisch gerierenden Monopolkapitalismus erlegen sind. Sie sind in vielen Fällen gerne und allzu willig dem Anreiz gefolgt, als Aufseher oder Ausbeuter gegenüber den versklavten Arbeitern aus Ost und West zu fungieren. Sie merkten nicht, dass sie auch als Ausbeuter ausgebeutet wurden, und dass ihnen damit moralisch und menschlich das Rückgrat gebrochen wurde, dass sie es an dem Bewusstsein der proletarischen Solidarität fehlen ließen. Sie nahmen in vielen Fällen die antisemitischen Parolen kritiklos für die Erfüllung des Sozialismus […] Ist es da verwunderlich, dass durch die Verseuchung weiter Kreise des Proletariats das Proletariat selbst in seiner Gesamtheit nicht ganz unberührt geblieben ist? 89 Man muss sich bei Hellwegs soziologischer Analyse unbedingt den Zeitpunkt des Gesagten vergegenwärtigen. Wenn man die im amerikanischen Exil entstandenen Studien der Kritischen Theorie nicht berücksichtigt, kam direkt nach Kriegsende nur Hannah Arendt in ihrem zur Schuldfrage veröffentlichten Aufsatz Hellwegs anklagenden Worten nahe. Hellwegs Kritik korreliert mit Arendts Analyse, die in Bezug auf Brechts „Dreigroschenoper“ (1928) das ökonomische Prinzip der Ausbeutung und Tötung in den Konzentrationslagern schildert und dabei auf die zumeist aus dem Kleinbürgertum und Proletariat stammenden „jobholders“ 90 als Täter hinweist. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Erfahrung und der Neukonsolidierung des Kapitalismus, spricht Hellweg von einer „falschen Bewusstseinsbildung“ 91 im Proletariat, einem Vorgang der Nivellierung, der durch den Prozess des „Absinkens weiter proletarischer Kreise zum Lumpenproletariat“ 92 flankiert werde. Die Begründung ist eine ethische, denn sie bezieht sich auf das „Versagen der menschlichen Solidarität zwischen den Unterdrückten.“ 93 Diese Unterlassung lässt sich seines Erachtens dadurch erklären, „dass die Menschlichkeit, deren Wieder- 136 herstellung in einem ‘realen Humanismus’ das Ziel des Proletariats ist, allzu allgemein und abstrakt gefasst war.“ 94 Der Begriff des Humanismus, der in Anführungszeichen eingekleidet wird, will sich von den kriegerischen Parolen und Taten des Pseudo-Humanismus unterscheiden, dem weite Teil des Proletariats und der Bauernschaft unter der Diktatur Hitlers gefolgt waren. So betrachtet, wird durch den hervorgehobenen Begriff des „realen Humanismus“ eine weitere Kritik an Heidegger geübt. Im Humanismus-Brief hatte Heidegger, wiederum am Beispiel von Hölderlins Dichtung, einen speziellen Humanismus vorgegeben, der sich auf die Taten deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg gemünzt, folgendermaßen anhört: „Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wussten, angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab.“ 95 Die Verharmlosung, die Heidegger vornimmt, klammert offenbar die Raub- und Mordtaten, Plünderungen, Brandschatzungen, Exekutionen und Vergewaltigungen von Frauen und Kindern als von Angehörigen der Wehrmacht begangene Verbrechen aus. 96 Das Proletariat war an diesen Verbrechen, wie Hellweg ausdrücklich sagt, als „Aufseher oder Ausbeuter“ beteiligt, aber aus Hölderlins Dichtung lassen sich dazu keine Handlungsanleitungen entnehmen. Durch die Verklärung des Dichters zu einem Hüter der nationalen Kultur sollen diese Verbrechen verhüllt werden. 1 Michael Nerlich (ed.): Werner Krauss. Das Sayrspiel vor der Kalkgrube. Briefe an Bertie und Martin Hellweg 1939-1945, in: Lendemains (Zum deutsch-französischen Verhältnis: Werner Krauss), 18. Jg. 1993, H. 69/ 70, 91-136. 2 Michael Nerlich: Romanistik und Anti-Kommunismus, in: Das Argument, 72, 4. Jg., H. 3/ 4, 276-313. 3 Frank-Rutger Hausmann: Vordenker der Vernichtung, Kriegstreiber, Ignoranten oder unpolitische Idealisten - die ‘Deutsche Romanistik’, das ‘Dritte Reich’ und wir, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 26. Jg., 2002, Heft 1/ 2, 145-157, hier: 146. 4 Vgl. Hans Helmut Christmann/ Frank-Rutger Hausmann/ Manfred Briegel (eds.): Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen: Stauffenburg, 1989. Später wurden unter anderem von Karlheinz Barck, Ottmar Ette, Hans-Ulrich Gumbrecht, Bernhard Hurch, Peter Jehle, Manfred Naumann, Hans-Jörg Neuschäfer, Earl Jeffrey Richards oder Ulrich Schulz-Buschhaus bedeutende Einzelstudien zu verschiedenen Fachvertretern vorgelegt. 5 Vgl. zum gegenwärtigen Stand der Auerbach-Forschung: Karlheinz Barck/ Martin Treml (eds.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2007. 6 Die Tagung fand vom 28. bis 30. September 2006 im Deutschen Literaturarchiv Marbach statt und die Veröffentlichung der Beiträge ist geplant. 7 Vgl. Martin Vialon: Traugott Fuchs zwischen Exil und Wahlheimat am Bosporus. Meditationen zu ausgewählten Bild- und Textmotiven, in: Georg Stauth/ Faruk Birtek (eds.): Istanbul. Geistige Wanderungen aus einer Welt in Scherben, Bielefeld: Transcript, 2007, 53-129. 137 8 Martin Vialon: Erich Auerbach: Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus, in: Lendemains, 19. Jg. 1994, Heft 75/ 76, 135-155. 9 Martin Vialon (ed.): Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar, Tübingen, Basel: A. Francke, 1997, 57 (Brief vom 22. Mai 1939). 10 Ebd. 11 Martin Hellweg: Der Begriff des Gewissens bei Jean Jacques Rousseau. Beitrag zu einer Kritik der politischen Demokratie, Marburg: Verlag von Adolf Ebel, 1936 (=Marburger Beiträge zur Romanischen Philologie. Herausgegeben von Werner Krauss, Heft XX). 12 Vgl. Karl Löwith: Karl Marx und Max Weber, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 67, 1932, 53-99 und 175-214 (wieder abgedruckt in: Karl Löwith: Sämtliche Schriften. Hegel und die Aufhebung der Philosophie im 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Bernd Lutz, Stuttgart: Metzler, 1988, Bd. 5, 32-407). 13 Vgl. Karl Marx/ Friedrich Engels: Die heilige Familie und die Schriften von Marx von Anfang 1844 bis Anfang 1845 (Marx-Engels Gesamtausgabe; I. Abteilung, 3. Band), Berlin: Marx-Engels-Verlags GmbH, 1932 und Karl Marx: Der historische Materialismus. Die Frühschriften, 2 Bände. Herausgegeben von S. Landshut und J. P. Meyer, Leipzig: Kröner Verlag,1932. 14 Vgl. Karl Marx/ Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Werke, Berlin: Dietz, 1969, Bd. 3, 9-530, hier 74: „Die Verwandlung der persönlichen Mächte (Verhältnisse) in sachliche durch Teilung der Arbeit kann nicht dadurch wieder aufgehoben werden, dass man sich die allgemeine Vorstellung davon aus dem Kopfe schlägt, sondern nur dadurch, dass die Individuen diese sachlichen Mächte wieder unter sich subsumieren und die Teilung der Arbeit aufheben.“ 15 Eva Modenhauer/ Karl Markus Michael (eds.): Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes [1807], Frankfurt/ M.: Suhrkamp, 1986, 163 und 170. 16 Jean-Jacques Rousseau: Politische Ökonomie. Discours sur l’Economie politique [1755]. Herausgegeben und übersetzt von Hans-Peter Schneider und Brigitte Schneider Pachaly, Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 1977, 21-113, hier: 98 (kursiv im Original). 17 Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927], Tübingen: Max Niemeyer, 15 1979, 273 (§ 56). 18 Ebd. (kursiv im Original). 19 Ebd., 278 (§ 57, kursiv im Original). 20 Ebd. 21 Freilich wusste Hellweg von Heideggers Rektoratsrede „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (1933). Hellwegs Gewissenskritik richtet sich gegen die Umbiegung philosophischer Begriffe in politische Agitation (ich gehe darauf später ein). In Hellwegs Literaturverzeichnis der Dissertation wird ausdrücklich auf die Paragraphen 54 bis 60 aus „Sein und Zeit“ hingewiesen, in denen bei Heidegger die Erörterung des Gewissensbegriffs erfolgte. 22 Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17), 126-130 (§ 27). 23 Ebd., 127. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., 126 28 Ebd., 129 (kursiv im Original). 138 29 Bezogen auf die ideenhistorische Einordnung und den Begriff der Entfremdung sagt Georg Lukács im 1967 geschriebenen „Vorwort“ zur Neuauflage von „Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik [1923]“ (Darmstadt: Luchterhand, 10 1988), 5-45, hier: 23: „Natürlich lag das Problem in der Luft. Einige Jahre später rückte es durch Heideggers ‘Sein und Zeit’ (1927) in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussion und hat diese Position, wesentlich in Folge der Wirkung Sartres wie seiner Schüler und Opponenten, auch heute nicht verloren. Die philosophische Frage, die vor allem L. Goldmann aufwarf, indem er in Heideggers Werk stellenweise eine polemische Replik auf mein - freilich ungenannt gebliebenes Buch - erblickte, kann hier übergangen werden. Die Feststellung, dass das Problem in der Luft lag, genügt heute vollständig […].“ Lukács distanziert sich durch diese Aussage von früheren Bemerkungen, die bedingt negativer Natur waren. 30 Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17), 281 ff (§ 58). 31 Ebd., 295 f (§ 60). 32 Ebd., 286 (§ 58). 33 Ebd., 281 f. 34 Ebd., 271 (§ 55). 35 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen [1797/ 98]. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, Bd. IV., 305-634, hier: 532. 36 Ebd., 532 ff. 37 Das Prinzip der Nächstenliebe geht zurück auf das Alte Testament (3. Mose 23, 4-5): „Du sollst nicht rachgierig sein noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Du sollst deinen Nächten lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr.“ 38 Heidegger: Sein und Zeit (Anm. 17), 298 f (§ 60). 39 Hellweg: Gewissen (Anm. 11), 30. 40 Ebd., 91. Dass Hellweg hier nicht ganz zutreffend Heideggers Sorge-Konzept erörtert hat, dürfte klar werden, wenn man berücksichtigt, dass die Sorge um die Sorge auch auf das Mitsein und die Geworfenheit des Subjekts in die Mitwelt zu beziehen ist. 41 Ebd., 92. 42 Ebd., 155 f. 43 Ebd. 44 Ebd., 5. 45 Erich Auerbach: Über den historischen Ort Rousseaus [1932], in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern, München: A. Francke, 1967, 291-295, hier: 291. 46 Ebd., 295. 47 Werner Krauss: Bericht über meine Beteiligung an der Aktion Schulze-Boysen [1945], in: Ders.: Ein Romanist im Widerstand. Briefe an die Familie und andere Dokumente. Herausgegeben von Peter Jehle und Peter Volker Springborn, Berlin: Weidler, 2004, 71- 127, hier: 80 f. 48 Ebd., 87. 49 Hellweg verkehrte zu dieser Zeit im Marburger Gesprächskreis von Rudolf Bultmann und Kurt Steinmeyer, vgl. die beiden Studien von Matthias Bormuth: 1949 - Kurt Steinmeyer als Apologet Goethes; Kurt Steinmeyers Briefe an Gerhard Krüger (1939-1962), in: Erdmute Johanna Pickerodt-Uthleb (ed.): Zukunft braucht Erfahrung. Eine Festschrift. 475 Jahre Gymnasium Philippinum, Marburg: Gymnasium Philippinum, 2002, 69-81 und 83- 97. 139 50 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (1945-1947). Hellweg hatte mir Durchschläge seiner Briefe zu Lebzeiten ausgehändigt und weitere Kopien aus dem Werner Krauss-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Peter Jehle zukommen lassen. 51 Vgl. Peter Jehle: Franz Walter Müller im Dialog mit Werner Krauss, in: Werner Krauss: Literatur, Geschichte, Schreiben. Herausgegeben von Hermann Hofer, Thilo Karger und Christa Riehn, Tübingen, Basel: A. Francke, 2003, 179-191. 52 Werner Krauss: Briefe 1922 bis 1976. Herausgegeben von Peter Jehle unter Mitarbeit von Elisabeth Fillmann und Peter-Volker Springborn, Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 2002, 253. Krauss hatte Hellwegs und Müllers Dissertationen an Herbert Marcuse gesandt, der von den Arbeiten begeistert war und sich für die Zustellung bedankte (367): „Lieber Professor Krauss: Ich war aufs freudigste überrascht, als ich Ihr Bücherpaket mit den Nummern der ‘Einheit’ und den Schriften von Hellweg und Walter Müller empfing. Meine Freude war nur getrübt durch das Bewusstsein, dass Sie mir noch Ihre eigenen Exemplare gesandt haben. Ich kann nun nichts dagegen tun, und sage Ihnen meinen allerherzlichsten Dank.“ (Marcuse an Krauss: Brief vom 15. Juli 1947). 53 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (Brief vom 3. März 1946). 54 Ebd. 55 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (1945-1947). 56 Martin Hellweg: Die Stellung des Proletariats bei Karl Marx, Frankfurt/ M.: G. Schulte- Blumke, 1947. Dieser Band erschien in einer von der amerikanischen Besatzungsbehörde genehmigten Auflage in Höhe von 10.000 Exemplaren. Der Publikation ging Hellwegs Vortrag voraus, den er im „Forum Academicum“ in Frankfurt im Mai 1946 hielt. 57 Der Artikel erschien in der Tageszeitung Les Temps Modernes im November 1946. Heideggers Ontologie wurde während der dreißiger Jahre - angeregt durch Jean-Paul Sartres Tätigkeit im französischen Kulturinstitut Berlin - entdeckt und durch die in L’Etre et le Néant (1943) entwickelte Freiheitsidee, die selbst durch die widrigsten Umstände nicht angetastet werden könne, in Frankreich verbreitet. Pierre Aubenque hatte darauf verwiesen, dass Paul Nizan, Henry Corbin und Alexandre Koyré schon 1931 erste Teilübersetzungen von Heideggers Schriften anfertigten und als Vermittler seines Denkens tätig waren. Erst später trat Jean Beaufret hinzu, der sich im Krieg ein Exemplar von „Sein und Zeit“ besorgte und nach der Lektüre eine Diskussion mit Heidegger anzettelte. Die Debatte in Frankreich verlief parallel zu Hellwegs Heidegger-Kritik, die wohl deshalb kaum wahrgenommen wurde, weil sie an verborgener Stelle platziert wurde. Vgl. Pierre Aubenque: Heideggers Wirkungsgeschichte in Frankreich, in: Peter Kemper (ed.): Martin Heidegger - Faszination und Erschrecken. Die politische Dimension einer Philosophie, Frankfurt/ M., New York: Campus, 1990, 114-127 und Jean-Michel Palmier: Wege und Wirken Heideggers in Frankreich, in: Jürg Altwegg (ed.): Die Heidegger-Kontroverse, Frankfurt/ M.: Athenäum, 1988, 48-59. 58 Karl Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt [1935], in: Sämtliche Schriften (Anm. 12), Bd. 8, 32-71, hier: 67 (kursiv im Original). Zur weiteren Sprachkritik an Heidegger, vgl. Georges Arthur Goldschmidt: Heidegger et la langue allemande IV. Un égarement philosophique, in: Lendemains, 31. Jg., Heft 124, 2006, 95-108. 59 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 6. 60 Ebd., 7. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 140 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Martin Heidegger: Über den Humanismus [1946], Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 1947, 27. 69 Vgl. Georg Lukács: Heidegger redivivus [1949], in: Ders.: Existenzialismus oder Marxismus? , Berlin: Aufbau, 1951, 161-183, hier: 167. 70 Heidegger: Über den Humanismus (Anm. 68), 25. 71 Ebd., 27. 72 Ebd., 26. Die „Seinsvergessenheit“ geht definitorisch aus der „Seinsverlassenheit“ hervor, die wiederum aus der „Heimatlosigkeit“ des Menschen resultiere. 73 Unveröffentlichte Briefe: Martin Hellweg an Werner Krauss (1945-1947). 74 Vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes [1929], Frankfurt/ M.: Vittorio Klostermann, 6 1973, 9 und 51. 75 Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 14), 153. 76 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 9. 77 Ebd., 17. 78 Ebd., 18. 79 Ebd. 80 Ebd., 17. 81 Ebd., 20. 82 Ebd., 22. 83 Ebd., 21. 84 Ebd., 25 (kursiv im Original). 85 Ebd., 26. 86 Hellweg berichtete mir während unserer Gespräche immer wieder, dass er Lukács’ und Max Webers Schriften verschlungen habe. 87 Vgl. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein (Anm. 29), 452-513. 88 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 26. 89 Ebd., 28. 90 Hannah Arendt: Organisierte Schuld [1944/ 45], in: Dies.: Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt/ M.: Jüdischer Verlag (Suhrkamp), 1 2000, 35-49, hier: 44. Warum Arendt an der Person Heideggers festhielt, verdeutlicht Antonia Grunenbergs einfühlsames Buch Hannah Arendt und Martin Heidegger. Geschichte einer Liebe (München, Zürich: Piper, 2006). Auf zwei Dinge möchte ich hinweisen: Arendt hatte den Irrtum von 1933 vergeben, wenn man unter Vergebung den Umschlag in das Verständnis von Irrtum und Schuld bezeichnen darf. Ihre Fehleinschätzung besteht darin, nicht bemerkt zu haben, dass Heidegger nach 1945 an Positionen wiederanknüpft, die eigentlich diskreditiert sein müssten. Ihre Essays „Die Eroberung des Weltraums“ (1968) und „Der archimedische Punkt“ (1969) belegen, dass sie sich, ähnlich wie Heidegger, mit den ethischen Folgen der Quantenphysik beschäftigte. 91 Hellweg: Proletariat (Anm. 56), 28. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Heidegger: Über den Humanismus (Anm. 68), 26 f. 96 Vgl. Hannes Herr/ Klaus Naumann (eds.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Frankfurt/ M.: Zweitausendeins, 1995. 141 Konrad Schoell Renate Baader (1937 - 2007) Renate Baader, geb. Hitze, die im März 2007 nach schwerer Krankheit im Alter von 69 Jahren starb, hat es nicht immer leicht gehabt. Als Kind aus der Heimatstadt Breslau vertrieben, hat sie großenteils in Nordrhein-Westfalen gelebt, in Köln studiert und promoviert (1965). Ihre wissenschaftliche Tätigkeit hat sie als Assistentin von Horst Baader in Saarbrücken und an der FU Berlin begonnen und als Akademische Rätin und Oberrätin in Köln und Bonn, einige Jahre als Ehefrau von Horst Baader, fortgesetzt. Ein Forschungsstipendium hat die Arbeit an der Habilitationsschrift über die literarischen Salons im französischen 17. Jahrhundert ermöglicht, mit der sie 1984 an der Universität Saarbrücken habilitiert wurde. Ehemalige Studierende bestätigen immer wieder, dass Renate Baader in ihren Lehrveranstaltungen neben dem Überblick über Epochen und Gattungen mit den Teilnehmern in genauer Analyse und mit großem Sprachbewusstsein an literarischen Texten gearbeitet hat und auch sehr großen Wert auf stilistisch adäquate Übersetzung gelegt hat. Neben der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts hat sie sich auch stark für die bildende Kunst und die Musik aus Frankreich und Deutschland interessiert. In der deutschen Romanistik bleibt der Name Renate Baader mit der Frauenforschung verbunden. In der Tat sind ihre Bücher und Beiträge zu den führenden Schriftstellerinnen aus dem Umkreis der Salons des 17. und 18. Jahrhunderts Bahn brechend. Es wäre aber stark vereinfacht und somit ungerecht, wollte man Frau Baaders Oeuvre auf die Forschung zum literarischen Schaffen von Frauen reduzieren. Genau so gehört dazu die Rolle der Frau als Leserin oder als Anregerin, als Schöpferin eines gesellschaftlichen und geistigen Klimas, in dem Literatur, Lektüre, Theater - und sei es im gesellschaftlichen Spiel etwa als „Porträt“ und Ratespiel - eine geistige Anstrengung und kulturelle Leistung bedeuten. Aus dem von ihr immer wieder hervorgehobenen engen Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft im 17. Jahrhundert entwickelte Renate Baader auch einen kritischen Standpunkt zur französischen Literaturgeschichtsschreibung, insofern als diese, etwa noch in Antoine Adams Standardwerk, lange Zeit dazu neigte, das „Klassische“ im „siècle classique“ zu stark hervorzuheben. Demgegenüber betont Renate Baader, etwa in ihrer „Einführung“ zum Band über das 17. Jahrhundert, näher bei der Gegenposition Jean Roussets, die Kontinuität des barocken Einflusses durch das ganze Jahrhundert. Dabei hat die wissenschaftliche Laufbahn Renate Baaders mit einem ganz anderen Schwerpunkt begonnen, mit der Kölner Dissertation über stilistische Fragen zum mittelalterlichen Epos. In den frühen 70er Jahren dann sind ihre Arbeiten auf 142 Molière und Marivaux konzentriert, womit sich literaturhistorische Schwerpunkte im 17. und 18. Jahrhundert andeuten, auf die sie in der Folge immer wieder zurückkam. Aber etwa gleichzeitig mit der beginnenden jahrzehntelangen Beschäftigung mit Molière, über dessen Werk sie 1980 einen „Wege-der-Forschung“-Band mit zahlreichen eigenen Beiträgen herausgegeben hat, setzt auch der Schwerpunkt im Bereich der Frauenforschung mit dem gemeinsam mit Dietmar Fricke herausgegebenen Sammelband über die Französische Autorin vom Mittelalter bis zur Gegenwart (erschienen 1979) ein. Von da an konzentriert sich ihre wissenschaftliche Arbeit immer deutlicher auf Fragen der Frau und der Literatur und ihrem gegenseitigen Verhältnis, die ihrerseits, wie angedeutet, weit über das Schreiben und die Lektüre von Frauen hinausgehen. Von der Mädchenerziehung und der Ideologie des Weiblichen zu den Schauspielerinnen und den Frauen in der Französischen Revolution hat sie sich mit den unterschiedlichsten Rollen der Frau zu verschiedenen Epochen, jeweils auf Frankreich bezogen, beschäftigt, um immer wieder auf die großen Epochen des 17. und 18. Jahrhunderts und besonders auf die Salons zurück zu kommen. Der Salonkultur gelten verschiedene Aufsätze und vor allem die Habilitationsschrift Dames des lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und ‘modernen’ Salons (1649-1696): Mlle de Scudéry, Mlle de Montpensier, Mme d’Arnauld (veröffentlicht 1986). Zu den großen Sammelbänden zu „ihren“ Themen gehört Das Frauenbild im literarischen Frankreich vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Wege der Forschung, 1988). Eine ihrer letzten Arbeiten ist der Sammelband zur französischen Literatur des „grand siècle“ 17. Jahrhundert: Roman, Fabel, Maxime, Brief (1999), zu dem sie selbst wieder wesentliche Beiträge verfasst hat. In den letzten Jahren hat Frau Baader neben Beiträgen zu anderen Sammelbänden vor allem zum 18. Jahrhundert oder zu Frauenrollen in der Literatur und zu Festschriften vorzugsweise in der Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte und in Lendemains Aufsätze zu den sie immer wieder beschäftigenden Fragen der Rolle der Frau in der Literatur veröffentlicht. Aufgrund der selbständigen Arbeiten, der (allein oder gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen) herausgegebenen Sammelbände in anerkannten wissenschaftlichen Reihen und den zahlreichen Beiträgen aus der jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Schreiben von Frauen und darüber hinaus mit den Verhaltensnormen der gesellschaftlich führenden Schichten (und hier wiederum mit dem geschmacksbildenden Einfluss der Damenwelt) konnte es nicht ausbleiben, dass Frau Baader selbst zur „dame de lettres“ wurde, soweit diese Species im 20. Jahrhundert und an den deutschen Massenuniversitäten überhaupt noch ihren Platz finden konnte. Es wird jedenfalls von gebildeten Gesprächen berichtet, von gemeinsam besuchten Ausstellungen oder Konzerten und von vorweihnachtlichen Einladungen. Man darf daher sagen, dass Renate Baader an ihrem Platz und mit ihren Mitteln die Salons des 17. und 18. Jahrhunderts, in deren Aktivitäten sie sich so gut auskannte, zum Nutzen der Studierenden wieder aufleben ließ. 143 STEPHANIE BUNG UND MARGARETE ZIMMERMANN (EDS.): GARÇONNES A LA MODE IM BERLIN UND PARIS DER ZWANZIGER JAHRE. BERLIN: WALL- STEIN VERLAG, 2006. Die Literaturgeschichte ist voller vergessener Klassiker. Einer dieser Texte, die nach einer Blitzkarriere dem Vergessen anheim fielen, ist Victor Marguerittes Roman La Garçonne. Dabei ist der Roman für die Geistesgeschichte bis heute durchaus von Relevanz. Der Bestseller und Skandalroman von 1922 erscheint im heutigen Licht allerdings weniger als literaturhistorisch kanonisiertes Werk, sondern viel mehr als Namensgeber eines Weiblichkeitsmythos der zwanziger Jahre, in dem sich der Zeitdiskurs in einem Nexus aus Emanzipation, Urbanität, medialem und gesellschaftlichem Wandel kristallisiert. Die Garçonne entwickelt sich von einer Romanprotagonistin zu einem Mythos im Barthes’schen Sinne, sie autonomisiert sich vom Ursprungstext und erhält in vielerlei Inszenierungen einen semantischen Mehrwert. Um diesen semantischen Mehrwert der Figur der Garçonne kreist der von Stephanie Bung und Margarete Zimmermann herausgegebene Band. In Garçonnes à la mode wird sich des Gegenstands aus unterschiedlichen Perspektiven angenähert. Die Herausgeberinnen präsentieren durch die unterschiedlichen Einzelbetrachtungen ein anschauliches Bild des soziokulturellen Lebens der Années folles in den Metropolen Berlin und Paris. Über die Figur der Garçonne zu reden, bedeutet eben auch, über Mode, Plakatkunst, Illustrationen, Fotografie und Literatur zu reden. Das Vorwort der Herausgeberinnen führt gleich in die wichtigsten Punkte ein: Das Buch macht sich zur Aufgabe, eine in den Großstädten der zwanziger Jahre „in Bewegung geratene Gesellschaftsordnung“ aufzuzeigen, die in einem „emanzipatorischen Habitus“ (7) kulminiert und sich in Mode-Phänomenen manifestiert, „wobei die Mode die intermediale Schnittmenge darstellt, in der sich die verschiedenen Ausdrucksformen einer spezifisch weiblichen Moderne spiegeln“ (25). Diese weibliche Moderne als komplexes Zeichensystem wird in den folgenden Artikeln in ihren einzelnen Facetten betrachtet. Durch die Untersuchung von Kleidung, Haarschnitt und Alltagsinszenierungen wird dabei vor allem der visuelle Aspekt des Mythos betrachtet. Stephanie Bung und Margarete Zimmermann haben sich mit ihrer interdisziplinären Herangehensweise zur Aufgabe gemacht, die grundlegenden Untersuchungen von Christine Bard (La Garçonne. Modes et fantasmes des Années folles, Paris 1998) und Julia Drost (La Garçonne. Wandlungen einer literarischen Figur, Göttingen 2003) zu komplettieren, indem neben dem Aspekt der Interdisziplinarität auch der Faktor der Urbanität für die gesellschaftliche Wandelsituation um die Garçonne betont wird. Bis auf einen Artikel von Cécile Berthier, der reisende, die Stadt flüchtende Garçonnes zum Thema hat, ist die im Band beschriebene weibliche Moderne scheinbar nur in Großstädten möglich und folglich ein urbanes Phänomen. Am Beginn der Einzelbetrachtungen steht der Diskurs der Mode: Christine Elise Mani stellt die Modezeichnungen von Jeanne Mammen vor, Burcu Dogramaci kon- 144 zentriert sich auf die Illustrationen Lieselotte Friedländers im wöchentlich erscheinenden „Moden-Spiegel“. In diesen Alltags- oder Gebrauchsillustrationen wird der Mythos der sich emanzipierenden Frau in einer nicht immer nur als „golden“ empfundenen Epoche ebenso durchgespielt wie in der künstlerisch programmatischeren Modephotographie von Sonia Delaunay, die von Cécile Godefroy untersucht wird. Eine weitere zeitgenössische künstlerische Inszenierung von Weiblichkeit stammt von Marcel Duchamp. Giovanna Zapperi untersucht Fotografien von Man Rays, die Marcel Duchamps Eigeninszenierungen als Frau darstellen. Dieser Artikel muss leider ohne Abbildungen auskommen, eine Ausnahme in dem ansonsten reich bebilderten und illustrierten Band. Julia Drost kommt mit einer Untersuchung der Illustrationen des Margueritte-Romans von Kees van Dongen aus dem Jahre 1925 mit einem Artikel zu Wort, in dem ebenfalls der visuelle Aspekt der Weiblichkeitskonstitution fokalisiert wird. Während die männliche Perspektive Kees van Dongens einer künstlerischen Auseinandersetzung mit Marguerittes Text verpflichtet ist, zeigt Adelheid Rasche in ihrem Artikel über das Bild der „neuen Frau“ in Männer-Zeitschriften eindringlich auf, wie sehr der gesellschaftliche Emanzipationsprozess der Frauen von Männern mit Argwohn und Ängsten verfolgt wurde: ein Geschlechterkampf, der sich in Karikaturen und Illustrationen äußert. Neben den visuellen Inszenierungen wird auch die literarische Betrachtung weiblicher Mythen der zwanziger Jahre berücksichtigt: Stephanie Bung untersucht die Rolle der Kleidung als „textile Materie“ im Tagebuch der Catherine Pozzi, Vanessa Loewel zeigt auf, wie sehr sich die Garçonne und ihr Zeichensystem der Mode in literarischen Inszenierungen von Colette und Paul Morand wiederfindet. Der Artikel von Julia Bertschik demonstriert implizit, dass Moden, darunter eben auch literarische Moden, immer Moden bleiben: Sie stellt das in den zwanziger Jahren populäre literarische Genre des „Konfektionsromans“ vor und erinnert an vergessene Romane in der Nachfolge von Émile Zolas Au bonheur des dames. In diesen Konfektionsromanen steht die Welt der Warenhäuser mit ihren zumeist weiblichen Kunden und Angestellten im Zentrum. Abgeschlossen wird der Band mit Untersuchungen zur schwierigen Rezeptionsgeschichte des Romans von Margueritte in Deutschland. Mit Garçonnes à la mode haben Stephanie Bung und Margarete Zimmermann ein überaus lesbares Stück Kulturgeschichte vorgelegt, in dem eine Vielzahl von Aspekten des unruhigen Lebens der Années folles anschaulich wird; die Artikel und vor allem die zahlreichen Bilddokumente illustrieren eine von Urbanität, Medienwandel, Moden und Massenkultur geprägte Zeit. Das einzige Bedauern, das nach der Lektüre von Garçonnes à la mode bleibt, kann den Herausgeberinnen freilich nicht zur Last gelegt werden: Der Band macht deutlich, dass der Roman Victor Marguerittes, mit dem die Konstitution des Garçonne-Mythos seinen Ausgang nahm, längst eine Neu-Edition verdient hätte. Thorsten Schüller (Mainz)